Die Legende von Halloween -
Samhain

Anthologie

Alle Rechte, insbesondere auf digitale Vervielfältigung, vorbehalten.
Keine Übernahme des Buchblocks in digitale Verzeichnisse, keine analoge Kopie ohne Zustimmung des Verlages.
Das Buchcover darf zur Darstellung des Buches unter Hinweis auf den Verlag jederzeit frei verwendet werden.
Eine anderweitige Vervielfältigung des Coverbildes ist nur mit Zustimmung der Coverillustratorin möglich.

Die Illustrationen sind urheberrechtlich geschützt und dürfen nur mit Zustimmung der Künstler verwendet werden.

Die Namen sind frei erfunden.
Evtl. Namensgleichheiten sind zufällig.

www.net-verlag.de
Erste Auflage 2013
© Coverbild: Nicole Janes
Covergestaltung, Layout: net-Verlag
Auswahl der Geschichten:
Marie-Luis Rönisch
© Illustrationen:
Nicole Janes (S. 30, 152, 185)
Monika Schoppenhorst (S. 161)
Anna Kery (S. 213)
© net-Verlag, 39517 Cobbel
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014
 ISBN 978 - 3-944284 - 22-4

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Die Legende von Halloween - Samhain

Vorwort

Ursula Kollasch - Samhain

Christine Weber - Granny

Sophie Jürges - Sie kommen

Petra Ewering - Eine fatale Begegnung

Peter Suska- Zerbes - Schatten der Vergangenheit

Bettina Ickelsheimer - Das Wilde Heer

Anna Stefan - Novembernacht

Christina Dittmer - Land der Schatten

Detlef Klewer - Happy Halloween

Claudia Piotrowsky - Samael

Kristina Gerg - Die Nacht der Toten

Melanie Jezyschek - Samhains Schicksal

Jennifer Milinski - Happy Samhain

Gregor Eder - Nebel

Robert Beringar - Der Pakt

Claudia Romes - Mein Freund Jack

Lily Beier - Revas Nacht in der Menschenwelt

Wolfgang Tanke - Die Schlacht von Dun Muragh

Carola Kickers - Halloween

Nannah Rogge - Der Tag der Tage

Lucius Allen - Onkel Alfons

Shayariel - Es wird dereinst Eine kommen

Autorenbiografien

Illustratorenbiografien

Herausgeberbiografie

Buchempfehlungen

Die Legende von Halloween –
Samhain

Zweiundzwanzig fantastische Autoren & Autorinnen stellten ihr Können und ihre Fantasie unter Beweis. Ob Legenden, Aberglaube oder Rituale, in der Samhainnacht scheint kein Sterblicher vor dem Reich der Toten sicher. Alte Häuser werden zum Leben erweckt, Geister streifen umher, und Friedhöfe erscheinen als magische Orte.

Wechselbälger, fremde Welten und das Feenreich – all diese Dinge können an Samhain, einem harmlosen Kinderfest, genannt Halloween, an Bedeutung gewinnen.

Lassen Sie sich entführen, in ein Abenteuer nach dem anderen und genießen Sie die frische Erzählweise unserer Autoren!

Ihre Herausgeberin Marie-Luis Rönisch

Ich wünsche Ihnen schaurig schöne und witzige Lesestunden!

Ursula Kollasch

Samhain

Nera hieb seinem Hengst die Fersen in die Flanken, obwohl der Körper des Pferdes bereits schweißgebadet war und Schaum von seinem Maul troff. Sie schienen durch den Wald zu fliegen. Tiefer hängende Zweige schlugen dem Reiter ins Gesicht, als ob sie versuchten, ihn aufzuhalten. Erneut gab er dem Tier die Hacken, musste es weiter antreiben.

Sie verließen den Schutz der Bäume und jagten über die gerodete, öde Fläche, die Burg Cruchain umgab. Vor Jahren war auf König Aluinns Befehl jeder Baum im Umkreis einer halben Meile um die Festung gefällt worden, um der Gefahr eines Überraschungsangriffs zu entgehen.

Nera ahnte nur, dass es langsam Abend wurde, denn den ganzen Tag über war der Himmel wolkenverhangen und düster gewesen, und der Nebel hatte sich nicht wirklich verflüchtigt. Jetzt, als sich die Kälte und die Schleier der Dämmerung über das Reich Tara legten, verdichtete er sich wieder und nahm dem einsamen Reiter die Sicht.

Niemand durfte sich heute nach Sonnenuntergang außerhalb sicherer Mauern aufhalten, selbst Nera nicht, der ein erfahrener und tapferer Krieger war. Es war der Abend von Samhain, die Nacht des Dunkelmonds, in welcher der Gott des Winters die Macht übernahm. Sobald die Finsternis das letzte Tageslicht verschluckt hatte, würden die Grenzen und Tore zur Anderswelt verschwimmen, sich auflösen und öffnen für die Geister, die Draugr und die Sidhe, wie die Wiedergänger und Feen in seinem Volk genannt wurden – sowie für andere, gefährliche Geschöpfe, denen die Menschen lieber nicht begegnen sollten. Nur in dieser einen Nacht konnten die Wesen aus der Anderswelt die Welt der Lebenden besuchen sowie die Sterblichen sich in die Anderswelt verirren.

Nera stand im Dienste von König Aluinn und Königin Nathaira und war auf dem Rückweg zur Burg Cruchain. Vor Tagen war er von dort aufgebrochen, um eine Botschaft Aluinns zu König Ennoch von Connacht zu bringen. Doch da es dem König des Nachbarreiches gefallen hatte, Nera lange warten zu lassen, bis er ihn endlich empfing, musste sich dieser nun so hetzen. Er fluchte über den arroganten, alten Herrscher, der ihm zudem noch eine für König Aluinn und seine Gemahlin äußerst unangenehme Antwort mit auf den Weg gegeben hatte.

Noch einmal trieb er seinen völlig erschöpften Hengst zur Höchstleistung an. Der mächtige Leib des Schlachtrosses erzitterte immer wieder unter den Schenkeln des Kriegers. Nera konnte es seinem treuen Pferd nicht verdenken, dass es nervös und ängstlich war. Es wollte ebenso schnell das sichere Cruchain erreichen wie sein Herr, schien wie dieser instinktiv die schleichenden Veränderungen in der Umgebung und Atmosphäre zu spüren. In der immer rascher herabsinkenden Dunkelheit sah Nera fahle Nebelbänke über den breiten Wassergraben der Burg ziehen. Er riss an den Zügeln. Das Pferd tänzelte unruhig und schnaubte, während Nera an der Mauer hinaufblickte und den Wachen, seinen Namen und das Passwort zurief. Als sie ihre Fackeln hoben, um ihn zu identifizieren, erkannte er die beiden schwer bewaffneten Männer. Es waren Kennan und Leith.

»Du bist spät, Nera!«, rief Kennan.

