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Immigration und Arbeitsmarkt – Eine Langfristprojektion zur Wirkung von Zuwanderung auf das Arbeitskräfteangebot in Deutschland

Johann Fuchs
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)

Alexander Kubis
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)

Lutz Schneider
Hochschule für angewandte Wissenschaften Coburg
Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage 2017

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Coburger Reihe – Band 2

Gestaltung: Hochschule Coburg, Alexandra Krug

Satz: Alexandra Krug, www.grafiar.de

Illustration Titelbild: © Daniel Berkmann - Fotolia.com

Redaktionsteam:

Prof. Dr. Michael Lichtlein (Leitung)

Prof. Dr. Lutz Schneider (Leitung)

Dr. Johann Fuchs

Dr. Alexander Kubis

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Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde weitgehend auf eine geschlechterspezifische Unterscheidung im Fließtext verzichtet. Wir bitten, die verwendeten Personen- und Berufsbezeichnungen geschlechterneutral zu sehen.

Printed in Germany.

ISBN 978-3-95626-035-3

Inhalt

Kurzfassung – Die wichtigsten Ergebnisse

1

Einleitung

1.1

Ausgangslage

1.2

Folgen eines langfristigen Rückgangs des Erwerbspersonenpotenzials

1.3

Zielsetzung und Aufbau

Teil I

Demographische Entwicklung und Erwerbspersonenpotenzial

2

Erwerbspersonenpotenzial: Stand und Entwicklung

2.1

Erwerbspersonenpotenzial seit der Wiedervereinigung

2.2

Prognose des Erwerbspersonenpotenzials: Ein erster Ausblick auf das Jahr 2050

3

Vorausschätzung der alters- und geschlechtsspezifischen Erwerbsbeteiligung bis 2050

