Heidetod

Kriminalroman

Sabine Prilop


ISBN: 978-3-95764-218-9
1. Auflage 2018, Altenau (Deutschland)
© 2018 Hallenberger Media GmbH, Altenau

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Bildquelle Umschlagsabbildung: depositphotos.com (@ sara_winter, @ svanhorn).
Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

Prolog

 

Die Nachricht von der Katastrophe erreichte den Ort an einem Mittwoch.

Das Leben auf dem Markplatz erwachte an diesem frühen Morgen erst langsam. Nur wenige Menschen waren unterwegs. Am Fuß des alten Kompressors, der ab 1938 in der Fabrik seinen Dienst verrichtet hatte, die einmal das Leben in Meine bestimmt hatte, pickten zwei Tauben im diesigen Licht. Die Schautafeln mit Abbildungen der alten Zuckerfabrik, die früher an diesem Platz gestanden hatte, glänzten feucht vom letzten Regenguss. Der Sommer hatte es bisher nicht gut gemeint. Noch waren fast alle Geschäfte entlang des Marktplatzes geschlossen, das Damenmodegeschäft, die Änderungsnähstube mit Reinigung, die Fahrschule. Nur in der Heidebäckerei wurde bereits ein Kunde bedient. Auf der Straßenseite gegenüber schloss eine Frau die Tür zur Sparkasse auf und verschwand unter dem modernen Glasdach ins Gebäude. Nur wenige Autos rollten auf der Hauptstraße ortsauswärts; wie immer in den Sommerferien waren viele Meiner Bürger verreist.

An den beiden Bistrotischen neben der Bäckereitheke im Minimal-Markt beugten sich drei Männer über die aufgeschlagene Tageszeitung.

Nachrichten über die Katastrophen der Welt erreichten Meine außer über Fernseh- und Radioberichte mit Hilfe der Allerzeitung, und dieses Mal führten die Ausläufer einer Katastrophe mitten hinein in das Herz des Ortes.

Ahrens, der hagerste der drei Rentner, folgte mit seinem behaarten Zeigefinger dem Text, während er laut vorlas. Mit der anderen Hand schob er immer wieder die rutschende Lesebrille zurück, deren Etui aus seiner Hemdtasche ragte.

Der weißhaarige Bode, Alterspräsident der Runde, schüttelte nach jedem Satz langsam den Kopf, die Stirn in Falten gelegt. Sein blaues Poloshirt spannte leicht über dem Bauchansatz.

Der Dritte im Bunde, Wegmeier, stützte den kahlen Kopf mit dem grauen Kinnbart mit der rechten Hand und blickte sorgenvoll mal auf die Zeitung, dann wieder auf Ahrens.

Die dunkelhaarige Verkäuferin hinter der Theke der Bäckerei spitzte die Ohren, während sie mit einer Kuchenzange die Hefeteilchen zurechtrückte. Was gab es da so Interessantes?

Ein schlaksiger junger Mann betrat den Laden, warf einen kurzen Blick auf die drei Rentner, grüßte und stellte sich vor den Bäckereistand.

„Ja, bitte?“, fragte die Verkäuferin, fast unwillig. Während sie die bestellten drei Brötchen in eine Tüte packte, drangen die Sätze, die Ahrens vorlas, nur noch bruchstückhaft an ihr Ohr.

Zeugin in einem spektakulären Mordprozess. Zeugenschutzprogramm. Sprengstoffattentat. Die Leiche der Frau wurde nicht gefunden.

Ahrens hatte den Artikel bis zum Ende vorgelesen. Bedächtig nahm er die Lesebrille von der Nase, holte das Etui aus der Tasche seines Hemdes hervor und verstaute umständlich die Brille.

Bode schüttelte abermals sein weißes Haupt. Er sah vor sich auf den Tisch und schwieg.

Nach einer Pause raffte Wegmeier sich auf. „Und du meinst, die Tote ist die Schwiegertochter vom Mühlen-Bellroth?“ Seine Stimme klang besorgt.

„Beinahe die Schwiegertochter“, sagte Ahrens und nickte langsam. „Der junge Bellroth wollte sie heiraten.“ Er fühlte zerstreut, ob sein Brillenetui an der richtigen Stelle saß.

Bode hob heftig den Kopf. „In die Luft gesprengt. Einfach so. Diese Schweine.“ Er sah dem Schlaksigen nach, der mit seiner Brötchentüte pfeifend an der Obstauslage vorbei durch die Eingangstür davonging.

