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Über die Autorinnen

Karen Witemeyer liebt historische Romane mit Happy End-Garantie und einer überzeugenden christlichen Botschaft. Nach dem Studium der Psychologie begann sie selbst mit dem Schreiben. Zusammen mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebt sie in Texas, USA.

Regina Jennings hat Englisch und Geschichte studiert. Sie lebt mit ihrem Ehemann und den vier gemeinsamen Kindern in der Nähe von Oklahoma City, USA. Mehr über die Autorin: www.reginajennings.com.

Mary Connealy liebt romantische Geschichten, die mit einer Prise Humor versehen sind. Sie lebt mit ihrem Mann auf einer Ranch in Nebraska in den USA, was ihren Faible für Cowboygeschichten erklärt. Sie finden mehr über die Autorin unter www.maryconnealy.com.

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Kapitel 1

Mit der Geschicklichkeit eines Pumas kletterte Dead-Eye Dan auf die hohe Eiche. Mühsam und mit zusammengebissenen Zähnen hangelte er sich am Baumstamm nach oben. Sein Blick hing an der Astgabel über ihm. Er hatte nur diese eine Chance, seine Beute aufzuhalten. Nur diese eine Gelegenheit, den Sieg davonzutragen – er wird sie nicht verpassen.

Als er den Ast, den er im Blick hatte, erreichte, ließ sich Dan in der Astgabel nieder und stemmte die Beine gegen den dicken Stamm. In einer schnellen Bewegung zog er seine langläufige Remington-Flinte aus dem Holster auf seinem Rücken und klappte mit einem Schnippen des Daumens den Sucher hoch. Der Gewehrkolben aus Walnuss schmiegte sich an seine Schulter, als wäre er ein Teil seines Körpers.

Dan beugte sich vor, stützte den Gewehrlauf auf dem Ast vor sich ab und nahm sein Ziel ins Visier. Vier Pferde in etwa 750 Meter Entfernung. Vier Diebe und ein Mädchen. Sein Mädchen. Die Banditen hatten sie mitgenommen, als sie aus der Bank stürmten. Sie sollte ihr Schutzschild sein und ihn in Schach halten. Ein tödlicher Irrtum. Denn in dem Augenblick, in dem sie Hand an Mary Ellen Watkins legten, hatten sie ihre Todesurteile unterschrieben.

aus „Dead-Eye Dan und die Schurken aus dem Teufelscanyon“

Freestone County, Texas
Frühling 1892

Ganz vertieft in den Roman in ihrer Hand knabberte Marietta Hawkins an ihrer Unterlippe und wühlte sich noch tiefer in den Heuhaufen vor dem Fenster des Heubodens. Sie wusste, dass sie sich beim Lesen Zeit nehmen und die Geschichte mehr genießen sollte, denn auf dem Buchdeckel wurde sie als das letzte Abenteuer von Dead-Eye Dan angepriesen. Aber das war unmöglich. Sie musste unbedingt wissen, wie es weiterging. Einem Nimmersatt gleich verschlang sie ungeduldig eine Seite nach der anderen und konnte es kaum erwarten, weitere Heldentaten des Revolverhelden mitzuerleben. Gleichzeitig wünschte sie sich jedoch, der Roman würde nie zum Ende kommen. Denn die Wahrheit war, dass sie sich in Dead-Eye Dan verliebt hatte.

Oh, nicht auf diese schwärmerische Art der Liebe, wie sie auf den Seiten ihres neusten Groschenromans beschrieben war. Nein, sie liebte den Mann aus Fleisch und Blut, der diese Geschichten inspiriert hatte – Daniel Barrett, den ehemaligen Kopfgeldjäger und jetzigen Vormann auf Hawk’s Haven, der Ranch ihres Vaters.

Leise Männerstimmen drangen zu Marietta herauf, aber sie ignorierte sie. Die Geschichte war zu spannend, als dass es sie interessierte, worüber die Männer ihres Vaters redeten. Dies war der erste Roman, in dem Dead-Eye Dan Interesse an der Liebe zeigte, und die fiktive Frau in der Geschichte erfüllte Mariettas Herz mit Hoffnung. Wenn Dead-Eye Dan, der skrupellose Kopfgeldjäger, sich verlieben konnte, dann wäre das doch sicher auch eine Möglichkeit für Daniel Barrett, den hart arbeitenden Vormann der Ranch ihres Vaters, oder?

Die Stimmen wurden lauter, und sie konnte jetzt verstehen, was gesagt wurde. Es war unmöglich, sie auszublenden. Sie erkannte ihren Vater und … Daniel!

Marietta klappte ihr Buch zu und schob es ins Heu. Daniel Barrett würde sich bestimmt darüber ärgern, wenn er sie dabei ertappte, dass sie solches Gewäsch, wie er es nannte, las. Er verabscheute diese Romane. Er verabscheute sie, weil darin die Gewalt, die sein früheres Leben bestimmt hatte, verherrlicht wurde. Sie enthielten nichts als Übertreibungen und ausgemachte Lügen. Und sollte jemand es wagen, ihn Dead-Eye Dan zu nennen … nun, derjenige würde sehr schnell merken, was er, Daniel, davon hielt. Nur Lily Dorchester, die Adoptivtochter von Daniels früherem Partner Stone Hammond, war einmal ohne Konsequenzen damit davongekommen. Sie war damals erst neun Jahre alt gewesen und unglaublich niedlich. Wie sie zu Daniel aufgeblickt hatte, als wäre er ihr Held.

Die Erinnerung daran zauberte ein Lächeln auf Mariettas Gesicht. Doch dann riss sie das Gespräch unterhalb des Heubodenfensters aus ihren Tagträumen.

„Es wird höchste Zeit für mich weiterzuziehen, Jonah. In der vergangenen Woche habe ich die alte Thompkins-Farm am Ortsrand von Steward’s Mill gekauft. Dort gibt es Wasser und jede Menge gutes Weideland für meine Maultiere. Außerdem sind die Nebengebäude sehr robust. Das Haus ist zwar nicht besonders groß, aber für mich wird es reichen.“

Marietta erstarrte. Eine lange Minute setzte sogar ihr Herzschlag aus. Aber wie sollte es auch schlagen, wenn es kurz davor war zu zerspringen?

„Ich lasse dich nur ungern ziehen, Daniel“, antwortete ihr Vater, für Mariettas Geschmack viel zu wenig ablehnend.