4

Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter: Projektion bis 2050

4.1

Modell der Bevölkerungsprojektion

4.1.1

Fertilität

4.1.2

Mortalität

4.1.3

Einbürgerungen

4.1.4

Migration

4.2

Ausgewählte Ergebnisse der Bevölkerungsvorausschätzung

5

Szenarien für das Erwerbspersonenpotenzial bis 2050

5.1

Ergebnisse ausgewählter Szenarien

5.2

Der Effekt höherer Erwerbsquoten

5.2.1

Angleichung der Erwerbsquoten deutscher Frauen und Männer

5.2.2

Höhere Erwerbsquoten von Ausländerinnen

5.2.3

Ältere: „Rente mit 70“

6

Arbeitszeit und Qualifikation

6.1

Arbeitszeitreserven

6.2

Qualifikationsreserven

6.3

Aktivierung von Arbeitslosen

6.4

Zusammenfassende Bewertung der heimischen Personalreserven

7

Nachfrage nach Arbeitskräften bis 2030 – Insgesamt und nach Qualifikation

7.1

Gesamtwirtschaftliche und sektorale Entwicklung

7.2

Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften

7.3

Vergleich von Angebot und Nachfrage unter qualifikatorischen Gesichtspunkten

7.3.1

Qualifikation der Erwerbspersonen

7.3.2

Bilanzierung

7.4

Effekte der Wirtschaft

8

Fazit

Teil II

Projektion der langfristigen Zuwanderung nach Deutschland

9

Problemstellung

10

Analyse der Zuwanderung

10.1

Zuwanderungsland Deutschland

10.2

Entwicklung der EU-Binnenmobilität

11

Projektion der Zuwanderung aus der Europäischen Union

11.1

Ökonometrische Analyse der EU-Binnenmobilität

11.1.1

Das Modell

11.1.2

Daten und Operationalisierung

11.1.3

Schätzergebnisse

11.2

Prognosen ökonomischer und demographischer Trends in Europa

11.2.1

Prognose der ökonomischen Entwicklung Europas

11.2.2

Prognose der demographischen Entwicklung Europas

11.3

Prognose der Migrationsströme zwischen der EU und Deutschland

11.3.1

Definition der Szenarien

11.3.2

Ökonometrische Modellrechnungen für die künftige Zuwanderung aus EU-Staaten

11.4

Einordnung der ökonometrischen Prognoseergebnisse

11.5

Deskriptive Fortschreibung des Wanderungsgeschehens mit Migrationsquoten

12

Szenarien zur Drittstaaten-Zuwanderung

12.1

Bestehende Zuwanderungsstrukturen

12.2

Ableitung der Szenarien

12.3

Aggregation von EU- und Drittstaaten-Migration

12.4

Vergleich mit bestehenden Projektionen

Teil III

Wirkung der Zuwanderung auf das Erwerbspersonenpotenzial

13

Effekte der Zuwanderung

13.1

Entwicklung des Erwerbspersonenpotenzials

13.2

Entwicklung von Altersstruktur und Bevölkerung

13.3

Hypothetisches Szenario: Migration für ein konstantes Erwerbspersonenpotenzial

13.4

Was die Projektionen nicht bedeuten

14

Einige Anmerkungen zur Migrations- und Integrationspolitik

14.1

Migrationspolitik

14.2

Integrationspolitik

15

Schlussfolgerungen

Quellenverzeichnis

Kurzfassung – Die wichtigsten Ergebnisse

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Nürnberg (IAB) bemaß das Erwerbspersonenpotenzial – als das Angebot an Arbeitskräften – für das Jahr 2014 auf 45,8 Millionen Personen, darunter 42,7 Millionen Erwerbstätige, 2,1 Millionen Erwerbslose (nach ILO-Konzept) und knapp einer Millionen Personen in der Stillen Reserve. Nach den vorliegenden Projektionen würde das Erwerbspersonenpotenzial aus rein demographischen Gründen, das heißt ohne Wanderung und bei unveränderten Erwerbsquoten, zwischen 2014 und 2050 um ca. 15 Millionen Arbeitskräfte sinken. Ungefähr um 2035 herum werden die geburtenstärksten Jahrgänge aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sein und der jährliche Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials schwächt sich geringfügig ab – auf deutlich niedrigerem Niveau als heute.

Die vorliegenden Wachstumsprognosen sprechen für einen auch in näherer Zukunft großen Bedarf an Arbeitskräften. Vor allem werden mehr hochqualifizierte Arbeitskräfte benötigt. Zusätzlich tritt ein erheblicher Ersatzbedarf auf, weil viele Beschäftigte, insbesondere mit einer mittleren Qualifikation wie einer betrieblichen Lehre, in den kommenden beiden Jahrzehnten altersbedingt aus dem Erwerbsleben ausscheiden werden. Die Prognosen ergeben sogar deutlich verstärkte Engpässe bei den Fachkräften mit einer beruflichen Ausbildung. Ein rückläufiges Erwerbspersonenpotenzial würde den Arbeitskräftebedarf restringieren, mit negativen Folgen für Wirtschaft, Gesellschaft und die sozialen Sicherungssysteme. Die aktuellen Bedarfsprognosen reichen zwar nur bis zum Jahr 2035, es gibt jedoch keine Anzeichen für einen Bruch in den grundsätzlichen Trends.

Die vorliegende Studie nimmt zwei Faktoren in den Blick, welche die Schrumpfung des Arbeitskräfteangebots maßgeblich beeinflussen können, zum einen die Erwerbsbeteiligung, zum anderen die Zuwanderung1. Höhere Erwerbsquoten von Frauen und Älteren wirken dem negativen Trend des Erwerbspersonenpotenzials allerdings nicht entscheidend entgegen. Bei einem unter normalen Umständen zu erwartenden Anstieg der Erwerbsquoten ergibt sich bis 2050 nur ein zusätzliches Potenzial von gut 2,2 Millionen Erwerbspersonen. Immerhin liegt dieser Entwicklung neben der „Rente mit 67“ auch eine recht hohe Frauenerwerbsquote zugrunde. Mit weiteren Modellrechnungen wurden extreme, aber denkbare Szenarien gebildet: eine Angleichung der Erwerbsquoten von deutschen Frauen und Männern, enorm höhere Erwerbsquoten von Ausländerinnen und eine „Rente mit 70“. Selbst diese Ausreizung der Erwerbsspotenziale kann den Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials nur zeitweilig aufhalten. Längerfristig setzt sich der demographische Trend durch: Die Bevölkerung im Erwerbsalter sinkt stärker als ihre Erwerbsbeteiligung überhaupt steigen kann. Das gesamte zusätzliche Potenzial, das aus dieser extremen Steigerung der Erwerbsquoten nach unseren Modellrechnungen resultiert, wird für das Jahr 2035 auf reichlich vier Millionen Erwerbspersonen geschätzt. Aufgrund der demographischen Entwicklung ist davon auszugehen, dass dieses Zusatzpotenzial 2050 nur noch 3,2 Millionen Personen umfasst.

