Chronik der Sternenkrieger Folge 35/36 - Doppelband
Published by Alfred Bekker, 2017.
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Chronik der Sternenkrieger – Folge 35 und 36
Band 35 Ukasis Hölle
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Band 36 Die Exodus-Flotte
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About the Publisher
Doppelband: Ukasis Hölle / Die Exodus-Flotte
von Alfred Bekker
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© BY ALFRED BEKKER
© 2014 der Digitalausgabe by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich (Westf.)
www.AlfredBekker.de
postmaster@alfredbekker.de
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MITTE DES 23. JAHRHUNDERTS werden die von Menschen besiedelten Planeten durch eine kriegerische Alien-Zivilisation bedroht. Nach Jahren des Krieges herrscht ein brüchiger Waffenstillstand, aber den Verantwortlichen ist bewusst, dass jeder neue Waffengang mit den Fremden das Ende der freien Menschheit bedeuten würde. Zu überlegen ist der Gegner.
In dieser Zeit bricht die STERNENKRIEGER, ein Raumkreuzer des Space Army Corps , unter einem neuen Captain zu gefährlichen Spezialmissionen in die Weite des fernen Weltraums auf...
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ALFRED BEKKER schreibt Fantasy, Science Fiction, Krimis, historische Romane sowie Kinder- und Jugendbücher. Seine Bücher um DAS REICH DER ELBEN, die DRACHENERDE-SAGA,die GORIAN-Trilogie und seine Romane um die HALBLINGE VON ATHRANOR machten ihn einem großen Publikum bekannt. Er war Mitautor von Spannungsserien wie Jerry Cotton, Kommissar X und Ren Dhark. Außerdem schrieb er Kriminalromane, in denen oft skurrile Typen im Mittelpunkt stehen - zuletzt den Titel DER TEUFEL VON MÜNSTER, wo er einen Helden seiner Fantasy-Romane zum Ermittler in einer sehr realen Serie von Verbrechen macht.
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DIESES EBOOK ENTHÄLT folgende zwei Bände:
Band 35: Ukasis Hölle
Band 36: Die Exodus-Flotte
Der Umfang dieses Ebook entspricht 204 Taschenbuchseiten.
Robert Ukasi lag gefesselt am Boden. Er blickte auf. Ein durchdringender Geruch hing in der Luft. Blut, Schweiß und etwas, das auf keinen Fall menschlich war.
Dann – ein Laut, von dem man nicht hätte sagen können, ob er einem Seufzen oder dem Gegeneinanderschaben von Beißwerkzeugen entstammte.
Was geschieht, geschieht eben, dachte Ukasi. Es gibt keine Hoffnung, keinen Trost und keine Gewissheit. Nicht einmal in der Mathematik, denn in Wahrheit ist das Universum doch chaotisch... Es siegen weder das Gute noch die Logik.
Der spinnenartige Wsssarrr kroch über den Boden und war etwa drei Meter von Ukasi entfernt.
Mit unterschiedlich langen Beinen drehte sich der Wsssarrr den menschlichen Körper mehrfach herum, den er zu sich herangezogen hatte.
Es war der Körper einer Frau. Die Frisur hatte sich gelöst. Das Haar hing zum Teil herab, der Rest wurde noch durch ein paar Nadeln zusammengehalten. Vom Gesicht war nicht mehr viel zu erkennen.
Die Augen waren blutige Höhlen, die Nasenpartie vollkommen zerstört. Reste einer weißen Masse mischten sich mit dem Blut. Der Wsssarrr zog jetzt seinen Saugstachel aus dem rechten Ohr heraus, stieß einen zischenden Laut des Wohlgefallens aus und schlürfte die Reste an Hirnmasse in sich hinein, die noch in und um die blutigen Wunden herum klebten.
Nichts war kostbarer als Hirn.
Die Kraft fremder Gedanken lag darin.
Mit den Greiforganen, die sich an den Enden seiner Extremitäten befanden, griff er nach dem Kopf der Frau und drehte ihn herum.
Ein Knacken ertönte, als das Genick brach. Wie eine Puppe ließ der Wsssarrr den Körper fallen und widmete sich fortan nur noch dem Kopf.
Blut floss aus den zerrissenen Adern heraus und ergoss sich über den glatten Boden.
Die rote Lache dehnte sich aus, bildete verschiedene Ströme, die Ukasi auf sich zukommen sah, während der Wsssarrr den Kopf nun von der Schädelbasis aus auszusaugen begann und seine letzten Reste an dem für ihn wertvollsten Stoff des Universums berauben wollte.
Schmatzende Geräusche entstanden dabei. Ukasi blickte in das Augenkonglomerat oberhalb der Fressöffnung.
Wie viele Augen hat ein Wsssarrr im Durchschnitt?, ging es ihm durch den Kopf. Nicht jeder Wsssarrr hatte dieselbe Anzahl. Und nicht einmal dieses eine Exemplar schien immer dieselbe Augenzahl in seinem Konglomerat aufzuweisen. Sie schwankte zwischen einem halben und einem vollen Dutzend.
Lässt sich für die Anzahl der Augenzahl eines Wsssarrr und ihrer Verteilung über einen beliebigen Zeitraum eine Formel finden? Nehmen wir an, eine Größe a ist Augenhöchstzahl und eine Größe b die Differenz zwischen der größten und der kleinsten beobachteten Anzahl...
Während der Wsssarrr seine Mahlzeit fortsetzte, rechnete Ukasi. Das gab Sicherheit. Der Verstand musste etwas zu tun haben, sich mit etwas beschäftigen, was er bewältigen konnte, damit er hoffentlich so ausgelastet war, dass die Dinge, die niemand zu bewältigen vermochte, gar nicht erst an sich heran ließ. Speicher besetzt.
Ukasis Lippen bewegten sich ohne einen Laut, denn er wusste, dass der Wsssarrr ausgesprochen sauer reagieren konnte, wenn man ihn störte.