Unter vernehmlichem Kettenrasseln senkte sich die Zugbrücke in das feuchte Weiß des Nebels, der sich wie kalte Spinnweben über Neras Gesicht und seine unbedeckten Oberarme legte, als er über die hölzernen Planken in den Hof hinein ritt. Sofort begannen die Wachen die Brücke wieder hochzuziehen, während Nera seinen Hengst einem herbei eilenden Stallburschen übergab und sich zu den Kriegerquartieren aufmachte.

Nur Momente, nachdem er in sein Quartier zurückgekehrt war, trat ein germanischer Sklave ein. Nera hatte gerade seinen Brustschutz und die ledernen Armschützer abgelegt, um sich den Schweiß und Dreck des langen Ritts vom Körper zu waschen. Der Mann neigte seinen Kopf vor ihm. »Edler Krieger, verzeiht die Störung, aber Ihr sollt umgehend zur Königin kommen.«

Neras Blick streifte nur kurz das ausdruckslose Gesicht des Sklaven und wandte sich wieder der Waschschüssel zu. Auch wenn er äußerlich gelassen und unbewegt erschien, beunruhigte ihn der Befehl der Königin. Warum sollte er sofort zu ihr? Hatte die Nachricht von König Ennoch nicht Zeit bis morgen? War seine Herrin nicht - wie alle anderen in der Großen Halle, in der bereits das Samhainfest begonnen hatte? Bald würden die Druiden für Ruhe sorgen, um ihre traditionellen Rituale durchzuführen, aber noch konnte er das Grölen und Lachen der Männer und den Lärm des Trinkgelages bis in sein abgelegenes Quartier hören.

»Was wünscht die Königin von mir?«, fragte Nera und tauchte seine Hände in das Wasser, um sich das erfrischende Nass ins Gesicht zu spritzen. Nach dem tagelangen Ritt fühlte er sich müde und ausgelaugt, musste aber gleich, wie die anderen, in der Großen Halle erscheinen. Alle, ob jung oder alt, Männer oder Frauen, Sklaven oder edle Herrschaften, hatten an den Festlichkeiten teilzunehmen, so verlangten es Brauch und Tradition.

»Sie nannte mir keinen Grund, Herr. Sie wies mich nur an, Euch die Nachricht zu überbringen, sobald Ihr zurück seid. Ihr sollt Euch sofort zu ihr begeben.«

Nera wusch sich Brust und Arme. Ohne den Germanen anzusehen, antwortete er: »Richte der Königin aus, dass ich gleich kommen werde. In diesem schmutzigen Zustand will ich nicht vor ihr erscheinen.«

Der Sklave verneigte sich wieder und eilte davon.

Das Bild der Königin erschien vor Neras geistigem Auge und erfüllte ihn, wie stets, mit Unbehagen. Sie war eine sehr schöne Frau, doch ihr Wesen war von Hochmut und Grausamkeit geprägt. Ihr Name, Nathaira, bedeutete »Schlange«, und Nera konnte sich keinen passenderen vorstellen, wenn er an ihre kalten, meergrünen Augen und ihr aalglattes Auftreten dachte. An ihre unerbittliche Härte und Willkür, die jederzeit sprungbereit hinter ihrem hübschen Lächeln lauerten. An ihre unersättliche Lüsternheit, ihre Gier nach jungen Männern, die bis über die Grenzen Taras hinaus bekannt war. Der Krieger verdrängte die düsteren Gedanken an seine Herrin, zog sich an und machte sich auf den Weg zu ihr.

Der Gang vor ihrem Trakt war verlassen, die Wachen und Sklaven schienen sich bereits in der Großen Halle aufzuhalten. Kalte Zugluft ließ die an den Wänden befestigten Fackeln einsam vor sich hin rußen. Nera blieb vor dem Gemach der Königin stehen und pochte leise an die Tür. Er erhielt keine Antwort. Noch einmal klopfte er, dieses Mal etwas lauter. Nichts. Vorsichtig öffnete er die schwere Holztür und trat ein. Das riesige Gemach lag größtenteils im Schatten. Nur ein Feuer im Kamin und drei Fackeln in schmiedeeisernen, mannshohen Ständern spendeten Licht. Der flackernde Feuerschein ließ die Jagd-Szenen auf den erlesenen Wandteppichen lebendig wirken. Neras Blick schweifte suchend durch den Raum und blieb an der prächtigen, großen Bettstatt der Königin hängen, die im Halbdunkel im hinteren Teil des Raumes stand. Die Liege war mit weichen Fellen und Kissen bedeckt, zwischen denen er seine Herrin erspähte. Sie hatte sich auf ihren rechten Unterarm gestützt und ihren Körper so positioniert, dass seine Vorzüge gut zur Geltung kamen: der Schwung ihrer Hüfte, die verführerischen Rundungen ihrer Brüste, die aus dem tiefen Ausschnitt ihres kostbaren Kleides gepresst wurden.

»Ihr habt mich rufen lassen, meine Königin?«

»Tritt näher, Krieger!«, befahl die Königin mit ihrer tiefen Samtstimme.

Zögernd trat Nera an ihre Bettstatt heran. Das hüftlange Haar seiner Herrin umfloss ihre zarten Schultern und die Pelze, auf denen sie ruhte, wie flüssiges Gold. Das sanfte Licht des Feuers schmeichelte ihrem fein gemeißelten Gesicht, machte seine Züge weicher und lieblicher und verbarg die Spuren ihres wirklichen Alters, das Nathaira so verhasst war.

»Nimm dir Wein!«, forderte die Königin ihn auf und untermalte die Anweisung mit einer anmutigen Geste zu einem kleinen Tischchen mit Erfrischungen. Sie selbst griff nach ihrem Pokal, wohl darauf bedacht, Nera durch das Vorbeugen ihres Oberkörpers einen noch tieferen Einblick in den Ausschnitt ihres Kleides zu gewähren.

»Nein, habt Dank, Herrin. In der Halle wird der Wein heute noch in Strömen fließen.«

Nathaira lachte leise, es klang wie das heisere Gurren einer Taube. Sie senkte die Lider halb über ihre ausdrucksvollen Malachitaugen, und ein spöttisches Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie ihren Blick über den Körper des Kriegers wandern ließ. Nera stand noch immer reglos und angespannt vor ihr, ließ sich allerdings von ihrer Freundlichkeit nicht einlullen, denn er spürte das Lauern dahinter.

Was wollte sie von ihm?

Mit einer katzenhaften Bewegung glitt die Königin vom Bett und stand so plötzlich vor Nera, dass diesem kurz der Atem stockte. Ihr schweres Parfüm hüllte ihn ein, und er spürte ihren warmen Atem an seinem Hals.