Das Hauptaugenmerk der Studie liegt auf den Effekten der Zuwanderung. Dazu wird zunächst die Zuwanderung – getrennt nach EU- und Drittstaaten – bis 2050 vorausgeschätzt. Im Rahmen eines ökonometrisch fundierten Modells wird dabei deutlich, dass die gegenwärtig zu verzeichnenden hohen Nettozuzüge aus den (vornehmlich ost- und südosteuropäischen) EU-Staaten von derzeit im Schnitt ca. 300.000 Personen jährlich sukzessive abnehmen werden. Die demographische Struktur der Hauptherkunftsländer sowie die dortigen ökonomischen Aufholprozesse werden das Niveau der Wanderungsgewinne gegenüber EU-Staaten im Modell in der langen Frist auf ca. 20.000 Personen absenken. Über den gesamten Prognosezeitraum werden in der Basisvariante der Projektion jedes Jahr im Mittel lediglich 62.000 Personen netto aus anderen EU-Staaten nach Deutschland ziehen, mit stark abnehmender Tendenz. Selbst in einer optimistischen Variante wird für den Zeitraum bis 2050 nur ein durchschnittlicher jährlicher Wanderungsüberschuss gegenüber den EU-Staaten von ca. 80.000 Personen geschätzt. Die langfristigen Migrationspotenziale aus EU-Staaten werden demnach als gering eingeschätzt.

Im Hinblick auf die Drittstaaten-Zuwanderung werden zwei Szenarien abgeleitet, welche das asylbedingte Zuzugsextrem von 2015 mitberücksichtigen, aber von einem – am aktuellen Rand ablesbaren – Absinken dieses Zuwanderungstypus ausgehen. Im Zeitraum von 2017 bis 2019 unterstellen beide Szenarien einen jährlichen Wanderungsüberschuss gegenüber Drittstaaten von ca. 300.000 Personen. Im unteren Szenario pegelt sich dieser Überschuss mittelfristig auf das langfristige Niveau von etwas unter 110.000 Personen ein – was dem tatsächlichen Durchschnitt der Nettozuzüge der letzten 20 Jahre (1996-2015) entspricht. Im oberen Szenario wird der Wanderungsüberschuss des unteren Szenarios um 100.000 Personen jährlich erhöht. Die EU- und die Drittstaaten-Migration zusammengenommen geht die Studie damit von einer jährlichen Nettozuwanderung im Durchschnitt der Jahre bis 2050 in einer Spanne von 220.000 in der unteren und 290.000 in der oberen Variante aus – ebenfalls mit einem deutlich rückläufigen Trend.