Eine Hirnmahlzeit hatte für ihn eine offenbar kultische Bedeutung. Sie war Gottesdienst – einer grotesken Parodie auf das christliche Abendmahl ähnlich.
„Lieutenant Commander Ukasi?“
Die Stimme drang wie von Ferne in Robert Ukasis Bewusstsein. Er konnte sie zunächst auch gar nicht zuordnen.
„Hören Sie mich, Mister Ukasi?“
Ukasis Lippen bewegten sich noch immer. Sie murmelten Zahlen, Platzhalter, Gleichungen – aber so, dass kein Laut nach außen drang. Nicht der Geringste.
Dr. Trent... Die Stimme gehört Dr. Trent, wir haben das Jahr 2253 und du bist Dritter Offizier und Offizier für Waffen und Taktik im Rang eines Lieutenant Commander an Bord des Sondereinsatzkreuzers STERNENKRIEGER im Dienst des Space Army Corps der Humanen Welten... Dies ist die Krankenstation...
Dr. Trent stellte das Tablett mit den Blutproben zur Seite, an dem Ukasis Blick wie starr gehangen hatte. Dieses Blut war der Auslöser gewesen. Der Trigger, der ihn in das Jahr 2237 zurückversetzt hatte.
Aber jetzt war er wieder im Hier und Jetzt.
Auf Ukasis Stirn perlte Schweiß.
„Ich schlage vor, Sie setzen sich.“
„Es geht mir wieder gut, Doktor. Danke.“
„Nein, es geht Ihnen nicht gut.“
„Geben Sie mir einfach das, was Dr. Nikolaidev mir immer gegeben hat, und es geht mir gut.“
„Das nicht die Lösung, Mister Ukasi – und das wissen Sie.“
„Ich habe alles hinter mir, was man in dieser Hinsicht machen kann“, erwiderte Ukasi.
„Sie leiden unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, seit Sie 2237 während der Wsssarrr-Invasion des Sol-Systems in die Gefangenschaft dieser Hirn fressenden Monster gelangten. Und es mag ja sein, dass Sie Ihre Therapie damals erfolgreich abgeschlossen haben, aber vielleicht bräuchten Sie trotzdem jemanden, mit dem Sie darüber reden könnten...“
„Es kommt eben einfach ab und zu wieder“, sagte Ukasi. „Das ist alles. Ich habe das im Griff.“
„Wirklich?“
„Ja.“
Dieses Ja klang viel zu gereizt, um wirklich zu überzeugen. Trent runzelte die Stirn. Der Schiffsarzt der STERNENKRIEGER atmete tief durch. „Was machen Sie, wenn Ihnen das mal in einer Krisensituation passiert?“
„Dann tue ich das, was ich schon damals getan habe.“
„Ich verstehe nicht.“
„Ich rechne. Sehen Sie, ich war der einzige Überlebende der Besatzung des Raumbootes, das ich während der Schlacht gegen die Wsssarrr kommandiert hatte. Mein erstes Kommando als frisch gebackener Lieutenant, nachdem ich vorher als Fähnrich meinen Dienst auf der STERNENKRIEGER I unter Commander Willard J. Reilly geleistet hatte...“ Ukasis Blick schien einen Moment lang nach innen gerichtet zu sein, so als würde die Vergangenheit noch einmal vor seinem inneren Auge erstehen. Er kniff einen Moment die Augen zu und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Ich hatte immer schon ein Faible für Mathematik, aber der Psychiater, bei dem ich in Behandlung war, meint, in der Zeit, da ich damals auf dem Wsssarrr-Schiff gefangen war, hätte mir das Lösen von Gleichungen und die Berechnung der absurdesten Dinge davor gerettet, wahnsinnig zu werden.“
„Das ist gut möglich. Sie haben instinktiv das gemacht, was auch ein Psychiater jedem empfiehlt, der von einer posttraumatischen Belastungsstörung heimgesucht wird. Sich konkrete Dinge, wie Datum, Uhrzeit, Aufenthaltsort zu vergegenwärtigen, hilft einem aus einem Ekmnesie-Anfall heraus in das Hier und Jetzt zurück.“
„So ist es.“
„Trotzdem, Sie tun an Bord eines Kriegsschiffes Dienst.“
„Und bin vom Space Army Corps für wieder diensttauglich befunden worden. Ich brauche eben nur ab und zu eine kleine chemische Hilfe. Dagegen ist doch nichts zu sagen.“
„Nein. Trotzdem fände ich es wichtig, wenn Sie sich jemandem anvertrauen würden, der professionell damit umzugehen weiß, sodass Ihr Zustand beobachtet werden kann.“
Ukasi verzog das Gesicht. „Sie meine sich selbst, oder?“
„Ich bin der Schiffsarzt. Wir sind nicht nur für die physische Gesundheit unserer Besatzungen verantwortlich.“
„Nicht jedem tut es gut, viel über sein Trauma zu reden. Und ich scheine nun mal zu dieser Sorte zu gehören. Und im Übrigen, gehören Sie eigentlich auch nicht zu den Menschen, denen ich vertraue oder die ich mag.“
Trent hob die Augenbrauen.
„Sie sind zumindest offen...“
„Wünscht sich das ein Arzt nicht von seinem Patienten?“
„In gewisser Weise ja, aber...“ Dr. Trent atmete tief durch. „Ich werde Ihnen geben, was Sie wollen. Aber mit Bauchkneifen.“
„Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie sich beeilen könnten. Meine Schicht beginnt nämlich gleich und ich bin ganz gerne pünktlich.“
Kurz bevor Ukasi die Krankenstation verließ, drehte er sich noch einmal um und sagte: „Wenn Sie Bauchkneifen haben, dann sind Sie es vielleicht, der eine Behandlung nötig hat, Dr. Trent.“
„Austritt aus dem Sandström-Raum“, meldete Rudergänger Lieutenant John Taranos. „Geschwindigkeit liegt bei exakt 0,40014 LG. Optimales Zeitfenster für Kurskorrekturen unter Beibehaltung des Schleichfluges liegt bei fünf Minuten.“
„Behalten Sie den Schleichflug bei“, befahl Lieutenant Commander Steven Van Doren, der rotbärtige Erste Offizier des Sondereinsatzkreuzers STERNENKRIEGER.
