MIRJAM WYSER
Die Kristallkinder
und das Geheimnis der acht goldenen Haare
Kinderbuch
Ein Buch aus dem FRANZIUS VERLAG
Illustrationen: Merli (Gabriele Merl) www.merlimerl.com
Buchumschlag: Jacqueline Spieweg
Korrektorat/Lektorat: Petra Liermann
Verantwortlich für den Inhalt des Textes
ist die Autorin Mirjam Wyser
Satz, Herstellung und Verlag: Franzius Verlag GmbH
Druck und Bindung: SDL, Berlin
ISBN 978-3-96050-113-8
Alle Rechte liegen bei der Franzius Verlag GmbH
Hollerallee 8, 28209 Bremen
Copyright © 2018 Franzius Verlag, Bremen
www.franzius-verlag.de
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Inhaltsverzeichnis
Der Weißgekleidete
Ein Luftgeist
Die Schatulle
Der Stein der Weisen
Reise in eine andere Zeit
Besuch in einer Pagode
Flussabwärts
Das Dorf
Das Kloster
Zwischenwelt
Das Mädchen
Faule Ernte
Trauer und Wut
Die Bande
Die Greisin
Die Hexe
Der Berg der Tausend Treppen
Sprengstoffgürtel
Das Geheimnis der Verwandlung
Der Blick in die Welt mit neuen Augen
Über die Autorin Mirjam Wyser
Weitere Werke der Autorin Mirjam Wyser
Veröffentlichungen des Franzius Verlages:
Ein Windhauch bläst gerade die Allee entlang. Hält an, dreht sich langsam um, hebt ein Papier an und weht es durch die Lüfte.
Bevor der Tag erwacht, hat sich ein Weißgekleideter auf den Weg gemacht. Er ist über die silberne Brücke gekommen, aus dem unbekannten Land, wo die Engel goldene Sterne streuen, damit es nie dunkel wird auf der Welt.
Seine Hautfarbe ist hell und sein Haar hat einen goldenen Schimmer. Seine ganze Gestalt scheint aus Gold geformt und für die Ewigkeit gedacht zu sein. Gekommen ist er durch eine Drehtür. Nun läuft er die breite Allee hinunter, über ihm blinzeln die Wolken. Bis jetzt hat niemand in der Stadt diesen weißgekleideten Weisen gesehen. Auch heute sieht ihn niemand, es sei denn, er könnte mit dem Dritten Auge oder dem Horus-Auge schauen.
Das Dritte Auge ist auf der Stirn. Es ist das Tor zu der Weisheit, der Erkenntnis. Ist das Dritte Auge geöffnet, entwickeln sich hellsichtige Fähigkeiten, das heißt, diese Menschen können in die unsichtbare Welt schauen. In die geheimnisvolle Welt, die den meisten Menschen verborgen bleibt. Kinder haben noch oft die Begabung, mit dem Dritten Auge zu sehen.
Der Weißgekleidete ist gekommen, um neue Schüler zu finden. Nur Auserwählte können seinen Ruf hören. Als er am Abend wieder durch die Drehtür zurückgeht, scheint es, dass er gefunden hat, was er suchte.
»Meine Wahl ist getroffen! Ich habe die Beiden gefunden, über deren Haupt der Stern glänzt! Vor denen der Himmel sich niederbeugt und die närrischen Wolken sich vergnügen!«, murmelte er vor sich hin.
Dann kehrt er wieder in die Ferne zurück, dorthin, von wo alle Menschen kommen und wohin sie eines Tages auch wieder zurückkehren werden. Wenn die richtige Zeit gekommen ist, wird der Weißgekleidete für Kinder des Lichts den Schleier von dem geheimnisvollen, unsichtbaren Pfad lüften, der zum Königreich des Lichtes führt.
Heute ist ein herrlicher Tag im Sommer. Nur der Himmel ist ungewöhnlich und merkwürdig. Am gestrigen Nachthimmel hat es eine Sternenkonstellation gegeben, die als Sonnendreieck bekannt ist. Wega, Deneb und Altair heißen die leuchtenden Sterne. Durch dieses Sternendreieck haben himmlische Augen geschaut. Wem gehörten sie? Etwa einem Luftgeist?
Luftgeister befinden sich überall, in der Luft, im Wind, im Sturm, im Orkan, im Lufthauch und in den Wolken. Lieblich und verspielt tanzen sie durch die Lüfte. Kinder haben sie besonders gerne. Weil Kinder ihr helles, glockenreines Lachen noch hören können. Einige zeigen sich mit Flügeln. Andere schweben im luftigen, durchsichtigen Schleierkleid durch die Natur. Sie reinigen die Luft von schlechten Gedanken und der Luftverschmutzung. Luftgeister haben die große Begabung, in den Herzen der Menschen zu lesen.