Zwinge ihn zu bleiben, Daddy. Du bist sein Boss. Sag ihm, dass er nicht gehen kann. Noch nicht. Ich brauche mehr Zeit!

Der tiefe Seufzer ihres Vaters zerschlug den kleinen Hoffnungsschimmer, der in ihr geschlummert hatte. Er würde nachgeben und nichts dagegen unternehmen. „Du bist der beste Vormann, den ich je gehabt habe, Junge. Ohne dich wird die Double H nicht mehr dieselbe sein.“

Marietta schloss die Augen. Das Schicksal klopfte an die Tür ihrer Träume – ein entsetzliches Geräusch.

„Ramirez kann meinen Platz einnehmen. Die Männer respektieren ihn. Er wird ein guter Vormann sein.“ Daniel sprach seine Empfehlung aus, ohne seinen eigenen Wert hervorzuheben. Aber so war er eben. Bescheiden. Ein guter Arbeiter. Niemals auf Lob aus. Zufriedenheit fand er darin, dass er seine Arbeit gewissenhaft erledigte.

Na ja, in einer Angelegenheit hatte er seinen Job nicht gut gemacht. Sozusagen überhaupt nicht. Marietta wartete nun schon seit drei Jahren darauf, dass er ihr seine Gefühle gestand. Drei Jahre, in denen sie immer wieder einmal ein verheißungsvolles Aufleuchten seiner Augen bemerkt hatte, woraufhin er sich aber sofort wieder abgewandt hatte. Drei Jahre, in denen sie ihm geduldig immer wieder gezeigt hatte, was für eine gute Ranchersfrau sie wäre. Und jetzt wollte er weggehen?

Marietta rutschte ein Stück vor und blickte durch das Dachfenster auf die unten stehenden Männer. Ihr Vater, von großer und stämmiger Statur, die ergrauten Haare verborgen unter seinem Stetson, streckte seinem Vormann die Hand hin. Daniel Barrett unfasste sie fest, und die Entschlossenheit in seinem Gesicht machte Marietta wütend. Die Stärke ihres Zorns verblüffte selbst sie.

Wie konnte er das tun? Sie wusste doch, dass er sie mochte. Zumindest ein wenig. Wenn ihr Vater nicht in der Nähe war, ließ Dan sie keine Sekunde aus den Augen. Er beobachtete sie wie ein Habicht und schimpfte sie aus, wenn sie etwas tat, das auch nur ansatzweise gefährlich sein könnte. Das war doch ein Beweis dafür, dass sie ihm wichtig war. Oder etwa nicht?

Sie hatte seinen übertriebenen Beschützerinstinkt hingenommen, obwohl sie ihn manchmal als regelrecht erdrückend empfand. Er behandelte sie wie eine Porzellanpuppe auf einem Regal, die nur bewundert werden durfte, aber nicht zum Spielen gedacht war. Doch Marietta wollte nicht aus der Ferne bewundert werden. Sie wollte berührt werden – gehalten, umarmt, und zwar von ihm. Aber sie wollte auch nicht den Eindruck einer trotzigen Kratzbürste erwecken. Darum nahm sie seine Anweisungen hin – nun, zumindest die meisten –, während sie ihm gleichzeitig ihre Talente vorführte. Zum Beispiel, wie man einen Haushalt führte.

Sie kochte seine Lieblingsgerichte und verarztete die Verletzungen der Männer. Sie sattelte ihr Pferd selbst und ritt so gut, dass nur wenige Frauen mit ihr mithalten konnten. Sie wollte ihm zeigen, wie viel sie als Gefährtin, als Partnerin wert war. Doch er hielt nach wie vor Abstand zu ihr. Vermutlich war der Grund dafür der Grundsatz ihres Vaters, dass seine Angestellten sich von seiner Tochter fernhalten sollten. Aber vielleicht war es ja gar nicht diese Regel, die Daniel davon abgehalten hatte, sich ihr zu erklären? Vielleicht war sie für ihn nichts weiter als eine lästige Pflicht?

„Die Thompkins-Farm ist ein gutes Fleckchen Land“, sagte ihr Vater gerade. „Wenn du näher an der Stadt wohnst, kannst du bei dem wachsenden Interesse an deinen Maultieren den Kontakt zu deinen Käufern besser halten. Ich habe gehört, dass eine Frachtfirma aus Tennessee an deinen Tieren interessiert ist. Das ist beeindruckend, Junge.“ Er klopfte Daniel anerkennend auf die Schulter. Der Stolz auf seinen Vormann war nicht zu übersehen. „Ich wusste schon immer, dass du eine besondere Gabe im Umgang mit diesen störrischen Lebewesen hast, aber dein Ruf hat sich scheinbar weiter verbreitet, als ich zunächst gedacht habe.“

Daniel senkte den Blick. Ein Kompliment entgegenzunehmen, fiel ihm schwer. Er nahm seinen Hut ab und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. Die Sonnenstrahlen fingen sich in seinen Haaren und verwandelten seine glänzende, kastanienbraune Haarpracht in ein Bett von rot glühenden Kohlen.

Marietta saugte den Anblick in sich auf. Sie liebte seine dichten Haare. Die widerspenstigen Locken ließen auf eine gewisse Wildheit unter seiner ach so kontrollierten Oberfläche schließen. Eine Wildheit, die in ihrer Gegenwart nur wenige Male zum Vorschein gekommen war. Aber das reichte ihr schon, denn sie verschloss diese Erinnerungen in ihrer Brust als Beweis dafür, dass sie ihm nicht gleichgültig war. Nein, sie war für ihn nicht nur eine lästige Pflicht, sondern viel mehr. Das musste sie ihm nur klarmachen, bevor er von ihr fortging.

6

Daniel Barrett setzte seinen ziemlich ramponierten Hut wieder auf den Kopf und kratzte seinen kurz geschnittenen Bart. Das Gespräch war schwieriger gewesen, als er erwartet hatte. Jonah Hawkins war ein guter Mann. Ein guter Boss. Dans Vergangenheit als Kopfgeldjäger hatte ihn nicht interessiert. Jonah hatte ihm den Job gegeben, weil er ein gutes Händchen für Tiere hatte, nicht weil er mit einem Gewehr umgehen konnte. Von hier wegzugehen, war beinahe einem Verrat gleich. Es war, als würde er das Vertrauen seines Chefs missbrauchen. Aber der Zeitpunkt war gekommen. Er musste endlich sein eigener Herr werden, sich seine eigene Ranch aufbauen.

