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Jennifer Waschke

#loveyourself

Das Buch:

 

Zweiundzwanzig Monate voller Qualen liegen hinter der fünfzehnjährigen Cleo. Das Gesicht ist durch Verbrennungen dritten Grades entstellt, ihr Lebenswille gebrochen. Als sie nach fast zwei Jahren endlich an ihre Schule zurückkehrt, hofft sie auf Besserung, die sich jedoch schnell zerschlägt. Ihre alten Freunde wenden sich von ihr ab und sie wird immer mehr zur Außenseiterin. Erst der sehbehinderten Terisa gelingt es, auf Cleo einzugehen und sie so anzunehmen, wie sie ist. Gemeinsam mit ihrem besten Freund Simon versucht sie, Cleo unbeschwerte Momente zu schenken und ihr ihren Lebensmut zurückzugeben. Und es funktioniert …, wären da nur nicht der Selbsthass und die Scham wegen ihrer Narben, die sich immer wieder in Cleos Herz schleichen. Cleo muss sich entscheiden, zu kämpfen – für Freundschaft, Liebe, aber vor allem für sich selbst.

 

Die Autorin:

 

Jennifer Waschke wurde am 15.06.1988 geboren. Aufgewachsen im Kölner Norden lebt sie inzwischen in Dormagen, fühlt sich jedoch noch immer mit Köln verbunden. Sie ist staatlich anerkannte Erzieherin und Sozialarbeiterin und arbeitet in einer Abteilung vom Jugendamt. Dort installiert sie Hilfen für Kinder und Jugendliche mit Legasthenie und Dyskalkulie. Seit ihrer frühsten Kindheit schreibt sie Geschichten und träumt davon, ihre eigenen Bücher in den Händen halten zu können. Dabei ist es ihr ein Anliegen, mit ihren Geschichten nicht nur zu unterhalten, sondern auch zum Nachdenken anzuregen. Die Autorin freut sich, über Social Media von ihren Lesern zu hören.

 

 

Jennifer Waschke

 

 

Roman

 

 

 

#loveyourself

Jennifer Waschke

 

Copyright © 2018 at bookshouse Ltd.,

Ellados 3, 8549 Polemi, Cyprus

Umschlaggestaltung: © at bookshouse Ltd.

Coverfotos: www.shutterstock.com

Satz: at bookshouse Ltd.

Druck und Bindung: bookwire

Printed in Germany

 

ISBNs: 978-9963-53-893-5 (Paperback)

978-9963-53-894-2 (E-Book .pdf)

978-9963-53-895-9 (E-Book .epub)

978-9963-53-896-6 (E-Book Kindle)

 

 

www.bookshouse.de

 

 

 

Urheberrechtlich geschütztes Material

Für alle, die gerade am Boden sind.

Haltet durch und kämpft. Es wird sich lohnen.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

Epilog

Danksagung

Prolog

 

 

 

»Bist du sicher, dass ich nicht mit hineinkommen soll?«, fragte ihre Mutter zum vierten Mal. Terisa schüttelte energisch den Kopf. Wieso musste sie immer übertreiben und sie in Watte packen?

»Ich komme schon klar«, erwiderte Terisa, ehe ihre Mutter erneut fragen konnte. Sie raffte ihren Rucksack, öffnete die Tür des Wagens und klappte ihren Stock aus, der mit einem leisen Klack auf dem Gehweg aufkam.

»Ich wünsche dir einen ganz tollen ersten Tag«, sagte ihre Mutter, während Terisa mit ihrem Stock den Boden abtastete. Die Autotür hinter ihr schwang zu. Sie hörte jedoch nicht, dass der Wagen wegfuhr. Vermutlich beobachtete ihre Mutter sie noch und verfolgte jeden ihrer Schritte, stets darauf gefasst, sie zu retten. Aber sie wollte nicht gerettet werden.

Der Wunsch, auf diese Schule zu gehen, war viel zu lang in Terisa, als dass sie sich die Blöße geben würde, sich helfen zu lassen. Ihre Mutter war wegen des Schulwechsels nervös und in den letzten Wochen in einige für sie untypische, gluckenhafte Verhaltensmuster verfallen. Terisa war wegen des Wechsels nicht weniger nervös, sodass es ihr gutgetan hätte, wenn ihre Mutter stärker an sie und diese neue Schule geglaubt hätte – wenn sie Terisas Nervosität damit aufgesaugt hätte. Stattdessen hatte sie sie verschlimmert, und nun hoffte Terisa nur noch, dass sie in dieser Schule gut Anschluss finden würde, damit ihre Mutter wieder die alte werden könnte.

