cover

»Für die Welt war er Mandela, einer der größten Reformer der Geschichte, aber für mich war er der alte Madiba, der mich erzogen hat.« NDABA MANDELA

 

In ›Mut zur Vergebung‹ erzählt Ndaba Mandela erstmals von seinen unvergesslichen Erfahrungen mit einem der größten politischen Köpfe der Menschheit, seinem Großvater Nelson Mandela.

Als Elfjähriger zieht Ndaba zu ihm, kurz darauf, 1994, wird Nelson Mandela zum Präsidenten gewählt. Zuvor wuchs Ndaba in Schwarzen-Gettos Südafrikas auf und wurde mit den Härten des Apartheidregimes konfrontiert. Seine Eltern, die sich mit Gelegenheitsjobs durchschlagen mussten, holen nun, nach der Überwindung der rassistischen Politik, ihre Berufsausbildungen nach. Und so macht es sich Nelson Mandela zur Aufgabe, seinen rebellischen und orientierungslosen Enkel durch die Jugendzeit zu führen. Mit seiner Weisheit, aber auch mit Strenge hilft er ihm, zu einem verantwortungsvollen Erwachsenen heranzureifen.

Nelson Mandelas friedlicher Kampf gegen Unterdrückung und für soziale Gerechtigkeit hat die Welt verändert; sein Vermächtnis hat nichts an Aktualität eingebüßt.

 

Autor

Credit: © privat

NDABA MANDELA

MUT ZUR VERGEBUNG

Das Vermächtnis meines Großvaters Nelson Mandela

Aus dem Englischen
von Katja Hald, Heide Lutosch
und Elsbeth Ranke

Der Kampf gegen die Apartheid kann als Angriff der Erinnerung auf das Vergessen bezeichnet werden. Wir waren fest entschlossen, uns an unsere Vorfahren, unsere Geschichten, unsere Werte und unsere Träume zu erinnern.

Nelson Mandela

cover

PROLOG

Eines der letzten Fotos meines Großvaters Nelson Mandela wurde an einem Samstagmorgen im Jahr 2013 in seinem Haus in Johannesburg aufgenommen, wenige Wochen vor seinem Tod. Auf dem Foto sitzt mein drei Jahre alter Sohn Lewanika auf der Armlehne des Sessels des Alten Mannes und mustert ihn mit großem Interesse. Mein Großvater hält mit einem schiefen Lächeln seine kleine Hand, so wie er auch meine gehalten hat, als ich ihm mit sieben Jahren im Victor-Verster-Gefängnis zum ersten Mal begegnet bin. Die Ähnlichkeiten, die ich in den beiden entdecke, lassen mich schmunzeln: der ganz besondere Haaransatz, die muschelförmigen Ohren oder die Fältchen, die sich in ihren Augenwinkeln bilden, wenn sie sich anlachen.

An jenem Samstagmorgen war der Alte Mann stiller als gewöhnlich. Er war fünfundneunzig Jahre alt und kämpfte mit einem hartnäckigen Husten. Dennoch zeugt seine Körperhaltung noch immer von einer enormen Willensstärke und die Art, wie er Lewanikas Hand hält, von seinem außergewöhnlichen Charakter. Mein Großvater liebte Kinder. Sobald sich ein Baby oder ein Kleinkind mit im Raum befand, waren Erwachsene für ihn Luft. Bis ans Ende seines Lebens wurde dieser große Mann – ein Revolutionsführer und Präsident, der den Lauf der Geschichte veränderte – in der Gegenwart von Kindern genauso albern und weichherzig wie jeder andere Großvater und hatte nur noch Augen für die Kleinen.

Als ich selbst noch ein Kind war und nur ich und mein Großvater an unserem langen Esstisch saßen, sagte er mehr als nur einmal zu mir: »In all den Jahren im Gefängnis habe ich nie Kinderlärm gehört. Das hat mir am allermeisten gefehlt.«

Mein Großvater und ich hätten unterschiedlicher nicht sein können. Er wurde 1918 in Südafrika auf dem Land geboren, ich 1982 im urbanen Soweto. Er war ein Gigant, ein Nationalheld, den seine Bewunderer respektvoll mit seinem Klannamen »Madiba« ansprachen, ich ein schmuddeliges Kind, das auf der Straße leere Dosen vor sich herkickte. Ich war leicht zu übersehen, und die meisten Leute taten das auch, aber ein Kind zu ignorieren, egal, wie arm, schmuddelig oder unscheinbar es war, war nicht Madibas Art. Er sprach immer mit großem Bedauern und voller Sehnsucht davon, nicht da gewesen zu sein, als seine eigenen Kinder und Enkelkinder aufwuchsen. Den Großteil des Lebens meines Vaters – Makgatho Lewanika Mandela, Madibas zweiter Sohn mit seiner ersten Frau Evelyn Ntoko Mase – verbrachte der Alte Mann im Gefängnis. Ich glaube, indem er mich bei sich aufnahm und in allen praktischen Dingen quasi wie ein Vater für mich war, wollte er ein wenig davon wiedergutmachen. Aber wie so oft hatte unser Zusammenleben trotz Madibas guter Absichten auch einige Schattenseiten, mit denen er nicht gerechnet hatte. Dennoch ist es ihm und mir gelungen, die Berge, die uns trennten, irgendwie zu überwinden.

