Die Lejongårds besitzen ein prächtiges altes Gestüt in Südschweden, doch ihre Tochter Agneta hat der Familie den Rücken gekehrt. In ihrer Kindheit litt sie unter der Strenge und den Zwängen ihrer gesellschaftlichen Stellung. Erst in der Malerei konnte sie ihre Gefühle ausdrücken. Als junge Kunststudentin genießt Agneta die Freiheiten der Großstadt Stockholm, sie engagiert sich für Frauenrechte und liebt mit Michael einen jungen Mann, der nichts mit ihrer Herkunft zu tun hat. Doch ein Unglück bringt sie zurück zu ihrer Familie. Und unerwartet steht Agneta zwischen Verpflichtung und Liebesglück.
Mit »Agnetas Erbe« beginnt Corina Bomanns Schweden-Saga über die Lejongårds und ihr Zuhause, das Gut Löwenhof.
Ullstein
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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage Mai 2018
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München
Titelabbildung: plainpicture/© Dave and Les Jacobs (Tür); Arcangel Images/© Anna Mutwil (Frau); plainpicture/
© Gerry Johansson (Landschaft)
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ISBN 978-3-8437-1706-9
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Etwas blendete mich. Als ich die Augen aufschlug, glaubte ich, in meinem alten Zimmer auf dem Löwenhof zu sein. Doch was ich im ersten Moment für eine Stuckverzierung hielt, entpuppte sich als langer Riss in der Decke, um den sich Wasserflecke gebildet hatten. Die dunkleren waren bereits da gewesen, als ich hier vor zwei Jahren eingezogen war, die hellen waren erst vor Kurzem dazugekommen. In der Wohnung über mir war ein Wassereimer umgefallen und hatte dem Kunstwerk eine weitere Facette hinzugefügt. Das Mauerwerk der Häuser in Stockholms Universitätsviertel war löchrig wie ein Schwamm und sog das Wasser genauso schnell auf, wie dieses dann unten wieder heraustropfte.
Dafür lebte man als Studentin hier billig. Meine Mutter würde es ärmlich und unter meinen Verhältnissen nennen, aber ich konnte hier sein, wer ich wirklich war. Ich konnte studieren, auch wenn es von den Mitgliedern der höheren Gesellschaft nicht gern gesehen wurde. Ich musste nicht auf Konventionen achten. Was machten da ein paar Flecke an der Zimmerdecke aus?
Kühle strich über mein Gesicht. Ich blickte in die Richtung des Luftstroms und bemerkte, dass das Zeitungspapier wieder einmal aus dem Loch im Glas gefallen war. Die unterste Scheibe des Sprossenfensters war schon lange kaputt. Zu verdanken hatte ich den Schaden einem Jungen, der beim wilden Spiel auf der Straße mein Fenster mit einem Stein erwischt hatte. Mein Vermieter sah nicht ein, dass er das Fenster reparieren lassen sollte. Und ich konnte es mir nicht leisten, denn dann hätte ich meinen Vater um mehr Geld bitten müssen. Seit dem letzten großen Streit an Weihnachten war ich nicht mehr auf dem Löwenhof gewesen, und ich hatte auch keinen Kontakt gesucht.
Ich wusste, dass meine Eltern die Art, wie ich lebte, missbilligten. Als ich vor zwei Jahren das Gericht aufsuchte, um meine Mündigkeit erklären zu lassen, hatten sie beide lange Gesichter gezogen, denn sie hatten gehofft, dass ich noch vor meinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr heiraten würde. Dem war nicht so, und indem ich mein Leben selbst in die Hand nahm, zeigte ich ihnen deutlich, dass mein Weg nicht der sein würde, den sie für mich vorgesehen hatten.
Doch ohnehin würde nicht ich eines Tages das Gut erben, sondern mein Bruder. Hendrik war ein Musterkind, der beste Sohn, den sich ein Mann wie Graf Thure Lejongård vorstellen konnte. Vater wurde nicht müde, mir das vorzuhalten. Ich war kein Sohn, und ich war auch nur das zweite Kind. Ich konnte mein Leben führen, wie ich wollte. Jedenfalls waren meine Freundinnen und ich fest davon überzeugt, und für unsere Anschauung traten wir so oft wie möglich ein.