Nach exakt vierundvierzig Schritten stieß sie mit ihrem Stock an eine Barriere. Langsam tastete sich Terisa vor. Ihr Stock glitt einige Zentimeter an der Barriere hoch, bis er sich wieder nach vorn bewegen ließ, um erneut auf eine Barriere zu stoßen. Eine Treppe. So sicher, wie sie konnte, erklomm sie Stufe für Stufe und landete schließlich oben. Sofort umgab sie ein Stimmengewirr, das sie verunsicherte. Tief ein- und ausatmend versuchte Terisa, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen und trotzdem weiterzugehen.

Ein kleiner Hieb traf sie am Ellenbogen. Erschrocken blieb sie stehen.

»Hey, bist du blind oder was? Pass doch auf«, schimpfte eine männliche Stimme.

»Ähm … ja? Bin ich«, antwortete Terisa unsicher und hielt demonstrativ ihren Langstock hoch. Doch die Schritte des Jungen entfernten sich schon wieder. Verärgert schüttelte sie den Kopf. Solche Sprüche hatte sie auf ihrer alten Schule nicht gehört – eine spezielle Schule für sehbehinderte Kinder und Jugendliche. Aber sie hatte diesen Schulwechsel auf die Regelschule unbedingt gewollt. Seit Jahren hing sie ihrer Mutter damit in den Ohren, hatte sie angefleht, es zu versuchen, bis sie endlich die Erlaubnis bekommen hatte. Nach all den Bemühungen musste sich Terisa eine dickere Haut anlegen, um solche Sprüche problemlos hinunterzuschlucken.

Doch ein erneuter Rempler ließ sie straucheln. Ihr Langstock fiel scheppernd zu Boden. Terisa fluchte leise.

»Sieh dir nur an, was du angerichtet hast, du dämliche Kuh!«, hörte sie eine weibliche Stimme direkt vor ihr zetern. »Deinetwegen habe ich meinen Chai Latte verschüttet. Das Oberteil werde ich reinigen müssen!«

»Ich … es tut mir leid«, murmelte Terisa, auch wenn sie sich nicht sicher war, wer an diesem Zusammenstoß tatsächlich Schuld hatte. Peinlich berührt versuchte sie, ihren Stock aufzuheben. Sie tastete sich vorwärts und spürte förmlich die Blicke der Umstehenden. So hatte sie sich den ersten Tag an einer Regelschule nicht vorgestellt.

Terisa fand endlich ihren Stock, doch irgendetwas beschwerte ihn, sodass sie ihn nicht aufheben konnte.

»Entschuldigung, aber kann es sein, dass du auf meinem Stock stehst?«, fragte sie vorsichtig und hörte daraufhin eine abfällige Lache.

»Was bist du? Eine Art Freak?«, verpönte das Mädchen sie, und einige der Umstehenden lachten. Ein fieses, gemeines Lachen, das nur dazu gedacht war, Terisa zu verletzen.

»Ich bin blind, wenn du es genau wissen willst«, erwiderte Terisa und klang dabei sehr viel tougher, als sie sich innerlich fühlte.

»Sag ich doch: ein Freak«, johlte das Mädchen.

Terisa war es unverständlich, wie sie so gemein sein konnten, wo die Mädchen sie doch gar nicht kannten. Sie überkam das Gefühl, gleich weinen zu müssen – ob vor Scham oder Wut, wusste sie nicht. Doch sie ließ die Tränen nicht zu. Keinesfalls würde sie als das blinde Mädchen enden, das am ersten Tag vor allen geheult hatte.

Terisa ließ von dem Versuch, ihren Stock aufzuheben, ab und richtete sich auf, um wenigstens nach außen hin würdevoll und mutig zu wirken.

»Keine Ahnung, warum die Schule auch Behinderte hier aufnimmt. Dafür gibt’s doch Sonderschulen«, sagte das Mädchen und Terisa hörte, wie einige andere Mädchen lachten und ihr zustimmten.

Allmählich wurde Terisa sauer über die Art, wie dieses hochnäsige Mädchen mit ihr umsprang. Was zum Teufel hatte sie eigentlich für ein Problem?

»Ob es dir passt oder nicht, ich bin jetzt hier. Das nennt man Inklusion«, antwortete sie und hielt ihr Gesicht extra hoch, um keine Schwäche zu zeigen. Sie hatte sich angewöhnt, auf solche Leute besonders stark wirken zu wollen. Zu oft hatte sie von Bekannten aus ihrer alten Schule mitbekommen, wie sie in eine Opferrolle verfielen. Wenn man eine Behinderung hatte, offenbarte man seinen Mitmenschen seine Schwachstelle und wurde schnell zur Beute. Menschen ohne Behinderungen hatten es leichter. Sie konnten ihre Schwachstellen besser vertuschen. Terisa jedoch wollte nicht, dass sie jemand für schwach hielt. Sie wollte als ebenbürtig angesehen werden, weshalb es ihr auch so wichtig gewesen war, auf diese Schule zu gehen.