Captain Rena Sunfrost kam unterdessen aus dem der Brücke benachbarten Konferenzraum und setzte sich auf den Platz des Kommandanten. Ihr Blick war auf den Panoramaschirm gerichtet. Ein Hauptreihenstern war darauf zu sehen, auf dessen gelber Lichtscheibe sich der runde Schatten eines vorbeiziehenden Planeten deutlich abzeichnete. In einem Teilfenster wurde nun eine Positionsübersicht eingeblendet.
„Das System der Sonne TASO-23111 hat 29 Planeten“, meldete Ortungsoffizier Lieutenant Wiley Riggs. „TASO-23111 selbst ist zwar ein Hauptreihenstern wie Sol, besitzt aber ungefähr die dreifache Masse. Möglicherweise bildet es mit dem 1,5 Lichtjahre entfernten braunen Zwerg TASO-23112 ein Doppelsystem, aber dazu liegen keine näheren Erkenntnisse vor.“
Die Abkürzung TASO stand für Trans Alpha Solar Objekt. Auch wenn es den menschlichen Kolonisten, die um 2241 über Wurmloch Alpha in den Trans-Alpha-Sektor gelangt waren und vor allem im Taralon-System eine neue Heimat gefunden war, kaum hundert Lichtjahre tief in den von der Erde aus nicht sichtbaren, auf der anderen Seite des galaktischen Zentrums gelegenen Trans-Alpha-Sektor vorgedrungen waren, hatte man schon damals einen Großteil der transgalaktischen Region zumindest kartographiert, mit den Mitteln der Fernortung auf chemische Zusammensetzung und eventuell vorhandene Planetensysteme hin untersucht. Diese Kataloge waren selbst jetzt noch eine große Hilfe, da die STERNENKRIEGER zusammen mit dem Schwesterschiff SONNENWIND immer tiefer in das Herrschaftsgebiet der Etnord eindrang, um dem Ursprung der mysteriösen Lichtsonden auf die Spur zu kommen, die sowohl in Trans Alpha als auch im erdnahen Sektor der Milchstraße für große Unruhe und Besorgnis gesorgt hatten.
Rena Sunfrost schlug die Beine übereinander und lehnte sich etwas zurück.
„Ich messe gerade die Materialisation der SONNENWIND“, meldete Lieutenant Riggs. „Ungefähr 300 000 Kilometer von uns entfernt.“
„Transmission von der SONNENWIND, Captain!“, meldete jetzt Kommunikationsoffizierin Lieutenant Susan Jamalkerim.
„Auf den Schirm damit!“, sagte Sunfrost.
Mal sehen, was mein Vorgesetzter zu sagen hat, dachte sie nicht ohne Ironie. Faktisch bekleideten Captain Barus und Rena Sunfrost denselben Rang – aber Barus war deutlich dienstälter und hatte daher im Zweifelsfall das letzte Wort.
Wenig später erschien das Gesicht des Captains der SONNENWIND auf dem Schirm.
„Guten Tag, Captain Sunfrost. Wie mein Ortungsoffizier Lieutenant Teluvion gerade ermittelt hat, befinden wir uns noch gut dreizehn Minuten im Ortungsschatten eines Gasriesen – von der Etnord-Hauptwelt dieses Systems aus gesehen.“
„Das bedeutet, wir können noch etwas plaudern?“, meinte Sunfrost.
„Übertreiben sollten wir es auch nicht“, gab Chip Barus lächelnd zurück. „Die Planeten Nummer II und III sind unseren bisherigen Erkenntnissen nach wichtige Zentren des Etnord-Imperiums. Dem abgehörten Funkverkehr nach werden die beiden Welten Parda und Segla genannt. Die dominierenden Wirts-Spezies ist eine auf Parda beheimatete Rasse von Riesenamöben und eine ursprünglich auf Segla beheimatete Spezies von Wesen, die etwa 1,60 m großen Teddybären ähneln. Die aus der bisherigen Analyse des Funkverkehrs von Taralon mit diesem System heraus gefilterten Erkenntnisse sind in einem Datenstrom enthalten, der mit dieser Transmission gesendet wird.“
„Danke, Captain Barus. Bruder Guillermo wird sich des Materials annehmen. Er ist leider bisher noch nicht dazu gekommen, die Analyse der von uns selbst aufgezeichneten Funkdaten zu beenden, da wir zwischenzeitlich ein kleineres Problem mit dem Sandström-Aggregat hatten, bei dem der L.I. auf die Hilfe unseres wissenschaftlichen Beraters angewiesen war.“
„Ich hoffe, das Problem konnte behoben werden“, sagte Barus.
„Zur vollsten Zufriedenheit unseres L.I.“
„Gut. Bruder Guillermos analytische Fähigkeiten stehen bei mir persönlich hoch im Kurs, Captain Sunfrost. Ich hoffe, dass er das bisher vorhandene Material noch sehr viel besser ausschöpfen kann.“
„Davon bin ich überzeugt“, nickte Sunfrost.
„Im Moment halte ich es für das Beste, wenn wir uns im Schleichflug auf Planet III zu bewegen und erstmal möglichst viele Daten erfassen.“
„Captain, Lichtsonde dreißig Grad Backbord in einer Entfernung von 0,25 AE!“, meldete unterdessen Lieutenant Riggs.
Mit schier unglaublicher Geschwindigkeit bewegte sich die Lichtsonde in Richtung der beiden Space Army Corps Schiffe.