Zu meinem selbstgewählten Leben gehörte auch der scharfe Geruch, der in der Luft schwebte. Das beißende Aroma des Terpentins mischte sich mit dem milderen des Firnis und der Ölfarben. Auch wenn ich nicht an einem Bild arbeitete, schien er immer da zu sein. Ich hatte keine Ahnung, wer vor mir diese Wohnung belegt hatte, doch wer immer mir folgte, würde wissen, dass seine Vorgängerin eine Malerin war.
Michael regte sich neben mir. Sein rotblonder Haarschopf tauchte zwischen den Kissen auf, wenig später sah ich sein zerknautschtes Gesicht. Erst öffnete er ein Auge, dann das andere, um beide angesichts des Sonnenlichts, das mein Appartement flutete, wieder zusammenzukneifen.
»Warum bist du schon so früh auf?«
Ein Lächeln stieg in mir auf wie Sprudel in einem Sodaglas. Ich griff nach seinem Schopf. Sein Haar war dicht und so unglaublich weich wie das Fell einer Katze. Ich liebte es, meine Finger darin zu vergraben, besonders dann, wenn wir unserer Lust freien Lauf ließen und sein Kopf zwischen meinen Schenkeln ruhte.
»Es ist nach neun«, antwortete ich. »Eigentlich hätten wir schon längst wach sein müssen.«
»Sagt wer?« Er sah mich an und streckte beide Arme nach mir aus.
Es gab unter den Frauenrechtlerinnen einige regelrechte Männerhasserinnen, die es sich ausgebeten hätten, von einem Mann an sich gezogen zu werden. Doch mir gefiel es. Mir kam es eher darauf an, dass ich mir selbst aussuchen konnte, wen ich in mein Bett ließ. Seit einem Jahr war es ausschließlich Michael, und oftmals ertappte ich mich dabei, wie ich daran dachte, ihn nie wieder fortzulassen. Wenn er mit seinem Jurastudium fertig war, würden wir vielleicht heiraten. Es war komisch, dass ich, die ihrem Elternhaus entflohen war, an Heirat dachte, aber der Gedanke wärmte mir ungemein das Herz. Auch wenn ich dann meine hart erkämpfte Selbstständigkeit wieder verlor. Aber ich war sicher, dass Michael nichts dagegen haben würde, wenn ich weiterhin malte. Immerhin hatte er auch keine Vorbehalte gehabt, sich in eine Suffragette zu verlieben.
»Ich bin in einem guten Haus aufgewachsen, in dem Pünktlichkeit und Ordnung herrschen«, entgegnete ich.
Er küsste mich und vertrieb den aufsteigenden Gedanken an meine Eltern.
»Ach wirklich?«, fragte Michael und begann meinen Hals zu liebkosen und langsam an mir herunterzugleiten. Ich spürte ein Pochen zwischen den Beinen, das mich dazu brachte, ihn gewähren zu lassen. Ich mochte es sehr, wenn wir uns kurz nach dem Aufstehen liebten, es war einfach wunderbar und gab mir Kraft für den Tag, der vor mir lag.
Ein Klopfen ließ mich jäh zusammenzucken. Auch Michael hielt inne. Zunächst blickte er zur Tür, dann sah er mich fragend an. »Erwartest du jemanden?«
Sein Kopf glühte hochrot. Ich spürte, dass er nur schwerlich gegen seine Erregung ankam. Und auch ich hätte jetzt andere Dinge lieber getan, als darüber nachzudenken, wer um diese Zeit an meine Tür klopfte.
»Fräulein Lejongård? Sind Sie da?«, fragte eine Stimme, begleitet von einem weiteren Klopfen, das noch dringlicher klang. »Ich habe ein Telegramm für Sie. Es ist eilig!«
Ein Telegramm?
»Einen Moment, ich komme!«, rief ich und sah Michael an.
