Anett Steiner
Dunkelwald
Kriminalgeschichten
aus dem Erzgebirge
Bild und Heimat
eISBN 978-3-95958-763-1
1. Auflage
© 2018 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin
Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin
Umschlagabbildung: © SLUB / Deutsche Fotothek / Nowak, Max
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BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat
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10178 Berlin
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Irrlichter
»In unserem Garten liegen Tote vergraben.«
»Vielleicht Meerschweinchen, Kaninchen oder Katzen. Das ist so auf dem Land.«
»Tote Menschen.«
»Du redest Unsinn, Mutter. Zweifellos bist du müde. Ich bring dich ins Bett.«
»Ich will nicht schlafen.«
»Und doch redest du Unsinn.«
»Im Garten sind Gräber«, beharrte die alte Frau.
»Gräber. Wie kommst du darauf um Himmels willen?« Ralf Lorenz, ihr Sohn, bemühte sich, den gereizten Ton in seiner Stimme zu unterdrücken. Er war nicht sicher, ob es ihm gelang.
»Wie ich darauf komme? Der Irrlichter wegen.«
»Mutter, bitte! Irrlichter! Was auch immer vor dem Fenster da draußen ist, du kannst es ja doch nicht sehen. Und jetzt bringe ich dich ins Bett.«
Eine halbe Stunde später ließ Ralf Lorenz sich müde in den Sessel sinken, in dem seine Mutter Frieda die Tage verbrachte. Sie saß gern am Fenster und starrte blicklos in die Welt, sie war so gut wie blind, das Glaukom war zu spät erkannt worden. Oder Frieda war zu stolz gewesen, zu einem Arzt zu gehen. Ihr Leben lang hatte sie sich mit Naturheilmitteln und Kräutern selbst verarztet und kein gutes Haar an den Weißkitteln gelassen, die ihren Mann seinerzeit nicht retten konnten. Lungenembolie. Ebenfalls zu spät erkannt.
Frieda Lorenz hatte vor wenigen Wochen ihren fünfundachtzigsten Geburtstag gefeiert und ihr Sohn war bemüht gewesen, die wenigen noch lebenden Freunde und Verwandten aus ganz Deutschland zu versammeln, um ihr eine schöne Feier zu ermöglichen. Seine Mutter war eine gepflegte Rentnerin, die gern betonte, dass sie durchaus noch alle Tassen im Schrank hatte. Regelmäßig ließ sie ihr Haar in jenem eigentümlichen Lilaton färben, der alten Damen vorbehalten schien, und achtete sehr genau auf ihre Garderobe. Stets trug sie gutsitzende Kostüme und beinahe den gesamten Familienschmuck einschließlich der goldenen Brosche, die sie zum Siebzigsten von ihrem Sohn bekommen hatte.
Die Entscheidung, mit dreiundsechzig Jahren wieder mit seiner greisen Mutter zusammenzuziehen, war Ralf Lorenz nicht leichtgefallen und doch unausweichlich gewesen. Friedas körperliche Konstitution versagte ihr ein selbständiges Leben, sie war auf seine Hilfe angewiesen, konnte nichts mehr sehen und kaum noch gehen. Sie in ein Pflegeheim zu geben war dabei nie in Betracht gekommen. Bisher hatte er jedoch keinen Grund gehabt, an ihrer geistigen Gesundheit zu zweifeln. Gräber im Garten, so ein Unsinn! Stand es schon länger schlecht um Friedas Verstand? Vielleicht hatte der Umzug in ihrem Alter doch zu viel Stress bedeutet.
Ralf Lorenz stöhnte. Er rieb sich die Schläfen und versuchte, den Kopfschmerz zu ignorieren. Es war noch früh am Abend, und er konnte es sich nicht leisten, ebenfalls ins Bett zu gehen. Im Keller standen noch Dutzende Umzugskartons, um die er sich irgendwann kümmern musste. Die Arbeit wurde nicht weniger, auch wenn er doch eigentlich alle Zeit der Welt haben müsste, jetzt, da seinem Antrag auf Pensionierung stattgegeben worden war. In diesem Haus gab es noch eine Menge zu tun. Die neue Küche ließ seit Wochen auf sich warten, und auch das Schlafzimmer in der oberen Etage musste renoviert werden, damit er nicht dazu verdammt blieb, auf ewig in einem unaufgeräumten Büro zu schlafen. Nun, wenigstens hatte er die Räume seiner Mutter pünktlich zum Einzug hergerichtet.
Da musste man erst das Rentenalter erreichen, um ein eigenes Haus zu besitzen, dachte er. Frieda hatte es sich gewünscht, einen Alterswohnsitz im Ort ihrer Kindheit: Hormersdorf im Erzgebirge, nunmehr ein Ortsteil der Bergstadt Zwönitz in Sachsen. Als die Entscheidung gefallen war, hatte Ralf Lorenz beinahe zwei Jahre nach einem geeigneten Haus gesucht. Ein Zweifamilienhaus wäre zu groß gewesen, und doch sollte das neue Heim zwei getrennte Wohnungen bieten, eine für die Mutter und eine für ihn. Das Häuschen an der Ecke Buchbergweg/Giftmehlweg hatte noch DDR-Standard, und Modernisierungsarbeiten waren unausweichlich, aber abgesehen davon war es perfekt. Bis auf den Garten, wie es schien. Denn der war in Friedas Augen voller Irrlichter und Gräber.