Wieder schwiegen die Männer eine Weile. Dann sagte Wegmeier, heftig atmend vor Erregung: „Der Sohn vom Mühlen-Bellroth, der ist doch Kriminalpolizeibeamter. Der wird sich das doch wohl nicht gefallen lassen. Die Frau umbringen lassen, ohne die zu bestrafen, die das gemacht haben.“

Die anderen beiden nickten.

Ahrens hob die Hand und machte eine drohende Geste. „Soll ja genauso ein Hitzkopf sein wie der Alte, der junge Bellroth. Wenn das man gut geht.“

 

1

 

An diesem 15. Juli wollte der Regen nicht enden. Kriminalhauptkommissar Thomas Bellroth hockte auf dem Beifahrersitz des heruntergekommenen roten Zivilstreifenwagens und starrte hinaus auf den Parkplatz vor dem Dienstgebäude der Rostocker Polizei. Streifen- und Zivilwagen warteten auf den nächsten Einsatz. Es goss in Strömen. Der Regen prasselte auf das Wagendach und lief in langen Schlieren über die Autofenster.

Die Bilder von Sonja Schuberts Tod würden ihn niemals verlassen, obgleich er sie nur durch Schilderungen kannte. Ebenso verfolgte ihn das Konterfei ihres Mörders, und dieser Verbrecher war seit heute auf freiem Fuß.

Er wartete auf seinen Kollegen Max Hurtinger, um mit ihm zu der Haftanstalt zu fahren, aus der Alexandar Oberlinger geflohen war.

Thomas Bellroths Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Tränen stiegen ihm in die Augen. Wütend fuhr er sich mit dem Jackenärmel über das Gesicht.

Sonja war noch nicht einmal einen Monat tot, und in der vergangenen Nacht war Alexandar Oberlinger aus der Stralsunder Untersuchungshaftanstalt geflohen. Thomas Bellroth ballte die Hände, bis es schmerzte. Er würde alles daran setzen, Sonjas Mörder dingfest zu machen.

Der Wind peitschte das Regenwasser gegen die Frontscheibe.

 

Als die Männer bei der Haftanstalt anlangten, goss es noch immer. Ein Gewitterschauer jagte den nächsten. Das Wasser lief in Rinnsalen die Straßen entlang, und selbst auf den Grasflächen neben den Gehwegen bildeten sich Pfützen.

Die Männer vom Kommissariat für organisierte Kriminalität in Rostock liefen den Plattenweg entlang, der zum Eingang der Haftanstalt führte. Es war früher Vormittag. Max Hurtinger, der schlaksige Lange in Turnschuhen, hatte sich die Lederjacke zum Schutz vor dem Regen über den Kopf gezogen. Thomas Bellroth, sein schwarzes Haar war klatschnass, widerstand ungeschützt dem Wetter, die Fäuste in seinen Jackentaschen vergraben.

Der geteerte Platz vor der Haftanstalt war mit Polizeifahrzeugen wie gepflastert. In Mannschaftswagen saßen Beamte der Bereitschaftspolizei, unterhielten sich, kauten Kaugummi oder blickten gelangweilt in den Regen hinaus. Von ihrem Atem beschlugen die Scheiben. Die blau-silbernen Streifenwagen, die daneben parkten, standen von ihren Fahrern verlassen da. Blitze zuckten, Donner folgte.

Unter dem Vordach, neben der doppelflügeligen Eingangstür des Knastes, überwachten Uniformierte das Geschehen. Sie hoben die Köpfe, als das ungleiche Duo näher kam.

Bellroth und Hurtinger schüttelten das Wasser von ihren Lederjacken, zeigten den Kollegen im Einsatzanzug kurz ihre Dienstausweise und betraten das Gebäude.

In der Halle, von der aus über Stahltreppen die Zellentrakte zu erreichen waren, wimmelte es von Menschen. Schutzpolizisten und Kriminalbeamte der Tatortermittlungsgruppe sicherten Spuren; eine Kollegin im weißen Schutzanzug fotografierte die Umgebung des Leichenfundorts. Ein Wachtmeister der Anstalt war erschossen worden. Das Opfer war bereits im Leichenwagen auf dem Weg in die Gerichtsmedizin. Kollegen des toten Wachtmeisters in blauen Uniformen standen zusammen, mit betretenen Gesichtern, schweigend. Aus ihrer Mitte löste sich ein untersetzter kleiner Mann mit Halbglatze und schritt eilig auf die Neuankömmlinge zu.