»Unser Neuzugang scheint ganz schön vorlaut zu sein«, antwortete das Mädchen, und ihre Stimme wurde schneidend.

Terisa spürte, wie das Mädchen ihr näher kam und sich direkt vor ihr aufbaute. Sie schien größer zu sein als Terisa.

»Ich habe einen gut gemeinten Rat für dich: Halt dich von mir fern! Sonst lernst du mich richtig kennen!« Das Mädchen rempelte Terisa erneut an, ebenso wie zwei andere Schüler oder Schülerinnen, die ihr folgten. Ihre Schritte entfernten sich, und Terisa atmete auf.

»Du solltest Cleo wirklich aus dem Weg gehen. Die meint das ernst«, ertönte plötzlich eine weitere, diesmal männliche Stimme hinter ihr und ließ sie zusammenfahren. Sie hasste es, wenn sich Leute anschlichen.

»Keine Panik«, sagte der Junge. »Ich bin nicht wie die Eiskönigin.« Er drückte Terisa etwas in die rechte Hand. Erstaunt ertastete sie ihren Langstock, den er für sie aufgehoben hatte.

»Die Eiskönigin?«, hakte Terisa nach und umklammerte ihren Stock, um ihn nicht wieder zu verlieren. Ohne ihn fühlte sie sich in dieser fremden Umgebung unsicher und verletzlich.

»Na, Cleo … der Schrecken unter den Mädchen. Sie ist im Inneren so kalt wie Eis, aber so beliebt wie eine Königin.« Der Junge lachte, aber es klang verbittert.

Unwillkürlich fragte sich Terisa, wie jemand mit solch einem Benehmen beliebt sein konnte, und ihr fiel keine plausible Erklärung ein. Sie wusste zwar, dass die machtvollsten Menschen meist die schlechtesten Menschen waren – das hatte die Geschichte gezeigt –, aber auch das hatte sie noch nie nachvollziehen können. Sie fragte sich, ob die Beliebtheit dieser Cleo damit zusammenhängen könnte, dass die anderen Schüler Angst vor ihr hatten. Terisa für ihren Teil hatte jedenfalls ein beängstigendes Gefühl bei ihr, auch wenn sie nach außen hin versucht hatte, cool zu wirken. Im Innern war sie wie ein feiger Hase davongelaufen.

»Du bist neu hier«, stellte der Junge fest und riss Terisa aus ihren Gedanken. »Ich bin Simon.« Er streckte ihr eine Hand entgegen und berührte sie umsichtigerweise leicht mit den Fingerspitzen, damit sie es spüren konnte.

Lächelnd nahm Terisa seinen Handschlag an. »Ich bin Terisa, aber du kannst mich Terry nennen«, antwortete sie, während sie die Hand schüttelte.

Simon brachte sie zum Sekretariat, und Terisa war erleichtert, nicht mehr in die Situation kommen zu müssen, mit anderen zusammenzustoßen. Die Begegnung mit Cleo hatte ihr gereicht und saß ihr noch in den Knochen. In Zukunft würde sie versuchen, einen großen Bogen um dieses Mädchen zu machen. Mit Eisköniginnen sollte man sich nicht anlegen. Das ging schon in Filmen nicht gut aus.

Kapitel 1

Zwei Jahre später

 

 

 

»Cleo, beeil dich bitte! Sonst kommst du am ersten Tag noch zu spät«, rief ihre Mutter ungeduldig, während sich Cleo im Spiegel betrachtete. Sie hatte ihr Lieblingskleid angezogen – das dunkelviolette, das ihre Haut zum Strahlen brachte. Eigentlich. Als sie es dieses Mal im Spiegelbild sah, konnte sie nichts von dem Glanz oder von der Schönheit erkennen, die sie einst umgeben hatten. Sie begutachtete ihre geschwungenen Lippen und ihr blondes Haar, das ihr in sanften Wellen über das linke Ohr fiel. Es sah seidig und gesund aus, und sie wusste, dass die halbe Stadt sie um ihre gesunden Haare beneidete. Beneidet hatte …

Sie wandte ihren Blick von ihrer linken Gesichtshälfte ab, schluckte schwer und schmerzhaft und betrachtete ihre rechte Seite. Ihr glanzvolles Haar war weg, ebenso wie ihr rechter Nasenflügel, der ein kleines, deformiertes Loch hinterlassen hatte, über das sich nun rosa Haut spannte, die sich über ihre Wange, ihren Mund und ihr Ohr ausbreitete. Sie sah schrecklich aus! Wie ein Monster. Ein Anblick, den auch das schöne Kleid und die sorgfältig geschminkte linke Gesichtspartie nicht verbessern konnten. Diese Entstellung war von Dauer. Und heute würde der Tag sein, an dem sie der Schule diese Entstellung offenbaren musste.