Die Untersuchung quantifiziert anschließend die Wirkung dieser prognostizierten Zuwanderung auf das Arbeitskräfteangebot und die demographische Struktur. Demnach wird auch die Zuwanderung den Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials in der langen Frist nicht vollständig stoppen können. Dennoch wird der Rückgang signifikant gebremst – sowohl in quantitativer als auch in zeitlicher Dimension. Im oberen Szenario beläuft sich der Rückgang im Jahr 2035 auf gerade einmal eine Million Personen des Erwerbspersonenpotenzials gegenüber dem Wert von 2014. Das entspricht einer Reduktion von reichlich zwei Prozent. Im unteren Szenario werden es 1,7 Millionen potentieller Erwerbspersonen weniger sein, ein Rückgang von weniger als vier Prozent. Bis 2050 beträgt die Schrumpfung gegenüber dem Jahr 2014 im oberen Szenario dann 3,2 Millionen (-7 Prozent), im unteren Szenario sind 5,2 Millionen (-11 Prozent). Gegenüber dem Szenario ohne Wanderungen bedeutet dies einen Zuwachs von 9,5 bzw. 7,6 Millionen Personen. Damit lässt sich konstatieren, dass das aus heutiger Sicht erwartbare Volumen an Zuwanderung – insbesondere aus Drittstaaten – dem Rückgang des Arbeitskräfteangebots signifikant entgegenwirkt, ohne ihn vollständig stoppen zu können.

Dieser positive Impuls der Zuwanderung reicht jedoch nicht aus, um der zunehmenden Alterung der Bevölkerung und den damit verbundenen Herausforderungen für die Tragfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme ausreichend entgegenzutreten. Selbst in der oberen Zuwanderungsvariante wird sich das Verhältnis von Erwerbspersonenpotenzial und älterer Bevölkerung deutlich verschlechtern. Kommen heute auf 100 Personen im Alter von 20 bis 64 Jahren, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, bereits ca. 40 Personen im Rentenalter, so werden es 2050 in dieser Variante 61 sein. Das ist zwar deutlich weniger als im Szenario ohne Zuwanderung, dennoch kann Zuwanderung die auf Deutschland zukommenden Herausforderungen nicht allein lösen.

Die deutsche Ökonomie wird sich auf ein Schrumpfen und ein starkes Altern des Arbeitskräfteangebots, auf ein deutliches Ansteigen des Altersquotienten und in der Folge wohl auch auf Fachkräfteengpässe einstellen müssen. Dennoch scheint es angezeigt, die Faktoren der Erwerbsbeteiligung und der Zuwanderung politisch in geeigneter Weise zu begleiten, um zumindest die realistischen Potenziale beim Erwerbspersonenpotenzial zu heben. Mit Blick auf die Migrations- und Integrationspolitik stellt sich dabei eine besondere Herausforderung: Gegenwärtig ist die Immigration aus Drittstaaten als arbeitsmarktfern einzustufen. Für die Zukunft gilt es zumindest den steuerbaren Teil der Migration in ökonomisch sinnvoller Weise zu regeln. Nur so kann erreicht werden, dass Zuwanderer erstens das Arbeitskräfteangebot erhöhen, zweitens und vor allem aber adäquate Beschäftigungschancen aufweisen und nicht in der Erwerbslosigkeit landen. Der Fokus muss daher auf den qualifizierten – nicht nur akademischen – Erwerbsmigranten und auf den Bildungszuwanderern liegen. Bei den übrigen Migranten, welche bereits im Land sind oder künftig kommen werden, und bei deren Nachkommen, dürfen größere integrationspolitische Anstrengungen nicht gescheut werden. Andernfalls könnte sich die ökonomische Bilanz der Zuwanderung ins Negative verkehren.

1Einleitung2

1.1Ausgangslage

In ihrer Studie „Perspektive 2025“ hebt die Bundesagentur für Arbeit die gesellschaftliche und ökonomische Bedeutung hervor, dem prognostizierten Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials entgegenzutreten und nennt als Maßnahme unter anderen die Steuerung von Zuwanderung (Bundesagentur für Arbeit 2011). Hintergrund dieser Aussage bildet die Befürchtung, dass Deutschland aufgrund seiner demographischen Entwicklung einen wesentlichen Standortvorteil – qualifizierte Fachkräfte – verlieren könnte.