Max Hurtinger begrüßte ihn: „Morgen, Herr Nitsch. Thomas, Herr Nitsch leitet dieses Gefängnis. Das hier ist Thomas Bellroth, der Leiter des Fachkommissariats für organisierte Kriminalität.“ Er wandte sich rasch ab, weil er kräftig niesen musste.

Nitsch gab Bellroth die Hand, ohne Hurtinger aus den Augen zu lassen. „Gesundheit“, sagte er.

„Danke“, antwortete Max, „Dreckwetter.“

Nitsch holte Luft. Hektisch erklärte er: „Es waren alle Vorschriften erfüllt, Herr Hurtinger. Sie kennen mich, es waren hundertprozentig alle Vorschriften erfüllt, ja, ich kann mir das alles nicht erklären, aber, wie gesagt, alle Vorschriften waren erfüllt. Ihren Kollegen vom BKA habe ich auch nichts anderes berichten können.“

„Erzählen Sie es uns trotzdem“, sagte Thomas Bellroth. Mit zusammengekniffenen Augen hatte er die Örtlichkeit vermessen, die hohe Halle mit dem Menschenauflauf, das obere Stockwerk mit den blickdurchlässigen Metallgitterböden in den Gängen, die graue Reihe der Türen, die in das Innere des Knastes führten. Den Blutfleck im Kreideumriss am Boden. Hat der Verbrecher Oberlinger also einen weiteren Menschen auf dem Gewissen, dachte er. Sein Blick fixierte Nitsch.

Der Leiter der Haftanstalt rieb sich die fleischigen kleinen Finger und sagte: „Ja, also, der Vorfall ereignete sich genau um 6 Uhr 15. Eine Gasbombe zerfetzte den hinteren Seiteneingang, vier Männer drangen ein, zwei mit Maschinengewehren bewaffnet, zwei mit Handgranaten, die Hand am Abzug. Das Schließsystem der Sicherheitstüren war außer Kraft gesetzt, von dem Toten.“

„So, von dem Toten“, erwiderte Thomas Bellroth scharf. „Konzentrieren Sie sich doch bitte auf das, was Sie sagen, wir sind nicht hier, um uns Blödsinn anzuhören.“

Max Hurtinger verschränkte die Hände hinter seinem Kopf mit dem streichholzkurzen mittelblonden Haar, atmete deutlich hörbar aus und warf einen beschwörenden Blick nach oben an die Hallendecke. „Er meint es nicht persönlich“, sagte er zu Nitsch.

„Ich muss Ihnen gar nichts sagen.“ Nitsch war beleidigt.

„Die Vorschriften waren sämtlich ...“

„Herr“, sagte Thomas Bellroth, und ob seiner Lautstärke wandten einige der Polizisten, die in der Halle ihre Arbeit verrichteten, den Kopf in seine Richtung. Ein Blonder im dunklen Anzug, der in der Gruppe der Wachtmeister stand, unterbrach sein Gespräch, taxierte Bellroth und machte sich langsam auf den Weg. Thomas beherrschte sich nur mühsam. Mit dem Finger zeigte er auf Nitsch. „Der Mann, der heute Morgen aus Ihrer Anstalt befreit wurde, ist ein Gewaltverbrecher, der verdammt noch mal niemals hätte entkommen dürfen. Es lag hundertprozentig in Ihrer Verantwortung, dafür zu sorgen. Ihre erfüllten Vorschriften können Sie sich sonst wohin stecken, sie werden Ihnen nicht das Geringste nutzen.“ Er drehte sich brüsk um und ging hinüber zu der Stelle mit dem Kreideumriss. Dort gab er der Fotografin die Hand. Hurtinger legte dem fassungslosen Nitsch kurz die Hand auf die Schulter und stiefelte dann langsam mit langen Schritten hinter Thomas Bellroth her.

„Was machen Sie denn hier für einen Aufriss?“ Der Blonde im dunklen Anzug, der trotz seiner jungen Jahre bereits schütteres Haar hatte, stellte sich zwischen die Rostocker Kommissare. Thomas warf ihm einen Blick zu, antwortete aber nicht.

„Ah“, sagte Hurtinger und zog den Laut süffisant in die Länge, „Herr Leonard! Das BKA gibt uns die Ehre.“

Leonard zog die Augenbrauen hoch und verschränkte die Arme vor der Anzugbrust. Angriffslustig schob er sein Kinn nach vorn.