Hawkins hatte ihm zwar gestattet, in seiner Freizeit auf der Double H seine Maultiere zu trainieren, aber er musste sich voll und ganz auf sein Geschäft konzentrieren, wenn er die wachsende Nachfrage bedienen wollte. Sosehr er die Arbeit auf Hawks Haven auch lieben gelernt hatte, die Männer, die Tag für Tag mit ihm zusammenarbeiteten, und andere … äh … Aspekte auf der Ranch, die er lieber nicht benennen wollte, jetzt war die Zeit gekommen, Abschied zu nehmen.

„Ich habe Ramirez gesagt, dass er in der nächsten Woche den Viehtrieb anführen soll“, erklärte Dan und lenkte damit das Gespräch geschickt von seinem Erfolg bei der Ausbildung der Maultiere ab. „Er kennt die Routen genauso gut wie ich, und ich traue ihm zu, dass er die Männer unter Kontrolle hat. Außerdem kann er seine Fähigkeiten besser unter Beweis stellen, wenn ich nicht mit dabei bin.“

Jonah warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. „Du willst also nicht mitreiten? Seit du vor fünf Jahren zu uns gekommen bist, hast du nicht einen einzigen Viehtrieb versäumt.“

Dan zuckte die Achseln. „Während ihr unterwegs seid, habe ich die Gelegenheit, mein Vieh auf die neue Farm zu bringen, und kann dafür sorgen, dass hier alles in bestem Zustand ist, bevor ich gehe.“ Und er hätte die Chance, sich von einer zierlichen Brünetten mit großen braunen Augen unbemerkt davonzuschleichen. Allein ihr Lächeln war in der Lage, seine Meinung zu ändern, falls es die Gelegenheit dazu bekäme.

Marietta verbrachte die beiden Wochen des Viehtriebs im Frühling immer bei ihrer Tante Ada in Richland. Hier wegzugehen, wäre schon schwer genug. Von Etta Abschied zu nehmen, wäre beinahe unmöglich. Sie würde kein Verständnis für seine Beweggründe zeigen. Na ja, dass er sich eine eigene Existenz aufbauen wollte, würde sie verstehen, schließlich war sie die Tochter eines Ranchers. Aber den eigentlichen Grund konnte er weder ihr noch ihrem Vater gegenüber offenbaren. Diesen Grund musste er unbedingt geheim halten.

Jonah Hawkins seufzte tief und klopfte Dan erneut auf die Schulter. „Nun, ich kenne niemanden, dem ich während meiner Abwesenheit die Verantwortung für Hawks Haven lieber anvertrauen würde. Und ich bestehe darauf, dass du dir die Zeit nimmst, die du brauchst, um dich auf deiner neuen Farm einzurichten.“ Er zwinkerte ihm zu. „Solange du die besten deiner neusten Maultierzüchtung für mich reservierst. Ich habe ein Auge auf diesen langbeinigen Grauen geworfen. Mir gefällt seine breite Brust.“

„Stormy.“ Dan nickte. „Seine Mutter war ein Zugtier. Er wird doppelt so viel tragen können wie die kleineren Maultiere. Allerdings ist er ein störrischer Kerl. Er muss noch lernen, die Last widerstandslos zu akzeptieren.“

„Du wirst ihn schon zurechtpeitschen“, neckte Jonah ihn lachend. Beide wussten, dass für Dan bei den Tieren die Peitsche tabu war. Vertrauen, Wiederholung und geduldige Kommunikation waren die Grundlagen seiner Ausbildung. Bei ihm dauerte die Ausbildung eines Pferdes oder Frachttiers länger, aber die Qualität der Tiere ließ sich nicht leugnen. Sie waren für ihre Intelligenz, ihre Willfährigkeit und Loyalität bekannt. Stormy würde da keine Ausnahme sein. Er brauchte nur noch ein wenig mehr Zeit.

„Er gehört dir, wenn er so weit ist, mein Freund.“ Zum ersten Mal seit Beginn des Gesprächs lächelte Dan. Hawkins gab sich große Mühe, es ihm leicht zu machen, dafür war Dan ihm dankbar.

Als Hawkins ihm noch ein letztes Mal auf die Schulter klopfte und zum Haus weiterging, blieb Dan vor der Scheune stehen. Er würde den alten Mann vermissen. Auch diese Ranch. Die Männer, das Land, verflixt, sogar die strohdummen Rinder, die er in den vergangenen fünf Jahren versorgt hatte. Gegen seinen Willen wandte er den Kopf zum großen Haus, und ihm wurde wieder bewusst, was er am meisten vermissen würde. Als sein Blick an dem oberen linken Fenster hängen blieb, rieselte ein wenig Heu auf seinen Hut herab.

Stirnrunzelnd drehte er sich um und blickte hoch zu der offenen Dachluke. Ein leises Kratzen drang an seine Ohren, doch er konnte nichts Ungewöhnliches erkennen. Vielleicht ein Eichhörnchen? Oder eine Ratte. Er musste einem der jüngeren Arbeiter den Auftrag geben, morgen die Heulager nach Nestern und Hinterlassenschaften zu durchsuchen. Von den Wintervorräten war nicht mehr viel übrig, und er wollte keinesfalls das Wenige, das noch da war, wegen Ungezieferbefalls verlieren, bevor die Sommerernte eingebracht war.

6

Marietta hielt den Atem an, bis sie Daniels Schritte hörte und sicher sein konnte, dass er weitergegangen war. Langsam nahm sie ihre Hand, die sie sich auf den Mund gedrückt hatte, damit ihr kein ungewollter Ausruf entschlüpfte, herunter und rollte sich auf den Bauch. In ihm schienen einhundert Schmetterlinge akrobatische Kunststücke zu vollführen.

Das war knapp gewesen. Verflixt knapp.

Wenn Daniel sie entdeckt hätte, wäre ihr einziger Vorteil das Überraschungsmoment gewesen. Eines hatte sie aus ihren Groschenromanen gelernt – die Wirkung des Unerwarteten. Wie oft hatte Dead-Eye Dan unmöglich erscheinende widrige Umstände überwunden, weil er seine Beute überrascht hatte?