»Musst du wirklich?«, murrte er und begann erneut, meinen Hals zu küssen. So gern ich unter der warmen Decke in seinen Armen geblieben wäre, entzog ich mich ihm doch und stieg aus dem Bett. Die kalte Märzluft vertrieb meine Müdigkeit und leider auch meine Lust schlagartig. Hastig langte ich nach meinem Morgenmantel und schnürte ihn um die Taille zu. Dann ging ich zur Tür.
Der Mann, der die Uniform der Königlich Schwedischen Post trug, blickte mich ein wenig verlegen an. »Guten Morgen, verzeihen Sie die Störung, aber das hier sollte Ihnen sofort zugestellt werden.«
Ich nahm den kleinen Briefumschlag an mich und drehte ihn um. Das Telegramm kam von meiner Mutter. »Warten Sie einen Augenblick.«
Während der Mann an der Tür stehen blieb, ging ich zu der Kommode, wo ich immer etwas Geld aufbewahrte. Ich drückte dem Boten zehn Öre in die Hand und schloss die Tür. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass der kleine Umschlag mehr wog als ein Kartoffelsack.
»Was ist denn?«, fragte Michael, der sich inzwischen im Bett aufgesetzt hatte. Im Gegensatz zu mir schien er nicht zu frieren, denn er lehnte mit freiem Oberkörper an den Kissen. So, wie die Sonne seiner Haut einen goldenen Schimmer verlieh, hätte er auch einem der zahlreichen Maler in unserem Viertel Modell sitzen können.
»Das werden wir gleich sehen.« Ich schob meinen Finger in die Öffnung zwischen den Brieflaschen und riss den Umschlag auf.
Was konnte Mutter wollen? Wir hatten seit dem Weihnachtsfest keinen Kontakt mehr. Ich zog das Telegramm hervor und klappte es auf. Erschrocken sog ich die Luft ein, als ich sah, was darauf geschrieben stand.
+++ Vater und Hendrik verunfallt +++ Komm bitte umgehend nach Hause +++ Mutter +++
Ich war wie erstarrt. Ein Unfall?
Mein Herz raste, und für einen Moment versuchte ich mir einzureden, dass dies nur ein gemeiner Trick meiner Mutter war, um mich nach Hause zu holen. Doch Stella Lejongård machte keine Scherze, wenn es um die Gesundheit und das Leben ihrer Familienangehörigen ging.
»Was ist?«, fragte Michael und erhob sich.
Ich konnte nicht antworten. Wie versteinert stand ich im Raum und konnte meinen Blick nicht von dem Telegramm lösen. Die Schreibmaschinenschrift darauf schien zu brennen.
Erst, als er mir seine Hand auf die Schulter legte, kam ich wieder zu mir.
»Mein … mein Vater …«, stammelte ich. »Er und mein Bruder … sie hatten einen Unfall.«
»Wobei?«, fragte Michael.
»Das steht hier nicht, vielleicht war etwas mit den Pferden …«
Meine Gedanken rasten. Vater und Hendrik waren hervorragende Reiter. Ein Reitunfall, bei dem beide verletzt worden waren, erschien mir unwahrscheinlich. Wie schwer mochten sie verletzt sein? Es war gewiss ernst, sonst würde Mutter mich nicht nach Hause rufen. Das Blatt entglitt meinen Händen. Michael bückte sich und hob es auf.
»Ich muss nach Hause.« Beinahe flüsterte ich diese Worte nur.
Da ich vor Michael keine Geheimnisse hatte, ließ ich zu, dass er das Telegramm las.
»Du lieber Himmel!«, murmelte er erschrocken, dann blickte er mich an und griff nach meiner Hand, die sich anfühlte, als gehörte sie nicht zu mir. »Kann ich etwas für dich tun? Soll ich mitkommen?«
»Nein«, sagte ich und versuchte, mich wieder zu sammeln. »Ich … ich muss einen Zug nehmen. Oder eine Kutsche.«
»Mit der Kutsche wärst du zu langsam«, bemerkte Michael. »Aber vielleicht fährt heute ein Zug nach Kristianstad.«
Ich nickte, aber es kam mir so vor, als würde mir mein Körper nicht gehorchen. Ich musste mich beeilen, aber ich konnte nicht. Am liebsten hätte ich mich unter die Decke verkrochen und so getan, als hätte mich das Telegramm nicht erreicht. Als wäre ich nicht hier. Doch ich musste los. Verdammt, ich musste los!