Der runde volle Mond ist am Himmel aufgestiegen. Eine Herde von Federwolken zieht am Nachthimmel vorbei und als sie in die Nähe des Mondes kommen, glänzen sie silbrig. In namenloser Stille grüßen funkelnd die Sterne. Eines der Wölkchen hat sich von der Herde gelöst und kommt immer weiter nach unten. Ein feines Flüstern klingt in den Winden, in den Wolken. In rosigem Schein erblühen die Weiten des Himmels.
Müde haben Mariam und Mattis die Augen geschlossen. Sie versinken in einen tiefen Schlaf. Ein ungewöhnliches Geräusch, wie der Flügelschlag eines Alders, weckt sie mitten in der Nacht auf. Ein Ruf dringt als kaum hörbares Flüstern des Windes in ihr Bewusstsein, raus aus dem Land der Träume. Sie vernehmen eine Botschaft: »Erwacht und steht auf von eurem Schlaf des Vergessens.«
Eine leise Stimme summt ein Lied ganz in ihrer Nähe. Obwohl Mariam und Mattis an verschiedenen Orten wohnen, hören sie genau das Gleiche. Die fremdartigen Laute verwirren sie. Sie können nicht zuordnen, was es zu beuten hat. Plötzlich wird es hell im Zimmer. Es ist Mitternacht. In dumpfen Tönen schlägt die Glocke vom Kirchturm und ruft die Mitternachtsstunde aus. Ein Lichtstrahl trifft die beiden mitten ins Herz und erweckt ihre Seelen aus dem Schlaf. Ob sie träumen oder wach sind, wissen sie nicht mehr. Hoch in der Luft fliegen lichtvolle Wesen, die fröhlich summen.
»Wenn ein silberner Stern durch die Wolken guckt, kann es sein, dass er sich zum Engel entpuppt und dir etwas zeigen will.«
Die Auserwählten betreten das Traumland, es liegt zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang. Das bedeutet, niemand weiß genau wo das ist. Sie sichten eine Drehtür, als Torwächter steht ein Weißgekleideter davor. Er tritt zur Seite und lässt die Traumwandler eintreten. Zögernd gehen sie hindurch und werden auf der andern Seite von einem wirbelnden Sog erfasst. Es trägt sie fliegend, spiralförmig hoch und höher. Sie haben die unsichtbare Welt betreten. Wieder sehen sie den Weißgekleideten. Wie ist er nur hierhergekommen, gerade stand er noch vor dem Tor? Neben ihm steht ein Engel mit einem Leuchter. Der Anblick des Engels ist wie eine goldene Flamme. Mariam und Mattis sind überwältigt von diesem strahlenden Anblick. Plötzlich verändert sich alles um sie. Die die goldene Flammen, in der der Engel steht, öffnet ihnen das Dritte Auge, um in der unbekannten Welt zu sehen und zu gehen. Das dritte Auge gehört zum Seelenkleid, eines Menschen. Es ist das geheimnisvolle Auge um in die andere Welt zuschauen, von wo die Menschen gekommen sind und auch wieder zurückkehren. Wenn ein Mensch auf die Erde kommt und das Edenlicht erblickt, dann fallen ihm die himmlischen Augen zu. Doch durch den Schutzengel bleibt der Mensch immer verbunden mit der Lichtwelt. An die unsichtbare Welt können kleine Kinder sich oft noch erinnern. Manchmal dürfen Menschen in die unbekannte Welt schauen und genau das passiert mit Mariam und Mattis.
Zu Schönheit und Glanz werden Mattis und Mariams Himmelskleider. Licht umhüllt sie. Sie bewegen sich leicht und luftig wie in einem ein Schleierkeid, ohne jegliche Angst.
»Geht weiter, von nun an könnt ihr in zwei Welten wandern!«, spricht der geheimnisvolle Weißgekleidete. »Ich werde wie ein Schatten über euch wachen!«
Frohen Mutes gehen die Kinder weiter und hören ein Flüstern, begleitet von einem glockenreinen Lachen.