„Schon gut“, beschwichtigte ihn Hurtinger mit erhobenen Händen, „Sie müssen meinen Kollegen verstehen.“ Er senkte die Stimme. „Sie wissen doch, Alexandar Oberlinger, der Mann, dem hier heute zur Flucht verholfen wurde, hat mit einiger Sicherheit Bellroths Frau ermorden lassen. Ist doch klar, dass seine Nerven blank liegen.“

„Seine Frau? Verstehe ich nicht. Soweit ich weiß, war Sonja Schubert die Frau dieses Gangsters, Dimitri Groschow, der erschossen wurde. Stimmt doch, oder?“ Er hatte betont laut gesprochen.

Jetzt drehte Thomas Bellroth sich um. „Ist ja phantastisch! Wie gut Sie Bescheid wissen! Beeindruckend, wirklich. Noch mehr würde es mich allerdings beeindrucken, wenn es in diesem Land möglich wäre, Schwerverbrecher so zu verwahren, dass gefährliche Ärgernisse wie diese Befreiung nicht passieren können!“ Er ließ Leonard und Hurtinger stehen. Im Gehen schüttelte er heftig den Kopf und strich sich anschließend mit beiden Händen die nassen welligen schwarzen Haare glatt. Ohne den Anstaltsleiter Nitsch eines Blickes zu würdigen, verließ Thomas Bellroth das Gefängnis. Unbeeindruckt vom immer noch dicht vom Himmel fallenden Regen stellte er sich etliche Meter vom Gebäude entfernt hin, die Hände in den Taschen, und betrachtete aus der Ferne die zerfetzte Tür des Nebeneingangs. Kollegen der Spurensicherung hatten ein provisorisches Dach aus einer Kunststoffplane gefertigt und pinselten, sammelten ein, fotografierten.

Max stellte sich neben Thomas und folgte seinem Blick. Seine abgetragenen Turnschuhe waren völlig durchweicht. „Was denkst du?“, fragte er.

„Ich denke, dass diejenigen recht zu haben scheinen, die behauptet haben, Alexandar Oberlinger würde nicht für Sonjas Tod bezahlen müssen. Ich denke außerdem, dass ich das nicht zulassen werde.“

„Was, das?“ Max sah Thomas nicht an.

„Dass dieses Schwein dafür nicht bezahlt, Max.“ Thomas’ Stimme klang gefährlich leise.

„Gangster von der Brisanz Oberlingers gehen uns nichts an, die sind Sache des BKAs“, sagte Hurtinger. „Mensch, Thomas, das weißt du doch selbst ganz genau. Die Jagd auf die großen Köpfe organisierter Banden behalten sich die Bundeshäscher vor. Wie willst du das denn umgehen?“

Thomas schüttelte den Kopf. „Ich weiß es noch nicht. Aber ich werde nicht mehr aufhören, darüber nachzudenken.“

Er verriet Max nicht, wie konkret er bereits darüber nachgedacht hatte.

Mittlerweile waren sie bei ihrem Fahrzeug angelangt. Von ihren Jacken tropfte das Wasser. Thomas ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Während der Rückfahrt starrte er schweigend hinaus auf die Straße.

Auf dem Parkplatz der Polizeidirektion sagte Thomas Bellroth: „Ich habe etwas vergessen, muss noch einmal los.“ Er stieg aus, ging um den Wagen herum und wartete, bis Hurtinger ausgestiegen war. Der gab ihm den Schlüssel, sah ihn nachdenklich an und sagte: „Dann bis später.“

Thomas nickte und setzte sich auf den Fahrersitz. Er sah Hurtinger nach, der im Dienstgebäude verschwand, und dachte weiter nach, ohne auf das Trommeln des Regens auf das Autodach zu achten. Dann fühlte er, ob seine Dienstwaffe an ihrem Platz im Gürtelhalfter steckte, startete den Passat und fuhr davon. Er wusste jetzt genau, was zu tun war, und die möglichen Konsequenzen waren im völlig einerlei.

2

 

Während der Autofahrt dachte Thomas über Alexandar Oberlinger nach. Er zwang sich, Klarheit in seine Gedanken zu bringen. Der Kerl war der Kopf einer russischen Mafiafamilie. Die Gangster der Katganja-Familie hatten Menschen in Köln, Kiel, Rostock und in Weißrussland erpresst und terrorisiert. Sonja Schubert, die Frau, die Thomas Bellroth hatte heiraten wollen, war ihnen in die Quere gekommen und hatte dafür bei einem Sprengstoffanschlag mit ihrem Leben bezahlt.