Schließlich schaffte ich es, mich von meinem Platz zu lösen.
»Soll ich dir helfen?«, fragte Michael.
Ich schüttelte den Kopf. Das hier musste ich allein durchstehen, da gab es keine Hilfe. Und ihn mitnehmen zu meiner Mutter? Gott bewahre!
Als ich den windschiefen Schrank öffnete, verwandelte sich die bleierne Schwere in meinem Körper in eine fahrige Nervosität. Mit zitternden Händen suchte ich ein paar Sachen zusammen. Dabei war es mir egal, was meine Mutter dazu sagen würde. Meine besten Stücke waren ohnehin auf dem Löwenhof geblieben, sie würde mit nichts, was ich trug, zufrieden sein. Eine schwarze Bluse glitt mir durch die Hand. Aus irgendeinem Grund starrte ich sie länger an, als es nötig gewesen wäre. Kein Schwarz, sagte ich mir und fühlte eine Welle der Angst in mir aufsteigen. Schwarz war Trauerkleidung, und es schien mir ein schlechtes Omen, wenn ich sie mitnahm. Also schleuderte ich sie in die hintere Ecke des Schranks. Ein Unfall, sagte ich mir. Es war ein Unfall, sie sind verletzt, aber noch am Leben. Mutter hätte mir nicht verschwiegen, wenn einer von ihnen gestorben wäre.
Als ich mich anzog, fühlte ich mich fiebrig. Der Stoff schmerzte auf meiner Haut. Der Mantel, den ich überstreifte, erdrückte mich beinahe mit seinem Gewicht. Meine Hände bebten, als ich die Tasche packte.
Ich wandte mich Michael zu. Er hatte seinen Körper inzwischen in einen Morgenmantel gehüllt.
»So«, sagte ich, wie immer, wenn ich etwas beendet hatte. Er breitete die Arme aus.
»Komm her«, murmelte er, zog mich an sich und vergrub sein Gesicht an meinem Hals, so wie ich meines an seinem. Fast schon verzweifelt schlang ich meine Arme um ihn und gab ihm einen leidenschaftlichen Kuss.
»Ich bin bei dir, hörst du?«, sagte er in mein Haar. »Egal, was du tust und was dir bevorsteht, ich bin bei dir. Mit meinen Gedanken helfe ich dir.«
»Das ist lieb«, entgegnete ich. »Danke.«
Eigentlich hätten seine Worte eine andere Entgegnung verdient gehabt, doch ich konnte nicht. Trotz allem, was Michael mir bedeutete: Das Telegramm hatte mich wieder zur Tochter des Hauses Lejongård gemacht, die keusch sein musste, bis ihre Eltern einen Mann für sie gefunden hatten. Es brach mir das Herz, aber ich hatte keine andere Wahl. Widerwillig löste ich mich von ihm und wandte mich meinem Gepäck zu.
»Kommst du zurück?«, hörte ich seine Stimme hinter mir.
Ich erstarrte. Er fragte das immer, wenn ich nach Hause fuhr, auch früher schon hatte er mir diese Frage gestellt. Früher hatte ich immer lachend mit Ja geantwortet, aber nun wurde mir das Herz schwer. Natürlich würde ich zurückkehren. Doch in diesem Augenblick konnte ich schwerlich sagen, wann das der Fall sein würde, und das beunruhigte mich ein wenig.
»Ich komme zurück, sobald ich kann, versprochen«, sagte ich und warf ihm noch einen Handkuss zu. Dann drehte ich mich endgültig um, nahm meine Tasche und verließ die Wohnung.
Draußen empfing mich der frische Geruch des Frühlings, der ausnahmsweise nicht von Gestank verdorben wurde: Hin und wieder erleichterte sich jemand in einem naheliegenden Hauseingang, meist am Sonntagabend, nachdem Horden von Studenten und anderen Männern aus den Gasthäusern gekommen waren.