Lorenz wandte den Kopf und blickte nun seinerseits aus dem Fenster in die Dunkelheit. Bei Tage war die Aussicht wunderschön, nichts stand dem Blick ins Hochmoor im Wege. Schon mehrmals war er dort spazieren gewesen, hatte die kleine Holzbrücke, den Knüppeldamm, überquert und das kleinste Hochmoor des Erzgebirges betreten. Und das nicht erst, seit er mit seiner Mutter nach Hormersdorf gezogen war. Er hatte immer in den Ortschaften der Umgebung gewohnt: Thalheim, Brünlos, nur einmal hatte es ihn für kurze Zeit nach Chemnitz verschlagen, doch das anonyme Stadtleben war nichts für ihn gewesen. Frieda jedoch hatte die letzten fünfundzwanzig Jahre in ihrer Wahlheimat Leipzig verbracht. Woher der Wunsch gekommen war, am Ende nun doch aufs Land zurückzukehren, behielt sie für sich. Wahrscheinlich war ihr klar geworden, dass ihr auf ihre alten Tage nur das noch übrigblieb: zu ihrem Sohn aufs Land zu gehen oder in ein Altenheim. Also hatte sie sich für Anfang statt Ende entschieden: keine Mietwohnung in einem seniorengerechten Wohnblock, sondern ein eigenes Haus.
Und dies galt es einzuräumen, dachte Ralf Lorenz und löste seinen Blick von der dunklen Fensterscheibe, in der sich sein eigenes Gesicht spiegelte, was ihn nicht sonderlich erfrischte. Dennoch sah er weniger müde aus, als er sich fühlte, fand er und stemmte sich aus Mutters Sessel. Unschlüssig blieb er eine Weile reglos auf der Stelle stehen. Lust zum Renovieren hatte er an diesem Abend nicht mehr und auch die Kartons konnten warten. Also löschte er das Licht, stieg die Treppe nach oben und legte sich in seinem unaufgeräumten Büro auf das provisorische Bett.
»Was gedenkst du wegen der Toten in unserem Garten zu tun?« Frieda wirkte frisch und ausgeschlafen, ihre Hand mit der Kaffeetasse zitterte kein bisschen.
Ralf Lorenz knurrte etwas Unverständliches, während er auf seinem Marmeladenbrötchen kaute.
»Sprich deutlicher«, mahnte die alte Dame, und Lorenz verdrehte die Augen.
»Was meinst du denn, was ich tun sollte?«, fragte er und dachte bei sich: Leichen ausbuddeln, die du dir einbildest?
»Du müsstest wissen, was zu tun ist. Schließlich bist du Polizist.«
»Ich war es«, korrigierte der kürzlich pensionierte Hauptkommissar.
»Das spielt keine Rolle. Du musst etwas unternehmen.«
»Weil du angeblich Irrlichter siehst, obwohl du dein Augenlicht nahezu vollständig verloren hast, soll ich mich in wilden Aktionismus stürzen? Ich bitte dich, Mutter, hör auf damit.«
»Nein, ich höre nicht auf. Irrlichter sind …«
»… Aberglaube!«, unterbrach der Kommissar. »Den Tisch räume ich später ab. Ich bin im Keller bei den Umzugskartons, falls du mich brauchst.«
Friedas Gerede machte Lorenz wütend. Und es machte ihm Angst, denn es konnte nur eines bedeuten: Seine alte Dame wurde senil. Friedas geistige Fähigkeiten ließen nach, und das erschreckend schnell. Gedankenversunken stieg er die Kellertreppe hinab und machte sich über die verbliebenen Kartons her. Geschirr, Pfannen, Töpfe – diese Kisten stapelte er in eine Ecke, und dort würden sie bleiben müssen, bis die neue Küche kam. Kleidung und Schuhe – auch das musste weiter in den Kartons ruhen, bis sein Schlafzimmer renoviert war und er dort einen Kleiderschrank aufstellen konnte. Und dann Bücher. Viele davon. Bücher aus seinem Besitz und Bücher aus dem Haushalt seiner Mutter. Früher hatte sie viel gelesen und mehrfach betont, dass dies das Schlimmste am Verlust ihres Augenlichtes war: nicht mehr lesen zu können.
Was konnte er tun, um Frieda ihre wahnwitzige Überzeugung von Gräbern im Garten dieses Hauses auszureden? Er kannte seine Mutter. Sie würde keine Ruhe geben. Er dachte daran, wie sie nun oben wieder in ihrem Sessel saß, den leeren Blick in Richtung Fenster gerichtet, hinaus aufs Hochmoor.