Seine Kinder, Enkel und Großenkel gaben Madiba sehr viel Hoffnung, weckten aber auch sein Verantwortungsgefühl und neuen Respekt gegenüber den alten Traditionen. Er sah in uns Zukunft und Vergangenheit zugleich: seine Nachkommen Seite an Seite mit seinen Vorfahren. Bis Lewanika auf die Welt kam und etwas später seine kleine Schwester Neema, hatte ich das nie richtig begriffen. Es dämmerte mir erst, als der Alte Mann schon über neunzig war und sich die Rollen, die wir jeweils im Leben des anderen spielten, langsam vertauschten. Als ich ein Kind war, war mein Großvater mein Beschützer und Versorger gewesen, und nun war ich seiner. Er wollte nicht, dass sich in seinen letzten Jahren Fremde um ihn kümmerten. Mein älterer Bruder Mandla und ich sollten ihn die Treppen hochtragen und seine Frau Graça ihm mit seinen persönlichen Bedürfnissen helfen. Verließ er das Haus, kümmerte ich mich um seine Sicherheit, und morgens, wenn er sich im Bett aufsetzte, brachte ich ihm die wichtigsten Zeitungen. Ich war immer an seiner Seite.

Oft sagte er zu mir: »Ndaba, ich denke darüber nach, den Rest meines Lebens am Ostkap zu verbringen. Würdest du mit mir kommen?«

»Ja, natürlich, Granddad«, antwortete ich.

»Gut. Gut.«

Er sollte jedoch nicht mehr an den Ort seiner Kindheit zurückkehren, was vielleicht auch daran lag, dass wir beide nie akzeptieren wollten, dass »der Rest« seines Lebens bereits begonnen hatte. Wenn es darum ging, wie viel Zeit ihm noch blieb, dachte ich immer in Jahren, und so waren seine letzten Tage eine brutale Überraschung für mich.

Er hatte auch mit Mitte neunzig noch nichts von seiner Lebensfreude eingebüßt, wurde in seinen letzten Jahren aber immer gebrechlicher, was ihn merklich frustrierte. Er konnte ziemlich streitsüchtig sein und die Krankenschwestern und Pfleger anschreien. Einmal schlug er einem Pfleger zum Entsetzen aller sogar ins Gesicht. Es war, als hätte der alte Boxer in ihm plötzlich die Schnauze voll gehabt von all dem Unsinn, und – zack – landete er einen überraschend kräftigen linken Haken, bevor irgendjemand kapierte, was überhaupt los war.

»Mach, dass du rauskommst!«, brüllte er den armen Kerl an. »Wenn du nicht sofort aus unserem Haus verschwindest, bekommst du es mit meinem Enkel zu tun! Ndaba! Holt den Stock!«

»Ruhig, Granddad.« Ich ging in solchen Situationen gleich dazwischen und versuchte, ihn zu beruhigen, auch wenn er manchmal kaum zu besänftigen war. Seine laute, tiefe Stimme brachte auch damals noch die Wände zum Wackeln. Für Leute, die ihn nicht so gut kannten, war dieses Verhalten oft verstörend, aber mich erinnerte es vor allem schmerzhaft daran, dass der Alte Mann tatsächlich alt wurde. Dennoch gestattete ich mir nie, darüber nachzudenken, wohin das alles noch führen konnte. Die Männer in meiner Familie wurden nicht wehmütig oder sentimental. Schon vor meiner Geburt hatte sich meine Familie über fünf Generationen der Apartheid und jeder anderen denkbaren Form von Unterdrückung und Gewalt erfolgreich widersetzt. Männer mit einer solchen Vergangenheit haben eine dicke Haut. Wir weichen nicht zurück. Wir schreiten voran.

Es gibt in unserer Kultur das Ukuluka, einen alten Beschneidungsritus, bei dem ein Xhosa-Junge zum Mann wird. Im entscheidenden Moment des Ukuluka schreien wir »Ndiyindoda!«, was so viel bedeutet wie »Ich bin ein Mann!«. Und von da an betrachten wir uns auch selbst als solchen.

Das Ukuluka (»auf den Berg gehen«) ist ein feierlicher Akt. Die teilnehmenden jungen Männer, die Abakwetha, sind in der Regel zwischen sechzehn und vierundzwanzig Jahre alt. Einen Monat lang unterziehen sie sich einer körperlichen und emotionalen Prüfung, die lebensgefährlich werden kann. Mein Großvater bezeichnete das Ukuluka als »einen Akt der Tapferkeit und des stoischen Gleichmuts«. In dem Moment, in dem der für die Beschneidung zuständige ingcibi den entscheidenden Schnitt macht, ruft der Initiierte – und das hoffentlich aus voller Überzeugung, denn alles geschieht ohne Betäubung – »Ndiyindoda!«. Es ist tatsächlich ratsam, seine Angst nicht zu zeigen, denn jedes Zucken oder Zurückziehen kann verheerende Folgen haben. Eine Infektion kann tödlich sein, weshalb dieses Ritual, bei dem immer wieder junge Männer sterben, umstritten ist und über Generationen ein großes Geheimnis daraus gemacht wurde. Denn seien wir mal ehrlich: Wer unterzieht sich schon freiwillig einer solchen Prozedur, wenn er die Details kennt?