War es möglich, dass sich die Guttempler bei den Studenten durchgesetzt hatten? Unwahrscheinlich.
Schnell schritt ich die Straße entlang. Der Stadtteil Norrmalm mit seinen breiten Straßen und klassizistischen Gebäuden war am Montagvormittag ein Ort reger Geschäftigkeit. Neben Arbeitern und Reisenden, die zum Bahnhof wollten, waren auch viele Studenten auf den Straßen unterwegs.
Ich hätte mich heute Mittag ebenfalls zu einem Seminar in der Königlichen Kunsthochschule einfinden müssen, doch dieser Gedanke erfüllte mich mit seltsamer Gleichgültigkeit. Mir schien es, als sei alles um mich herum in die Ferne gerückt, so als würde ich durch einen Nebel waten, der nur Konturen rings um mich auftauchen ließ. Das Einzige, was ich wirklich wahrnahm, war das Gewicht meiner Tasche und das unruhige Wühlen in meinem Magen. Wann mochte der nächste Zug fahren? Konnte ich Mutter vorher per Telegramm erreichen?
Es war erstaunlich, was das Schicksal anrichten konnte. Noch gestern hatte ich keinen Gedanken an mein Elternhaus verschwendet. Jetzt konnte ich an nichts anderes denken. Und auf einmal waren all die Gerüche und Eindrücke, die Sonnentage und auch die Verletzungen wieder da, Bilder, die unauslöschlich in meinem Verstand abgelegt waren.
»Agneta!«, riss mich eine Stimme aus meinen Gedanken. Ich blieb stehen und wandte mich um. Marit kam angelaufen. Sie hatte ihren grünen Rock gerafft, sodass man ein Stück ihrer langen Unterhose sehen konnte. Ihre braunen, immer ein wenig ausgetreten wirkenden Stiefeletten waren mit Matsch bespritzt. Ein selbstgestrickter Schal wehte um ihren Hals. »Du meine Güte, bist du taub?«, fragte sie, als sie mich erreichte. »Ich laufe schon ewig hinter dir her!«
Marit übertrieb, ich war gerade zweihundert Meter von meiner Wohnung entfernt. Aber so war meine Freundin. Ich stellte die Tasche vor mir auf den Boden, um sie in meine Arme zu schließen.
»Entschuldige bitte, ich war in Gedanken. Ich bin auf dem Weg zum Bahnhof. Familienangelegenheit.«
»Dann kommst du heute nicht zu der Aktion vor dem Büro des Dekans?« Marit wirkte enttäuscht. Mit flammendem Eifer organisierte sie Demonstrationen, beschaffte Materialien für Banner und trommelte die Frauen zusammen. Vor dem Büro des Dekans wollten wir heute gegen Bemühungen protestieren, die Einschreibungen von Frauen zu reglementieren. »Ich dachte, du stehst mit deiner Familie nicht mehr in so engem Kontakt.«
»Das stimmt, aber meinem Vater und meinem Bruder ist etwas zugestoßen. Es klingt ernst, und meine Mutter bittet mich, unverzüglich zu kommen.«
Marit schlug die Hand vor den Mund. »Das ist ja schrecklich! Hat sie geschrieben, was passiert ist?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Aber sie hätte sich nicht gemeldet, wenn es nicht wirklich dringend wäre.«
»Ach, das tut mir leid.« Sie schloss ihre Arme um mich und drückte mich fest. »Kann ich etwas für dich tun?«
»Ich fürchte nicht, aber danke. Ich melde mich, sobald ich Näheres weiß, ja?«
»Ja, bitte. Ich werde für deinen Vater und deinen Bruder beten. Ich hab es ja sonst nicht so mit Gott und der Kirche, aber in dem Fall werde ich eine Ausnahme machen.«
Das stimmte. Marit ließ sich nur selten in der Kirche sehen, weil sie fand, dass dort nichts für die Gleichstellung der Frauen getan wurde. Wenn sie anbot, für uns zu beten, war das schon etwas Besonderes.