„Unsere Ortung hat das auch gerade registriert“, stellte Barus fest. „Der prognostizierte Kurs der Sonde führt etwa dreißigtausend Kilometer an der SONNENWIND vorbei...“
Dass man sich auf diesen prognostizierten Kurs bei diesen Sonden nicht verlassen konnte, hatte die Vergangenheit gezeigt. Wo immer sie aufgetaucht waren, hatten sie sich durch teilweise sehr abrupte Kursänderungen ausgezeichnet. Kursänderungen, wie sie in dieser Form technisch keiner bisher bekannten raumfahrenden Zivilisation möglich waren.
Nicht einmal von den Basir, die je nach dem als Abkömmlinge oder Geschöpfe der Alten Götter galten, wussten man etwas Ähnliches zu berichten.
Man hatte im System der Sonne TASO-23111 mit den Mitteln der Fernortung zeitweilig eine besonders starke Konzentration dieser Sonden anpeilen können.
Außerdem war es möglich gewesen, dem Funkverkehr der Etnord Informationen darüber zu entnehmen, wohin der seltsame Exodus wohl führen mochte, der im Augenblick im gesamten Etnord-Gebiet festzustellen war.
Tausende, vielleicht hunderttausende von Raumschiffen aller Art brachen von den Etnord-Welten auf und schienen auf ein unbekanntes Ziel zuzusteuern. Überall verließen sie sogar militärische Posten und dünner besiedelte Welten, auf denen sie nur ein paar Stützpunkte unterhielten. All das war ganz aufgegeben worden. Unterlichtschnelle Raumschiffe flogen im Schlepp eines Traktorstrahls und ansonsten waren in diesen gigantischen Flotten, die sich jeweils an Sammelpunkten in den System zusammen fanden sowohl Kriegsschiffe als auch unbewaffnete Frachter und Einheiten, die nur bedingt zum Transport von Personen geeignet waren.
Überall, wo die SONNENWIND und die STERNENKRIEGER aus dem Zwischenraum getreten war, um sich zu orientieren, war man auf die Zeichen dieses Exodus gestoßen, der in irgendeiner Weise mit den mysteriösen Lichtsonden in Zusammenhang zu stehen schien.
Mit besonderer Akribie hatte man sich natürlich der Analyse des Funkverkehrs gewidmet, in der Hoffnung, irgendwelche Hinweise zu finden.
Aber das wenige, was man bisher hatte herausfinden können, war dazu angetan, das Rätsel noch zu vergrößern, anstatt es zu lösen.
Die Etnord wurden offenbar von einem geheimnisvollen Ruf erreicht.
Ein Ruf, der ihnen befahl, sofort aufzubrechen.
Nichts, was sie sonst gerade taten, schien in seiner Priorität diesem Ruf auch nur im Entferntesten entsprechen zu können – es sei denn, diese Tätigkeit diente ihrerseits wiederum der Durchführung des gigantischen Exodus, der da vonstatten ging.
Zumindest bei einem Teil der Schiffe, auf die man gestoßen war, war offenbar das System TASIO-23111 der Zielpunkt gewesen.
Ganze Konvois, die sich im interstellaren Raum gesammelt hatten, um anschließend gemeinsam in den Sandström-Raum einzutauchen und nach Erreichen von vierzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit zu entmaterialisieren, tauschten über Funk die Koordinaten dieses Systems als Zielpunkt aus.
Also lag es nahe, dass man hier dem Rätsel der Sonden vielleicht einen Schritt näher kam.
„Die Sonde hat jetzt den Kurs geändert“, meldete Captain Barus. „Sie fliegt genau auf uns zu...“
Im nächsten Moment brach der Kontakt zur SONNENWIND ab.
Die Tür zur Brücke öffnete sich. Robert Ukasi betrat den Raum.
Die Schicht des Offiziers für Waffen und Taktik an Bord der STERNENKRIEGER hätte eigentlich kurz vor Eintritt des Sondereinsatzkreuzers in den Normalraum beginnen sollen.
Der Mann, den er hätte ablösen sollen und der ihn bisher vertreten hatte, war Lieutenant Paul Mandagor, ein 2,20 m großer, feingliedriger und an die Schwerkraft des roten Planeten angepasster Real Martian, der sich unter der auf Erdniveau befindlichen künstlichen Schwerkraft an Bord der STERNENKRIEGER lediglich unter Zuhilfenahme eines aufgeschnallten Antigravaggregats bewegen konnte. Lieutenant Mandagor war normalerweise für das Geschütz Gauss 8 zuständige Waffenoffizier, aber jeder der zehn Lieutenants, die für die Geschütze eingeteilt waren, verfügte auch über die Fähigkeiten, den Taktikoffizier notfalls zu vertreten. Das betreffende Geschütz wurde dann von einem der an Bord der STERNENKRIEGER Dienst tuenden Fähnriche bedient.
„Sie sind spät dran, Mister Ukasi“, sagte Van Doren nicht ohne tadelnden Unterton.
„Ich weiß, Sir. Aber mein Termin bei Dr. Trent hat etwas länger gedauert.“
„Sie haben den ersten feindlichen Angriff bereits versäumt – allerdings hätten Sie gegen den wohl auch kaum etwas ausrichten können...“
Mandagor räumte den Platz für Ukasi.
„Versuchen Sie den Kontakt mit der SONNENWIND wiederherzustellen“, befahl Rena Sunfrost an Susan Jamalkerim gerichtet.
„Kontaktversuch gescheitert“, sagte Jamalkerim.