Tatsächlich dürfte der Megatrend „Demographischer Wandel“ den deutschen Arbeitsmarkt längerfristig entscheidend formen. In zwei seiner maßgeblichen Projektionsvarianten sagt das Statistische Bundesamt bis 2060 eine Abnahme der Bevölkerungszahl von 80,8 Mio. Personen im Basisjahr 2013 auf 67,7 Mio. Personen (Szenario mit schwächerer Zuwanderung) bzw. 73,1 Mio. Personen (Szenario mit stärkerer Zuwanderung) voraus (StBA 2015). Die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, abgegrenzt als 20- bis 64-Jährige, sinkt dabei in beiden Szenarien von gegenwärtig ca. 49 Mio. Personen auf 34 bzw. 38 Mio. Menschen bis 2060. Ohne die angenommene Nettozuwanderung würde der Rückgang deutlich höher ausfallen.

Wesentliche Ursache dieser Entwicklung ist das Geburtendefizit. Der Baby-Boom der 1960er Jahre wurde im darauffolgenden Jahrzehnt durch einen „Baby-Bust“ abgelöst, der bis heute anhält. Infolgedessen wird sich die Altersstruktur noch viel stärker verschieben. Anders als der Bevölkerungsrückgang ist die Alterung der Bevölkerung bereits in vollem Gange. So erreichte der geburtenstärkste Jahrgang, der in Deutschland 1964 zur Welt kam, im Jahr 2014 das 50. Lebensjahr. Im Jahr 2030 wird diese Geburtskohorte an der Schwelle zur Rente stehen.

Die aktuelle wirtschafts- und gesellschaftspolitische Diskussion über einen Fachkräftemangel beruht auf der Annahme, den Betrieben würden künftig aus den genannten demographischen Gründen weniger Arbeitskräfte zur Verfügung stehen (für einen Überblick vgl. Kolodziej 2012). Tatsächlich ist zu erwarten, dass aus den genannten demographischen Gründen zunächst vor allem die Zahl Jüngerer sinkt, während die Zahl der älteren Arbeitskräfte in den kommenden Jahren sogar wachsen wird. Erst in etwa 15 Jahren wird die Zahl der älteren Erwerbspersonen zurückgehen, wenn die Baby-Boom-Kohorten in Rente gehen.

In Zusammenspiel mit steigenden betrieblichen Anforderungen an die Qualifikation der Arbeitskräfte könnte sich in Zukunft das Problem des Fachkräftemangels nicht nur stellen, sondern sich – zumindest in einigen Regionen und Berufen – möglicherweise gleichzeitig verschärfen. Daneben bestehen erhebliche Bedenken hinsichtlich der Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme.

1.2Folgen eines langfristigen Rückgangs des Erwerbspersonenpotenzials

Das Arbeitskräfteangebot gehört zu den Determinanten des Wachstumspotenzials. Ein rückläufiges Erwerbspersonenpotenzial könnte zu einer wirtschaftlichen Stagnation führen. Tatsächlich weist der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seinem Jahresgutachten 2014 explizit auf die Gefahren für Wachstum und die Sozialversicherungssysteme hin, wenn das Erwerbspersonenpotenzial schrumpft (vgl. SVR_OEK 2014). Ähnlich argumentiert die Deutsche Bundesbank: Sie hebt hervor, dass es eine bedarfsgerechte Zuwanderung braucht, um das Potenzialwachstum seitens des Arbeitsangebots zu stabilisieren (vgl. Deutsche Bundesbank 2012). Dabei hat die Bundesbank auch Migranten aus dem Nicht-EU-Ausland im Blick.

Viele Stimmen warnen vor einem erheblichen Fachkräftemangel (vgl. z. B. McKinsey 2011, Prognos 2012, 2015). Allerdings ist ein Rückgang des Arbeitskräftepotenzials nicht mit einer Fachkräftelücke gleichzusetzen. Dies würde implizieren, dass der Arbeitskräftebedarf unverändert bliebe, Unternehmen sich also nicht auf ein schrumpfendes Erwerbspersonenpotenzial einstellen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass es durch den Lohn-Preis-Mechanismus zu Anpassungen auf den Güter-, Kapital- und Arbeitsmärkten kommt (vgl. Brücker 2013). Brücker schätzt die Dauer eines solchen Anpassungsprozesses auf wenige Jahre. Aufgrund weiterer Faktoren, etwa der Sparneigung der alternden Bevölkerung und der internationalen Kapitalmobilität, werde sich der Kapitalstock allerdings nicht vollständig dem Rückgang des Arbeitsangebotes anpassen (vgl. Brücker 2013, Brücker et al. 2012).3 Zugespitzt und vereinfacht ausgedrückt: Fehlen Arbeitskräfte, verlagern Betriebe ihre Produktion ins Ausland oder schließen. In Langfristprognosen wird deshalb für den Arbeitskräftebedarf aus demographischen Gründen regelmäßig ein Rückgang vorhergesagt (vgl. z. B. Prognos 2012, 2015).