Es gab eine Verbindung zwischen Mooren und Irrlichtern, das hatte er irgendwo gelesen. Sicher war es das Wissen um das sumpfige Naturschutzgebiet unweit des Hauses, das Mutters Fantasie mit ihr durchgehen ließ. Immerhin wäre das eine Erklärung für ihr wirres Gerede. Jedenfalls wurden Irrlichter auch Sumpflichter genannt, und einen solchen gab es direkt hinter dem Grundstück. Und wenn man dann noch bedachte, dass den nächtlichen Leuchterscheinungen nachgesagt wurde, sie seien die Geister Verstorbener, dann waren Friedas Gedankengänge zu den Gräbern im Garten gar nicht mehr so abwegig, beruhigte er sich. Wissenschaftlich betrachtet, waren die Flämmchen biolumineszente Effekte oder entzündete Fäulnisgase … Gase, wie sie beim biologischen Zerfall von organischem Material entstanden – also auch beim Verwesen von Leichen … Er durfte nicht zulassen, dass er sich von Friedas Vorstellungen anstecken ließ!
»Du musst nach Skeletten von Kindern suchen.«
»Ich dachte, wir hätten das Thema abgehakt.«
»Irrlichter sind die Geister ungetauft verstorbener Kinder.« Frieda ließ sich nicht beirren.
»Und wenn schon. Ich glaube nicht, dass irgendwelche Leute ihre Kinder ausgerechnet in diesem Garten vergraben haben. Dafür gibt es Friedhöfe, Mutter. Gab es immer schon. Aber wer weiß, die erste urkundliche Erwähnung von Hormersdorf geht schließlich bis ins Jahr vierzehnhundertirgendwas zurück. Das ist eine lange Zeit. Vielleicht stand ja einst eine Kirche hier, wo jetzt unser Haus steht, und unser Garten war irgendwann in den letzten sechshundert Jahren mal ein Friedhof. Gut möglich. Wer weiß. Oder das Moor war einst viel größer und reichte bis hierher, und möglicherweise sind frühe Siedler darin umgekommen. Aber selbst wenn: Was kümmert es dich?«
»Die Straße, an der dieses Haus steht, heißt Giftmehlweg …«
»Meinetwegen!«, fuhr Lorenz auf. »Dann stand hier eben eine mittelalterliche Mühle, und der Müller hat das Mehl vergiftet, und einige Kinder des Dorfes sind vor Jahrhunderten daran gestorben. Andere dafür an der Pest. Wieder andere sind verhungert oder erfroren oder wilden Tieren zum Opfer gefallen, was weiß ich. Ich werde jedenfalls nicht anfangen, unseren Garten nach den Resten alter Siedlungen oder längst vergessener Friedhöfe umzugraben. Was sollte das auch bringen? Lass es gut sein, Mutter. Und wenn ich eines Tages nach etwas grabe, dann nach etwas Lohnendem wie zum Beispiel dem Bernsteinzimmer!«
»Nach dem Bernsteinzimmer zu suchen lohnt sich aber ganz bestimmt nicht.« Frieda ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Und zwar aus dem ganz einfachen Grund, dass es seit dreizehn Jahren im Katharinenpalast bei Sankt Petersburg steht und alle Welt glaubt, es sei eine originalgetreue Nachbildung. Glaub mir, es ist das Original.«
Lorenz fehlten für einen Moment die Worte für eine passende Erwiderung. In diesem Moment erschien ihm seine Mutter alles andere als senil. Diese Theorie lohnte es sich in jedem Fall zu durchdenken.
»Wie kommst du darauf? Klingt interessant!«, gab er schließlich zu.
»Lenk nicht vom Thema ab. Es geht um die Gräber im Garten.«
Und schon ist der Moment geistiger Klarheit vorüber, dachte Lorenz.
»Ich weiß, was du denkst.«
»Was denke ich denn, Mutter?«
»Dass es in meinem Oberstübchen nicht mehr klappt. Dass ich wirres Zeug rede. Dass ich Irrlichter sehe, obwohl ich gar nichts mehr sehen kann. Aber ich sehe sie eben. Es ist so.«
»Gut. Du siehst sie. Wieso lassen wir es nicht dabei bewenden?«
»Weil du etwas tun musst. Weil du herausfinden musst, wieso tote Kinder in diesem Garten liegen. Schließlich warst du Hauptkommissar und hast so oft Dinge herausgefunden. Dann werden die Lichter verschwinden und wir können in Ruhe unser Leben leben.«
Unser Leben leben? Himmel, du bist fünfundachtzig Jahre alt Mutter, dachte Lorenz, was erwartest du noch? Im selben Moment zuckte er zusammen, dass es fast körperlich schmerzte, und schämte sich für diesen Gedanken.
»Als ich Kind war, da hatte deine Großmutter ein Buch, aus dem sie mir manchmal vorgelesen hat. Ein Pfarrer und Chronist, Christian Lehmann, hat darin im siebzehnten Jahrhundert alte erzgebirgische Sagen aufgeschrieben. Ich erinnere mich genau an eine davon: Irrlichter bei Annaberg und Scheibenberg …«
»Schon gut«, unterbrach er sie. »Du brauchst sie mir nicht zu erzählen. Gleich morgen werde ich mich um die Sache mit unserem Garten kümmern und ein paar Recherchen anstellen. Ich verspreche es.«
Es nieselte, ein unangenehmer Wind kroch unter seinen Mantel, als Hauptkommissar Lorenz a. D. am nächsten Morgen das Haus verließ, um im Ortsarchiv zu recherchieren und dem Pfarrer einen Besuch abzustatten. Er wollte Einsicht nehmen in Sterbebücher und andere Aufzeichnungen, nur um auszuschließen, dass es ungeklärte Todesfälle von Kindern gegeben hatte. Die Aussage eines Pfarrers würde Frieda hoffentlich nicht anzweifeln.