Wenn sie erreichen wollte, dass dieses starrsinnige Maultier von einem Mann ihr noch vor seinem Fortgehen einen Heiratsantrag machte, dann müsste sie jede Waffe einsetzen, die ihr zur Verfügung stand. Und das Überraschungsmoment wäre die erste Kanone, die sie abfeuern würde. Mit ein wenig Glück würde der Schlag sein Schild zerstören, mit dem er sich in ihrer Gesellschaft schützte. Dann hätte sie die Möglichkeit, nahe genug an ihn heranzukommen, um raffiniertere Taktiken zum Einsatz zu bringen.

Eine Welle der Entschlossenheit erfasste Marietta, als sie sich ihren Roman schnappte und in aller Eile die Heubodenleiter hinunterkletterte. Am Scheunentor blieb sie kurz stehen, um sich davon zu überzeugen, dass die Luft rein war. Sie blickte nach links und rechts, bevor sie zum Haus rannte.

In vier Tagen würde ihr Vater zum Viehtrieb aufbrechen. Ihr blieb also für die Planung herzlich wenig Zeit. Auf keinen Fall wollte sie sich Daniel Barrett entgehen lassen. Sie hatte ein Kopfgeld auf sein Herz ausgesetzt und war entschlossen, dieses einzukassieren.

Kapitel 2

Dead-Eye Dan schätzte die Windgeschwindigkeit ein und nahm sein Ziel in den Blick. Er musste seinen Schuss abgeben, bevor die Banditen die Bergspitze erreichten. 800 Meter, 900 Meter. Um seinen Herzschlag zu beruhigen, atmete Dan tief durch. 1000 Meter. Bewegliches Ziel. Die Hufschläge des Pferdes dröhnten in seinem Kopf wie ein Lied. Er hörte förmlich, wo der nächste Huf auftreffen würde. Genau dorthin zielte er.

Der Anführer erreichte die Bergspitze. Dan drückte den Abzug. Der Rückschlag des Schusses traf ihn hart an der Schulter. Der laute Knall brachte seine Ohren zum Klingeln. Ein Reiter verschwand hinter dem Gipfel. Der zweite folgte. Der dritte Reiter – er hielt Mary Ellen gefangen – überquerte den Gipfel in dem Augenblick, in dem Dans Schuss den vierten Reiter traf.

Ihre blasse Haut reflektierte die Strahlen der Spätnachmittagssonne, als Mary Ellen sich umdrehte und zurückblickte. Die Entfernung zwischen ihnen war zu groß, um irgendwelche Einzelheiten zu erkennen, aber er stellte sich vor, wie sie die Gegend nach ihm absuchte. Jetzt wusste sie Bescheid. Wusste, dass er gekommen war, um sie zu befreien. Dass er nicht aufgeben würde, bis sie wieder da war, wo sie hingehörte – in seinen Armen.

Der abgegebene Schuss hatte den Banditen nicht tödlich verwundet, denn er konnte sich noch immer im Sattel halten. Manche Leute mochten dies als einen Fehlschuss Dead-Eye Dans betrachten. Aber diese Leute irrten. Denn jetzt gab es eine Blutspur, der Dan folgen konnte.

aus „Dead-Eye Dan und die Schurken aus dem Teufelscanyon“

Leichten Schrittes durchritt Dan auf Ranger den Torbogen von Hawk’s Haven. Die Ranch wirkte verlassen. Kein Wunder, denn alle Männer und die Hälfte des Viehs waren fort. Jonah Hawkins, Ramirez und die anderen Arbeitskräfte waren gestern Morgen losgeritten, Etta am Tag zuvor. Sie hatte die Ranch zusammen mit der Köchin verlassen, deren Sohn jedes Jahr herkam, um vor dem Viehtrieb seine Mutter abzuholen. Sie würde die Zeit, in der ihr Arbeitgeber unterwegs war, mit ihren Enkelkindern verbringen. Die wenigen Arbeitskräfte, die zurückgeblieben waren, mussten entweder in der Stadt essen oder sich selbst etwas kochen. Dan hatte schon so oft während des Viehtriebs Bohnen und Speck über dem Lagerfeuer gekocht, dass er sich nicht die Mühe machte, zum Essen in die Stadt zu reiten. Seine Gerichte würden bei einem Wettbewerb sicher nicht mit einem Preis ausgezeichnet werden, aber wenigstens brauchte er nicht zu hungern.

Nein, Hunger war kein Thema. Sich von seinen Gedanken an Miss Marietta Hawkins abzulenken, war eher das Problem. Alles erinnerte ihn an Gelegenheiten, in denen er sie gesehen, mit ihr gesprochen oder sie berührt hatte. Wie er ihr beim Aufsteigen aufs Pferd geholfen hatte, wenn sie ausreiten wollte. Er hörte ihr Lachen, wenn die Stallburschen mal wieder einen Witz gemacht hatten. Er sah sie mit einer Gruppe Kinder durch das Wohnzimmer tanzen, wie damals, im vergangenen Frühling, als er und Stone Hammond Lily Dorchester gerettet hatten.

Du meine Güte, wie schön sie damals gewesen war, mit rosigen Wangen und funkelnden Augen. Ihre offensichtliche Freude über seine sichere Rückkehr hatte sich mit der Wucht einer Gewehrkugel in seine Brust gebohrt. Dieser Augenblick hatte Dan deutlich gemacht, welche Gefahr von ihr ausging. Noch nie in seinem ganzen Leben hatte Dan ein Versprechen gebrochen. Das Wort eines Mannes war heilig. Eine Frage der Ehre. Doch als Etta ihn angeblickt hatte, als würde er ihr etwas bedeuten, mehr bedeuten als irgendeine andere Person auf der Welt, da hätte er sein Versprechen fast vergessen, sie in seine Arme gerissen und geküsst, bis sie besinnungslos geworden wäre.

Aber eben nur beinahe. Für ihn war es eine Mahnung gewesen, die ihn daran erinnerte, die Distanz zu wahren. Seit sie vor drei Jahren aus der Schule nach Hause gekommen war, ging sie ihm unter die Haut, und das juckte wie die Bisse einer ganzen Armee Sandflöhe. Immer wieder ermahnte er sich, bloß nicht zu kratzen, und trotzdem tat er es, der Narr, der er war.

Unweigerlich musste er sich bei dem Gedanken an Etta kratzen, doch eigentlich sollte er sich auf die anstehende Arbeit konzentrieren.