»Warum so zurückhaltend, Nera?«, raunte sie, zum ersten Mal seinen Namen verwendend, und strich mit dem Finger über die Narbe, die sich über seine Wange zog. Nera musste sich zusammennehmen, um nicht vor ihrer Berührung zurückzuweichen. Jetzt wusste er, was die Königin begehrte, und er überlegte fieberhaft, wie er dieser Situation entkommen konnte, ohne ihren Zorn auf sich zu ziehen.

Nathaira spürte prickelnde Hitze in ihrem Unterleib aufsteigen, als sie den groß gewachsenen, breitschultrigen Krieger vor sich sah. Normalerweise begehrte sie die ganz jungen Männer, die fast noch Knaben waren. Die atemlos und verzückt ihre Schönheit und ihre Liebeskünste bewunderten und ihr rascher verfielen, als es gut für sie war. Doch sobald dies geschah, wurden sie nicht nur langweilig für Nathaira, sondern auch lästig, und sie entledigte sich ihrer wieder. Aluinn war alt und gutmütig und wusste insgeheim um ihre Liebschaften, doch er würde keine verliebten Blicke oder andere Gunstbezeugungen ihrer Liebhaber dulden und sich nicht allzu offensichtlich Hörner aufsetzen lassen.

So viel Stolz besitzt der alte Mann dann doch, höhnte Nathaira innerlich.

Wieder strichen ihre hungrigen Augen über Neras Körper. Der Krieger hatte bereits ein Alter erreicht, das ihn eigentlich uninteressant für sie machte, aber letzte Woche hatte sie ihn zufällig im Hof beim Kampftraining mit den anderen Kriegern erspäht, und die Augen nicht von seinem freien Oberkörper und seinen geschmeidigen, kraftvollen Bewegungen abwenden können … vom Spiel seiner Muskeln unter der braunen Haut, die mit verschlungenen Tätowierungen verziert war, die seinen Kriegerstatus zeigten … dem konzentrierten Blick in seinem markanten, ernsten Gesicht.

Begehren hatte sie durchflutet, sie wollte ihn, und sie nahm sich stets, was sie verlangte. Aluinn war wesentlich älter als sie und teilte schon lange nicht mehr das Bett mit ihr. Seit der Zeit, als sie ihm ihren Sohn Fearghus und ihre Tochter Innogen geschenkt hatte, und die beiden waren inzwischen erwachsen, aber Nathaira war eine leidenschaftliche Frau und sorgte selbst für ihre Abwechslung. Doch spürte sie Neras Unwillen, den er hinter seiner Zurückhaltung zu verbergen suchte, führte ihn jedoch auf seine Treue zu Aluinn und auf seine moralischen Prinzipien zurück, von denen jeder auf der Burg wusste, dass der Krieger sie im Übermaß besaß. Aber gerade dies machte ihn als Beute für sie so überaus reizvoll. Nun legte sie ihre kleine, weiße Hand mit den kostbaren Ringen auf seine Brust, die aus dem Ausschnitt seines Lederwamses lugte. Seine Haut war warm, sie spürte seinen Herzschlag und sog seinen männlichen Duft ein. Nera erstarrte unter ihrer Berührung und blickte stur über ihren Kopf hinweg auf die Wand.

»Mein starker Krieger, erinnerst du dich, wie du zu dieser Narbe kamst?«, flüsterte sie und fuhr mit ihren Fingern wieder über seine Wange, zeichnete die Linie der einstigen Verletzung nach. Nera räusperte sich, doch die Königin fuhr fort: »Du hast mein Leben gerettet, bei diesem Überfall, du allein hast mich gegen drei Schurken verteidigt. Dafür habe ich dir nie richtig gedankt …«

Die Narbe erregte sie wirklich, denn sie wusste noch genau, wie stark die tiefe Wunde damals geblutet hatte, wie rasch er die drei Angreifer niedergestreckt hatte. Voller Verlangen drängte sie ihren Körper an seinen und versuchte, Neras Blick einzufangen.

»Ich möchte mich jetzt bei dir bedanken …« Sie fasste nach seiner großen Hand und presste sie auf ihre linke Brust, stellte sich auf die Zehenspitzen und näherte ihre Lippen den seinen. Nera keuchte auf, entriss ihr seine Hand und trat einen Schritt zurück. »Meine Königin, ich bitte Euch, lasst das.«

Ein unwilliges Flackern erschien in ihren Augen und ein Ausdruck wütenden Erstaunens trat in ihr Gesicht. Sie war Zurückweisung weder gewöhnt noch schätzte sie diese. Dann umspielte wieder ein feines Lächeln ihren Mund, das ihre Augen jedoch nicht erreichte.

»Nera.« Sie zog seinen Namen in die Länge und ein reifzartes Glitzern der Verachtung lag in ihrer Stimme, als sie fortfuhr: »Trauerst du etwa immer noch um dein Weib? Ist es nicht längst an der Zeit, eine neue Liebe zu finden?« Herausfordernd blickte sie ihn an und trat wieder auf ihn zu.

Nera spürte Zorn in sich aufflammen. Wie konnte es diese Hure, die sich Königin nannte, wagen! Neben der Wut durchzog ihn aber auch tiefer Schmerz, als er an seine im Kindbett verstorbene Frau Ailean dachte.

Erst hatte sie das Kind verloren, dann war auch sie von ihm gegangen. Sie war seine einzige Liebe gewesen. Um die er in stillen, langen Nächten getrauert hatte, und auch jetzt noch, Jahre später, manchmal heimlich weinte. Jegliche Lebensfreude war mit Aileans Tod wie Sand durch eine Stundenuhr aus ihm geflossen, sein Leben bedeutete ihm nichts mehr. Der schreckliche Verlust hatte ihn zu dem harten, unerbittlichen und furchtlosen Krieger gemacht, der er heute war. Neras Gesichtsausdruck wurde steinern. Nur mit Mühe konnte er sich beherrschen, Nathaira nicht am Kinn zu packen und ihr das überlegene, wissende Grinsen aus dem Gesicht zu wischen. Er ballte seine Hände zu Fäusten, sein ganzer Körper versteifte sich.

Die Königin war die erste Frau, die in ihm den Wunsch auslöste, ein Weib zu schlagen. Doch er riss sich zusammen, bis er die Ruhe einer windstillen Winternacht zurückerlangte, und sagte mit eisigem Unterton: »Herrin, ich werde für Euch kämpfen und Euer Leben mit dem meinen beschützen, so wie ich es schwor, doch ich werde niemals Euer Bett teilen!« Damit wandte er sich um und verließ ihr Gemach.

Er sah das Gesicht der Königin nicht mehr, das sich zu einer bösartigen Fratze verzog, auch nicht den hasserfüllten Blick, der sich in seinen Rücken bohrte. Trotz ihres Zorns verlieh sie ihrer Stimme einen spöttisch-heiteren Klang, als sie ihm nachrief: »Oh, mein stolzer, starker Krieger, flieht wie ein ängstlicher Hase!«

Ihr falsches Lachen hallte noch in seinen Ohren, als er mit weit ausholenden Schritten in Richtung der Großen Halle lief. Beinahe wäre er mit der jungen Sklavin Ethel zusammengeprallt, die gerade in den Gang bog und auf dem Weg zur Königin war.