Eine russische Mafiafamilie war niemals unangefochten die Nummer Eins. Immer gab es andere Clans, die an die Macht wollten. Der Boss der Verbindung, die Alexandar Oberlinger stürzen wollte, war von Oberlinger erschossen worden. Dafür war Oberlinger in den Knast gekommen, nicht für den Mord an Sonja Schubert. Aber ungeachtet des gewaltsamen Todes ihres Paten gab die verfeindete Mafiafamilie keine Ruhe, im Gegenteil. Seit Oberlingers Verhaftung spielte sich der Sohn des ermordeten Bosses auf, als hätte er die Katganja-Familie bereits persönlich in der Hierarchie degradiert.

Thomas Bellroth wusste genau, wo er das Großmaul finden würde. Es gab in und um Rostock Dreckecken, die als Gangsterdomizil in jedes Klischee passten. Dort residierte Don Großmaul nicht. Er wohnte fünfzehn Kilometer von Rostock entfernt vor dem Dorf Kirschhagen in einer Villa. Mit der gelb gestrichenen Fassade, dem ornamentverzierten Eingangsportal und den baumbestandenen Rasenflächen erinnerte es an ein Schloss. Das Haus war in schlechtem Zustand, stellenweise war der Putz von den Wänden gefallen, der Anstrich verblasst.

Thomas parkte den Zivilstreifenwagen so, dass er vom Haus aus nicht zu erkennen war. Überraschenderweise hatte der Regen aufgehört. Durch graue Wolkenfetzen hindurch waren am Himmel sogar lichtblaue Stellen zu sehen. Über sein Handy meldete er sich bei Hurtinger.

„Max? Ich bin in Kirschhagen, unweit der Pommdorf-Villa.“

„Oberlinger?“, tönte es aus den winzigen Hörschlitzen zurück.

„Ja, ich denke, er ist hier“, sagte Thomas.

„Dann vergiss es, Thomas. Allein kannst du nicht da rein.“

Thomas beobachtete die Auffahrt, die zum Haus führte. „Er wird nicht warten, bis wir uns versammelt haben. Wenn du in dreißig Minuten nichts von mir gehört hast, trommele die Mannschaft zusammen und komm hierher.“

Thomas drückte die rote Taste seines Mobiltelefons und unterbrach das Gespräch. Er verließ den Wagen und machte sich auf den Weg. Unweit von seinem Parkplatz stand eine mit Efeu bewachsene, bröckelnde Mauer. Er schob eine rostige Tür auf und wusste, dass sie sich nicht mehr verschließen lassen würde. Sie sperrte sich und ächzte in den Scharnieren. Nach einiger Anstrengung konnte er sich durch die Öffnung zwängen und gelangte auf das Grundstück. Zwischen uralten Bäumen und Buchsbaumhecken schlich er auf Umwegen zu der alten Villa, umkreiste sie und stieg durch ein Kellerfenster ein, dem das Gitter fehlte. Unten angekommen, klopfte er sich mechanisch den Staub von der Kleidung. Die Haut seiner Hände fühlte sich so trocken an wie seine Kehle, doch hier unten roch es schimmelig und ungesund feucht. Thomas war das Gebäude nicht fremd. Ein Mordfall hatte ihn vor Jahren hierher geführt. Damals hieß der Besitzer noch Pommdorf, und in Rostock gab es zwar Russen, aber nicht die Mafia.

Thomas kannte hier immer noch jeden Raum, jeden Verbindungsgang und jedes Versteck. Er schlich ins Erdgeschoss, vorsichtig an der Wand entlang den Korridor hinunter und hielt inne, als er hinter einer Tür Stimmen hörte.

Das Großmaul hatte Besuch. Seine dünne Stimme wechselte sich ab mit einer dunklen, sonoren, die Thomas kannte, und die er hasste.

Thomas wartete. Es roch muffig im Haus, die Luft war drückend, wohl wegen des nicht enden wollenden Regens. Thomas begann zu schwitzen. Er lehnte versteckt an einem Mauerpfeiler und spürte sein Herz gegen den Brustkorb schlagen. Sein Puls jagte. Jede Sehne seines Körpers war gespannt. Wenn die Russen ihn aufspürten, würde niemand ihn je wiedersehen, tot nicht und schon gar nicht lebendig.

Eine Tür wurde geöffnet. Schritte näherten sich. Thomas verbot es sich, zu atmen. Er presste sich gegen den abweisend kühlen Marmor des Pfeilers.

Als sich die Schritte entfernten, wagte Thomas einen Blick in die Richtung, aus der sie zu vernehmen waren. Thomas sah, wie Don Großmaul eilig eine Treppe hinaufstieg, die ins nächste Stockwerk führte. Seine Absätze hallten auf den Steinstufen wider.