Seit der Party vor zwei Jahren – dieser dämlichen Party – hatte sie niemand mehr gesehen. Einige ihrer Mitschüler hatten sie im Krankenhaus besuchen wollen, aber sie hatte abgelehnt. Anfangs aus Ekel vor sich selbst. Der Gestank des verbrannten Fleischs war penetrant und ekelerregend gewesen. Noch zwei Jahre danach war es ihr manchmal so, als wäre der Geruch noch da – als würde er an ihr haften und nie wieder weggehen. Er hatte sich in ihrem Gedächtnis eingebrannt und würde sie vermutlich für immer begleiten.

Diesen Geruch hatte sie niemandem zutrauen wollen. Nur ihre Eltern hatten sie besucht und umsorgt, obgleich sich Cleo auch vor ihnen geschämt hatte. Scham war auch der Grund gewesen, wieso sie später niemanden hatte sehen wollen, als der verbrannte Geruch verschwunden war und sie neue, verletzliche Haut transplantiert bekommen hatte.

Seit dem Unfall hatte sie sich von allen abgeschirmt und sich verschanzt, egal, wie oft ihre Eltern ihr gesagt hatten, sie solle wieder vor die Tür gehen.

Wenn sie so wie jetzt in den Spiegel blickte, verstand sie einmal mehr, wieso sie sich in ihrem Haus versteckt gehalten hatte. Sie sah in ihrem Spiegelbild nur noch einen Schatten ihrer selbst. Links das beliebteste Mädchen der Schule, Klassensprecherin und der Schwarm der Jungs. Rechts ein Horrorfilmverschnitt, der die Kinder das Fürchten lehren konnte.

Ihre Mutter betonte seit genau zweiundzwanzig Monaten immer und immer wieder, dass sie nach wie vor hübsch sei und dass sie nichts entstellen könne, aber ihre Augen verrieten, dass sie es nicht so meinte. Oft bildeten sich Tränen in ihnen, wenn sie Cleo ansah. Wenn sie es überhaupt tat, denn Cleo hatte den Eindruck, dass ihre Mutter ihr weniger ins Gesicht blickte. Vermutlich, weil sie ebenso wenig den Anblick ihrer vernarbten Haut ertragen konnte wie Cleo selbst.

»In fünf Minuten müssen wir los«, brüllte ihre Mutter erneut hoch, und Cleo seufzte kapitulierend.

Egal, wie lange sie sich betrachtete, so würde sich das Spiegelbild doch nicht ändern. Auch ihre Angst vor dem vor ihr liegenden Tag konnte sich nicht in Luft auflösen. Sie wandte den Blick vom Spiegelbild ab, schulterte ihren hellgrauen Lederrucksack und ging die Treppe hinunter.

Der Weg in die Schule war schweigsam und quälend. Nach einigen Versuchen ihrer Mutter, Cleo zu beruhigen und ihr Mut zuzusprechen – auf die sie nicht reagiert hatte –, wurde das Radio eingeschaltet, um einer weiteren Konversation aus dem Weg zu gehen. Auch ihre jüngere Schwester auf dem Rücksitz sagte nichts, musterte Cleo jedoch mit hochgezogenen Augenbrauen.

Bereits aus dem Auto heraus erkannte Cleo ihre alte Clique. Monique, Sarah, Leo und Verena saßen auf der Mauer neben dem Schuleingang, direkt unter einer der großen Eichen. Cleo hatte diesen Ort damals für sie ausgesucht. Vor ihrem Unfall war der Platz in der Mitte für sie reserviert gewesen, doch nun saß dort Monique. Dieses Bild hinterließ ihr eine Gänsehaut von der Fußsohle bis zur Kopfhaut. Es zeigte, wie lang sie weggewesen war, und wie viel sich seitdem verändert hatte.

»Ruf an, wenn irgendetwas ist«, verabschiedete ihre Mutter sie und blickte sie besorgt an.

Cleo nickte und öffnete schweren Herzens die Autotür. Unwillkürlich schossen ihr tausend Gedanken durch den Kopf. Bilder und Prognosen, wie dieser erste Tag verlaufen könnte, schlichen sich in ihr ein und verursachten eine beinahe lähmende Angst. Sie wollte zu ihrer Clique gehen, aber ihre Füße gehorchten ihr nicht, als würden sie noch überlegen, zu fliehen. Die Idee, wieder in den Wagen zu steigen und sich eine Decke über den Kopf zu ziehen, um der Schule und ihren Mitschülern zu entgehen, kam ihr mit einem Mal verlockend vor. Denn die Wahrheit war, dass Cleo Angst hatte. Und das, obwohl sie sich mit Angst mittlerweile gut hätte auskennen sollen, nach allem, was sie erlebt hatte.