Atemlos hastete diese weiter, in das Gemach ihrer Herrin, und knickste vor ihr.

»Meine Königin, der König schickt mich. Er bittet Euch, zu den Festlichkeiten zu erscheinen, die Druiden …«

Weiter kam das Mädchen nicht. Mit zwei wuchtigen Schlägen hatte Nathaira die Sklavin zu Boden gestreckt, Blut strömte aus Ethels aufgeplatzter Lippe und tropfte auf den Boden. Nathaira holte mit dem Fuß aus und trat ihr noch mehrmals kräftig in die Seite, doch Ethel unterdrückte einen Aufschrei und die aufkommenden Tränen, um die Wut der Königin nicht noch weiter anzuheizen. Sie ahnte nicht, dass die Schläge und Tritte eigentlich einem anderen galten.

»Wage es nie wieder, hörst du – nie wieder mein Gemach ohne Aufforderung zu betreten!«

»Verzeiht, meine Königin. Vergebt mir.« Ethel kauerte immer noch auf dem kalten Boden und senkte demütig ihren Kopf. Deshalb entging ihr das Aufleuchten in den Augen ihrer Herrin, die eine plötzliche Eingebung hatte.

Ein Plan entrollte sich in Nathaira wie eine züngelnde Schlange: »Du wirst jetzt genau zuhören, was ich dir befehle!«

Die Große Halle war überfüllt mit Menschen. Warme und verbrauchte Luft schlug Nera entgegen, erfüllt von den Gerüchen nach fettigem Essen, Met und dem Rauch der Feuer und Fackeln, den Ausdünstungen der unzähligen Leiber der Menschen, die sich zu den Festlichkeiten eingefunden hatten. Als Nera auf das bunte Treiben schaute und der Lärm Hunderter Stimmen an seine Ohren toste, wurde ihm wieder einmal bewusst, wie viele Menschen in Burg Cruchain und auf ihrem weitläufigen Gelände lebten. Da er zu spät erschienen war, musste er mit einem Stehplatz an der Tür vorlieb nehmen, aber das war ihm ganz recht. Hier war die Luft weitaus besser als im hinteren Teil der Halle, wo die Bänke und Tische in einem großen Kreis um die Opferstelle aufgestellt waren. Noch immer hielt ihn das Unbehagen über das Treffen mit der Königin umfangen. War er zu weit gegangen? Würde sie ihm die Zurückweisung verzeihen?

Doch: Was sollte sie ihm vorwerfen? Welche Begründung würde sie für seine Bestrafung vorbringen können, ohne sich selbst anzuklagen?

Nera entspannte sich ein wenig und beschloss, über den Vorfall hinwegzusehen, so zu tun, als wäre er nie geschehen. In diesem Augenblick stieß ihn jemand an. Es war Leith, eine der Torwachen.

»Du sollst zum König kommen.« Er klopfte Nera noch einmal auf die Schulter und verschwand im Gedränge. Der Krieger blickte zu den beiden erhöht stehenden Thronen am anderen Ende der Halle, von denen nur einer von König Aluinn besetzt war. Neben ihm standen die drei Druiden; würdevolle, hagere Männer in weißen Gewändern. Finster waren ihre Mienen, die Ausschweifungen, die Völlerei und das Trinkgelage der versammelten Menschen erzürnten sie. Aluinn schien beschwichtigend auf sie einzureden, sein weißhaariges Haupt beugte sich den drei Würdenträgern immer wieder entgegen, während er gestikulierte.

Die Druiden hatten bereits mit den Ritualen beginnen wollen, mit der Anrufung der vier Winde, der Götter und der Ahnen, deren Schutz und Segen man sich erhoffte. Die Zeremonien würden in der traditionellen Opferung eines tags zuvor gefangenen Hirsches zu Ehren des Unterweltgottes Cenn Cr´uach enden.

Doch alles verzögerte sich, weil die Königin immer noch nicht erschienen war. Nichts fürchteten die weisen Männer mehr, als dass ihre heiligen Zeremonien vom Frevel sturzbetrunkener, sich prügelnder oder sich übergebender Männer gestört würden.

Nera schob sich durch die Menge, doch er kam nur langsam voran. Endlich stand er vor Aluinns Thron und verneigte sich. Der König lächelte ihn an.

»Nera, gut, dass du da bist. Welche Nachricht bringst du von Ennoch?«

Der Krieger hatte den ganzen Heimritt über gegrübelt, wie er König Ennochs höhnische Antwort mildern konnte, ohne ihren Inhalt zu verfälschen, doch jetzt war sein Kopf leer. Er senkte den Blick, um kurz darauf wieder aufzuschauen, in das zerfurchte, besonnene Antlitz seines Königs.

»Mein König, Ennoch von Connacht stimmt einer Vermählung seines Sohnes mit Eurer Tochter, Prinzessin Innogen, nur unter der Bedingung zu, dass Ihr ihm zuvor drei Wagenladungen Gold zukommen lasst.«

Nera hielt inne, als sich ein Schatten über Aluinns Züge legte. Der König zog seine Augenbrauen zusammen, sein Kiefer mahlte.

»Sprich gerade heraus, Krieger, schone mich nicht: Was war seine Begründung dafür?«

Nera schluckte. Alles in ihm sträubte sich dagegen, König Ennochs böse Worte zu wiederholen, sie wollten ihm einfach nicht über die Lippen kommen. Wie sollte er seinem großmütigen, alten König, den er schätzte und verehrte, sagen, dass Ennoch seine Königin als Hure beschimpft hatte? Seine Tochter als ebensolche bezeichnete, denn »der Apfel fiele nicht weit vom Stamm.« Und dass er daher schon vor der Verbindung mit seinem Sohn Conall eine Art Entschädigung dafür verlangte, dass Innogen ihm als Schwiegertochter nur Leid und Schmach bringen werde?

Aber bevor Nera antworten konnte, wandte Aluinn plötzlich den Kopf. Auch Nera sah zum Eingang der Großen Halle hinüber. Endlich war die Königin erschienen.

Die Menge machte ihr Platz, eine Sklavin folgte ihr. Nathaira schritt mit erhobenem Haupt an ihren Untertanen vorbei, die sich vor ihr verneigten. An ihren weißen Oberarmen glänzten goldene Reife, und auf dem Kopf trug sie die schwere, edelsteinbesetzte Krone.