Noch an diesem Nachmittag musste er Stormy an das Lastenziehen gewöhnen. Vielleicht würde er ihm sogar das Geschirr anlegen und ihn vor den Wagen spannen, um ihn daran zu gewöhnen, nicht nur eine Fracht auf dem Rücken zu tragen, sondern gleichzeitig auch einen Wagen zu ziehen.

Dan brachte Ranger zum Stehen, stieg ab und führte sein Pferd zu dem Wassertrog vor der Scheune. An diesem Tag war der Himmel bedeckt. Die hohe Luftfeuchtigkeit machte ihm zu schaffen und trotz seines erfrischenden Ritts war sein ganzer Körper klebrig von Schweiß. Dan streichelte Rangers Hals, als das Pferd sich vorbeugte, um zu trinken, und schlenderte dann zur Pumpe hinüber, um auch einen Schluck Wasser zu sich zu nehmen.

Er rollte die Ärmel hoch und betätigte mit einer Hand den Pumpschwengel, während er mit der anderen Hand den Eimer darunter hielt. Sobald der Eimer halb voll war, hielt er inne, um die Schöpfkelle einzutauchen. Die kühle Flüssigkeit spülte den Staub in seiner Kehle hinunter und erfrischte ihn. Er tauchte die Schöpfkelle noch ein zweites Mal ein und trank sie, so schnell er schlucken konnte, in einem Zug leer.

In den vergangenen Stunden hatte er auf seiner neuen Farm gearbeitet, die Zaunpfosten repariert, die Angeln geölt und Spinnweben von den Dachbalken der Scheune entfernt. Erst wenn alles sauber und ordentlich war, würde er seine Maultiere dorthin bringen. Seine Erwartungen an die Tiere waren hoch und in Bezug auf ihre Unterbringung war er sehr penibel. Wenn man ein Tier gut behandelte, dann entwickelte es sich auch gut. Behandelte man es schlecht, dann begann es entweder zu rebellieren oder hielt sich für wertlos. Keins von beidem war gut.

Das kühle Wasser war sehr erfrischend. Dan hängte seinen Hut an einen Pfosten der Koppel und goss den restlichen Inhalt des Eimers über seinen Kopf. Oh ja. Viel besser. Trotzdem klebten Schweiß und Dreck immer noch an ihm. Er müsste sich jetzt mal so richtig abschrubben. Warum eigentlich nicht? Es war niemand in der Nähe. Und Ranger würde es nicht stören. Bestimmt würde sich das Pferd genauso über eine kleine Dusche freuen.

Dan eilte in die Scheune, um die Seife zu holen, mit der sich die Männer vor dem Essen die Hände und Arme wuschen. Damit kehrte er zur Pumpe zurück, legte seine schwarze Lederweste ab und hängte sie über den Pfosten, auf dem bereits sein Hut hing. Anschließend zog er sein Hemd aus und betätigte erneut den Pumpschwengel.

Als das Wasser zu fließen begann, beugte er sich vor und hielt seinen Kopf unter den Wasserstrahl. Das Wasser rann ihm über Gesicht und Hals. Er schloss die Augen, damit die Seife nicht hineingeriet, schrubbte seine Hände und Gesicht ab und rieb dann auch die Seife in seine Haare. Mit den Händen schöpfte er Wasser und spülte damit seine Haare aus, dann hielt er seinen Kopf ein zweites Mal unter den Wasserstrahl, um die restliche Seife auszuspülen. Anschließend rückte er dem Dreck unter seinen Fingernägeln zu Leibe. Als der Wasserfluss nachließ, rieb er seine Brust mit Seife ein und schrubbte seinen Oberkörper so lange, bis er sich sauber fühlte. Ein letztes Mal betätigte er den Pumpschwengel und spülte mit dem Wasser aus dem Eimer die Seife von seiner Haut. Schließlich schüttelte er sich wie ein nasser Hund, sodass die Wassertropfen in alle Richtungen spritzten. Gerade hatte er sich sein Hemd vom Pfosten geholt und mit der saubersten Stelle, die er finden konnte, seinen Nacken und seine Brust trocken gerieben, als ein lautes Krachen ertönte.

Erschrocken ließ er das Hemd fallen, zog seinen Revolver aus dem Holster und wirbelte herum, um sich der Gefahr zu stellen.

Doch die Gefahr war keine, die er mit einer Kugel hätte bannen können.

6

Marietta stand wie erstarrt da. Die Glassplitter auf dem Boden bewegten sie nicht zum Handeln. Die Limonadenspritzer, die in ihr bestes Sonntagskleid drangen, interessierten sie nicht, auch nicht das Silbertablett, das von den tauben Fingern ihrer rechten Hand baumelte. Erst als das Tablett schließlich aus ihren Fingern rutschte und mit einem lauten Poltern zu Boden krachte, brachte sie die Kraft auf zu blinzeln.

„Was um alles in der Welt machst du hier, Etta?“ Daniel schleuderte ihr die Frage regelrecht entgegen. Seine Augen blitzten vor Zorn und endlich löste sie sich aus ihrer Starre. Sie wich zurück.

Daniel schrie nicht. Niemals. Dazu war er viel zu beherrscht. Natürlich hatte sie nicht damit gerechnet, dass er sie mit offenen Armen zu Hause willkommen hieß, aber einen solchen Ausbruch von offener Feindseligkeit hatte sie nicht erwartet. Nein, nicht Feindseligkeit, korrigierte sie sich. Eher Zorn. Er sah aus, als wollte er ihr das Fell über die Ohren ziehen. Auch früher schon hatte sie ihn wütend gemacht, sogar frustriert, aber noch nie war er so in Zorn geraten. Marietta blinzelte erneut, dieses Mal in dem verzweifelten Versuch, die sich ansammelnde Tränenflut zurückzudrängen.

Er steckte seinen Revolver ins Holster zurück und eilte auf sie zu. Sein Körper bebte vor Zorn. „Hast du eine Ahnung, was hätte passieren können?“

Marietta zog den Kopf ein. Es war ihr unmöglich, ihm ins Gesicht zu sehen. Nicht wenn sie das Schluchzen, das wie ein windgepeitschtes Meer in ihr aufwallte, abwehren wollte. Sie hatte ihm gefallen und ihm nach seinem langen Arbeitstag eine Erfrischung bringen wollen. Ihre hausfraulichen Fähigkeiten hatten ihn beeindrucken sollen, und vielleicht würde er ihr sogar einen bewundernden Blick schenken, nachdem sie so viel Sorgfalt auf ihr Aussehen verwandt hatte. Nun, er schaute sie zwar an, aber das war ganz eindeutig kein bewundernder Blick.