»In welchem Zeitraum wollen Sie suchen?«
Zugegebenermaßen eine gute Frage. Lorenz hatte keine Ahnung, wie lange nach ihrem Tode Irrlichter als Geister im verblassenden Geist einer alten Dame herumleuchten konnten. Außerdem wollte er nicht ganze Tage damit verbringen, in staubigen Büchern zu blättern, und zugeben müssen, dass ihm das Entziffern der altdeutschen Schrift nur mühsam gelang.
»Und was genau suchen Sie denn überhaupt?«, erkundigte sich die Archivarin.
»Wenn ich das genau wüsste, hätte ich es leichter. Fangen wir mit dem Hochmoor an. Reichte es früher weiter in den Ort hinein? Sagen wir, bis zum heutigen Giftmehlweg?«
Die Archivarin schlug eine sehr große Flurkarte auf, der Tisch reichte nicht aus, um sie aufzulegen. Lorenz half ihr, das Papier so zu falten, dass sie den relevanten Bereich auf der Tischplatte platzieren konnte.
»In den vergangenen zweihundert Jahren hat sich die Einwohnerzahl von Hormersdorf verdreifacht. Allerdings glaube ich nicht, dass die Menschen ihre Häuser ins Moor hinein gebaut haben. Dafür waren sie zu abergläubisch. Irrlichter und …«
Lorenz hob die Hand, um die Ausführungen der Frau zu unterbrechen.
»Ich weiß. Vielleicht hat sich die Fläche des Moores ja auch verkleinert, und das sumpfige Gebiet ist ausgetrocknet und hat sich zurückgezogen?«
»Zum Hochmoor hin steigt die Ortslage im Vergleich zum Huthübel, dem Steinberg und dem Kieferberg um gut einhundert Meter an. Ich halte das Austrocknen des Gebiets von den Außengrenzen her durchaus für möglich. Aber wenn Sie das genau wissen möchten, sollten Sie einen Geologen fragen. Ich könnte Ihnen eine Adresse in Thalheim geben, der Mann arbeitet in Freiberg an der Bergakademie.«
»Das wird nicht nötig sein. Können Sie mir sagen, ob sich die Lage des Friedhofs im Laufe der Jahrhunderte verändert hat?«
»Die Kirche befindet sich in der Ortsmitte und damit auch der Friedhof. Aber ich bin sicher, dass der Pfarrer dazu Auskunft geben kann.«
Lorenz verabschiedete sich, machte sich auf den Weg zur Kirche und wiederholte dort seine Frage.
»Einen früheren Friedhof in der Nähe des Hochmoors? Das kann ich mir nicht vorstellen«, erklärte der Geistliche. »Nur die Pestfriedhöfe lagen früher etwas außerhalb. Aber die Toten dieser Seuche im Jahre sechzehnhundertsechsundzwanzig hat man meines Wissens nach auf dem Pestfriedhof in Dorfchemnitz begraben.«
Die Recherchen des Vormittags hatten Lorenz nicht weitergebracht. Mutter würde unzufrieden sein und ihre Forderung nach Aufklärung ihrer Wahrnehmungen verstärken. Also stattete Lorenz seinen Berufskollegen der Polizeidienststelle in Zwönitz einen Besuch ab. Doch auch dort waren keine ungeklärten Todesfälle von Kindern aktenkundig, jedenfalls nicht seit 1989, denn eine Menge Unterlagen und Aufzeichnungen aus der Zeit davor waren schließlich in den Wirren der Wende verschwunden … Ebenfalls Fehlanzeige.
Der Nieselregen hielt an, der Wind nahm sogar noch zu und umso überraschter war Lorenz, als er bei seiner Heimkehr am frühen Nachmittag einen leuchtenden orangefarbenen Regenmantel vor seiner Haustür stehen sah. Die zierliche Person, die ihn trug, war darunter nämlich kaum wahrzunehmen. Geschickt jonglierte die trotz des widrigen Wetters gutgelaunte Gestalt eine hellblaue Kuchenschachtel.
»Oh, da sind Sie ja! Gerade wollte ich wieder gehen. Ich dachte, es ist niemand zu Hause.«
Lorenz’ Blick wanderte zwischen den geröteten Wangen der Frau und ihrer Kuchenschachtel hin und her.