Mit zwei Sprüngen war Thomas Bellroth in dem Zimmer, dessen Tür weit offen stand, in der Hand die P 9, entsichert.

„Oberlinger!“ Er schrie, ohne es zu wollen.

Der Pate drehte sich zu ihm um. Noch im Umdrehen fasste er unter sein Jackett. Thomas war schneller. Er schoss. Einmal. Die Scheiben im Schrank klirrten noch, als der Mann bereits bewegungslos am Boden lag.

Vom Flur waren Schritte zu hören. Thomas wandte den Blick von Oberlinger. Das Geräusch eilig herannahender Schuhe verursachte einen kurzen scharfen Schmerz hinter seiner rechten Schläfe. Das waren mehr als zwei Männer, drei, vier, schätzte Thomas. Schon im Laufen steckte er die Pistole zurück ins Halfter. Er hastete zur Terrassentür, hebelte gewaltsam den uralten klemmenden Griff auf und rannte hinaus in den Garten.

Es hatte erneut zu regnen begonnen. Thomas rutschte mehr als er lief das abschüssige Gelände hinunter. In seinem Kopf hämmerte es. Er sah sich nicht um, bis er die Grundstücksgrenze erreicht hatte, die rostige Tür in dem Mauerrest, und ins Freie glitt. Niemand war ihm gefolgt.

Obwohl die ganze Aktion weniger als dreißig Minuten gedauert hatte, waren die Kollegen bereits da. Hurtinger sprang aus dem blauen Daimler des Sondereinsatzkommandos und lief auf seinen langen Stelzen auf Thomas zu.

„Bist du in Ordnung? Die Scharfschützen werden gleich postiert“, sagte er aufgeregt.

Thomas stöhnte leise auf, außer Atem, und zeigte mit dem Kopf auf die Villa. Er winkte ab. „Ihr braucht euch nicht zu überschlagen. Oberlinger ist kampfunfähig. Holt einen Arzt. Die anderen Ratten haben das Nest sicherlich bereits verlassen.“

„Wie viele waren es?“ Max Hurtinger hatte längst das Funkgerät am Ohr, um einen Notarzt anzufordern.

„Einen habe ich gesehen, zwei bis vier andere nur gehört.“ Thomas sah die Straße hinunter. Blaulicht fackelte heran.

Die Mannschaftswagen der Bereitschaftspolizei rückten an, Scharfschützen, Sondereinsatzkräfte. In wenigen Minuten würde es hier aussehen wie in einem militärischen Heerlager. Menschen in Kampfanzügen mit übergestülpten Masken, die scharfen Tiere der Diensthundführer. Thomas wandte sich ab. Er musste weg von hier, nachdenken, irgendwo, wo es keine Polizei gab und keine Verbrecher. Im Moment wusste er nicht einmal mehr, zu welcher Kategorie er gerade gehörte. Er hatte absichtlich auf Oberlingers Herz gezielt. Aus Rache für den Tod der Frau, die er geliebt hatte. Er hatte ein Verbrechen begangen, aus niederen Motiven. Notwehr? Nein. Er hätte auch geschossen, wenn Oberlinger nicht unter sein Jackett gegriffen hätte. Und er hoffte in diesem Moment eiskalt und gleichzeitig voller Inbrunst, dass Oberlinger tot war.

 

Später saß er in seinem mit einem Parkettboden ausgelegten Wohnzimmer, auf dem seine Ledermöbel standen, seine Schränke, Regale, Topfpflanzen und ein Medienschrank für die Stereoanlage und den Fernseher. Er starrte auf den Apparat. Angespannt verfolgte er, was der Sprecher vom Blatt las. Bis zum letzten Ton wartete er, dann schaltete er den Kasten aus. Nichts. Keine Meldung über den Tod des Mafiapaten in den Nachrichten.

Sein Magen war wie verschnürt. Obwohl Thomas seit dem Morgen nichts mehr gegessen hatte, konnte er nichts hinunterbringen, weder Essen noch Trinken. Er versuchte, das Gefühlschaos aus Verzweiflung und Genugtuung zu verstehen.

Sonjas Gesicht. Wie hatte es ausgesehen, wenn sie mit ihm zufrieden war? Er versuchte, sich ihre Züge vorzustellen. Es gelang ihm nicht. Er wertete diesen Misserfolg als Strafe, als erste von vielleicht vielen, die folgen würden.