Ich will nicht lügen. Als Teenager graute mir vor dem Tag, an dem auch ich auf den Berg gehen würde, um meinen Erwachsenennamen und meinen Platz in der Welt zu erhalten. Zum Mann zu werden klang nach einer kaum zu bewältigenden Herausforderung, aber mein Großvater ließ mich unmissverständlich wissen, dass er genau das von mir erwartete. Er sagte jedoch nicht einfach nur: »Sei ein Mann!« In den Jahren, in denen ich bei ihm lebte – und auch in den Jahren, in denen ich nicht bei ihm lebte –, war er mir stets ein Vorbild, das ich nicht ignorieren konnte. Er machte mir deutlich, dass kein Ritual der Welt einen Jungen zum Mann machen kann und dass das Ukuluka letztendlich nur der äußere Ausdruck einer inneren Veränderung ist, die sich bereits vollzogen hat. Und tatsächlich war der innere Wandel auch für mich der weitaus schwierigere Teil.

Es war seltsam, nach dem Tod dieses großen Mannes feststellen zu müssen, dass von allem, was er mir gegeben und beigebracht hatte, die kurzen Augenblicke das größte Privileg waren. Seine Hand auf meinem Kopf, wenn ich einsam war oder mich fürchtete. Sein strenger Blick, wenn er mir bei Tisch eine Moralpredigt hielt. Sein schallendes Gelächter und seine theatralische Art, eine Geschichte zu erzählen. Er liebte es, Geschichten zu erzählen, vor allem die afrikanischen Volksmärchen, mit denen er aufgewachsen war.

Er hat sogar ein Kinderbuch veröffentlicht, Meine afrikanischen Lieblingsmärchen, in dessen Vorwort er schreibt: »Eine Geschichte ist eine Geschichte, und deshalb kann man sie so erzählen, wie es der eigenen Fantasie, dem eigenen Wesen oder der jeweiligen Umwelt entspricht; und wenn die Geschichte Flügel bekommt und zum Eigentum anderer wird, dann sollte man sie auch nicht aufhalten.«1

Mit diesen Worten bringt er nicht nur den innigen Wunsch zum Ausdruck, dass die Stimme der afrikanischen Geschichtenerzähler niemals sterben möge, sondern macht uns auch bewusst, dass sich die Geschichten selbst dafür weiterentwickeln und dem Ohr jedes neuen Zuhörers anpassen müssen.

In diesem Sinne erzähle ich auch die Geschichte dieses Buches – Die Geschichte vom Leben mit meinem Großvater – in Zusammenhang mit einigen der alten Xhosa-Geschichten und Sprichwörtern und hoffe, die wichtigsten Lebensweisheiten, die mir Madiba beigebracht hat, auf diese Weise mit meinen Lesern teilen zu können. Mit zunehmendem Alter sehe ich die beschriebenen Ereignisse in einem neuen Licht und verstehe, weshalb andere, die ebenfalls Zeugen dieser Ereignisse waren, sie vielleicht anders interpretieren als ich. Die menschliche Erinnerung ist noch viel veränderbarer und geheimnisvoller als all die alten Xhosa-Geschichten über mystische Ungeheuer, sprechende Spinnen und Flüsse mit einer Seele. Aber eine Geschichte offenbart unweigerlich das Herz des Geschichtenerzählers, weshalb selbst die fantastischsten Xhosa-Erzählungen stets eine sehr reale Wahrheit enthalten. Ich habe mich der Aufgabe, dieses Buch zu schreiben, in aller Bescheidenheit und in dem Bewusstsein gestellt, dass Menschen auf der ganzen Welt – auch meine Kinder – es lesen werden, und musste dabei an das kenianische Gebet für den Geist der Wahrheit denken: Mögen mich die Götter vor der Feigheit bewahren, mich neuen Wahrheiten nicht zu stellen, vor der Faulheit, mich mit Halbwahrheiten zu begnügen, und vor der Arroganz, zu glauben, die ganze Wahrheit zu kennen.

Die Geschichten der Xhosa enthalten viele Themen, die Madiba sein Leben lang beschäftigten und auch mich bis heute bewegen: Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, versteckte Wahrheiten, die offengelegt werden, schweres Unrecht, das gesühnt wird, faszinierende Wandlungen und geheimnisvolle Ereignisse. Der Meistergeschichtenerzähler Nongenile Masithathu Zenani, ein Bewahrer der mündlichen Tradition der Xhosa, sagt, die Macht eines Geschichtenerzählers liege in ihlabathi kunye negama (»in der Welt und im Wort«). Mein Großvater war der Ansicht, ein Mann habe dann Macht, wenn er seine eigene Geschichte verändern kann und dadurch die Welt.

Als ich ein Kind war, wurde meine Geschichte – mein kleines Universum – von zwei Dingen bestimmt: Armut und Apartheid. Dies änderte sich erst, als ich mit elf Jahren zu meinem Großvater kam, um bei ihm zu leben. Er half mir, die Welt mit anderen Augen zu sehen und meinen Platz in ihr zu finden.