»Was kann ich denn für Sie tun?«
»Ich hoffe, Sie halten mich nicht für überheblich, wenn ich mich als die gute Seele unserer Gemeinde bezeichne. Ich habe einen Kuchen gebacken, um Sie hier bei uns in Hormersdorf zu begrüßen, Sie wohnen ja schon eine Weile hier, ich wollte Sie aber erst in Ruhe ankommen lassen. Mein Name ist Veronika Blum!«
»Ja, dann, also danke«, brummte Lorenz verlegen. Das Regenwasser aus der undichten Dachrinne über der Haustür tropfte ihm in den Nacken.
»Vielleicht sollten wir reingehen?«, schlug Frau Blum vor. Unter ihrem Cape war sie gut vor der Nässe geschützt.
»Warum nicht? Trinken wir Kaffee und probieren den Kuchen«, räumte Lorenz ein, dem nichts anderes einfiel, um sich aus dieser Situation zu befreien. Solche Tratschweiber gab es in jedem Ort, man tat gut daran, deren Unmut nicht auf sich zu ziehen.
Zwei Stunden später hatte Lorenz eine Pfütze auf dem Parkett im Flur, dort wo Frau Blums Regenmantel und ihre Schuhe abgetropft waren. Außerdem war ihm ein wenig übel von dem staubtrockenen Sandkuchen. Aber er war auch um einige Informationen reicher.
Veronika Blum war genauestens darüber informiert, wer vor ihnen in dem Haus gewohnt hatte. Und sie kannte auch alle dunklen Geschichten, die sich darum rankten.
Das Haus war in den späten fünfziger Jahren von einem Ehepaar gebaut worden, das sehr zurückgezogen gelebt hatte.
»Kein bisschen haben die sich in unser Dorfleben eingefügt. Sind immer für sich geblieben«, erklärte Frau Blum. »Die Frau soll eine Kindsmörderin gewesen sein und ihre Babys im Garten vergraben haben! Also können Sie sich das vorstellen? Was die Leute so reden, unglaublich, nicht wahr! Natürlich stimmt kein Wort davon, schließlich habe ich die beiden Alten gekannt, denen war nichts Böses zuzutrauen.«
Kopfschüttelnd schlürfte Frau Blum den Rest des Kaffees aus ihrer Tasse. Er musste inzwischen längst kalt sein.
»So, also ich fürchte, ich muss jetzt gehen. Natürlich komme ich gern mal wieder«, erklärte sie.
Frieda hatte die ganze Zeit still in ihrem Sessel gesessen und gelegentlich an ihrem Tee genippt. Auch nachdem Frau Blum gegangen war, sagte sie kein Wort. Das musste sie auch nicht, ihr Sohn wusste, was er zu tun hatte.
Über seine Kontakte bei der Polizei leitete Lorenz eine Grabung in seinem Garten in die Wege.
Fünf Kinderskelette konnten geborgen werden.
»Die Irrlichter, jetzt sind sie fort«, erklärte Frieda zufrieden.
Und Lorenz dachte: Wenn Mutter bei dieser Sache recht behalten hatte, dann vielleicht auch mit ihrer Theorie über das Bernsteinzimmer?
Spuk und Kunst
Kommissarin Annalena Krest, die rechte Hand von Hauptkommissar Ralf Lorenz, war eine sehr motivierte junge Frau, die jedes Wort ihres Chefs aufmerksam registrierte, verinnerlichte und versuchte, daraus zu lernen.
Der Hauptkommissar kam nicht umhin, stolz auf die engagierte Kollegin zu sein, und musste sich von Zeit zu Zeit ermahnen, ihr gegenüber keine allzu väterlichen Gefühle hervorzukehren. Zu sehr erinnerte sie ihn an seine viel zu früh verstorbene Tochter.
Irgendwann war Annalena die Eigenart ihres Chefs, jeden Kriminalfall mit einer Sage zu vergleichen, aufgefallen. Dieses Verhalten hatte sie anfänglich irritiert, manchmal sogar genervt, inzwischen war sie nicht nur daran gewöhnt, sondern sie hatte selbst den Reiz dieser Parallelen entdeckt. Längst war sie zur Kennerin dieser ganz besonderen Geschichtenwelt geworden. Auch sie hatte mit dem Zusammentragen von Sagenbüchern begonnen, und auch wenn ihre Sammlung bei weitem noch nicht den Umfang von Lorenz’ Sagenarchiv erreicht hatte, so war sie ihm insofern überlegen, als dass sie öfter als er das Internet für ihre Suche heranzog.
Als sie sich eines Freitagabends noch auf ein Feierabendbier in der Chemnitzer Innenstadt niederließen, fühlte Annalena, dass sich ihre jährliche Erkältung anbahnte, die sie für gewöhnlich über das Wochenende auszukurieren pflegte. Da sie Arztbesuche verabscheute, kam es nur selten vor, dass sie sich krankschreiben ließ. Auch das hatte sie mit ihrem Chef gemeinsam, der seine Rückenschmerzen ebenfalls lieber zur Arbeit trug als zum Doktor. Und so kam es, dass das wohlverdiente Bier bei Annalena mehr Wirkung zeigte als sonst. Anders ließ sich wohl kaum erklären, was sich auf dem Heimweg der beiden zutrug.