Während des Unfalls, eingeschlossen in dem Meer aus Flammen, war ihr die Angst pulsierend vorgekommen. Sie war wie Stromschläge durch ihren Körper gefahren und hatte ihr ebenso die Luft zum Atmen genommen wie auch der Rauch, der langsam ihre Lungen gefüllt hatte.

Cleo zupfte unsicher an ihrem Kleid. Sie fühlte sich verletzlich, und das war eine Empfindung, die sie in Verbindung mit der Schule und ihrer Clique noch nie gespürt hatte. Cleo war immer tough und mutig gewesen, sicher und stolz. Sie war die geborene Anführerin. Sie hatte diese Menschen zusammengebracht und aus ihnen eine Clique gemacht. Sie war der gemeinsame Nenner, und sie schwor sich, dass auch der Unfall ihr das nicht wegnehmen könnte.

Und so atmete sie ein paar Mal tief durch und ging schnellen Schrittes auf die Mauer zu.

Von Weitem hörte sie Monique laut über irgendeinen Kommentar von Sarah lachen, und ihr Herz begann zu rasen, als wollte es jeden Moment aus der Brust springen. Noch schien Cleos Anwesenheit niemandem aufzufallen, aber die Clique hatte unter ihrem Regiment auch gelernt, sich nicht durch andere stören zu lassen, sondern sich aufeinander zu konzentrieren.

»Hallo Leute«, stotterte sie, als sie nah genug stand, um gehört zu werden. Cleo spürte die Blicke einiger umherstehender Mitschüler auf sich, die sie jedoch gewissenhaft ignorierte. Diese Leute zählten nicht. Die einzigen, die wirklich wichtig waren, saßen direkt vor ihr.

Verena war die Erste, die zu ihr aufsah. Verwirrt runzelte sie die Stirn, als würde sie Cleo nicht erkennen, doch dann weiteten sich ihre Augen. Ihr Blick huschte über Cleos rechte Gesichtshälfte, von ihrer Nase zu ihrem Ohr und über ihre Haare, ganz so, wie sie es erwartet hatte. Und obwohl sie darauf gefasst gewesen war, war diese Musterung wie ein Stich in ihr ohnehin verletztes Herz, wie ein Finger in einer Wunde.

»Cleo?«, fragte Verena skeptisch und verschaffte ihr die Aufmerksamkeit der anderen, die sie ansahen, als hätten sie einen Geist gesehen.

»Ich bin es. Ich gehe ab heute wieder zur Schule«, antwortete Cleo so laut und selbstsicher, wie sie konnte.

»Du siehst …«, Leo räusperte sich, »Ich meine: Geht’s dir gut?« Würde er weiterhin den Mund offen stehen lassen, würde er noch riskieren, eine Fliege zu verschlucken.

»Ist schon gut, Leo. Ihr könnt aufhören, so zu gucken. Ich weiß, dass es schlimm aussieht, aber ich komme klar.« Auch wenn der letzte Satz nicht stimmte, wollte Cleo nicht den Anschein erwecken, schwach zu sein. Wenn sie wieder zu ihrem alten Ich wiederkehren wollte, brauchte sie so viel Stärke, wie sie ausstrahlen konnte.

»Schön, das freut mich für dich«, meldete sich erstmals Monique zu Wort. Ihre Stimme war eisig und erinnerte nicht im Entferntesten an das Mädchen, das vor zwei Jahren Cleos beste Freundin gewesen war. »Wir sehen uns sicher später. Wir müssen jetzt rein.« Monique gab deutlich erkennbare Signale an die anderen, die daraufhin aufstanden wie aufgescheuchte Hühner und Cleo hinter sich ließen, ohne sich noch mal umzudrehen.

Cleo war sich durchaus bewusst, dass dies eine Abfuhr gewesen war. Himmel, schließlich hatte sie diesen Abgang quasi erfunden, so oft, wie sie irgendwelche Mädchen und Jungs abgewiesen hatte, die mit ihnen hatten rumhängen wollen. Nur, dass sie es nur bei Leuten angewandt hatte, die uncool waren. Und Cleo wollte noch nicht akzeptieren, einer von diesen Menschen zu sein. Natürlich wusste sie, dass ihr Äußeres sie nicht mehr glänzen ließ, aber sie hatte dennoch die Hoffnung gehabt, in ihrer Clique echte Freunde zu haben, die auch zu ihr hielten, wenn es mal nicht so gut für sie lief.