Mit der Wucht einer Büffelherde stapfte er die Verandastufen hoch. Sie schloss die Augen und biss sich auf die Lippe. Wartete. Wartete darauf, dass der Donner loskrachte. Der Blitz einschlug. Sie brauchte nicht lange darauf zu warten.

Sobald die polternden Schritte verstummt waren, legte sich Daniels Hand so fest um ihren Oberarm, dass es wehtat. Er schüttelte sie, bis sie den Blick hob.

„Ich hätte dich erschießen können! Um Himmels willen, Mädchen, ich hätte dich töten können.“

„Es – es tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken.“ Marietta bemühte sich, die Tränen wegzublinzeln, aber es waren zu viele. Sie tropften aus ihren Augenwinkeln und liefen ihre Wangen hinunter. „Es war ungeschickt, den Krug fallen zu lassen.“

Sie schüttelte den Kopf und wusste, dass es keine Entschuldigung dafür gab. Eigentlich sollte sie gar nicht da sein. Er hatte jedes Recht, zornig zu sein. „Ich wollte dir nur ein kühles Getränk bringen, aber als ich nach draußen kam, hast du dich … nun … gewaschen, und …“ Sie errötete und versuchte verzweifelt, nicht auf seine bewundernswerte Brust zu starren, die schuld daran gewesen war, dass sie den Krug hatte fallen lassen.

Bei dem Wort „waschen“ zuckte Daniel zurück und ließ ihren Arm los. Eine Röte, die nichts mit der Sonne auf seiner Haut zu tun hatte, kroch von seinem Hals über sein Gesicht bis zu den Ohren nach oben. Irgendetwas murmelnd, sie konnte es nicht verstehen, wirbelte er herum und rannte die Verandastufen hinunter und über den Hof. Er hob sein verschmutztes Hemd auf, streifte es in aller Eile über und knöpfte es zu. Schließlich schnappte er sich seine Weste und zog auch sie an.

Da sie nicht einfach stehen bleiben und darauf warten wollte, dass er seine Schimpftirade fortsetzte, hockte sich Marietta hin, sammelte die Scherben ein und legte sie auf das flache Silbertablett. Sie hatte gerade nach dem Griff des Krugs gegriffen, als unmittelbar vor ihr ein Paar verstaubte Lederstiefel auftauchten.

Dieses Mal hatte er sich ihr leise genähert. Kontrolliert. Wenn sie nur dieselbe Beherrschung zeigen könnte. Doch leider liefen ihr immer noch die Tränen über das Gesicht, und ihre Hände zitterten so heftig, dass sie nicht einmal den Griff des Kruges festhalten konnte. Die Glasscherbe glitt ihr mit lautem Getöse aus den Fingern und zerbarst in eine Vielzahl kleinerer Scherben.

In Jeans steckende Beine beugten sich zu ihr herunter und eine Hand legte sich auf die ihre. Die sanfte Berührung ließ sie zurückzucken. Ihr einziger Gedanke war, ins Haus zu entfliehen, bevor er ihr Gesicht sehen konnte. Der Himmel allein wusste, wie sie aussah. Ganz bestimmt entsetzlich mit ihren rot geweinten Augen. Du meine Güte, sie hatte nicht einmal ein Taschentuch zur Hand, um ihre Nase zu putzen.

Verflixt aber auch! Das war nicht der Eindruck, den sie auf ihn hatte machen wollen. Warum nur hatte sie sich so ungeschickt angestellt? Es war doch nicht so schwer, ein Tablett in den Händen zu halten, um Himmels willen. Ein Griff an jedem Ende. Man brauchte nichts weiter zu tun, als seine Finger darum zu legen. Und was hatte sie getan? Ein Blick auf Daniel Barretts nackte Brust, und sie hatte sich in einen kraftlosen Tölpel verwandelt, der nicht einmal ein einfaches Tablett halten konnte. Nur weil sein Anblick die Schmetterlinge in ihrem Bauch in Aufruhr versetzt und ihr den Atem geraubt hatten. Aber das bedeutete doch nicht, dass sie sich von ihnen auch den Verstand vernebeln lassen musste.

Sie umklammerte den Griff der Verandatür und wollte sie aufreißen, als sich eine Hand an den Türrahmen legte und sie wieder zudrückte.

„Nicht so schnell, Etta“, ertönte Daniels tiefe Stimme unmittelbar hinter ihr. „Nicht, bevor du mir erklärt hast, warum du hier bist.“

Ein Schluchzen stieg in ihr hoch. Er hatte eine Antwort verdient. Das alles war doch nicht seine Schuld. Aber sie schaffte es nicht, ihn anzusehen. Noch nicht. Nicht bevor sie diese verflixten Gefühle unter Kontrolle hatte. Sie versuchte ihre Wangen mit dem Handrücken abzuwischen und schniefte mehrmals, aber sie zweifelte daran, dass diese Maßnahmen sehr wirkungsvoll waren. Noch debattierte sie mit sich, ob sie alle Manieren beiseitelassen und ihren Ärmel benutzen sollte, als ein Taschentuch in ihrem Blickfeld auftauchte.

„Hier“, sagte er barsch. „Es ist noch feucht von meiner … äh … Zeit an der Pumpe, aber es ist sauber.“

Sie riss es ihm aus der Hand und schnäuzte sich – natürlich so zurückhaltend wie möglich. Denn schließlich stand der Mann, den sie heiraten wollte, unmittelbar hinter ihr. Leider war dieser vorsichtige Nasenschnäuzer nicht besonders effektiv. So ergab sie sich in ihr Schicksal und schnäuzte sich noch einmal etwas kräftiger. Anschließend faltete sie das Taschentuch zusammen und rieb mit einer sauberen Stelle auch ihre Wangen trocken.

Daniel stieß einen tiefen Seufzer aus, als sie sich zu ihm umdrehte. Da sie den Kopf gesenkt hielt, konnte sie sein Gesicht nicht sehen, aber seine Nähe hatte die üblichen Auswirkungen auf ihren Puls.