Unweit des Lokals, das sie wegen Annalenas Unwohlsein schon früh wieder verlassen hatten, befand sich in einem wunderschön sanierten Straßenzug zwischen ansprechend restaurierten und renovierten Jugendstilvillen ein Haus, das aus dem Rahmen dieses gepflegten Bildes fiel. Grau, verfallen, verwahrlost und mit graffiti-besprühter Fassade stand das Gebäude wie das hässliche Entlein zwischen den Herrlichkeiten. Das Glas der Fenster war blind, die Farbe bröckelte von den Rahmen, die meisten Scheiben fehlten ganz, und die Öffnungen waren mit Brettern oder dicken Pappen vernagelt worden. Unter den Fensterbrettern hatten sich dicke Spinnweben gebildet, sogar diese schienen von ihren Bewohnern vor langer Zeit verlassen worden zu sein, Sand bröselte aus dem verwitterten Putz auf den ungepflegten Gehweg. Die Gitter der Luftschächte waren verrostet, die Kellerluken mit Spanplatten, Styropor und Decken verschlossen worden. Obwohl sich das Gebäude in diesem Zustand völlig unbewohnbar und auch ungenutzt präsentierte, drang Lärm aus dem Keller, als Lorenz und Annalena vorübergingen. Es klang nicht nach Musik und auch nicht nach den typischen Tönen des abendlichen Fernsehprogramms, es waren auch keine Maschinengeräusche wie bei einer Fabrik oder aus einem Hobbykeller, sondern Stimmen.
Annalena blieb stehen und erschauderte. Sie schlug den Kragen ihres Mantels hoch und spürte, wie sich der von der beginnenden Erkältung bedingte Gliederschmerz immer schneller in ihr ausbreitete. Sie fühlte sich fiebrig und müde, vom Bier jedoch gleichzeitig unbeschwert angeheitert, wie sie es sich nur an einem Freitagabend zum Wochenend-Einstieg zugestehen durfte. Sie bedeutete Lorenz, ebenfalls stehen zu bleiben, und lauschte. Ihr Gesicht nahm einen ungläubig erstaunten, fast ehrfürchtigen Ausdruck an.
»Das gibt’s doch nicht!«, flüsterte sie. »Genau wie beim Breslauer Spuk!«
Jeder andere hätte sie sicherlich fragend angeschaut, aber Lorenz wusste sofort, was sie meinte. Es gab eine sich an vielen Orten wiederholende Sage über uralte Häuser, aus deren Kellertiefen Stimmen und Gesang ertönten. Beim Breslauer Spuk speziell sollen das die Stimmen verstorbener Nonnen sein, da sich anstelle des Hauses dort früher ein Kloster befunden hatte. Wollte man den Stimmen auf die Schliche kommen und stieg in den Keller des betreffenden Hauses hinab, so fand man dort nichts vor, was die Geräusche erklären würde, die sich im Gegenzug in immer größere Tiefen entfernten.
»Breslauer Spuk also«, wiederholte Lorenz und lächelte. Anerkennend stellte er fest, dass Annalenas Sagenkenntnisse sich beachtlich weiterentwickelt hatten. Dabei hatte sie am Anfang nichts davon wissen wollen und ihn sicher für einen in die Jahre gekommenen Sonderling gehalten, der in verstaubten Büchern nach alten Geschichten suchte, um sie zurück in eine Welt zu tragen, in die sie seit Jahrzehnten nicht mehr passten.
Gleichzeitig musste er feststellen, dass in diesem Moment aus dem Keller des leerstehenden Gebäudes tatsächlich eine Art höfischer Gesang wie aus dem Mittelalter auf den Gehsteig nach oben drang, gefolgt von Worten, die sich anhörten, als hätte man sie Goethes Faust entlehnt:
»Bescheidne Wahrheit sprech ich dir. Wenn sich der Mensch, die kleine Narrenwelt, gewöhnlich für ein Ganzes hält …«
»Mephisto! Der Teufel!«, hauchte Annalena. Jegliche Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, im Dämmerlicht der Straßenlaternen wirkte ihre Haut blass und krank, was ihrer Erkältung geschuldet, aber auch Ausdruck ihres ungläubigen Schreckens sein konnte.
»Ich stimme zu. Das ist der Teufel«, meinte Lorenz und lächelte leicht, wobei er es gleichzeitig schaffte, seine Kollegin besorgt anzuschauen. »Meine Liebe, ich glaube, du musst schleunigst ins Bett, damit du dich gesund schlafen kannst. Wahrscheinlich hast du Fieber. Außerdem, scheint mir, sollte ich dich in Zukunft mit meinen Sagen besser in Ruhe lassen. Das hier ist auf jeden Fall kein Spukhaus, und die Stimme Mephistos gehört – nun, sie gehört einem Schauspieler. Zufällig weiß ich, dass hier im Keller jeden Freitag eine Laienspielgruppe klassische Theaterstücke wie zum Beispiel Goethes Faust probt!«
Dunkelwald
»Nun mach schon! Lass uns die böse Hexe jagen!«
»Wie bitte? Was meinst du damit?« Kommissarin Annalena Krest konnte dem Gedankengang ihres Kollegen Ralf Lorenz nicht folgen. Er war Hauptkommissar, ein Dienstgrad, den sie ebenfalls anstrebte.