 

Der Unterricht war anstrengend. Nicht nur, weil Cleo während ihrer Zwangspause so viel Schulstoff versäumt hatte, dass sie eine Klasse wiederholen musste, sondern auch, weil sie angegafft wurde wie eine Zirkusattraktion. Egal, ob auf den Gängen oder während sie versuchte, den Lehrern zu folgen – sie spürte diese Blicke überall und so intensiv, dass sich Übelkeit und Aggressionen in ihr breitmachten. Anfangs hatte sie zurückgestarrt, um die Gaffer zu provozieren, aber dann hatte sie all die Gefühle in den Gesichtern gelesen: Ekel, Neugier, Trauer. Also hatte sie damit aufgehört, denn sie wollte lieber versuchen, nichts zu fühlen, anstatt sich den Emotionen der anderen anzunehmen und nachher einen Nervenzusammenbruch zu bekommen.

Selbst die Lehrer schenkten ihr hin und wieder mitleidige Blicke, als wäre sie ein ausgesetzter Hundewelpe. Es war insgesamt wohl der schlimmste Schultag in Cleos Leben und das, obwohl es nicht mal zur Mittagspause geklingelt und sie noch weitere drei Stunden vor sich hatte.

Ihr war schon jetzt klar, dass ihre neue Klasse sie nicht integrieren wollte – das sah sie an den Blicken der anderen – und gleichzeitig war ihr klar, dass sie ebenso wenig integriert werden wollte. Alle ihre Mitschüler waren eindeutig jünger als sie, eine Tatsache, die sie störte. Hinzu kam, dass sich die meisten von ihnen alles andere als modisch kleideten und auch sonst mehr zu der Sorte Menschen gehörten, die Cleo früher ignoriert hatte. Als es zur Mittagspause läutete und die Klasse an ihr vorbeiströmte, musterte sie alle aufmerksam. Sie sah unter ihnen dieses merkwürdige blinde Mädchen, deren Name Cleo entfallen war. Aber sie erinnerte sich noch an sie. Sie war eine Woche vor ihrem Unfall auf die Schule gekommen, und Cleo hatte sich gefragt, was in die Schulleiterin gefahren war, dass sie ein behindertes Mädchen aufnahm. Sie fand diese milchig-trüben Augen gruselig und hatte sie nicht regelmäßig sehen wollen. Und nun hatte Cleo dieses Mädchen mit ihren gruseligen Augen tagtäglich vor sich …

Selbstbewussten Schrittes ging Cleo an den anderen vorbei, bog in die Cafeteria ab und holte sich am Automaten eine Tüte Kartoffelchips, Moniques und ihre Lieblingsmarke. Sie hatte den Wunsch, die Mittagspause mit ihrer alten Clique zu verbringen und würde sich nicht noch mal abservieren lassen. Mit den Snacks bewaffnet näherte sie sich dem Tisch in der Mitte, an dem die anderen bereits saßen.

»Jemand Lust auf Chips?«, fragte sie, als sie vor Monique stand. Sie hielt demonstrativ die Tüte in die Höhe, damit die anderen die Marke lesen konnten.

Monique betrachtete sie abfällig. »Ich esse keine Kohlenhydrate mehr. Ich mache eine Low-Carb-Diät.«

»Das klingt interessant. Wie funktioniert das denn?«, erwiderte Cleo, doch Monique hatte sich bereits wieder Verena zugewandt, die sie über die Schultern hinweg entschuldigend ansah.

Es war schmerzhaft, so abgewiesen zu werden, aber Cleo war nicht bereit, aufzugeben. Kurz entschlossen setzte sie sich zu den anderen an den Tisch. »Meine neue Klasse ist echt lahm«, witzelte sie und hoffte auf ein paar Lacher, so wie früher.

»Dann passen sie ja zu dir«, antwortete Monique und bleckte die Zähne wie ein Raubtier vor dem Sprung. »Cleo, du weißt, dass ich dich schätze, aber das mit uns war einmal. Du gehörst nicht mehr zu unserer Clique.«

»Aber …«

»Du wirst doch verstehen, dass wir mittlerweile in zwei verschiedenen Welten leben und sich in den zwei Jahren zu viel verändert hat«, unterbrach Monique sie und ließ ihr keine Chance, etwas zu erwidern. Moniques Stimme war schneidend und ließ keinen Widerspruch zu. Die anderen sagten keinen Ton, obgleich Cleo sie mit ihren Blicken anflehte. Doch Monique war nun die Anführerin der Truppe, und Cleo wusste aus eigener Erfahrung, dass sie ihr nicht widersprechen würden. Also kapitulierte sie. Wie in Trance griff sie sich ihre Chips und stand vom Tisch auf.