„Verzeih mir bitte, dass ich dich angeschrien habe“, murmelte er. „Es ist nur … verflixt, Mädchen. Dich vor der Flinte zu haben, hat mich zehn Jahre meines Lebens gekostet. Wenn ich mir vorstelle, was hätte passieren können …“

Als sie aufblickte, hob er gerade die Hand, um sich mit zitternden Fingern durch seine Haare zu streichen, die ihm kreuz und quer vom Kopf abstanden.

Sein Kehlkopf hüpfte, als er schluckte. „Wenn ich dich verletzt hätte … ich schwöre es, Etta. Das hätte ich mir nie verzeihen können.“

Deshalb hatte er sie angeschrien? Weil er Angst gehabt hatte? Um sie? Hoffnung flackerte in ihrer Brust auf, wie eine vom Tau benetzte Rose sich der Sonne öffnete.

Vielleicht war es doch kein Fehler gewesen, nach Hause zurückzukommen.

Kapitel 3

Bis zum Einbruch der Dunkelheit folgte Dead-Eye Dan der Spur der Banditen. Sie ritten zu den Canyons und wollten ihn so abschütteln. Auf dem felsigen Untergrund waren keine Hufspuren mehr zu erkennen. Die Blutspuren dagegen umso deutlicher. Und davon hinterließ der Verletzte mehr als genug. Dan hatte keine Mühe, ihnen zu folgen. Aber es ging nur langsam voran. Frustrierend langsam. Die Abstände zwischen den Blutstropfen wurden größer und die Spuren seltener. Dan musste immer wieder absteigen, um einen größeren Bereich abzusuchen, bis er die nächste verräterische Markierung entdeckte. Dem Verletzten war es entweder gelungen, die Blutung zu stoppen oder die Wunde zu verbinden.

Trotzdem ritt Dan weiter – mit offenen Augen und wachen Sinnen. Er preschte durch den grauen Dunst der einsetzenden Dämmerung und durchdrang die Düsternis, bis es unmöglich wurde, die Schatten von den Felsen zu unterscheiden. Erst als es vollständig dunkel geworden war, machte er Halt.

Er stellte sich vor, wie Mary Ellen von ihrem Pferd gezerrt wurde, die rauen Hände der Banditen auf ihren Armen, die braunen Locken zerzaust. Nach dem langen, anstrengenden Ritt hätte sich ihr Haarknoten sicherlich gelöst. Er hoffte nur, dass sie die Männer nicht provozierte. Mary Ellen war ein Mensch, der Unrecht nicht stillschweigend hinnahm. Würden die Männer sie schlagen, sie an Händen und Füßen fesseln und eine dreckige Decke als Schutz vor der Kälte der Nacht über sie werfen? Oder würden sie sie für ihr eigenes böses Vergnügen missbrauchen?

Diese Vorstellung war so schrecklich, dass er am liebsten sofort wieder auf Rangers Rücken gesprungen und auf Verdacht im vollen Galopp in eine x-beliebige Richtung losgeritten wäre, um sie zu retten. Aber was, wenn er die falsche Richtung einschlug? … Dan biss die Zähne zusammen. In diesen Bergen gab es unzählige Höhlen und Felsspalten, die als Verstecke gut geeignet waren. Dieses Risiko durfte er nicht eingehen. Nicht, wenn Mary Ellens Leben auf dem Spiel stand. Er würde seine Ungeduld zügeln und auf Nummer sicher gehen.

„Bleib nur am Leben, Mary Ellen“, flüsterte er in den Wind, während er auf seiner Decke lag und mit finsterem Blick die Sterne betrachtete, die ihm viel zu wenig Licht spendeten. „Ich schwöre, ich werde dich finden. Bleib einfach nur am Leben.“

aus „Dead-Eye Dan und die Schurken aus dem Teufelscanyon“

Als Marietta schließlich den Kopf hob, traf Dan der Anblick ihrer geröteten Augen und tränenverhangenen Wimpern wie der Tritt eines Maultiers in den Magen. Heiliger Strohsack. Er hatte sie doch nicht zum Weinen bringen wollen. Was war er nur für ein Ungeheuer. Er schrie eine Frau an, nur weil sie ihn erschreckt hatte! Wie ein wütender Bulle war er auf sie losgegangen, hatte sie an den Armen gepackt, Türen zugeknallt und wie ein Verrückter herumgebrüllt.

Während er sein Gehirn nach einer auch nur annähernd angemessenen Entschuldigung durchforstete, passierte etwas ganz Ungewöhnliches.

Etta lächelte.

Dieses Lächeln kam so unerwartet und war so wunderschön, dass sich alle Worte, die ihm durch den Sinn gingen, prompt in nichts auflösten. Der Blick aus ihren feuchten braunen Augen traf ihn bis ins Innerste.

„Wir sind schon zwei, nicht wahr, Daniel?“ Sie lachte leise und schüttelte den Kopf. „Wie wäre es, wenn du dich um Ranger kümmerst, während ich das Chaos hier beseitige? Ich mache uns einen Krug mit frischer Limonade, und dann können wir noch mal neu anfangen.“

Bevor er sich fassen konnte, hatte sie die Tür geöffnet und war im Haus verschwunden. Er schüttelte die nachhaltige Wirkung ihres Lächelns ab und folgte ihr in die Küche. Genau deshalb sollte sie gar nicht hier sein. Ohne die Anwesenheit ihres Vaters und der anderen Arbeitskräfte war er viel zu verletzlich.

Noch zwei Wochen musste er durchhalten. Nach drei ganzen Jahren würde er doch bestimmt zwei Wochen schaffen. Aber nicht, wenn er mit ihr allein auf der Ranch war.

„Was tust du hier, Etta? Du solltest doch in Richland sein, bei deiner Tante.“ Und nicht hier allein mit mir.