Meine Kindheit war in vielerlei Hinsicht schrecklich, und meine Teenagerjahre waren schwierig. Ich tat mich schwer in der Schule und feierte wilde Partys, um das Aufbegehren der Massen und die quälende Abwesenheit meiner Eltern auszublenden. Einige meiner Entscheidungen brachen meinem Großvater das Herz, und einige seiner Entscheidungen brachen mir das Herz. Aber in all den Jahren waren wir uns immer treu verbunden. Er sah stets das Gute in mir und gab nicht auf, bis ich es beim Blick in den Spiegel selbst erkannte. Für mich war er ein großer Mann, und ich arbeite hart daran, ein bisschen mehr zu sein wie er.

Ich glaube, dass die Worte meines Großvaters die Kraft haben, die Welt zu verändern, und damit meine ich sowohl die äußere Welt als auch die innere Welt, das unentdeckte Universum unserer persönlichen Möglichkeiten. Ich glaube, Madibas Weisheit – gelebt und vergrößert durch Sie und mich – hat noch immer das Potenzial, die Welt, in der wir leben und die unsere Kinder dereinst von uns erben werden, neu zu gestalten.

KAPITEL 1

Kude eBakuba, akuyiwanga mntu.

»Die ideale Stadt liegt in weiter Ferne.«

Als ich meinen Großvater das erste Mal traf, war ich sieben und er einundsiebzig. In meinen Augen, wenn auch nicht in den Augen der Welt, war er ein alter Mann. Natürlich hatte ich unzählige Geschichten über den Großen Alten Mann gehört, aber ich war ein Kind, und diese Geschichten hatten für mich nicht mehr mit der Realität und mir selbst zu tun als die alten Xhosa-Volksmärchen, die meine Großtanten, Großonkel und all die anderen alten Leute in der Nachbarschaft erzählten: Die Geschichte vom Kind mit dem Stern auf der Stirn. Die Geschichte vom Baum, der sich nicht umarmen ließ. Die Geschichte von Nelson Mandela, der vom Weißen Mann ins Gefängnis geworfen wurde. Die Geschichte des Massakers von Sharpeville. Damals waberten die Fabeln und Volksmärchen durch die staubigen Straßen und vermischten sich mit den Nachrichten aus den Autoradios, so wie die Parabeln und Sprichwörter durch kleine Risse in die biblischen Geschichten schlüpften, die bei den Zeugen Jehovas in der Temple Hall erzählt wurden. Die Geschichte von den Arbeitern im Weinberg oder Die Geschichten von Hiob und seinen vielen schweren Prüfungen.

Mein Vater wuchs in den Straßen von Soweto auf, und man kann davon halten, was man will, aber ein Herumtreiber wie er ist nie um eine gute Geschichte verlegen. Die Geschichte, wo ich letzte Nacht war oder Die Geschichte, wie ich eines Tages reich werde. Die Erwachsenen um mich herum erzählten immer und immer wieder dieselben Geschichten, je nachdem, woran sie glaubten. Sie bliesen Zigarettenrauch in die Luft, kippten ein Bier nach dem anderen und schüttelten die Köpfe. Bla, bla, bla. Das war alles, was ich als Kind davon mitbekam. Ich hörte ihnen nicht wirklich zu und hatte auch nie das Gefühl, dass ihre Geschichten bei mir hängen blieben. Aber genau das taten sie. Sie krochen mir unter die Haut und brannten sich in meine Seele ein.

Ich war ein cleverer kleiner Junge mit wachem Verstand und viel Fantasie, habe aber nie wirklich begriffen, dass meine Familie das Zentrum eines globalen politischen Flächenbrands war. Ich wusste nicht, weshalb man mich andauernd von einem Ort an den nächsten brachte oder dass mich die Leute aufnahmen oder wegschickten, liebten oder hassten, weil ich ein Mandela war. Ich war mir nur vage bewusst, dass der Vater meines Dads ein sehr wichtiger Mann war, denn er kam häufig im Radio und im Fernsehen. Davon, wie wichtig er einmal in meinem Leben sein würde oder wie viel ich ihm schon damals bedeutete, hatte ich keine Ahnung.

Man sagte mir, er liebe meinen Vater und mich genau wie alle seine Kinder und Enkelkinder. Davon hatte ich aber noch nichts mitbekommen. Damals hatte ich allerdings auch noch nicht begriffen, dass es Leute gab, die glaubten, Madibas Liebe zu uns dazu benutzen zu können, um seine Tatkraft zu bremsen und seine Willensstärke mit Blut zu besudeln. Sie dachten, dass die Liebe zu seiner Familie vielleicht das fertigbringen würde, was das Steineklopfen in der sengenden Hitze der südafrikanischen Sonne auf Robben Island nicht vermochte, und dass er unter ihrer Last zusammenbrechen würde. Sie täuschten sich. Dennoch gaben sie nicht auf und erlaubten im Juli 1989 einer großen Gruppe von Familienmitgliedern, ihn an seinem einundsiebzigsten Geburtstag zu besuchen. Für einen Mann, der seit fünfundzwanzig Jahren im Gefängnis war, muss das wie ein Tropfen Wasser auf der Zunge eines Verdurstenden gewesen sein, aber Madiba weigerte sich weiterhin, das politische Feld zu räumen. Also gestatteten sie ihm sechs Monate später, am Neujahrstag 1990, nur ein paar Wochen nach meinem siebten Geburtstag, ein zweites Mal Besuch zu empfangen.