»Wir reden später, Nera«, entließ der König den Krieger und erhob sich, um seiner Königin die Hand zu reichen. Sie ergriff Aluinns Hand und erklomm die wenigen Stufen, aber sie setzte sich nicht, sondern blieb neben ihrem Gemahl stehen. Aluinn warf ihr einen fragenden Blick zu, den Nathaira jedoch ignorierte. Stattdessen fixierte sie Nera, der in die Menge zurück getreten war, und ein unergründliches Lächeln umspielte ihre Lippen.

Die Druiden gaben das Zeichen, das aufgeschichtete, mit Weihrauch und Kräutern versetzte Holz in der Mitte des Saales zu entzünden, und zwei Diener schlugen den mächtigen Gong an der Wand. Bevor der tiefe Ton verklungen war, hatte sich bereits Stille über die Halle gelegt. Ailech, der erste Druide, setzte zu sprechen an, doch es war die Königin, die ihre Stimme in die Runde erhob: »Weise Männer, mein König.«

Sie neigte jeweils ihren Kopf in die Richtung der Angesprochenen. »Verzeiht mein spätes Erscheinen und nun die Unterbrechung der Rituale, doch ich habe einen guten Grund, den ich euch verkünden muss: Diese Sklavin hier …«– sie zeigte auf das Mädchen, dessen Lippe inzwischen stark angeschwollen war –»hatte soeben eine Vision, die uns eine äußerst wichtige Botschaft sendet. Tritt vor!«

Nathaira stieß Ethel unauffällig an. Das Mädchen hielt den Kopf gesenkt, trat aber gehorsam zwei Schritte vor und begann, mit leiser Stimme zu sprechen: »Ich bin soeben in die Dunkelheit eines Aisling gefallen und hatte eine Vision. Ich sah … ich …«

Sie verstummte, noch immer war ihr Blick auf den Boden gerichtet.

»Schau mich an, Sklavin, und sprich. Du hast nichts zu befürchten«, forderte Aluinn sie sanft auf.

Ethel hob die Augen zu ihrem Herrscher, Tränen standen darin.

»Mein König, ich sah den Gehenkten, den Mörder, den ihr gestern richten ließet. Er ist ein Draugr!«

Ein lautes Raunen und unterdrückte Rufe des Entsetzens brandeten durch die Menge, die der König jedoch sofort durch das Erheben seiner Hand unterband. Er nickte der Sklavin zu fortzufahren.

»Der Galgen war leer, die Spur des Draugr führte ins nächstgelegene Dorf. Ich hörte Schreie aus den Häusern, sah ihn wüten. Frauen und Kinder flüchten, so viel Blut …« Erneut versagte ihre Stimme, sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und begann zu weinen.

Die Königin hatte während der Erzählung der Sklavin die Druiden genau beobachtet und mit Zufriedenheit die aufkommende Erregung in ihren Gesichtern abgelesen. Nun sprach sie: »Weise Männer von Cruchain, dies ist ein Zeichen. Die Götter haben durch die Sklavin gesprochen: Der Gehenkte wird heute Nacht Rache nehmen an unschuldigen und schutzlosen Menschen, an Frauen und Kindern. War er schon zu Lebzeiten ein gefährlicher Mörder, so bedenkt, über welche Kräfte er jetzt verfügt. Dürfen wir diese Menschen ihrem Schicksal überlassen?«

Sie ließ ihre Worte wirken, während Nera die Königin ungläubig anstarrte. Ihre Besorgnis um die Dorfbewohner passte nicht zu ihr, aber sie fuhr bereits an Ethel gewandt fort: »Kind, hast du auch gesehen, wer für die Errettung der Dorfbewohner bestimmt ist?«

»Ja, meine Königin.«

Wieder gerieten die versammelten Menschen in Erregung und murmelten, sodass Ailech sich dazu berufen fühlte »Ruhe!« zu brüllen. Die Stille kehrte in den Saal zurück, und der Druide sprach: »Mein König, meine Königin. Wir nehmen die Vision sehr ernst. Ihr wisst, was das bedeutet. Wir müssen einen Schutz für die Menschen des Dorfes entsenden. Wer, Sklavin, ist dafür bestimmt, wen sahst du im Aisling?«

Neras Herz begann schneller zu schlagen, eine seltsame Unruhe erfasste ihn, die zu einer bösen Vorahnung anwuchs. Einen kurzen Moment traf sein Blick auf den des Mädchens, bevor es seine Lider wieder niederschlug. Schuld und Scham hatten in ihren Augen gestanden.

»Ich habe Nera gesehen«, sagte sie mit zitternder Stimme.

Während die Menschen um ihn herum den Atem anzuhalten schienen, bevor sie aufgeregt zu flüstern begannen, hatte Nera das Gefühl, eine eiskalte Hand ergreife sein Herz und stoße es in seinen Magen. Er spürte, dass die Sklavin log, fühlte auch ihre tiefe Verzweiflung darüber, erinnerte sich daran, wie sie vorhin an ihm vorbei zur Königin geeilt war, blickte auf ihren geschwollenen Mund, der bei ihrer Begegnung im Gang noch unverletzt gewesen war. Dann sah er die selbstgefällige Häme aus Nathairas Augen blitzen, die sich in die seinen brannten. Auch wenn er wusste, dass die Sklavin auf Nathairas Befehl die Unwahrheit sprach – es war nicht von Belang. Er konnte dem, was nun folgte, nicht entgehen.

So trat Nera vor seinen König, und die weisen Männer und wartete auf ihre Anweisung. Viele Eindrücke strömten gleichzeitig auf ihn ein: die tiefe Betroffenheit, die sich plötzlich wie ein Schatten über die Große Halle legte, darunter die fast greifbare Erleichterung der Männer, dass das Los nicht sie getroffen hatte. Er sah Aluinns faltiges Gesicht, in dem Unwillen mit Mitleid und schwerer Sorge kämpfte. Nathairas triumphierendes Hochgefühl, das sie hinter einer gleichgültigen Maske zu verbergen suchte, und die ernsten, asketischen Mienen der Druiden, die den Aisling der Sklavin an einem bedeutungsvollen Abend wie diesem nie in Zweifel ziehen würden.

Neras Blick heftete sich wieder auf Aluinn. »Mein König, ich bin bereit.«

Aluinns Herz wurde schwer, als er Nera vor sich stehen sah, der ihm in all den Jahren treu gedient hatte und der ihm einer der Liebsten am Hofe war. Er schätzte den dunklen, stillen Krieger, seine Ehrlichkeit, seine unverrückbare Loyalität. Einen Sohn wie ihn hatte er sich immer gewünscht. Wie oft hatte Aluinn in seinen Gedanken Nera mit seinem aufbrausenden, stets auf seinen Vorteil bedachten Sohn Fearghus verglichen.

Tief einatmend erhob sich der König vom Thron, er fühlte sich um Jahre gealtert. Ihm war bewusst, dass er Nera mit seinem Befehl in den Tod schicken würde. Nur ein Wunder konnte diesen Mann noch retten. Aluinn richtete sich auf und schaute über die immer noch in Stille und Betretenheit verharrende Menge.