»Kinder hört ihr mich? Ich brauche eure Hilfe! Wir drei sollten einen Ausflug machen! Mögt ihr mitfliegen?«
Wer immer da ruft, muss Mariam und Mattis kennen. Es ist nicht der Weißgekleidete, der mit ihnen spricht. Die geheimnisvollen Welten wollen ihnen eine Geschichte erzählen, ihnen das Traumfenster öffnen.
»Wer bist du, der zu uns spricht?«, fragen die Träumenden.
»Ich bin der Windhauch in den Bäumen, die am Ufer stehen. Ich umwebe euch, wenn ihr draußen spielt und zur Schule geht. Ich bin der Wind, der in den Blättern rauscht. Ich bin im Segel, das im Sturm braust! Ich bin der Wind in den Städten, der um die Hochhäuser fegt. Ich bin in den Gärten und streichle die Natur. Ich bin einfach überall, mal freundlich, mal wütend!«
»Du großer Unbekannter, wir fliegen gerne mit!«, sagen die Kinder.
»Kinder, schließt eure weltlichen Augen und schaut mit euren geistigen Augen, den Traumaugen. Das bedeutet, mit dem Dritten Auge zu sehen! So, nun passt gut auf, ich wecke eure Traumgestalt. Eure Körper lassen wir einfach im Bett liegen und decken sie noch gut zu. Durch die Drehtür seid ihr nur mit eurem Traumkörper gegangen – oder auch Seelenkörper genannt.«
In einem Lichtschein sehen die Gerufenen eine Wendeltreppe nach oben. Neugierig steigen sie hoch. Sie hören keinen ihrer Schritte auf der Treppe, sie scheinen zu fliegen. Oder schweben sie nur? Sehen können sie hier nichts. Es ist, als bewegten sie sich in einer Nebelsuppe.
Wieder hören sie die Stimme sprechen:
»Wer die Welt aus Liebe formt, darf sie auch bewohnen. Hier gibt es nur die Sprache des Geistes und diese wird von allen Lebewesen verstanden!«
Erstaunt schauen sie um sich! Immer noch ist nicht zu erkennen, wer zu ihnen spricht. Sie fragen:
»Wer spricht zu uns! Wir können dich immer noch nicht sehen?«
Dann wird es heller. Glitzernde Lichterwelten bilden sich, Fontänen aus Lichtschimmer – wie bei einem Springbrunnen – steigen hoch in die Unendlichkeit und fallen wieder zusammen.
Noch immer wissen sie nicht, ob sie fliegen oder schweben. Denn beim Fliegen rauschen ja die Flügel, selbst bei der Eule, die doch von allen Vögeln am lautlosesten fliegt. Oder wie bei einem Flugzeug, wo die Motoren dröhnen. Aber von ihrem Flug ist nichts zu hören. Sie fliegen wie Engel lautlos durch die Nacht. Als sie emporblicken, sehen sie die Sterne unbewegt am Firmament. Sie bekommen runde Augen vor Staunen.
Von oben klingt wieder die Stimme. Sie gehört zu einem Luftgeist. Ja, es ist wirklich ein Luftgeist. Sein Lächeln ist rätselhaft. Sie sehen nach oben. Durch ein Loch in den Wolken kommt etwas Unbekanntes angeflogen. Ein Geist?. Die Schwingen des Luftgeistes sind extrem kraftvoll. Er hat ein strahlendes Licht um seinen Kopf.
»Ich bin Arik, der Luftgeist! Wollt ihr mit mir durch die Nacht reisen? Rund um die Welt?«
»Das wäre bestimmt toll, doch das geht doch gar nicht, wir sind doch viel zu schwer und dazu wäre die Zeit viel zu knapp«, geben die schlauen Kinder zur Antwort.
»Versteht, meine Lieben, in eurem Traumkleid seid ihr federleicht. Das habt ihr doch bereits gespürt. Mit mir dürft ihr auf Wolken schweben und Traumschlösser beziehen. Auch wenn euer Verstand rebelliert, eure Gefühle kommen auf ihre Kosten. Das kann ich euch versichern. Genießt einfach die Reise mit mir. Das Glück, das euch jetzt erwartet, wird euch große Freude bereiten. Ja, und mit der Zeit ist es so eine Sache. Wir Geister der Lüfte kümmern uns um Raum und Zeit. Das Licht, das im Augenblick scheint, reist mit dreitausend Kilometern in der Sekunde, reist schneller, als eure Augen blicken können. Wir werden durch die Zeit reisen, dem Sonnenaufgang entgegen, dann müssen eure Seelen wieder im Körper sein. Kommt, Kinder, ich reise mit euch rund um die Welt!«
»Das ist doch nicht möglich? Das ist doch nur ein Märchen! Du bindest uns einen Bären auf.«
»Wir Luftgeister schwindeln nie, also binden wir euch auch keinen Bären auf. Uns könnt ihr vertrauen! Warum denn nicht ein Märchen erleben? Ein Märchen gefällt den Großen und Kleinen!«, gibt der Luftgeist zur Antwort und zwinkert listig mit den Augen.