Mein Vater machte nicht viel Wind um die Sache. Er sagte ganz einfach: »Wir werden deinen Großvater im Gefängnis besuchen.« Damals war eine solche Ankündigung, als würde man sagen: »Spring ins Auto, wir schauen schnell bei Michael Jackson vorbei« oder »Zieh deine Schuhe an, wir besuchen Jesus Christus«. Denn zumindest die Leute im Fernsehen schienen überzeugt davon, dass mein Großvater eine Mischung aus beiden war, und so war dieser Besuch doch recht überraschend für mich. Aber in Afrika stellen Kinder keine Fragen. Mein Vater und meine Großmutter sagten »Wir gehen«, also gingen wir.

Niemand machte sich die Mühe, mir etwas zu erklären, aber das erwartete ich auch nicht. Dennoch brannte ich vor Neugier. Wie war es im Gefängnis? Würde wir mit Grandma Evelyn durch ein Gittertor und einen Betonflur entlanggehen bis auf einen von Stacheldraht umzäunten Hof? Würden schwere Eisentüren hinter uns zuschlagen? Würden sie daran denken, uns wieder hinauszulassen? Waren wir dort umzingelt von Mördern und Verbrechern? Würden meine Tanten mit ihren riesigen Handtaschen nach ihnen schlagen, damit sie uns in Ruhe ließen?

Ich war bereit zu kämpfen, falls nötig. Ich würde mich und meine Familie verteidigen. Mit dem Stock war ich ganz gut, denn meine Freunde und ich arbeiteten schon seit Jahren an der Verbesserung unsere Stockkampfkünste und fochten in den dreckigen Straßen und zertrampelten Hinterhofgärten zahlreiche Kämpfe aus. Ich träumte gerne von großen Schlachten, aus denen ich als strahlender Held hervorging, und in den dreizehn Stunden, in denen wir in einem Konvoi aus fünf schlammverkrusteten Autos, vollgepackt mit Mandelas Ehefrauen, Kindern, Schwestern, Brüdern, Cousins und Cousinen, Tanten und Onkeln, Säuglingen und alten Leuten, von Johannesburg ins Victor-Verster-Gefängnis bei Kapstadt fuhren, hatte ich mehr als genug Zeit zum Träumen. Denn wie man sich unschwer vorstellen kann, zog sich unsere Reise ziemlich in die Länge.

Mir kam es vor, als führen wir eine Ewigkeit durch sanfte Hügellandschaften und weite Savannen, bis wir schließlich in die Hawekaberge kamen und bei Paarl, einer kleinen Stadt voller kapholländischer Häuser mit verschnörkelten Fassaden, Richtung Süden abbogen. Ich saß auf der Rückbank, kurbelte die Scheibe herunter und atmete den frischen Duft nasser Weinblätter und frisch gepflügter Erde ein. Bevor die Niederländische Ostindien-Kompanie in den 1950er-Jahren in diese Region kam, gehörte das Land über Jahrhunderte den Khoikhoi, einem wohlhabenden Volk von Rinderzüchtern. Nun beherrschten Weinberge die Landschaft, und den Berg, den die Khoikhoi »Schildkröte« nannten, hatten die Holländer in »Perle« umgetauft. Der Berg wusste von alledem natürlich nichts, und als Siebenjähriger stand ich ihm in meiner Ahnungslosigkeit in nichts nach. Ich sah die Weinberge, das saftige Grün und die ordentlich gepflanzten Reihen und akzeptierte es, ohne mir länger Gedanken darüber zu machen. Alles war, wie es sein sollte. Ich hinterfragte es nicht, denn wie jedem afrikanischen Kind hatte man auch mir beigebracht, keine Fragen zu stellen. Doch nun, wo ich ein erwachsener Mann bin – ein Xhosa-Mann, ein afrikanischer Vater, Sohn und Enkel, frage ich mich schon: Wann haben sich Weinstöcke so tief in der Erde verwurzelt, dass sie »heimischer« sind als fünfhundert Generationen von Ochsen?

Obwohl er schon seit einigen Jahren tot ist, spricht aus dieser Art von Fragen die Stimme meines Großvaters. Es ist viel Zeit vergangen, seit ich damals zu ihm gezogen bin und wir uns in einer sich schnell drehenden Welt unsere Überzeugungen, was einen Mann ausmacht, gegenseitig zerstört haben und dann zu neuen gelangt waren. Aber ich höre und spüre immer noch seine polternde Stimme, und sie ruft in mir immer noch die alten Geschichten wach. Seine Stimme steckt mir in den Knochen, sie hat sich in meiner Seele abgesetzt wie Sedimente in einem Fluss, und nun, da ich älter werde, höre ich sie aus meiner eigenen Kehle sprechen. Seit man mir immer wieder sagt, ich klänge wie er, wäge ich meine Worte noch bedächtiger ab, vor allem in der Öffentlichkeit.