»Weise Männer von Cruchain, Volk von Cruchain. Ihr alle habt die Vision des Mädchens vernommen. Nera ist dazu ausersehen, die Dorfbewohner zu retten und den Draugr zu richten. Aber …« Nun straffte er seine gebeugten Schultern, »ist irgendeiner unter den Männern hier, der den Mut besitzt, Nera zu begleiten, seinen Arm und sein Schwert zu verstärken?«

Der König ließ seinen eindringlichen Blick über die Gesichter der Männer im Saal gleiten. Viele zeigten erschrockene Mienen, Unwillen, Angst oder schauten verschämt zu Boden. Die Stille schien sich noch zu verdichten, nur leises Scharren mit den Füßen und unterdrücktes Räuspern waren zu hören.

»Nein? Nicht einer?«, wagte Aluinn einen letzten Vorstoß, doch er kannte die Antwort bereits. Da die Sklavin allein Nera im Aisling gesehen hatte, konnte außer ihm niemand gezwungen werden, in dieser Nacht die sicheren Mauern zu verlassen. Also wandte sich der König an seinen Krieger, der noch immer reglos vor ihm stand.

»Mein Krieger, seien die Götter mit dir. Wir alle werden dein Heil und deine Stärke in unsere Anrufungen und Gesänge mit einbeziehen. Geh nun, und erfülle deine Pflicht!«

Trauer stand in Aluinns Zügen, als er Nera seine Hand auf die Schulter legte, doch seine Worte waren voller Groll, als er brüllte: »Wenn ihr nicht die Tapferkeit besitzt, ihm im Kampf zur Seite zu stehen, so verabschiedet ihn wenigstens würdig!«

Er gab dem Sklaven, der Neras Waffen und Brustschutz bereits aus dem Kriegerquartier geholt hatte, einen Wink, und ließ sich Schwert und Speer übergeben. Unruhe machte sich breit, als alle Männer nach ihren Schwertern und Schilden zu greifen begannen, und sich zu einem Spalier für Nera aufstellten. Während der Krieger seinen Brustschutz anlegte, hielt Aluinn seine Waffen den Druiden entgegen, damit diese sie segneten.

»Geh, mein Sohn, kämpfe tapfer. Und … kehre zu uns zurück«, sagte der König leise.

Nera schluckte und neigte sein Haupt. Kurz umfassten sie gegenseitig ihre Handgelenke, dann griff der Krieger nach seinen Waffen und schritt an der Reihe der Männer entlang, die sich bis zum Portal aufgestellt hatten. Mit ihren Schwertern schlugen sie im gleichen Takt auf ihre Schilde. Der ohrenbetäubende Krach erschütterte die Halle, brachte die Leiber der Versammelten zum Beben wie ein mächtiger, eiserner Herzschlag. Dieses vertraute Geräusch, das stets vor Schlachten angestimmt wurde, gab Nera Kraft.

Bevor er die Große Halle verließ, wurde ihm bewusst, dass er wahrscheinlich nie nach Cruchain zurückkehren würde, und er warf er einen letzten Blick über die Schulter. Unbemerkt von den anderen zwinkerte ihm Nathaira zu und leckte sich wollüstig über die Lippen.

Keine einzige Wolke verhüllte mehr die Sicht auf den schwarzen Sternenhimmel, als er über die Zugbrücke in die Kälte der Nacht hinausritt. Weder Kennan noch Leith hatten es gewagt, dem Krieger in die Augen zu schauen, als sie ihm seinen Hengst übergeben hatten. Wortlos waren die Männer auseinandergegangen. Nun beeilten sich die Torwachen, die Brücke wieder hochzuziehen, während Nera sich immer weiter von den Lichtern Cruchains entfernte und der kühle Tau der Nacht sich auf Land und Reiter herab senkte.

Fahler Mondschein tauchte die Ödnis um die Burg in geisterhaftes Licht. Etwas Dunkles, Böses lag in der Luft, das spürte nicht nur der Krieger. Der Hengst schnaubte durch geblähte Nüstern. Nera konnte das Weiße in seinen weit aufgerissenen Augen sehen, doch er trieb ihn an, und das Pferd gehorchte, wie immer.

Der Weg bis zum Hügel über dem Tal der zwei Seen, auf dem der Galgen stand, war nicht weit, aber sie mussten erneut den dichten Wald durchqueren, was ein mulmiges Gefühl in seiner Magengegend hervorrief. Obwohl der Himmel jetzt klar war, kroch noch immer Nebel über den Boden, hüllte die Stämme der Bäume wie in weiße Tücher. Während Nera vorsichtig weiterritt und dabei seinem Pferd immer wieder beruhigende Worte ins Ohr flüsterte, lauschte er angestrengt auf Geräusche in der Dunkelheit des windstillen Waldes, auf irgendwelche Anzeichen von Gefahr. Er vernahm nichts außer dem dumpfen Aufsetzen der Pferdehufe auf dem Waldboden, über den nun immer dichtere Nebelschwaden wallten. Die Kälte des herannahenden Winters drang durch seine Kleidung und ließ ihn frösteln, der Geruch der dunklen Erde Taras, von feuchtem, verwesendem Laub und dem nahe gelegenen Moor stieg ihm in die Nase. Kein Blattwerk raschelte, nichts bewegte sich, die Tiere des Waldes schienen in Furcht zu verharren. Allein der lang gezogene, einsame Klageruf der Ulchabhán, der Toteneule, durchschnitt die unheimliche Stille. Ihr Gesang trieb ihm einen Schauer über den Rücken, kündigte er doch, wie Nera wusste, den baldigen Tod eines Menschen an.

Der Krieger versuchte, die Furcht vor dem bösen Omen nicht in sich aufsteigen zu lassen, als ein plötzlicher Windstoß durch die Blätter am Boden fuhr. Der Hengst scheute und schnaubte. Nera glaubte, einen Schatten an ihnen vorbeihuschen und in den Büschen verschwinden zu sehen. Er schnalzte mit der Zunge, um das Pferd anzutreiben, doch es bäumte sich auf und begann wiehernd zurückweichen.

Was war da?

Erneut fegte eine Windbö heran, verwirbelte das Laub und brachte die umliegenden Büsche zum Rascheln. Da! Der Schatten! Doch die Dunkelheit und der verfluchte Nebel nahmen Nera die Sicht. Er kniff die Augen zusammen und zog sein Schwert, spürte genauso wie sein tänzelnder Hengst die Gefahr, und Schweiß brach ihm aus.

Etwas Bedrohliches kreiste sie ein. Panisch blickte er sich um.

Wie soll ich etwas bekämpfen, das ich nicht sehen kann?