„Die Sonde hat sich auf unerklärliche Weise ausgedehnt und scheint nun das gesamte Innere der SONNENWIND zu erfassen“, meldete Lieutenant Riggs, während er sich etwas tiefer über seine Konsole beugte. Seine Finger tanzten über die Sensorpunkte, und er nahm ein paar Feineinstellungen am Ortungssystem vor. Dann erschien in einem Teilfenster eine Abbildung der SONNENWIND, die den Sondereinsatzkreuzer mit changierenden Farbmustern überzogen zeigte. „Diese Darstellung zeigt die Intensität von 5-D-Strahlungskomponenten“, erläuterte Riggs. „Die Farbgebung folgt dem Lichtspektrum. Rot steht für die geringste Intensität, blau für die höchste.“
Das Anmessen von 5-D-Effekten war die einzige Möglichkeit, um diese mysteriösen Lichtsonden zuverlässig orten zu können. Denn obwohl sie einerseits durchaus aus gewöhnlicher Materie zu bestehen schienen, existierten sie offenbar teilweise in einem anderen, dimensional übergeordneten Kontinuum, was sie dazu befähigte, feste Materie des Einstein-Universums wie eine geisterhafte Erscheinung zu durchdringen.
Rena Sunfrost stellte an ihrer eigenen Konsole eine Verbindung zu Bruder Guillermo her, der sich – wie erwartet – in Kontrollraum C des Maschinentrakts befand, wo er zum Zweck seiner Analysen Zugriff auf einen Teil der Ressourcen des Bordcomputers hatte.
Das Gesicht des Olvanorer-Mönchs, der an Bord der STERNENKRIEGER die Funktion eines wissenschaftlichen Beraters innehatte, drehte sich mit deutlicher Verzögerung in das Kameraauge, das sein Bild per Interkom auf einen Nebenschirm auf der Brücke übertrug.
„Captain?“
„Ich nehme an, Sie haben bereits bemerkt, dass eine dieser Lichtsonden gerade die SONNENWIND durchdringt. Der Funkkontakt ist abgebrochen.“
„Ja, Captain. Aber wir sollten uns keine Sorge machen. Die bisherigen Kontakte mit den Lichtsonden blieben immer harmlos für die Betroffenen. Und was den Ausfall des Funkverkehrs im Sandström-Band anbetrifft...“
„...so hätte das von-Schlichten-Aggregat dies eigentlich verhindern müssen“, unterbrach ihn Sunfrost.
„Ja, aber diese Sonde ist von einer besonders hohen Energiedichte. Ich könnte mir vorstellen, dass sich das System des Sandström-Funks einfach abgeschaltet hat, um Schäden zu vermeiden.“
Susan Jamalkerim meldete sich zu Wort. „Captain, wir haben wieder Kontakt zur SONNENWIND“, meldete die Funkoffizierin. „Allerdings lediglich im Unterlichtfunkbereich, was bedeutet, dass es immer mit einer gewissen Verzögerung bei uns eintrifft.“
„Lassen Sie sehen!“
„Es gibt nur einen Audio-Stream. Das Videosignal wird überlagert.“
Wenig später war die Stimme von Captain Barus zu hören.
„Hier Barus. Ich hoffe, Sie können mich verstehen, Sunfrost! Der Überlichtfunk ist ausgefallen und im Unterlichtbereich leiden wir unter starken Überlagerungen. Das Signal ist nicht stabil. Die Lichtsonde wandert im Schiff herum und untersucht unsere technischen Systeme offenbar mit großer Intensität und Akribie. Gesundheitsschädliche Auswirkungen oder schädliche Emissionen konnten bisher nicht gemessen werden. Allerdings haben wir derzeit einen eingeschränkten Zugriff auf unsere Systeme und...“
Schon die letzten Worte des Captains der SONNENWIND waren deutlich leiser und von Störgeräuschen überlagert gewesen. Schließlich ging seine Stimme fast gänzlich im Rauschen unter.
„Das Signal ist abgebrochen, Ma’am“, meldete Susan Jamalkerim.
Walbaaans Körper glich einem mit gallertartiger Flüssigkeit gefüllten, durchsichtigen Sack. Diese äußere Membran hielt seinen amöbenartigen, etwa zweihundert Kilogramm schweren Körper zusammen. Das Innere war für jeden, dem lichtsensible Zellen zur Wahrnehmung zur Verfügung standen, deutlich zu sehen. Der im Gallert schwimmende Nervenkern ebenso wie das Implantat des faustgroßen Etnord, dessen Ganglien in verschiedene Richtungen gewachsen waren und den amöbenhaften Körper des Seglaners völlig kontrollierten.
In der alten seglanischen Kultur, die etwa zwei Millionen Jahre alt war, wurde der dicke Nervenkern als Zentrum des Bewusstseins angesehen. Die Seglaner – die ihrer körperlichen Natur nach sehr offen waren, hatten demgegenüber als Ausgleich einen ausgeprägten Individualismus entwickelt und so etwas wie Staatenbildung stets als großes Übel abgelehnt. Schließlich stammten die Seglaner von einem Wesen ab, das selbst vor zwei Millionen Jahren bereits ein Mythos gewesen war. Ein schwer fassbarer Schrecken, der in den Überlieferungen noch immer die Erinnerungen an eine schlimme Zeit bewahrte. Dieses Wesen wurde der Große Segla-Seelenherrscher genannt und die Form einer Riesenamöbe gehabt, die aus einer Laune der Natur heraus nicht zu wachsen aufgehört und sich über einen ganzen Kontinent erstreckt hatte.
Walbaaans Vorfahren hatten sich von diesem großen Segla-Seelenherrscher irgendwann abgespalten. Eigentlich hatten sie als autonome, aber nichtsdestotrotz untertane Bewusstseinseinheiten auf anderen Kontinenten fungieren sollen. Einheiten, die in der Lage waren, sich selbst zu erhalten und eigene Entscheidungen zu treffen, da es die klimatischen Bedingungen auf Segla manchmal unmöglich gemacht hatten, die Verbindung von einem Kontinent zum anderen permanent zu halten.
Zumindest in jener Zeit war das so gewesen, als es auf Segla noch keine nennenswerte Technik gegeben hatte und der Funkverkehr noch vollkommen unbekannt gewesen war. Nachrichten hatten durch autonome schwimmende Abspaltungen des großen Segla-Seelenherrschers über die Meere gebracht werden müssen, was oft genug damit endete, dass diese Einheiten abgetrieben wurde und an fremden Küsten strandeten. Dort wurden sie entweder ein Raub der dortigen mehr oder minder aggressiven Fauna und Flora oder sie schafften es zu überleben.