Am Eingang zum Gefängnis stand hinter einem eckigen weißen Torbogen eine kleine Wachhütte mit Schranke, daneben ein grünes Schild, auf dem in gelben Lettern VICTOR VERSTER CORRECTIONAL SERVICES und darunter Ons dien met trost (»Wir dienen mit Stolz«) zu lesen war. Wahrscheinlich wechselten meine Tanten angesichts der Ironie dieser Worte einen vielsagenden Blick, aber falls dem so war, bemerkte ich es nicht. Ich starrte ehrfürchtig zu den hoch vor uns aufragenden, felsigen Bergspitzen hinauf, während die Erwachsenen sich mit den Wächtern, die sich aus dem Fenster des Wächterhäuschens lehnten, unterhielten. Dann scheuchten die Wächter die zwei Dutzend Mandelas aus ihren Autos und in einen großen weißen Transporter. Auf den harten Bänken fuhren wir dicht aneinandergedrängt weiter, allerdings nicht zu dem großen, von hohen Mauern und Stacheldrahtrollen umgebenen Gefängnisgebäude. Stattdessen bogen wir ab in eine lange, ungeteerte Straße, die durch nicht viel mehr als ein paar Reifenspuren markiert war und in die hinterste Ecke des Gefängnisgeländes führte.

Der Transporter hielt vor einem Garagentor mit Rundbogen. Daran schloss sich ein hübscher lachsfarbener Bungalow an, beschattet von Palmen und Nadelbäumen. Wir stiegen alle aus. Meine Großmutter und meine Großtanten waren angezogen wie für einen Kirchgang oder ein besonderes gesellschaftliches Ereignis. In ihren leuchtend bunten Kleidern mit wilden Mustern hoben sie sich von der blassrosa Hauswand ab wie eine Schar exotischer Vögel. Mein Vater und die anderen anwesenden Männer, alle in Hemd und Krawatte, schüttelten, bevor wir zum Tor gingen, ihre sorgfältig zusammengefalteten Sakkos aus und zogen sie an.

Das Haus war umgeben von einer dekorativen Gartenmauer, die meinem Vater höchstens bis zur Schulter ging. Vor einem kleinen schmiedeeisernen Tor – mehr ein hübsches Gartentürchen als das scheppernde Eisentor, das ich mir vorgestellt hatte – wachten zwei Bewaffnete, die uns freundlich grüßten und hineinwinkten. Und dort stand er, mein Großvater. Ich konnte gerade noch einen kurzen Blick auf sein breites Lächeln erhaschen, bevor ein gigantischer Schwall von Zuneigung über ihn hinwegschwappte. Die Frauen weinten, rannten auf ihn zu, schlangen die Arme um ihn und riefen »Tata! Tata!«, was »Vater« bedeutet, während die Männer in aufrechter Haltung, mit erhobenem Kinn darauf warteten, dass sie an die Reihe kamen, den Alten Mann fest zu umarmen, seine Hand zu schütteln und ihm die Schultern zu drücken. Keine Tränen. Nur ein kräftiger Handschlag mit aufeinandergepressten Kiefern.

Die Kinder, einschließlich meines Bruders Mandla, meines Cousins Kweku und mir, hielten sich im Hintergrund, unsicher, wie sie sich verhalten sollten. Der Alte Mann war ein Fremder für uns, was ihm durchaus bewusst zu sein schien. Über die Köpfe unserer Eltern und Großeltern hinweg lächelte er uns zu, konnte es aber offensichtlich kaum erwarten, uns alle einzeln zu begrüßen und kennenzulernen. Als ich an der Reihe war, nahm er meine kleine Hand in seine, die riesig und warm war, und drückte sie.

»Wie heißt du?«, fragte er.

»Ndaba«, sagte ich.

»Ja, natürlich! Ndaba! Gut, gut.« Er nickte begeistert, als ob er mich wiedererkannt hätte. »Und wie alt bist du, Ndaba?«

»Sieben.«

»Gut. Gut. In welche Klasse gehst du? Bist du gut in der Schule?«

Ich zuckte die Achseln und sah zu Boden.

»Was möchtest du einmal werden, wenn du groß bist?«

Ich hatte auf diese Frage keine Antwort. Bisher war ich immer nur von einem zum Nächsten geschoben worden und hatte außer der Armut und den Problemen der Großstadtgettos nicht viel gesehen. Ich wollte mich auf gar keinen Fall blamieren, indem ich etwas so Dummes wie »Stockkämpfer« antwortete.

Der Alte Mann legte mir die Hand auf den Kopf und lächelte.