In diesem Moment sah er aus dem Augenwinkel etwas Dunkles auf sich zurasen, hörte ein Knurren und Schnappen. Der Hengst bäumte sich wiehernd auf, warf seinen Reiter ab und preschte davon. Nera war hart auf dem Boden aufgeschlagen, doch er stand sofort wieder auf den Beinen, umfasste sein Schwert mit beiden Händen und drehte sich langsam im Kreis. Ein Grollen ertönte, ganz in seiner Nähe. Neras Nackenhaare stellten sich auf. Das kehlige Knurren wurde lauter, doch er konnte nicht ausmachen, aus welcher Richtung es kam.

Nera folgte seinem Instinkt und rannte los. Er musste hinaus aus dem Wald! Zumindest eine Lichtung erreichen, denn in der Dunkelheit und dem dichten Nebel hatte er gegen das schattenhafte Wesen kaum eine Chance. Äste peitschten ihm ins Gesicht, sein Herz raste, als ihm plötzlich eine Wurzel die Beine wegzog, er strauchelte und fiel. Nera riss die Augen auf. Aus dem Nebel glühte ihm ein gelbes Augenpaar entgegen, es näherte sich, genauso wie das bedrohliche Grollen, das aus den Tiefen eines mächtigen Brustkorbes zu dringen schien. Der Kopf eines Wolfes schob sich aus den weißen Schwaden, die hochgezogenen Lefzen entblößten lange, messerscharfe Reißzähne. Der Krieger erhob sein Schwert, glaubte den stinkenden Atem der Bestie zu riechen. Das wolfsähnliche Untier schlich geduckt auf ihn zu, geiferte und schnappte nach ihm. Der Krieger wich den Angriffen geschickt aus. Er spannte die Muskeln an und umfasste die Waffe fester, als das Ungeheuer sein Maul aufriss und zum Sprung ansetzte. Pfeilschnell flog die Bestie auf ihn zu. Nur seinen guten Reflexen hatte Nera es zu verdanken, dass er im richtigen Moment das Schwert niederfahren ließ. Ein lautes Jaulen ertönte, als sich die Klinge in die Flanke des Wolfes grub, das Tier prallte zurück in den Nebel, ein röchelndes Hecheln war zu hören.

Nera trat vor und schaute auf das Untier herab. Jetzt erkannte er, was es war: Auf dem Waldboden lag ein fáelur, ein Werwolf. Zorn blitzte aus seinen gelben Augen, er warf seinen Kopf hin und her, versuchte, sich wieder aufzurichten, ein bösartiges Knurren drang aus seiner Kehle. Trotz der tiefen Wunde, die Nera ihm zugefügt hatte, sprang der Werwolf wieder auf und stieß ein markerschütterndes Brüllen aus. Der Krieger zögerte nicht, holte aus und schlug ihm dem Kopf ab, bevor der fáelur erneut angreifen konnte. Das Haupt der Bestie fiel mit einem dumpfen Laut auf die Erde und kullerte vor Neras Füße.

Der Krieger trat einen Schritt zurück, sein Herz pochte wie ein Hammer auf einem Amboss, und sein Atem ging stoßweise. Noch immer hielt ihn das Grauen über die Begegnung mit einem Geschöpf der Unterwelt gefangen.

Er atmete tief durch und mahnte sich zur Ruhe, als ihn von hinten etwas ansprang und er gleichzeitig einen schmerzhaften Biss in seine Wade spürte. Nera schrie auf und wirbelte herum. Er war unachtsam gewesen, denn es waren zwei! Diese Bestie war etwas vorsichtiger, aber seine Augen glommen ihm genauso gelb und tückisch entgegen, während sie sich belauerten und umrundeten. Immer wieder schoss der zweite fáelur vor, mit gefletschten Zähnen. Als sich die Bestie weiter vorwagte, machte Nera einen Ausfallschritt und ließ das Schwert niederfahren, enthauptete auch den zweiten Wolf.

Angespannt lauschte er, seine Augen schweiften durch das Gebüsch. Da bemerkte er, dass eine rasche Veränderung mit den erlegten Wölfe vor sich ging: Ihr struppiges Fell bildete sich zurück, genauso die Fänge und Klauen, stattdessen nahmen die Kadaver immer menschlichere Formen und Züge an. Nur Augenblicke später sah Nera auf die Köpfe eines Jünglings und eines Mädchens herab. Ihr langes Haar war verfilzt, und aus ihren verhärmten, schmutzigen Gesichtern starrten ihn ihre erloschenen Augen an. Sein Blick wanderte zu den nackten Menschenleibern, sie wirkten so unschuldig, wie sie da vor ihm im Laub lagen. Es waren fast noch Kinder gewesen, dachte Nera voller Bedauern, und wandte sich schaudernd ab. Eine Erinnerung zog durch seinen Kopf. Vor etwas mehr als einem Jahr waren zwei Bauernkinder vom Beerensammeln nicht ins Dorf zurückgekehrt. Das also war ihr furchtbares Ende gewesen.

Neras Kehle zog sich vor Mitleid zusammen, aber er durfte keine Zeit verlieren. Er musste weiter, zum Galgen, und den Gehenkten enthaupten, nur auf diese Weise konnte ein Draugr getötet werden. Aufgrund der Begegnung mit den fáelur war sich der Krieger nicht mehr sicher, ob die Vision der Sklavin nicht doch der Wahrheit entsprach … Nach einiger Zeit erreichte er den Rand des Moores. Nur Wenigen außer Nera, der diesen Weg öfter nahm, war der trittsichere Pfad durch das tückische Gelände bekannt. Vorsichtig setzte der Krieger die Füße voreinander, blieb stehen, wenn sich eine vereinzelte Wolke vor den Mond schob und ihn vollkommene Dunkelheit umfing.

Der Schmerz in seiner Wade pochte, zog wie eine sengende Spur an seinem Bein hoch, und sein Herzschlag setzte immer wieder aus. Ihm wurde kalt, und er zitterte, obwohl ihm der Schweiß die Stirn hinablief und das Blut wie Feuer durch seine Adern raste. Nera zwang sich, ruhig zu atmen und humpelte weiter, konzentrierte sich darauf, nicht über Wurzeln oder andere Fangarme des Waldgottes zu stolpern, als er ein Seufzen zu seiner Rechten vernahm. Der Laut ließ Nera innehalten und aufblicken. Fahl leuchteten die Stämme der Birken im Mondlicht, viele waren in das Wasser gestürzt, das schwarz und still vor ihm aus dem Nebel glänzte. Ein Leuchten erregte seine Aufmerksamkeit Es schwebte wie das Licht einer Fackel über das Moor und erlosch, um kurz darauf an anderer Stelle wieder aufzuflammen. Abermals erklang der schwermütige Laut, hallte gespenstisch zu ihm herüber. Neras Augen schweiften über das Gewässer, er lauschte angestrengt, vernahm ein leises Rufen, es näherte sich, schien von allen Seiten auf ihn einzudringen. Er glaubte, seinen Namen zu hören und erstarrte. Sein Atem stockte. Er erkannte diese warme Frauenstimme, niemand kannte sie besser als er, und Grauen und eine verzehrende Sehnsucht erfassten ihn gleichermaßen. Ailean!