Letztlich vollzogen die autonomen ersten Seglaner den vollkommenen Bruch mit dem großen Seelenherrscher. Es vergingen Hunderttausende von Jahren, in denen die Macht der Autonomen wuchs, die des Seelenherrschers aber stagnierte.
Die Autonomen entdeckten eine Möglichkeit, sich durch Zellteilung zu vermehren und trotzdem genetische Sequenzen untereinander auszutauschen, was eine schnellere Entwicklung möglich machte. Der Große Seelenherrscher hingegen wuchs einfach immer weiter und umsäumte inzwischen seinen Kontinent bereits mit einer schwimmenden Schicht seiner Körpersubstanz.
Irgendwann, so war der Plan des Seelenherrschers, wollte er bis zu den anderen Kontinenten hinüber wachsen und die volle Herrschaft über die autonomen Einheiten wieder übernehmen. Er hatte schließlich Zeit genug. Auf Grund seiner fortwährenden Zellteilung war er schließlich nahezu unsterblich und gewohnt, in sehr langen, beinahe kosmischen Zeiträumen die Verwirklichung seiner Pläne anzustreben.
Warum nicht in einer oder zwei Millionen planetarer Jahre ganz Segla überwuchern und dann vielleicht nach dem hundertfachen dieser Zeitspanne sogar Verbindungen zu anderen Welten knüpfen? Der Große Seelenherrscher hatte nämlich inzwischen erkannt, dass es solche andere Welten gab und dass sie erreichbar waren. Dass auf dem Weg dorthin eine Temperatur herrschte, die den Hauptbestandteil seiner Körpermasse – Wasser – sofort gefrieren ließ, wusste er noch nicht, aber die viele Zeit die er ansonsten mit Wachstum verbrachte, vertrieb sein immer komplexer werdendes Bewusstsein sich damit, die Bahnen der Gestirne zu berechnen. Um sie zu beobachten, hatte er ganze Areale seiner Körperoberfläche zu regelrechten Observatorien werden lassen, wo er lichtsensitive Zellen in einer Weise konzentrierte, die wahrscheinlich einzigartig im Universum war. Gewaltige und ungeheuer leistungsstarke Beobachtungsareale entstanden so.
Die Augen des Großen Seelenherrschers.
Doch nicht er war es, der den Traum zu den Sternen zu gelangen, schließlich wahr zu machen vermochte.
Die Autonomen hatten inzwischen Mittel und Wege gefunden, den Großen Seelenherrscher zu vernichten.
Als dessen Absichten auch dem letzten unter ihnen offenbar wurden, ersannen sie einen Plan, um dem Seelenherrscher zuvor zu kommen und für immer unmöglich zu machen, dass er die Herrschaft zurückerobern konnte.
So kehrten sie in Massen zum Kontinent ihrer Herkunft zurück und mussten feststellen, dass es nirgends noch eine Möglichkeit gab, an Land zu gehen, da der Kordon aus gallertartiger Körpersubstanz inzwischen überall viel zu breit geworden war. Ein Betrachter aus dem Weltraum hätte geglaubt, dass der Kontinent seine Größe verdoppelt hätte.
Der Seelenherrscher freute sich darüber, den Autonomen zu begegnen. Er gestattete ihnen, Teil seiner Körperperipherie zu werden.
Genau das war dann die Ursache seines Todes.
Anstatt in den alten Verbund zurückzukehren und sich unterzuordnen, injizierten ihm die Autonomen eine chemisch modifizierte Variante jenes Gens, das einst die Abspaltung der autonomen Einheiten ausgelöst hat.
Der Zerfall des großen Seelenherrschers in autonome Teileinheiten dauerte hunderttausend Planetenumläufe.
Aber er war nicht mehr rückgängig zu machen.
Walbaaan erinnerte sich noch immer daran, denn er hatte diese Zeit erlebt. Zwar hatte er sich seitdem einige Dutzend mal geteilt und Gen-Sequenzen anderer Seglaner in sich aufgenommen, aber bei Seglanern gab es eine Kontinuität des individuellen Bewusstseins und der Erinnerung über die Zellteilung hinaus. Es gab also unzählige Individuen, die bis zu einem gewissen Punkt ihre Vergangenheit teilten.
Das war erst an dem Tag anders geworden, an dem die Etnord auf Segla aufgetaucht waren und sich nach und nach alle Seglaner bemächtigt und sie mit Implantaten versehen hatten.
Die Etnord-Wirte hatten das getan, was sie immer taten, wenn sie fremde Wesen übernahmen. Sie hatten versucht, das Bewusstsein zu vernichten und so viel wie möglich des im Gehirn gespeicherten Wissens zu übernehmen. Danach waren die übernommenen Körper nichts anderes als ein Werkzeug des jeweiligen Etnord.
Bei den Seglanern war das nicht ganz so. Vielleicht lag es daran, dass es eben doch ein Mythos gewesen war, dass die Erinnerungen ausschließlich in dem Nervenkern gespeichert wurden. Sie wurden in Wahrheit überall und an sehr verschiedenen Stellen des Seglaner-Körpers chemisch fixiert. Und vor allem sorgten verschiedene, nur schwer zu deaktivierende biochemische Mechanismen dafür, dass sie sich immer wieder rekonstruierten. Und auch Teile der Persönlichkeit des Seglaners, der einst Walbaaan gewesen war, geisterten noch als chemisch fixierte Bewusstseinsfragmente durch den amöbenhaften Körper des Seglaners, deren Wiederherstellungsfähigkeit beängstigend war. Wie die Information, die der amöbenhafte Körper dieser Spezies wie nach einem Backup des Bewusstseins und der Erinnerungen erneut zu schaffen vermochte, zwischenzeitlich gespeichert wurden, war selbst für die fortgeschrittene Wissenschaft der Etnord ein Rätsel geblieben. Dazu kam, dass dieses Phänomen von jenen Genen, die die Separierung eines Bewusstseins und letztlich die Teilung des ganzen Organismus steuerten, stark unterstützt wurde.