»Ndaba. Gut.«

Dann schüttelte er mir noch einmal die Hand, sehr förmlich und kräftig, und ging weiter, um das nächste Kind in der Reihe zu begrüßen. Ich muss gestehen, dass ich diesen bedeutsamen Moment damals gar nicht als solchen empfunden habe. Heute versuche ich oft, mich an meine Gefühle zu erinnern – seine Hand auf meinem Kopf, der beeindruckende Handschlag, die einschüchternde Länge seines Hosenbeins, der Geruch nach Leinen und Kaffee, als er sich zu mir herunterbeugte, um meine schüchterne Antwort besser hören zu können – aber leider erinnere ich mich an nichts. Alles ging irgendwie an mir vorbei. Ich habe in Der lange Weg zur Freiheit zwar gelesen, was mein Großvater dazu geschrieben hat, aber was persönliche Familienangelegenheiten anging, war er immer sehr zurückhaltend. Das Haus im Victor-Verster-Gefängnis beschrieb er als eine »spärlich, aber gemütlich eingerichtete Hütte«. Als ich es las, musste ich laut lachen, denn für mich, ein Kind aus Soweto, war dieses Haus eine Luxusvilla.

Das dick gepolsterte Sofa und die dazu passenden Sessel erschienen mir wie rosafarbene Wolken, und das makellos saubere Badezimmer war genauso groß wie das Zimmer, das ich mir mit meinen Cousins teilte. Ein Weißer, der für meinen Großvater kochte und den Haushalt führte, ging ununterbrochen zwischen Wohnzimmer und Küche hin und her und tischte Teller und Schüsseln mit Essen und Körbe mit Brötchen auf. Hinter dem Haus gab es einen türkisblauen Swimmingpool, in den ich am liebsten sofort hineingesprungen wäre. Der Pool war umgeben von einer Gartenmauer, rechts und links davon standen Topfpflanzen. Später erzählte mir mein Großvater, dass die Gartenmauer mit Stacheldraht gesichert war, aber damals war ich entweder zu klein oder zu sehr damit beschäftigt, auf dem unglaublich grünen Rasen zu spielen, um es zu bemerken. Ich war so beeindruckt von dem Haus, dass ich das nächste Mal, als mich jemand fragte »Was möchtest du machen, wenn du groß bist?«, antwortete: »Ich will ins Gefängnis.«

Natürlich war ich damals davon ausgegangen, dass wir nach Robben Island fahren würden, um meinen Großvater in dem üblen Höllenloch zu besuchen, in dem er achtzehn Jahre verbracht hatte. Aber da die Antiapartheidbewegung weltweit immer größer wurde, hatten die Mächtigen beschlossen, Madiba in das Haus im Victor-Verster-Gefängnis zu verlegen. Sie wollten ihn von seinen Freunden trennen und so einen Keil zwischen die Mitglieder des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC) treiben. Seine politischen Gegner hofften, seinen Kampfgeist untergraben zu können, indem sie ihm die Annehmlichkeiten eines kleinen, gemütlichen Zuhauses gewährten und ihm versprachen, er könne seine Familie sehen – seine Frau Winnie, die monatelang inhaftiert und gefoltert worden war, seine Kinder, die er nicht mehr gesehen hatte, seit sie klein waren, und seine Enkel, die er noch nicht einmal kannte. Aber seine Feinde unterschätzten ihn. Zwei weitere Jahre hielt er an seinem Entschluss fest und kämpfte unerbittlich weiter um die Zukunft Südafrikas, Runde um Runde. Es sollte noch einige Jahre dauern, bis mir bewusst wurde, dass ich und meine Cousins an jenem Tag mit hochgelegten Beinen in denselben Sesseln herumlümmelten, in denen mein Großvater regelmäßig mit mächtigen Staatsmännern in politische und ideologische Debatten verstrickt war, die schon bald den Lauf der Geschichte ändern würden.

Im Laufe des Tages versammelten sich die Erwachsenen in der Küche und im Esszimmer, so wie es die Erwachsenen immer taten, während wir Kinder es uns im Wohnzimmer auf dem Teppich gemütlich machten und Die unendliche Geschichte in den Videorekorder schoben. Ich erinnere mich noch vage an das An- und Abschwellen der Stimmen, das Gelächter und die lebhaften Diskussionen, in deren Zentrum immer der sonore Bass meines Großvaters stand, aber die Gespräche der Erwachsenen interessierten uns nicht.

Tatsächlich sind die Erinnerungen, die ich an dieses erste Zusammentreffen mit meinem Großvater habe, sehr verschwommen, und ich kann nur vermuten, wie er sich an jenem Tag verhalten hat. Aber da ich später, als ich bei ihm aufwuchs und miterlebte, wie er älter wurde, noch viele Tausend andere Tage mit ihm verbringen durfte, kenne ich sein Verhalten. Auch was die Details der Örtlichkeiten angeht, musste ich meiner Erinnerung etwas nachhelfen und auf die Eindrücke zurückgreifen, die ich erst kürzlich bei einem Besuch des inzwischen in Drakenstein Prison umbenannten Victor-Verster-Gefängnisses gewonnen habe. Das grüne Schild mit den leuchtend gelben Lettern existiert noch. Heute fällt es den Leuten allerdings ins Auge, wenn sie vor der überlebensgroßen Statue stehen, die meinen Großvater darstellt, wie er mit in den Himmel gereckter bronzener Faust das Victor-Verster-Gefängnis am 11. Februar 1990 als freier Mann verlässt. Das Bild, das ich von unserem Familienbesuch im Kopf habe, ist also nur eine Collage aus eigenen Erinnerungen, Zeitungsausschnitten und zahlreichen Gesprächen mit meinem Großvater, meiner Großmutter, Mama Winnie und anderen älteren Familienmitgliedern, die damals dabei waren. Aber an eine Sache erinnere ich mich noch ganz deutlich: an Die unendliche Geschichte.