»Ein zwölfjähriger Junge ist beim Pilze suchen im Wald verschwunden. Die Großmutter meint, ein Berggeist habe ihn in seiner Höhle eingeschlossen. Sie ist ziemlich durcheinander«, erklärte der Hauptkommissar.
»Berggeist? Und du meinst, die Erklärung mit der bösen Hexe wie bei Hänsel und Gretel ist da plausibler? Scherzkeks!«
»Bei verschwundenen Kindern ist mir wohl kaum zum Scherzen zumute. Also los!« Ralf Lorenz streifte seinen Mantel über und eilte voraus.
Auf einem Felsen über dem Fluss Pockau bei Marienberg im sächsischen Erzgebirge thronte die Ruine der mittelalterlichen Höhenburg Lauterstein. Nieselregen und der feuchte Nebel des Nachmittags verliehen dem Anblick der alten Mauern etwas Unheilvolles.
»Fahr langsamer«, verlangte Lorenz, während Annalena Krest den Wagen durch das Örtchen Niederlauterstein in Richtung Ortsausgang steuerte. »Hier irgendwo muss die Zufahrt sein.«
Die Kommissarin parkte, dann schlugen sich die Ermittler über den feuchten Waldboden schlitternd zu einer moosbewachsenen Lichtung durch, von der aus man die Burg besonders gut sehen konnte. Sie waren aber nicht zum Sightseeing hier.
Die Großmutter hatte stundenlang vergeblich nach dem Kind gesucht und damit wertvolle Zeit verschwendet.
Die Familie des vermissten Jungen stammte aus dem nahen Zöblitz.
»Würden Sie uns bitte noch einmal genau erzählen, was passiert ist?«, wandte Lorenz sich an die alte Frau, die in Richtung der Burgruine starrte.
»Verschwunden ist der Moritz, einfach weg.« Ihr Haar war regennass, ihre Hände krallten sich unruhig in die Falten einer verschlissenen Schürze.
»Wann haben Sie das gemerkt?«
»Erst gegen Mittag. Als er nicht zum verabredeten Treffpunkt gekommen ist. Wir gehen doch so oft zusammen in den Wald. Er kennt sich hier aus, der Moritz.«
»Was glauben Sie, was ihm zugestoßen ist?« Lorenz’ Blick blieb an dem Weidenkörbchen voller Pilze hängen, der neben der alten Frau auf dem Boden stand. »Hatte der Junge auch einen solchen Korb?«
»Einen Korb hatte er nicht. Der hätte den Moritz nur beim herumräubern gestört. Immer hat er aus seiner Jacke eine Art Tasche gemacht, die Ärmel verknotet. Was ihm zugestoßen ist? Der Berggeist hat ihn in den Felsen eingeschlossen!«
Lorenz antwortete nicht, sondern schaute die Alte fragend an. Von der Theorie der Großmutter hatten die Kollegen ihm bereits erzählt, ohne dass er sich darauf hätte einen Reim machen können. Annalena Krest stand neben ihm, bereit, alles Wichtige auf den Seiten ihres Notizbuchs festzuhalten.
»Was schauen Sie so ungläubig? Sie sind wohl nicht von hier? Kennen Sie die Geschichte vom Berggeist nicht?«, fragte die unglückliche Großmutter.
Ralf Lorenz kannte die Überlieferung. In Sachen Heimat und regionaler Geschichte konnte ihm kaum jemand etwas vormachen. Das meiste Wissen diesbezüglich verdankte er dem Ehrenamt im Heimatverein, das er seit dem Tod seiner Tochter bekleidete. Sagen waren zudem sein Spezialgebiet. Der Schatz vom Lauterstein war legendär. In unterirdischen Gewölben zu Füßen der Burg sollten demnach Gold und Edelsteine verborgen liegen. Manchmal, so hieß es, öffneten sich die verzauberten Felsen und gaben die Kostbarkeiten preis. Doch wer zu lange im Gewölbe verweilte, der wurde darin eingeschlossen, manchmal jahrelang, bis sich die Pforten des Berges das nächste Mal öffneten.
»Ich kenne die Geschichte«, versicherte er der alten Frau. »Aber vielmehr würde mich interessieren, ob es innerhalb der Familie etwas gibt, das ich wissen sollte. Sind die Eltern von Moritz vielleicht geschieden? Besteht ein Sorgerechtsstreit? Oder hat der Junge Probleme in der Schule? Ist er schon einmal weggelaufen?«
Die Alte straffte sich, ihr Blick wurde hart.