Nur ein psychisch stabiler Etnord war geeignet, um einen Seglaner-Körper zu übernehmen. Und selbst bei sorgfältiger Auswahl der Implantate kam es auf Segla immer wieder zu Fällen der so genannten seglanischen Schizophrenie.
Walbaaan war selbst nur mit knapper Not und dank der biochemischen Intervention seines Arztes an diesem Schicksal vorbeigekommen.
Ein Grund mehr für ihn, sich seinem Lebenswerk zu widmen.
Er hatte sich ganz der Erforschung der biochemischen Mechanismen verschrieben, die dazu führten, dass immer wieder Etnord, dem Wahnsinn der seglanischen Schizophrenie verfielen.
Zwei Partner waren ihm dabei behilflich. Beide waren Etnord – litten aber nicht unter diesem Phänomen, da sie nicht in seglanische Körper eingepflanzt worden waren. Der eine hieß Jason Montesculon und stammte von Taralon, der derzeitigen Residenz-Welt des Herrn.
Ein Etnord-Mensch.
Der Kopf war kahl.
Er trug einen eng anliegenden Overall. Am Hals und dort, wie die Ärmel am Handgelenk endeten, waren die Enden der Ganglien zu sehen, die von dem in seine Brust implantierten Etnord-Implantat ausgingen.
Der andere stammte von Parda, dem zweiten Planeten der heimatlichen Sonne, die von die Seglanern einfach als Großes Licht bezeichnet wurde. Der Name des Etnord-Pardaners lautete Kar-Dan-To. Er war deutlich kleiner als der Etnord-Mensch, hatte aber ebenfalls vier feste und unveränderbare Extremitäten. Sein Körper war bepelzt und die Augen so klein, dass sich Walbaaan nur schwer vorzustellen vermochte, dass sich damit ein ausreichen großes Gesichtsfeld erreichen ließ. Zu dreidimensionaler Sicht reichte angeblich die Überlappung der Gesichtsfelder beider Augen sowohl bei Menschen als auch bei Pardanern aus.
Trotzdem wäre sich Walbaaan halb blind vorgekommen. Schließlich konnte er je nach Bedarf bis zu vierzig Prozent seiner Körperoberfläche in licht-sensitives Areal umwandeln. Und außerdem vermochte Walbaaan aus seinem amöbenhaften Körper nach belieben tentakelartige Extremitäten ausbilden und hatte die direkte Kontrolle über eine ganze Reihe von Stoffwechselprozessen.
Chemische Prozesse, denen die beiden Kollegen mehr oder minder hilflos ausgeliefert waren.
Oft hatte der amöbenhafte Walbaaan die beiden Wissenschaftler-Kollegen dennoch beneidet – trotz der im ganzen weitaus minderwertigeren Wirtskörper, in die man sie hinein gepflanzt hatte.
Aber diese Wirtskörper gehörten auf jeden Fall unzweifelhaft ihnen allein.
Kein sich selbst restaurierender Bewusstseinsrest machte ihn ihnen streitig.
Sie waren die Herren ihrer Existenz, auch wenn die zumindest physiologisch gesehen armselig war.
Walbaaan hingegen fürchtete bei jedem, sich fremd anfühlenden Gedanken, jeder Erinnerung, die er nicht sofort eindeutig zuzuordnen vermochte, ob sich da nicht auch in ihm gerade etwas bildete, das den Beginn einer beginnenden seglanischen Schizophrenie war.
Mit dieser Angst leben wir von der Implantierung an, dachte Walbaaan. Und niemand kann sie uns nehmen... Denn es scheint kein Mittel zu geben, den Ausbruch dieser Krankheit sicher zu verhindern...
Nicht einmal Operationen am offenen Nervenknoten hatten etwas gebracht – von den üblichen biochemischen Stimulationen, die den Hauptteil der seglanischen Medizin ausmachten, mal ganz abgesehen.
Walbaaan rutschte mit seinem Körpersack über den Boden und zog eine Feuchtigkeitsspur hinter sich her. Jason Montesculon, der menschliche Etnord, hatte einmal geäußert, dass seinesgleichen ganz schön aufpassen musste, um nicht auf diesen Schmierspuren auszurutschen.
Danach hatte Walbaaan den Feuchtigkeitsverlust durch Regulierung einiger Körperfunktionen auf ein Minimum reduziert und seine Außenmembran biochemisch gesehen etwas dichter gemacht. So etwas war für einen Seglaner kein Problem.
Für Jason Montesculon hingegen wäre es ebenso ein Ding der Unmöglichkeit gewesen wie für Kar-Dan-To.
Am Anfang ihrer Zusammenarbeit hatte Walbaaan gegenüber dem haarigen Pardaner den Wunsch geäußert, dass er sich doch bitte kahl rasieren möge, da es immer wieder vor kam, dass er Haare verlor, die die Walbaaans prinzipiell durchlässige (und manchmal etwas eigenwillige Außenmembran) diese Haare in sich aufnahm, was zu unerwünschten Folgen führte.
Allergische Reaktionen waren da noch das harmloseste.
Schlimmer war, wenn irgendein autonomer biochemischer Mechanismus in seinem Körper damit begann, die in den Haaren enthaltene DNA dem eigenen Bauplan beizufügen und winzige Veränderungen herbeizuführen.
Aber genau diese Gefahr bestand permanent...
Man musste als Seglaner höllisch aufpassen. Es fing immer mit der Anlagerung von ein paar Molekülen an und endete dann in seglanischer Schizophrenie und dem totalen Kontrollverlust.
Aber Kar-Dan-To hatte dieses Ansinnen natürlich völlig empört von sich gewiesen.
Ein Fell sei schließlich integraler Bestandteil seines Körpers und er führte dann verschiedene Gründe an, weshalb er sich ohne diese Behaarung auf keinen Fall wohl fühlen könnte.