Wer kann so ein Angebot schon ausschlagen? Nun nehmen sie, ohne Widerrede, das Angebot an. Wer mit dem Luftgeist durch die Nacht fliegen kann, vergisst alles andere. Sie lassen Dächer und Häuser unter sich, den Park, die glitzernden Lichter der Stadt, und fliegen am Silberband eines Flusses entlang, dann über Berge. Weiter über Meer und Klüfte, Bäume und Täler, Städte und Dörfer, Schlösser und Herrenhäuser, Kirchen und Tempeln, alles im schwerelosen Traumkleid.
Plötzlich nehmen sie den süßen Duft verschiedener Blumen wahr. Unerwartet schweben sie wieder hoch wie in einem Aufzug. Durch die Wolken geht der Flug und durchstößt eine weitere Wolkendecke. Je länger sie fliegen, umso heller wird es. Die Wolken formen sich aus Dunst und schmücken sich wie Brillanten mit funkelnden Lichtstrahlen. Den Kindern wird es ganz himmlisch zumute, als sie im Lichtschein durch die Nacht fliegen. Sie spüren den Atem der Welt, die Melodie, welche die Bäume, ja, die ganze Natur aussendet. Es ist ein unbeschreibliches Glücksgefühl, in den Farben des Lichtes zu reisen, sie zu erleben.
Unter ihnen verwandelt sich die Landschaft. Sie fliegen durch das Reich der Licht- und Wassernymphen. Ein wunderschönes Glitzerparadies. In Baum und Strauch sehen sie lachende Elfen tanzen, wie sie sprudeln vor Freude. Diese haben spitze Ohren, sogar sehr spitze Ohren. Mit denen hören sie, wie die Gräser wachsen, die Blumen klingen, die Käfer singen und die Winde flüstern. Sie singen ihr Lied:
»Mutter Erde sollt ihr ehren, Berge, Wälder, Luft, Fluss und Meere, Pflanzen, Tiere und die himmlischen Wesen.
Schützt die Luft, denn atmen müssen alle Lebewesen.
Schützt das Wasser, Quell des Lebens, denn Wasser braucht jedes Lebewesen auf Mutter Erde.
Wir Feen tanzen seit der Ewigkeit und streuen Feenstaub auf Erden, damit die Menschen glücklich werden.«
Als sie den Luftgeist Arik sehen, schlagen sie vor Freude mit den Flügeln. Ganz besondere Freude haben sie an ihm, weil er immer so viele Geschichten zu erzählen hat. Doch heute lässt er nur ein helles Leuchten zurück, was den Feen gar nicht gefällt.
»Bin in eine Eile, bin in Eile meine Lieben! Ich habe heute Gäste bei mir, die müssen bei Sonnenaufgang zurück sein! Die Zeit drängt mit den Erdenkindern, eine Traumreise kann keine Ewigkeit dauern. Es ist wie im Traum«, ruft er den enttäuschten Feen zu und ist auch ein bisschen stolz, so begehrt zu sein.
Murrend akzeptieren sie seine Entscheidung.
Reisfelder tauchen auf. Im Land der goldenen Pagoden machen sie auf einer Tempelspitze halt. Kaum ein Land ist mit so vielen Geheimnissen umgeben wie dieses. Hier fühlt man noch eine magische Verbindung zwischen dem Leben auf Erden und dem Universum. Rötliche Lichtstrahlen tauchen alles in ein mystisches Licht. Die Geräuschkulisse besteht aus gemurmelten Mantras. Das sind Gebete, welche von Mönchen gesprochen werden, bevor die Sonne aufgeht.
Die Luft ist erfüllt von süßlichem Duft, der von tausenden von Räucherstäbchen stammt. Es herrscht eine geheimnisvolle Stimmung. Sie lauschen. Jemand nähert sich ihnen. Durch einen Wolkenschleier erscheinen die Gestalten zweier Wesen, umgeben von feinsten und schön strahlenden Farbtönen. So schön, wie sie es noch nie gesehen haben. Sie sind wie zwei Flammen. So hell, dass die Kinder sich die Hände vor die Augen halten müssen. In dieser Helligkeit bewegen die beiden Gestalten sich auf die Geblendeten zu. Ihr Lächeln ist so unbeschreiblich liebevoll. Die Liebe, die sie ausstrahlen, ist etwas, das man erleben und spüren kann. Mit Worten kann man dieses Gefühl nicht ausdrücken. Einen von den beiden erkennen die Kinder, es ist der Weißgekleidete!