»Geschieden? So was gibt’s in einer guten Familie nicht. Und wir sind eine gute Familie. Dass er den Vater verloren hat, der Junge, dafür kann keiner was. Ein Unfall war das, ein verdeibelter! Bei der Arbeit vom Gerüst gestürzt ist er, mein lieber Sohn, mein Gerold. Sofort tot ist er gewesen, der Bub! Nun hat der Moritz nur die Mutter noch und mich. In der Schule hat’s keinen Kummer gegeben. Klug ist er, mein Enkel, sehr klug. Nie würde er uns Sorgen machen. Und verlaufen, bevor Sie das fragen, hat er sich auch nicht. Er kennt den Wald.«
Eine groß angelegte Suchaktion wurde anberaumt. Eine Hundertschaft Polizisten durchkämmte den Wald, bis die Dämmerung hereinbrach. Die Hundeführer suchten auch danach weiter, noch im Dunkeln. Unweit der Burgruine fand man eine Höhle. Und in dieser Höhle die Leiche eines Jungen. Aber es war nicht die Höhle des Berggeistes, der dort auf seinem Goldschatz gehockt hatte. Und der Junge, das war auch nicht Moritz. Es handelte sich um ein unbekanntes Kind in einem unterirdischen Verlies. Ein Verlies, von Menschenhand geschaffen, ein Kind, von Menschenhand entführt und eingesperrt. Es war völlig abgemagert und musste am Ende verhungert sein. Erst nach grenzüberschreitenden Ermittlungen in Richtung Tschechien konnte die Kinderleiche identifiziert werden: Pavel Kozuc, ein vermisster Junge aus Vejprty, der vor mehr als zwei Jahren verschwunden war. DNA-Spuren seines Entführers konnten in der Höhle sichergestellt werden, sie waren eindeutig menschlich und konnten mitnichten einem Berggeist zugeordnet werden. Dennoch fand sich kein Hinweis auf den Täter in den relevanten Datenbanken.
Moritz aus Zöblitz hingegen blieb verschwunden. Auch Jahre später fehlte von dem Kind noch immer jede Spur. Das heißt, eine Spur gab es wohl, die der Großmutter jede Hoffnung auf Rückkehr des Jungen raubte. Wanderer hatten den Pullover gefunden. Die Ärmel waren an den Enden miteinander verknotet und verliehen dem Kleidungsstück so den Charakter eines Tragetuches. Es war, davon zeugten verwesende Reste, mit Pilzen gefüllt gewesen. Nicht mit Gold und Edelsteinen, wie es hätte sein müssen, wenn Moritz sich in die Schatzkammern des Berggeistes verirrt hätte.
Das schwebende Fräulein
Der neue Lehrer in der Oberschule am Zeller Berg brachte Bewegung in den monotonen Schulalltag. Nicht nur pubertierende Mädchen begannen aufgeregt zu tuscheln, sobald der attraktive Achtunddreißigjährige im Gang erschien, auch im weiblichen Lehrerkollegium häuften sich nunmehr Friseurbesuche und Diäten.
Deutsch und Biologie unterrichtete Wolf Rößler, er war mit seiner Tochter aus Schneeberg nach Aue gezogen. Vermutlich im Rahmen der Trennung von seiner Frau, munkelte man, denn eine Frau Rößler tauchte nie auf, und aus dem schüchternen Fräulein Tochter war ohnehin kein Wort herauszubekommen.
Die Schülerin war von einer beinahe kranken Blässe und absolut kontaktscheu. Anna Rößler war so zierlich, ihre Haut so durchscheinend, dass mancher bei ihrem Anblick dachte, sie würde zerbrechen, sobald man sie berührte.
Direkt zu Schuljahresbeginn standen Hintergründe und Interpretierung von Sagen auf dem Lehrplan der achten Klasse. Nichts lag für die Auer Schüler und ihren Lehrer Rößler näher, als sich dafür die regional verwurzelte Sage vom schwebenden Fräulein vorzunehmen.
Das schwebende Fräulein ist laut Überlieferung ein in Weiß gewandeter Geist, der über der Mulde bei Zelle schwebt. Es sei ein freundlicher, unschuldiger Geist, der keinem etwas zuleide tut, heißt es. In längst vergangenen Zeiten brachten ihm musizierende Bergleute auf dem Heimweg bei Morgengrauen ein Ständchen, zu dem die schöne Tote über dem munter dahinrauschenden Fluss im Nebel anmutig tanzte – und sich mit Sommerblumen bedankte, die sich in den Taschen der Bergleute zu Gold verwandelten. Nun ja, nur in den Taschen des einen Bergmannes, denn der andere hatte die Blumen weniger wertgeschätzt und weggeworfen.
nicht hing
Spuren am moosbewachsenen Stamm zeigten, wo die junge Frau ihn erklommen hatte und hinaufgeklettert war. Nachthemd und Füße waren von Moos grün verschmiert. Augenscheinlich hatte sie den stärksten Ast gewählt, war rittlings darauf nach vorn gerutscht und hatte die mitgebrachte Wäscheleine sehr sorgsam daran verknotet. Sie hatte sich irgendwann in der Nacht erhängt.
Ein Fremdverschulden konnte nach rechtsmedizinischer Untersuchung ausgeschlossen werden.
Sagenerzähler und Frauenschwarm Rößler starrte fassungslos auf das leblose, fast durchscheinend wirkende Mädchen. Nur er, der Vater, hatte nicht begriffen, dass es zerbrechen würde, sobald man es berührte.
Er hatte Anna berührt.
Nachts.
In ihrem Zimmer.