Das gesamtwirtschaftliche Wachstum hängt auch von der Arbeitsproduktivität ab. So stellt sich die Frage, ob die Produktivität aufgrund der Alterung der Beschäftigten sinkt. Dieser Aspekt wird jedoch als offen gesehen, u. a., weil ein denkbarer physischer und kognitiver Leistungsabfall älterer Beschäftigter durch langjährige Berufs- oder Betriebserfahrung kompensiert wird (SVR_OEK 2011, Brussig 2015). Insbesondere werden der technische Fortschritt und eine bessere formale Qualifikation der Beschäftigten möglichen Alterungseffekten auf die durchschnittliche Arbeitsproduktivität entgegenwirken (Brücker et al. 2012). Dabei kommt es neben der Erstausbildung auch auf vermehrte Anstrengungen bei der Weiterbildung an.

Nimmt man optimistisch an, der technologische Fortschritt (z. B. zunehmende Digitalisierung) sei stark genug, um das rückläufige Arbeitsvolumen zu kompensieren, würde es zu keinem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) kommen (vgl. SVR_OEK 2011). Bei einer Schrumpfungsrate des Erwerbspersonenpotenzials von rund einem Prozent pro Jahr sollte eine solche Kompensation durchaus möglich sein. In diesem Fall würde das Pro-Kopf-Einkommen steigen, weil die Bevölkerung schrumpft. Der Sachverständigenrat sieht die Möglichkeit eines durchschnittlichen Wachstums des Pro-Kopf-Einkommens um 1,2 Prozent pro Jahr (vgl. SVR_OEK 2011: 9 und 138).

Die demographische Entwicklung führt also nicht zwingend zu weniger Wohlstand. Ob aber die erforderlichen Produktivitätsfortschritte angesichts einer alternden Gesellschaft und eines schrumpfenden Erwerbspersonenpotenzials zu erzielen sind, ist zumindest fraglich (vgl. Deutsche Bundesbank 2012, Gräf 2003). Realistischerweise berücksichtigen Projektionen des Potenzialwachstums deshalb regelmäßig steigende Erwerbsquoten (einschließlich einer sinkenden Arbeitslosigkeit), höhere Arbeitszeiten und Nettozuwanderung, wodurch der prognostizierte Abwärtstrend beim gesamtwirtschaftlichen Arbeitsvolumen deutlich schwächer ausfällt.

Wenn die Zahl der Arbeitskräfte demographisch bedingt sinkt, müssen weniger Erwerbstätige die Kosten der sozialen Sicherungssysteme und auch die sonstigen staatlichen Ausgaben, zum Beispiel für Infrastruktur, schultern. Die demographische Entwicklung wird auch viele andere Teilbereiche der Gesellschaft verändern, wie den Wohnungsmarkt, die Konsumstruktur usw. Diese Umwälzungen müssen die Individuen finanziell und psychologisch (höhere Abgaben) bewältigen.

Besonders die Ausgabenseite der Sozialversicherung wird von der Bevölkerungsentwicklung tangiert. An erster Stelle ist hierbei an die gesetzliche Renten-, die Kranken- und die Pflegeversicherung zu denken. Koppelt man beispielsweise die Beitragssätze an die Ausgaben, würde der gesamte Sozialversicherungsbeitragssatz stark ansteigen. Je nachdem, an welchen Stellschrauben (z. B. am Bundeszuschuss) man dreht, fällt dieser Anstieg der Beitragssätze natürlich unterschiedlich stark aus. In jedem Fall dürfte die Akzeptanz darunter leiden und Umgehungsstrategien dürften gefördert werden (z. B. Schwarzarbeit).