Ein Xhosa-Geschichtenerzähler würde sie wahrscheinlich Die Geschichte von dem Jungen, der die Welt vor dem Nichts rettete nennen. Für alle, die weder den Film noch das Buch von Michael Ende kennen: Es geht um einen Jungen, der sich auf eine gefährliche Reise begibt, um eine unsichtbare Bedrohung – das Nichts – zu besiegen, das langsam aber stetig alles und jeden in der Welt verschlingt. Damit ihm das gelingt, muss der Junge nicht nur die unsichtbare Bedrohung stoppen, sondern zunächst einmal einen Weg finden, andere davon zu überzeugen, dass diese tatsächlich existiert. Er muss seine Mitmenschen zu der Einsicht bringen, dass alles, was verschwunden ist, wertvoll war und die Welt, die sie als »normal« empfinden, nicht ist, wie sie sein sollte – dass sich die Welt, wenn sie überleben will, verändern muss.

Im wahren Leben ist das nicht nur die Geschichte meines Großvaters Nelson Mandela, sondern, wie ich glaube, auch meine Geschichte. Und ich hoffe, Sie davon überzeugen zu können, dass es auch Ihre Geschichte ist.

Madiba und seinen Mitstreitern vom Afrikanischen Nationalkongress, Gandhi und seinen Anhängern, Dr. Martin Luther King und allen, die mit ihm marschiert sind – diesen Menschen ist es gelungen, die Ketten der Apartheid in Südafrika, der britischen Herrschaft in Indien und der Rassentrennung in den Vereinigten Staaten zu sprengen. Ihnen war klar, wie falsch und menschenverachtend Apartheid und Rassentrennung waren. Den Schwarzen sagte man: »Nein, in dieser oder jener Gegend dürft ihr nicht wohnen und auch nicht in diesem oder jenem Haus. Es ist zu nah bei den Weißen. Nein, diesen Bus könnt ihr nicht nehmen. Nein, es ist euch verboten, diesen Wasserhahn oder jene Toilette zu benutzen.« Diese Gesetze waren falsch, und die Richter, Polizisten und Gefängniswärter, die auf ihre Einhaltung pochten, waren im Unrecht. Wenn diese Menschen damals tatsächlich »mit Stolz dienten«, dann sollten sie heute zutiefst beschämt darüber sein. Denn jedes Gesetz, das die Bürger- oder Menschenrechte anderer verletzt, muss unseren angeborenen Sinn für soziale Gerechtigkeit beleidigen und wie Schmirgelpapier an unserem Gewissen scheuern. Und ich glaube, im Grunde tun diese Gesetze das auch, nur dass wir ziemlich gut darin sind, es zu ignorieren.

»Frei zu sein bedeutet nicht nur, die eigenen Ketten zu sprengen«, sagte mein Großvater. »Es heißt auch, die Freiheit anderer zu respektieren und zu fördern.«

Als mein Großvater und so viele andere auf der ganzen Welt für ihre Bürgerrechte kämpften und sich von den physischen Ketten der Apartheid und Rassentrennung befreiten, war der Feind noch leicht auszumachen. In der heutigen Welt führen junge Afrikaner – und junge Menschen überall auf der Erde – jedoch eine neue Art von Befreiungskampf, in dem es darum geht, die noch immer existierenden mentalen Ketten zu sprengen. Das ist ungleich schwerer, weil man an den Ketten, die allein in unseren Köpfen existieren, nicht zerren kann. Sie sind extrem schwer zu fassen, und wir können auch nicht mit dem Finger auf sie zeigen. Dennoch sind diese Ketten, deren Glieder aus großen und kleinen Ungerechtigkeiten geschmiedet sind, oft stärker als Eisen. Manchmal werden sie uns von der Welt angelegt, manchmal legen wir sie uns selbst an. Bob Marley singt in seinem Redemption Song: »Emancipate yourself from mental slavery« (»Erhebt euch aus der geistigen Versklavung«). Er erinnert uns daran, dass nur wir selbst unseren Geist befreien können.

Wenn ich auf meinen Reisen in die ganze Welt junge Brüder und Schwestern vom »amerikanischen Traum« sprechen höre – sie meinen damit ein großes Haus mit Swimmingpool, schicken Möbeln und Hausangestellten –, stelle ich jedes Mal fest, dass dieser Traum für mich ein Gefängnis ist. Und auch wenn ich in der Werbung und in Fernsehshows das ewige Gerede über unsere enge Sicht von Werten und Wohlstand höre, komme ich nicht umhin, an den jungen Afrikaner in Monrovia zu denken, der von einer Bibliothek träumt, an das Kind in Syrien, das davon träumt, in eine Schule mit einem Dach zu gehen, oder an den jungen Afroamerikaner, der angegriffen wird, wenn er sagt: »My life matters« (»Mein Leben zählt«). In diesen jungen Menschen – aber auch in Ihnen und in mir selbst, weil mir mein Großvater die Augen dafür geöffnet hat – sehe ich eine junge Generation, die die Welt neu erfinden wird.

Ihr