Das war bei Jason Montesculon angenehmer.
Eine der Nebenwirkungen der Übernahme eines Menschen durch einen Etnord war, dass ersterer in über 99 Prozent der Fälle nach und nach die Haare verlor.
„Ich habe die heutigen Versuchsreihen bereits vorbereitet“, eröffnete Walbaaan seinen beiden Kollegen. Dazu bildete seine Membran ein Organ aus, das in der Lage war Laute zu erzeugen, die den Stimmen von Menschen oder Pardanern zum verwechseln ähnlich waren. Sprachen zu lernen fiel dem Seglaner nicht schwer. Er hatte sich innerhalb kürzester Zeit, die Sprachen eingeprägt, die unter den Wirts-Spezies verbreitet waren, mit deren Worten er nun einmal zusammenarbeiten musste.
Walbaaan konnte sowohl das pardanische Hauptidiom als auch die Sprache der Menschen von Taralon perfekt und hatte im Übrigen auch kein Verständnis dafür, dass es Menschen oder Pardanern dermaßen schwer fiel, ein anderes Idiom zu erlernen. Insbesondere solche, bei der die Spezies, die diese Sprache entwickelt hatte, völlig andere anatomische Voraussetzungen hatte, um Laute zu erzeugen.
Kar-Dan-To und Jason Montesculon wechselten einen Blick.
So nannten die Spezies das, wenn sie sich die raren lichtempfindlichen Zellenkonglomerate zuwandten. Kein Wunder, dass dies unter den Wirtspezies immer kulturell aufgeladen wurde, dachte Walbaaan.
Ein Blick, so nannten sie das.
Walbaaan konnte nur abstrakt erfassen, was ein Blick war und das Angehörige von Spezies, deren Sehzellen dermaßen sparsam bemessen und auf wenige, sehr eng gefasste Körperregionen begrenzt waren, darin zweifellos etwas Besonderes sahen. Eine Auszeichnung, einen Ausdruck der Zuneigung, des Einverständnis oder sogar eine Drohung... Alles konnte damit ausgedrückt werden, auch wenn nicht bei jeder dieser halbblinden Spezies auf dieselbe Weise.
Der Seglaner fand es äußerst interessant zu beobachten, dass diejenigen Etnord, die Wirtskörpern aus den wenig sehenden Spezies eingepflanzt worden waren, offenbar dieses bewusste Zusenden der Sehzellen ähnlich mit kultureller Bedeutung aufzuladen begannen, wie es in den ursprünglichen Kulturen der jeweiligen Wirtsvölker der Fall gewesen war. Das physiologische Sein bestimmt eben doch sehr weitgehend das Bewusstsein, dachte er dazu.
„Walbaaan, wir müssen dir etwas sagen“, meinte Jason Montesculon.
„Etwas sagen?“, fragte Walbaaan und richtete seinen zweihundert Kilo schweren Membransack so auf, dass er etwas an Körpergröße gewann. Ganz so groß wie Montesculon konnte er sich auf diese Weise ohnehin nicht machen, dagegen sprachen schon die Gesetze der Schwerkraft.
Um Montesculon hätte er schon ein paar Tentakel ausbilden und nach oben ragen lassen müssen. Die Höhe des Pardaners vermochte Walbaaan mitunter zu erreichen, wenn er gut ausgeruht war und sich vollkommen auf die Stabilisierung seiner körperlichen Form konzentrierte, was ihm mit zunehmenden Alter schwerer fiel, wie er ungern zugeben mochte.
„Was ist los?“, fragte Walbaaan.
„Es wird keine weiteren Versuche geben“, sagte Kar-Dan-To jetzt anstelle von Jason Montesculon.
„Und weshalb nicht, wenn ich fragen darf?“
„Hast du denn wirklich von alledem, was sich derzeit auf Segla und überall im Reich der Etnord zuträgt, nichts gehört, Walbaaan?“, fragte Kar-Dan-To völlig verständnislos. So groß konnte Ignoranz einfach gar nicht sein.
„Der Ruf...“, murmelte Walbaaan und bildete dabei für die Dauer seines Statements ein Sprechorgan in der Oberfläche seiner Außenmembran aus. Kurz hintereinander wiederholte er seine Worte in Montesculons Sprache und in der Sprache der Pardaner. Walbaaan war sein eigener Simultan-Translator und dabei wesentlich schneller und besser als jedes Übersetzungssystem.
„Der Ruf ist an uns alle gegangen“, sagte nun Kar-Dan-To. Seine Sprache bestand aus eine Aneinanderreihung von Piepslauten, die von Jason Montesculon weder verstanden wurden, noch nachgeahmt werden konnten. Aber er verfügte über einen Kommunikator mit integriertem Translator. „Wir müssen dem Ruf nachkommen...“
„Daran habe ich auch nie gezweifelt“, erwiderte Walbaaan.
„Nichts hat höhere Priorität als der Ruf“, erklärte Montesculon. „Es bereitet mir geradezu körperliche Schmerzen in den Ganglien, dass wir nicht schon den ersten Konvois zugeteilt wurden.“
„Die Schiffe werden zurückkehren und auch uns an Bord nehmen“, versicherte Kar-Dan-To. „Ganz bestimmt...“
Montesculon nickte.
„Ja, das glaube ich auch.“
Seine sehr nachdenklich wirkenden Worte klangen so, als ob er sich selbst erst davon überzeugen müsste. Er wandte sich noch einmal Walbaaan zu, aus dessen polymorphen Körper jetzt gleich drei Tentakel herausgestülpt wurden.
Walbaaan verschränkte zwei von ihnen, weil er im Moment eigentlich nichts für diese Gliedmaßen zu tun wusste.
Sie verschränken kam damit einer Verlegenheitsgeste gleich, die man eigentlich am besten unterlassen sollte, wenn es nach den Traditionen der Seglaner ging.