Darüber hinaus kann man leider nicht zwingend davon ausgehen, dass ein sinkendes Erwerbspersonenpotenzial automatisch die Arbeitslosigkeit reduziert und auf der Ausgabenseite der Sozialversicherung für Entlastung sorgt. Nicht auszuschließen ist insbesondere ein qualifikatorisches Mismatch von Arbeitsangebot und -nachfrage (vgl. SVR_OEK 2011: 8).4 Aktuelle Langfrist-Projektionen deuten auf Arbeitsplatzverluste für schlecht Qualifizierte hin (vgl. Maier et al. 2016). Aber man muss es vielleicht nicht so negativ sehen: Obwohl möglicherweise Arbeitsplätze abgebaut werden, bietet die Alterung der Bevölkerung gering Qualifizierten vielleicht neue Chancen, zum Beispiel als Altenpflegehelfer.

Ein Großteil des Zusammenhangs von „Demographischer Alterung“ einerseits und Wachstum und Beschäftigung andererseits ist wissenschaftlich nicht vollständig geklärt. Außerdem hängen die konkreten Ergebnisse entsprechender Studien stark von den Annahmen ab. Einige Gefahren sind jedoch offensichtlich: Die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme steht unter Druck, die gesellschaftliche Wohlfahrt ist möglicherweise gefährdet und die öffentliche Signalwirkung einer sinkenden Beschäftigung sollte nicht unterschätzt werden.

Zentraler Ansatzpunkt ist die Entwicklung des Erwerbspersonenpotenzials, also des Umfangs des in Köpfen gemessenen gesamtwirtschaftlichen Arbeitsangebots. Dessen Rückgang zu verhindern oder wenigstens abzuschwächen dürfte die genannten Risiken erheblich senken.

1.3Zielsetzung und Aufbau

Der Umfang des Erwerbspersonenpotenzials hängt von der Bevölkerung und deren Erwerbsbeteiligung ab. Angesichts der gerade skizzierten Befürchtungen und Probleme stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen der allseits prognostizierte Rückgang des Arbeitskräftepotenzials gemildert werden kann. Dabei greifen wir im Folgenden auf vorhandene Projektionen der Erwerbsbeteiligung zurück und untersuchen vor allem den Einfluss der Zuwanderung. Wir versuchen mit dieser Studie zu quantifizieren, in welchem Umfang die langfristig zu erwartende Zuwanderung aus der Europäischen Union und den so genannten Drittstaaten das Arbeitskräftepotential in Deutschland stabilisieren hilft bzw. den Rückgang vermindert. Ferner wird in hypothetischer Weise gefragt, wie hoch die Zuwanderung sein müsste, wenn man den Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials vor dem Hintergrund einer steigenden Erwerbsbeteiligung aufhalten möchte. Dafür entwickeln wir ein hypothetisches Szenario, das als Ziel ein bis 2035 bzw. bis 2050 konstantes Erwerbspersonenpotenzial vorgibt.

Die Studie beschränkt sich auf Aussagen zum Zusammenhang von Zuwanderung und der quantitativen Entwicklung des Arbeitskräfteangebots. Mit einer solchen Zielstellung wird nur eine Dimension der Wirkung von Zuwanderung thematisiert, andere Fragen werden weitgehend ausgeklammert. Schon hier ist darauf zu verweisen, dass die stabilisierende Wirkung von Zuwanderung für das Arbeitsangebot nicht bedeutet, dass sich das Angebot auch in einer höheren Erwerbstätigkeit niederschlägt. Bei einem fehlenden Matching zwischen Angebot und Nachfrage kann auch die Erwerbslosigkeit steigen. Die Analyse dieser Problemdimension bleibt in der vorliegenden Arbeit ausgespart.