Er hätte den Tatort nicht verlassen dürfen. Dennoch. Lächerlich war dieses dienstliche Vergehen gegen das, was zuvor in der Villa geschehen war. Oberlingers erstauntes Gesicht. Sein Griff in das Jackett. Das dumpfe Geräusch, mit dem er zu Boden sackte. Der gepresste Rückstoß der Dienstwaffe beim Schuss. Thomas rieb sich gedankenverloren die Hand. Oberlingers Visage stand deutlich vor ihm. Sie verdrängte die dünne Erinnerung an Sonjas feine Züge völlig.

Thomas sprang auf. Er musste wissen, was mit Oberlinger geschehen war, ob er gestorben war.

In dem alten roten Zivilwagen kreischte es aus dem Funk nach ihm. Er stellte das Gerät auf die Sendefrequenz ein. „Ich bin in wenigen Minuten im Dienstgebäude“, hörte er sich sagen. Seine Stimme klang ihm fremd.

 

Den Einsatz- und Besprechungsraum des Fachkommissariats für Brand- und Kapitaldelikte kannte Thomas noch aus seiner Zeit in diesem Kommissariat in- und auswendig. Sogar die abgestandene Luft war noch dieselbe. Ebenso die mit Kaffeeflecken verunzierten Holztische, die unbequemen Stühle. Wände waren mit Straßenkarten tapeziert. Telefone und Funkgeräte standen in Regalen und auf den Tischen hochauflösende Computermonitore. Neuerdings hing ein Beamer unter der Decke, um bei Bedarf die Computerbilder an die Wand zu projizieren.

Im Raum drängten sich die Kollegen, der Lärmpegel war hoch. Max Hurtinger kam auf Thomas Bellroth zu und gab ihm die Hand. Es wurde schlagartig still im Raum. Wundrack, der Leiter der Kriminalpolizei, guckte so düster, wie sein Vollbart schwarz war. Die letzten Wortfetzen hatte Thomas noch gehört. Es war um die Pistole gegangen.

„Wenn ihr nach der Tatwaffe sucht – hier ist sie.“ Thomas legte seine P 9 auf einen der Tische.

Wundrack richtete sich auf. „Sie haben also auf Oberlinger geschossen.“ Er sah Thomas an. „War es Notwehr?“

Thomas holte Luft. „Ich habe“, begann er, doch Max Hurtinger unterbrach ihn, indem er ihm den langen Arm vor die Brust hielt. „Sag nichts, Thomas. Herr Wundrack, ich finde es absolut nicht richtig, wenn Sie Herrn Bellroth ... ich meine, so zwischen Tür und Angel sollte er keine Fragen beantworten müssen.“

Wundrack sah ihn strafend an, Thomas ebenfalls. Hurtinger sagte langsam und nachdrücklich: „Es ist hier nicht der richtige Ort und der richtige Zeitpunkt, um einen Kollegen ...“, er stockte und ließ die Arme sinken. „… zu vernehmen“, rief der schütter-rothaarige Simon aus dem Hintergrund und steckte seine kalte Tabakspfeife von der rechten in die linke Mundhälfte. Er feixte. Simon und Bellroth hatten sich noch nie leiden können.

Thomas sah von einem zum anderen. „Noch eine Frage: Was ist mit Oberlinger? Ist er tot?“

„Du meinst, du willst wissen, ob du ihn erschossen hast?“, fragte Simon. Ein unwilliges Raunen ging durch die Menge.

„Halt’s Maul“, rief einer.

„Ist ja gut.“ Simon verließ grinsend den Raum und steckte sich im Hinausgehen die Pfeife an.

„Oberlinger ist noch am Tatort verstorben“, sagte Max Hurtinger. Es war plötzlich totenstill im Raum. Die Männer, die um die Tische herumstanden, warteten, wie Thomas reagieren würde.

Thomas schwieg. Seine Kiefer mahlten. An seiner Schläfe schwoll eine Ader an. Schnell trat Hurtinger auf ihn zu. „Ich glaube, du brauchst einen Arzt, Beruhigungsspritze oder so. Ich bring dich hin.“ Er zog Thomas am Arm hinter sich her. Unwillig befreite sich Thomas aus Hurtingers Griff, folgte ihm aber widerspruchslos. Er fühlte sich momentan nicht mehr in der Lage, selbständig zu denken oder zu handeln. Er triumphierte, doch der Triumph brachte ihn aus dem Gleichgewicht.

„Morgen früh!“, rief Wundrack den beiden nach. „Um neun, Herr Bellroth. In meinem Büro!“ Wie durch Watte drangen die Worte in Thomas’ Bewusstsein.