War es möglich, dass sie hier war? Dass ihre Seele zu ihm sprach? Heute, in der Nacht der Toten?

»Ailean!« Die Ödnis verschluckte seinen Ruf. Alle Vorsicht außer Acht lassend verließ Nera den sicheren Weg, die Hoffnung, seine geliebte Frau zu sehen, mit ihr zu sprechen, trieb ihn zu der Stimme. Er trat vor bis an das schwarze Wasser. Der Boden unter seinen Stiefeln gab nach, begann an seinem rechten Fuß zu ziehen, doch der Krieger beachtete es nicht, brannte doch allein das Verlangen in ihm, Ailean zu finden. Neras Augen irrten über das Wasser, durchbohrten die Nebelschwaden, sein Herz schlug ihm bis zum Hals.

»Ailean! Wo bist du?« Tiefe Verzweiflung warf ihre Netze über ihn. Bildete er sich das alles nur ein?

Eine einzelne, weiße Schwade löste sich aus dem Nebel, zog in seine Richtung und verformte sich, nahm langsam die Gestalt seiner toten Frau an. Nera konnte ihr Lockenhaar sehen, ihre schlanken Arme, die sich nach ihm ausstreckten.

»Mo ghrá!« Mein Geliebter. Das vertraute Kosewort stach in Neras Herz, ließ es sich zusammenziehen. Ihre weiche Stimme umflog ihn wie ein Vögelchen, zog ihn vorwärts wie an unsichtbaren Schnüren. Tränen schmerzten hinter seinen Augen wie Nadelstiche. Der Wunsch, zu der so lang vermissten, geliebten Stimme zu gelangen, wurde übermächtig. Seine Hand öffnete sich wie von selbst, als er weiter vortrat, sein Schwert entglitt ihm und versank mit einem gurgelnden Geräusch im Moor, während die weiße Gestalt ihn weiter lockte und mit ausgebreiteten Nebelarmen auf ihn zuschwebte.

In diesem Moment tauchte ein gleißendes Licht das Waldstück und das Gewässer in blendende Helligkeit. Nera blieb stehen und kniff die Augen zu, beschirmte sie mit der rechten Hand. Hinter seinem Rücken erklang ein Wispern, einem melodischen Flüstern gleich. Es strich über seinen Kopf hinweg, schien ihn einzuhüllen, verfing sich in den Zweigen der Bäume und schien von überall widerzuhallen. Ein betörend schöner Klang, ein singender Lufthauch, der Neras Gehör streichelte, und trotz seiner Zartheit von großer Macht und Magie erfüllt war.

Vom Gewässer fegte ihm ein bösartiges Zischen entgegen und ließ Nera aus seiner Versunkenheit aufschrecken. Er traute seinen Augen kaum, als sich Aileans weiße Nebelgestalt verwandelte: In der Spanne eines Atemzugs färbte sich die Erscheinung schwarz wie die Nacht und wuchs zu imposanter Größe an. Rote Augen glommen aus der rauchigen Gestalt, sie schwebte auf Nera zu und fauchte dem Krieger einen grauenhaft tiefen Laut des Bösen entgegen ein Dämon!

Das magische Wispern wurde kraftvoller, begann, durch das Laub zu rauschen, schwoll zu einem durchdringenden Singen an. Das Gleißen verstärkte sich, sodass Nera seine Augen zu schmalen Schlitzen verengen musste.

Ein letztes zorniges Fauchen entwich dem Dämon und strich wie ein übel riechender Wind über Neras Gesicht, dann löste er sich auf.

Nera hatte das Gefühl, ohnmächtig zu werden, ihm schwanden die Sinne, und er ließ sich am Ufer zu Boden sinken. Die Brust tat ihm weh vor Kummer, obwohl er soeben nur das Trugbild seiner geliebten Frau verloren hatte. Doch wer oder was hatte ihn vor dem Dämon gerettet?

»Nera.« Der melodische Hauch liebkoste ihn.

Der Krieger wollte sich nach der überirdisch schönen Stimme umwenden, aber eine seltsame Lähmung hielt seinen Körper gefangen. Der Schmerz in seinem Bein flammte wieder auf. Das Licht wurde schwächer, schwebte an seinen Augenwinkeln vorbei, und vor ihm tauchte die leuchtende Gestalt einer Sidhe auf. Ihr Antlitz und ihre Gestalt waren von göttlicher Vollkommenheit, ihre Silhouette flimmerte in der Finsternis des nächtlichen Waldes. Trotz der Windstille umwehte langes, silbernes Haar ihr Gesicht, aus dem Nera Augen entgegenstrahlten, die vom tiefsten Blau waren, das er je gesehen hatte. Blauer als der unendlich weite Augusthimmel über Tara. Milchweiß schimmerte ihre Haut, und ihre Schleier schienen in einem Luftzug zu wallen.

»Nera.« Erneut drang der Hauch an sein Ohr, umschmeichelte es wie das Flüstern eines lauen Sommerwindes. »Hör mir zu! Du hast nicht mehr viel Zeit. Lass mich dir helfen.«

Nera konnte seine Augen nicht von der Erscheinung abwenden, das leuchtende Blau ihrer Augen zog ihn in ihren Bann.

»Wer bist du?«, flüsterte er.

»Mein Name ist Eldárwen, ich gehöre zum Volk der Mondelben.«

Eldárwen beugte sich zu Nera herab, und der Duft einer blühenden Frühlingswiese hüllte ihn ein. Nera wich vor der Elbin zurück. Zu viel war in dieser Nacht geschehen, zu viel Lüge und Trug hatte er erfahren müssen. Er schlug ein Schutzzeichen vor ihr in die Luft, aber Eldárwens Gesicht blieb sanft. Ihre zarte Stimme erklang in seinem Kopf. Erst jetzt sah Nera, dass sich ihre Lippen beim Sprechen nicht bewegten. »Hab keine Furcht vor mir, Nera! Es war an Beltane, als du geboren wurdest, und ich war bei dir. Stand in der ersten Nacht deines Lebens an deiner Wiege und las dein Schicksal. Ich wusste, dass du heute Nacht hierherkommen würdest. Ich bin deine Anam Cara.«

Seine Seelenverwandte? Die Elbin streckte ihre schmale Hand aus, und ihre Fingerspitzen näherten sich Neras Stirn, strichen wie flatternde Schmetterlingsflügel über seine Wange und seinen Mund und zogen eine warme Spur über seine Haut. Neras Herzschlag und Atem verlangsamten sich, und eine seltsame Ruhe erfasste ihn.