»Das sind zwei große unsichtbare Meister, welche die Menschen führen. Sie wirken alle unter dem gleichen Dach und ziehen alle am gleichen Strang«, erklärt der Luftgeist.
Langsam erlischt die gleißende Helligkeit und damit verschwinden auch die strahlenden Gestalten. Erst als das Licht fast unsichtbar wird, sehen Mariam und Mattis das Lächeln in den Augenwinkeln des Luftgeistes Arik. Leise säuselt er: »Eure Reise geht dem Ende entgegen! Ich werde euch wieder zurücktragen.«
Wie ein Sturmwind sausen sie zurück zur Erde.
»Bald sehen wir uns wieder! Auf euch wartet eine Mission, ein Geheimnis von äußerster Wichtigkeit. Mehr verraten darf ich nicht. Wenn man ein Geheimnis kennt, muss man es bewahren, sonst zerbricht der Zauberkreis!«, sagt er und dann ist er verschwunden.
Was für ein Geheimnis das sein könnte, ist für die Beiden unvorstellbar.
Ihre Köpfe sind übervoll von Eindrücken, als sie bei Sonnenaufgang in der Traumwelt schläfrig werden und in ihre Körper zurückkehren. Nichts, was die Kinder bisher gesehen haben, war mit ihrem Flug zwischen der fließenden Welt, zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang, vergleichbar. Unaussprechlich geistert etwas Geheimnisvolles bis in die Morgendämmerung.
Der Geist der Lüfte hat den Kindern noch mehr zu erzählen über das Land der goldenen Pagoden. Doch vorerst wachen sie in ihren Betten auf. Knapp erinnern sie sich an einen schönen Traum. Oder war es doch mehr als nur ein Traum? Nun vergehen Tage und Wochen, nichts Außergewöhnliches passiert mehr. Der Traum rückt langsam ins Vergessen. Doch der Luftgeist Arik hat nichts vergessen.
Mariam und Mattis bummeln am freien Samstag durch die Stadt. Auf der Schulter hat Mariam ihre farbige Umhängetasche, die ihr Mattis zum Geburtstag geschenkt hat. Autos und Straßenbahnen schwirren an ihnen vorüber. Auch Menschen, die es eilig haben. Gewiss, einige bleiben vor den Schaufenstern stehen, in denen alles zu sehen ist, was der Mensch nicht wirklich benötigt und das doch darauf lauert, gekauft zu werden.
Sie durchqueren einen Spielplatz, auf dem sich die Kinder tummeln. Etwas außerhalb der Zone der Großstadt gibt es einen Markt. Die Händler haben wieder ihre Marktstände aufgestellt und hoffen auf kauffreudige Kundschaft. Neben dem Gemüsehändler hat sich ein Fischhändler niedergelassen. Ein nächster verkauft Käse aus der eigenen Molkerei. Mariam und Mattis schlendern über den Markt, kaufen sich ein Eis, setzen sich auf ein Mäuerchen und beobachten die Menschenmenge. Sie betrachten die Gesichter, sie verraten nicht immer viel. Auf manchen liegt eine gewisse Heiterkeit, Freundlichkeit und Zufriedenheit. Andere sind gezeichnet von Sehnsucht, Ernst und Traurigkeit. Andere von Gehässigkeit und Unzufriedenheit. Sie alle haben ein Schicksal. Ihre Wünsche, Hoffnungen, ihr Glück und ihr Leid, ihre Schmerzen tragen sie durch die Straßen der Stadt. Manchmal bleiben ein paar Menschen stehen, grüßen sich, wechseln ein paar Worte und gehen weiter. Doch alle verbindet das Eine: Sie sind nur Gast auf dieser Erde.
Auf ihrer weiteren Entdeckungsreise landen Mariam und Mattis bei den Verkaufsständen des Flohmarktes. Die Neugierde an Gegenständen, die eine unbekannte Geschichte zu erzählen haben, ist groß. Vielleicht wegen den Erfahrungen, welche den Kindern weit voraus sind! Sie mustern die gebrauchten Gegenstände. Lachen, kichern, spötteln und scherzen über den gebrauchten Ramsch.