»Bei ihrem Anblick vergeht einem wirklich jeder Appetit«, hörte sie Monique zu den anderen sagen, kaum dass sie ihnen den Rücken zugedreht hatte.

Sie war sich sicher, dass Monique extra laut sprach, um sicherzugehen, dass sie diesen Kommentar auch hören würde. Und er saß! Cleo fühlte sich benommen, als hätte man ihr mit voller Wucht in den Magen geboxt. Sie nahm die anderen Schüler nur verschwommen wahr, als sie aus der Cafeteria stürmte und sich Tränen anbahnten.

Auf ihrer Flucht rempelte sie einige der Schüler an, aber sie blickte nicht zurück. Stattdessen kämpfte sie sich durch die Gänge und spürte, wie die ersten Tränen ihre Wange hinunterliefen. Auf keinen Fall wollte sie, dass sie jemand in der Schule weinen sah. Nicht an ihrem ersten Tag und nicht, wenn ohnehin schon alle auf sie guckten. Fieberhaft überlegte sie, ob sie es bis auf den Schulhof schaffen würde, um sich dort irgendwo zu verschanzen, aber sie wusste, dass sie nicht weiter durch die Gänge streifen konnte, ohne gesehen zu werden.

Links neben ihr ging die Tür der Mädchentoilette auf und zwei fröhlich plappernde Mädchen kamen heraus, die so in ihr Gespräch vertieft waren, dass sie nicht bemerkten, wie Cleo durch die geöffnete Tür huschte. Der Vorraum war leer. Cleo ging auf eine der Kabinen zu, schloss sich darin ein und ließ sich auf dem Toilettendeckel nieder. Nur Sekunden später liefen ihr die Tränen übers Gesicht, und sie schluchzte bitterlich.

Dies war also ihr erster Schultag nach zweiundzwanzig Monaten: Sie hockte in einer muffig riechenden Toilettenkabine und heulte Rotz und Wasser. Seit Monaten hatte sie sich nicht mehr so allein und hässlich gefühlt wie in diesem Moment. Man hätte meinen können, dass sie die Einsamkeit gewohnt war, wo sie doch die letzten zwei Jahre keinen ihrer Freunde gesehen hatte. Aber bislang hatte sie sich eingeredet, dass sie einfach ihren Wunsch respektiert hatten, als sie sich nicht mehr meldeten – dass sie ihr den Raum gaben, den sie brauchte. Es war Cleos Hoffnung gewesen, dass ihre Clique sie verstehen und wieder in ihren Kreis aufnehmen würde. Doch diese Hoffnung war zerschlagen, und der ablehnende Gesichtsausdruck von Monique würde ihr wohl für immer im Gedächtnis bleiben, ebenso wie ihr Spruch. »Bei dem Anblick vergeht einem der Appetit«, hatte sie gesagt, und Cleo biss sich beschämt auf die Lippe. Mit zitternden Händen betastete sie ihre Haut auf der rechten Gesichtshälfte. Sie fühlte sich weich an, viel weicher als die normale Haut, und gleichzeitig konnte sie Erhebungen und Verhärtungen spüren, weil das Narbengewebe nicht gleichmäßig gewachsen war. Mittlerweile tat es nicht mehr weh, sie zu berühren, und es juckte auch nicht mehr so fürchterlich wie zu Beginn, als die neue Haut hatte heilen müssen. Trotzdem spürte sie mit den Fingerspitzen, dass sich die Haut anders anfühlte als sie sollte. Sie konnte ertasten, dass sie nicht dorthin gehörte, sondern transplantiert war – und man sah es auch, denn die Haut war rosa, zu Beginn sogar rot gewesen.

Ihre Fingerspitzen wanderten weiter, diesmal zu ihrem nach hinten gerutschten Haaransatz. Die Ärzte hatten gesagt, dass ihre Haare an den verbrannten Partien vermutlich nie wieder nachwachsen würden. Auch eine Haartransplantation sei auf der transplantierten Haut nicht möglich.

Unwillkürlich fuhr ein wütender Schrei aus Cleo, während sie wieder heiße Tränen ansammelte. Sie fühlte sich, als hätte sich die ganze Welt gegen sie verschworen.

»Alles in Ordnung da drin? Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte plötzlich die Stimme eines Mädchens, das zaghaft an die Kabinentür klopfte.

Cleo war so in ihrer Gedankenwelt versunken gewesen, dass sie nicht gemerkt hatte, wie jemand die Toilette betreten hatte.

»Alles bestens, danke«, murmelte sie beschämt und hoffte, das Mädchen würde schnell wieder gehen. Doch die hellblauen Turnschuhe, die sie durch den Schlitz der Kabinentür sah, verschwanden nicht.