Während sie einen Besen und ein Kehrblech aus dem Schank in der kleinen Vorratskammer holte, zuckte sie die Achseln. „Ich hatte gestern einen schönen Tag bei Tante Ada, aber um Himmels willen, ich bin jetzt einundzwanzig Jahre alt und brauche keine Anstandsdame mehr, wenn mein Vater einmal die Ranch verlässt.“ Marietta drängte sich an ihm vorbei zur Veranda. Ganz bewusst mied sie seinen Blick. „Meiner Tante habe ich gesagt, dass zu Hause eine Menge Arbeit auf mich wartet, und ich könnte viel besser arbeiten, wenn es ruhig auf der Ranch ist und ich nicht ständig abgelenkt werde. Und da Tante Ada eine vernünftige Frau ist, fand sie auch, dass es mir gestattet sein sollte, in meinem eigenen Heim zu bleiben, wenn ich das wollte. Sie bat einen jungen Mann, den sie aus ihrer Kirche kannte, mich nach Hause zu bringen. Ich hätte dir Clarence ja vorgestellt, aber als ich hier ankam, warst du nicht da, und er musste sich gleich nach dem Mittagessen auf den Heimweg machen, um zum Abendessen wieder zu Hause zu sein.“

Clarence? Angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der sie den Namen dieses Mistkerls aussprach, biss Dan die Zähne zusammen. Kannte sie diesen jungen Mann von früheren Besuchen? Waren sie vielleicht miteinander ausgegangen? Bei diesem Gedanken überlief es ihn eiskalt. Dan unterdrückte ein Brummen. Kein Jüngling, der sich kaum rasierte und glattzüngige Reden schwang, durfte sie umgarnen. Sie brauchte einen reifen Mann, einen Mann, der die Fähigkeit und die Erfahrung besaß, sie zu beschützen und für sie zu sorgen.

Mit geballten Fäusten atmete Dan durch die Nase ein, um die Eifersucht einzudämmen, die in ihm tobte und ihn beinahe dazu gebracht hätte, sie wieder anzuschreien. Vielleicht sollte er sie doch lieber nicht nach Richland zurückschicken, wo junge Männer mit dem Namen Clarence in den Startlöchern standen. Vielleicht sollte er sie ermutigen, hierzubleiben und die Arbeit zu tun, die sie sich vorgenommen hatte. Die Dinge, die so wichtig waren, dass es sie auf die mehr oder weniger verlassene Ranch zurücktrieb, würden sie bestimmt beschäftigt halten, sodass sie ihm nicht im Weg stand. Sie könnten es schaffen. Er würde in seiner Hütte neben der Schlafbaracke schlafen und sie im Haus. An dieser Regelung gab es nichts auszusetzen.

Trotzdem irritierte ihn, dass sie ihm nicht in die Augen sehen konnte, als sie ihre Gründe erklärte. Die Verbrecher, die er gejagt und für die er Kopfgelder kassiert hatte, hatten ihm schon so viele Halbwahrheiten und schamlose Lügen aufgetischt, dass ihn das leichte Zögern in ihren Worten und die übertriebene Beiläufigkeit ihrer Haltung stutzig machten.

Seinem Instinkt folgend, entspannte sich Dan und bewegte sich rückwärts auf die Tür zu. Er würde ihr Geheimnis lüften. Und falls auch nur die leiseste Möglichkeit bestand, dass das, was sie vorhatte, sie in Schwierigkeiten bringen könnte, würde er sie auf den Wagen setzen und nach Richland zurückschicken, Clarence hin oder her.

Dan bückte sich, nahm das Kehrblech zur Hand, packte es am Griff und hielt es vor den Haufen mit Glassplittern und Staub, den Marietta zusammengefegt hatte. Sie lächelte ihn dankbar an und kehrte den Abfall mit dem Besen in seine Richtung und auf das Kehrblech.

„Also“, begann er betont beiläufig, während er sie gleichzeitig scharf beobachtete, „welche Arbeiten sind denn so dringend, dass du deswegen deinen guten Ruf in Gefahr bringst?“

6

Marietta hielt mitten in der Bewegung inne und biss sich auf die Zunge. Mist! Sie hatte so gehofft, er würde nicht nachfragen. Welchen Grund sollte sie ihm nennen? Tante Ada, gepriesen sei ihre Blümchenkleid tragende, Frauenwahlrecht liebende Seele, hatte sich zum Glück nicht die Mühe gemacht nachzufragen, warum Marietta unbedingt nach Hause zurückkehren musste. Sie hatte sie nur wegen ihrer unabhängigen Einstellung gelobt und sie mit einem Stapel von Pamphleten von Susan B. Anthony und einem Korb mit gebratenem Hühnchen ziehen lassen.

Daniel Barrett wäre nicht so leicht zu überlisten. Sollte sie den Quilt, den sie gerade für die Auktion in der Kirche nähte, als Ausrede vorschieben? Irgendeine Geschichte erfinden, zum Beispiel, dass sie vor der Rückkehr ihres Vaters einen ausgiebigen Frühjahrsputz im Haus plane? Die Wahrheit konnte sie ihm natürlich nicht sagen, dass sie nämlich hier war, um ihn zu einem Heiratsantrag zu bewegen. Wie verzweifelt würde das denn aussehen? Außerdem ließen sich Männer nicht gern manipulieren. Der Mann sollte derjenige sein, der um eine Frau warb. Ihre Absicht war doch nur, ihm eine Gelegenheit zu verschaffen, um sie zu werben.

Nein, es war ausgeschlossen, ihm die Wahrheit zu gestehen. Aber lügen wollte sie auch nicht. Voraussetzung für die Beziehung, die sie mit ihm anstrebte, war Vertrauen. Wenn sie ihn jetzt täuschte, egal wie nachvollziehbar ihre Gründe auch sein mochten, würde diese Lüge das Gegenteil von dem bewirken, was sie aufzubauen hoffte. Also, was sollte sie jetzt tun?

„Etta?“ Dans Stimme durchdrang ihre Gedankengänge und rief sie in die Gegenwart zurück.

Sie fegte die letzten Glassplitter auf das Kehrblech, das er ihr hinhielt, stützte sich auf den Besenstiel und wartete darauf, dass er sich erhob. Ihr Blick ließ ihn nicht los, während er sich zu seiner vollen Größe aufrichtete. Und wieder gerieten diese lästigen Schmetterlinge in ihrem Bauch in Aufruhr, nicht nur, weil sie ihm so nah war, sondern auch wegen ihrer eigenen Nervosität.

Auf einmal verdüsterte sich sein Gesichtsausdruck, und seine himmelblauen Augen glühten, so sehr, dass sie angstvoll vor ihm zurückgewichen wäre, hätte sie ihn nicht besser gekannt.

„Ist in Richland etwas vorgefallen?“, fragte er mit harter Stimme. „Hat dich jemand erschreckt? Sag mir nur, wer es war, dann werde ich dafür sorgen, dass er nie wieder …“