Am Horizont zog die Dunkelheit herauf, nur schwer von den aufgedunsenen Schlechtwetterwolken zu unterscheiden. Es regnete, wie es am Morgen geregnet hatte, es goss wie aus Eimern. Die Männer beeilten sich, ins Trockene zu kommen. Hurtinger fuhr einen uralten Volvo Amazon. Das Auto war schwarz lackiert. An beiden vorderen Kotflügeln loderten rote und gelbe Flammen, Feuer aus der Spraydose.

„Bist du mit dem Vorsatz in die Villa gefahren, Oberlinger umzubringen?“, fragte Max, nachdem die Männer eine Weile geschwiegen hatten. Die Straßen Rostocks glänzten im Scheinwerferlicht.

„Ich weiß es nicht, Max.“ Thomas fuhr sich mit beiden Händen durchs Gesicht. „Ich weiß es nicht oder ich will es nicht wissen.“

„Hat er dich bedroht?“ Das Rotlicht einer Ampel überraschte Hurtinger. Er musste heftig bremsen.

„Was ist los, Thomas?“, fragte er. „Sonst regst du dich doch immer über meine Fahrweise auf. Du brauchst doch nicht wirklich einen Arzt?“ Er sah Thomas an. Der Freund gefiel ihm nicht, ganz und gar nicht. Dann fragte er: „Hat er dich nun bedroht oder hat er nicht?“

Thomas antwortete, als wäre er in Gedanken sehr weit weg gewesen. „Was? Ach so, ja. Ich dachte, er würde eine Waffe ziehen, und habe sofort geschossen. Aber das ist nicht wichtig. Wahrscheinlich hätte ich auch abgedrückt, wenn er mir einfach nur sein Gesicht gezeigt hätte.“

Hurtinger sagte fassungslos: „Nicht wichtig? Bist du durchgedreht? Denk nach! Es war Notwehr, selbstverständlich war es Notwehr, hat du mich verstanden? Oder willst du deinen Job an den Nagel hängen?“

„Ich wollte, dass Oberlinger bestraft wird. Gerichte schaffen so etwas offensichtlich nicht“, sagte Thomas betont ruhig. Hurtinger sah ihn an, als würde er die Welt nicht mehr verstehen. „Thomas, wenn du morgen so argumentierst, während Wundrack dir zuhört, bist du die längste Zeit Polizist gewesen! Hallo, Thomas, kannst du mich verstehen? Oberlinger hat dich bedroht, dann hast du auf ihn geschossen, aber natürlich mit Überlegung. Gezielt hast du so, dass er dabei nicht ums Leben kommen konnte!“

„Das stimmt nicht, Max. Ich habe auf sein Herz gezielt.“

„Die Situation! Dir sind die Nerven durchgeknallt!“

Nein, wollte Thomas sagen, ich habe geschossen wie ein Killer, der einen Auftragsmord zu erledigen hat.

Aber er schwieg. Hurtinger machte sich Sorgen um ihn. Wahrscheinlich sogar zu Recht. Warum sollte er ihn noch mehr aufregen? Thomas rieb sich mit dem Handrücken über die Augen. Er hatte das Gefühl, alles überscharf zu sehen, wie unter einer Lupe. An der Schläfe spürte er ein Stechen, das er nicht kannte. Er kniff die Augen zusammen.

Max war wieder angefahren. „Du schläfst heute Nacht bei mir“, sagte er. Es sollte autoritär klingen, doch es gelang ihm nicht. „Thomas, reiß doch die Zähne auseinander. Friss den Mist nicht in dich rein.“

Thomas Bellroth fehlte plötzlich jede Kraft. Zum Reden, zum überhaupt auf der Welt zu sein. Er ertrug diesen Globus nicht mehr, und auch nicht Max’ besorgten Blick. Sein Mitgefühl machte Thomas krank, und er war gleichzeitig ärgerlich, weil diese Einstellung ungerecht Max gegenüber war.

„Fahr mich nach Haus“, sagte Thomas.

Max kannte diesen Ton in der Stimme des Freundes, Kollegen, Vorgesetzten. Ohne noch ein Wort zu verlieren, setzte er ihn in Reutershagen ab.

„Morgen um neun bin ich im Dienstgebäude“, sagte Thomas und schlug die Tür des Volvos zu. Er registrierte, dass Max wartete, bis er das Haus erreicht hatte. Ohne sich umzudrehen, verschwand er im Hausflur. In seiner Wohnung riss er die Badezimmertür auf, schlug den Toilettendeckel hoch und kotzte sich angewidert die Galle aus dem Leib.