Cleo bemühte sich, ihren Tränenfluss zu stoppen und wieder einen klaren Kopf zu bewahren. Instinktiv wusste sie, dass das Mädchen nicht gehen würde. Vermutlich war sie einer dieser überfürsorglichen Mutti-Verschnitte, die sich gern in die Angelegenheiten anderer einmischten. Gleichzeitig war sie sich sicher, dass die Mittagspause bald zu Ende sein würde, sodass sie sich ohnehin sammeln musste. Sie riss ein großes Stück Toilettenpapier ab, tupfte sich ihre nassen Wangen ab und putzte sich geräuschvoll die Nase, ehe sie die Kabine verließ. Vor ihr stand dieses blinde Mädchen, das nun in ihrer Klasse war.

»Ist wirklich alles in Ordnung?«, fragte sie vorsichtig und sah in Cleos Richtung, was seltsam war und die Frage hinterließ, woher sie wusste, wo sie stand. Spürte sie das? Oder war es mehr eine Ahnung?

»Ich sagte doch, dass alles bestens ist«, erwiderte Cleo knapp und trat ans Waschbecken. Bei ihrem Anblick hätte sie am liebsten sofort wieder geweint, denn neben all den Spuren, die die Flammen hinterlassen hatten, sah man auch noch, dass sie geweint hatte. Ihre Augen waren rot und geschwollen, ebenso wie ihre Nase rötlich schimmerte, was in Verbindung mit ihrer rosa Haut fürchterlich aussah. Kurzerhand klatschte sie sich kaltes Wasser ins Gesicht, was jedoch nur wenig Effekt hatte.

Dieses merkwürdige Mädchen stand noch immer vor der Toilettenkabine und wirkte nachdenklich.

»Du bist Cleo, richtig? Ich erkenne dich an deiner Stimme«, sagte sie aus heiterem Himmel.

Schnell wägte Cleo ihre Optionen ab. Das Mädchen war blind und konnte nicht sehen, ob sie es tatsächlich war, also wäre es durchaus denkbar, zu lügen. Sie wollte sich nicht die Blöße geben, ihr zu bestätigen, dass sie diejenige gewesen war, die geweint hatte. Andererseits wusste sie, dass blinde Leute einen guten Gehörsinn hatten und sie somit vermutlich wirklich gut darin war, Stimmen zuzuordnen.

»Und wenn schon … lass mich in Ruhe!«, äußerte Cleo patzig und pfefferte eines der Papierhandtücher in den Mülleimer.

»Ich habe das von deinem Unfall gehört. Das tut mir sehr leid. Es ist sicher nicht leicht, wieder in der Schule zu sein«, sagte das Mädchen und schien sich von Cleos schroffer Art nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.

Sie hatte eine entspannte Art, die ihr etwas Leichtes verlieh und Cleo an einen Geist erinnerte. Vor allem in Verbindung mit den milchigen Augen. Sofort durchfuhr sie ein Schauder. »Was weißt du denn schon?«, platzte es aus Cleo heraus. Sie stürmte genau in dem Moment aus der Toilette, als es zur nächsten Stunde läutete.

Kapitel 2

 

 

 

Zu Hause löcherten Cleos Eltern sie über den ersten Schultag. Alles, was Cleo daraufhin über die Lippen kam, waren Lügen. Sie erzählte, dass sie sich leicht in ihrer neuen Klasse eingefunden habe und dass sie gut im Unterricht mitgekommen sei. Von ihrer unglücklichen Begegnung mit ihrer alten Clique erzählte sie ebenso wenig wie von ihrer Heulattacke auf der Toilette. Zum einen wollte sie nicht, dass sich ihre Eltern um sie sorgten, wo die letzten zwei Jahre nur aus Sorgen bestanden hatten. Zu oft hatte sie ihre Eltern weinen gehört oder mitbekommen, wie sich ihre Mutter sorgte, dass ihr Chef ihre Ausfallzeiten nicht mehr tolerieren würde – Zeiten, die sie bei Cleo in der Spezialklinik verbracht hatte und die ihre Mutter letztendlich ihren Job gekostet hatten. Hinzu kam, dass sie nicht bereit war, über das Vorgefallene zu sprechen. Sie wollte keine tröstenden Worte. Sie wollte nicht hören, dass »alles wieder gut werden würde«, weil sich das in ihren Ohren langsam aber sicher wie eine glatte Lüge anhörte. Daher bewahrte sie ihre Eltern vor weiteren Lügen und tat es stattdessen selbst. Und sie war erstaunt, wie leicht es ihr fiel, die Unwahrheit zu sagen.