Insgeheim wünschte ich mir, dass ich sie mitnehmen könnte. Was auch immer mich erwartete, ich würde ihre Unterstützung dringend brauchen, aber es ging nicht.
»Grüß die anderen von mir«, sagte ich, als ich sie wieder aus meinen Armen entließ. »Sag ihnen, dass ich ihnen die Daumen drücke für die Kundgebung.«
»Das ist jetzt nicht wichtig«, gab Marit zurück. »Für dich zählt erst mal deine Familie, sonst nichts. Obwohl ich zugeben muss, dass wir dich vermissen werden. Wenn ich daran denke, wie du Professor Svensson gegen die Wand geredet hast …«
»Danke.« Ich umarmte Marit erneut und drücke sie fest an mein Herz, dann hob ich meine Tasche wieder vom Boden auf. Sie schien noch schwerer geworden zu sein.
»Alles Gute, und pass auf dich auf!« Marit winkte, bis ich mich umwandte und weiterging.
Ich passierte die wunderschöne Königliche Oper, vor der ich sonst öfter stehen blieb, um sie zu betrachten, und näherte mich schließlich dem Bahnhof.
Rauchgeruch hing schwer in der Luft. Vom Hafen her ertönte das laute Horn eines Dampfers, gefolgt vom Pfeifen einer Lokomotive. Seit Schweden beschlossen hatte, sich nie wieder in irgendwelche Kriege hineinziehen zu lassen, befand sich das Land im Aufschwung. Und auch für uns Frauen änderte sich etwas. Wir konnten uns mit fünfundzwanzig Jahren für mündig erklären lassen, sofern wir nicht verheiratet waren. Erst vor Kurzem war ein Gesetz erlassen worden, das es Frauen erlaubte, ihren ererbten Besitz durch einen Ehevertrag zu schützen. Das waren wichtige Siege für die Frauenbewegung, allerdings hatten wir das größte Ziel noch nicht erreicht: das Frauenwahlrecht, das Finnland bereits vor sieben Jahren eingeführt hatte. Auch in Norwegen wurden Fortschritte gemacht, aber nicht hier. Die Politiker mochten sich vielleicht taub stellen, doch das bedeutete nicht, dass sie nicht merkten, was wir taten. Wir würden weiterkämpfen.
Auch in der Königlichen Kunstakademie tat sich einiges. Im Jahr 1864 war mit Anna Nordlander die erste Frau zugelassen worden. Der Versuch einiger Studenten und Künstler, die sich zu einer Gruppe namens »Opponenterna« zusammengeschlossen hatten, um grundlegende Reformen in Gang zu setzen, schlug zwar fehl, aber mittlerweile strömten immer mehr Frauen in die Akademie. Natürlich blieb es nicht ohne Konflikte, doch alle Mühen wurden von dem Gefühl der Freiheit aufgewogen.
Als ich endlich den Bahnhof erreichte, lief mir der Schweiß in Rinnsalen vom Gesicht und über den Rücken. Ich war froh, einen Mantel übergezogen zu haben. Die Märzluft trug die Ahnung des Frühlings in sich, aber dennoch war sie tückisch. Vor dem klassizistischen weißen Gebäude tummelte sich ein Gewirr von Menschen. Hier und da stach ein Hut heraus oder eine cremefarbene Anzugjacke. Droschken fuhren eng hintereinander, ihnen entstiegen weitere Passagiere. Ich fragte mich, wie sie es schafften, einander nicht in die Hacken zu treten.
Im vergangenen Jahr hatte ich den Bahnhof gemalt und mir eine Rüge von meinem Professor eingefangen. Ich hatte mich für den Stil van Goghs entschieden, weil ich wusste, dass Andersen ihn verehrte. Doch ich hatte mich verrechnet. Der Professor schlich um meine Staffelei herum, natürlich vor all meinen Kommilitonen, und wiegte den Kopf hin und her. Dann kratzte er sich am Kinn, kniff die Augen zusammen und wandte sich mir zu.
»Eine feine Arbeit«, sagte er, und ich war dumm genug, zu glauben, dass er tatsächlich zu einem Lob ansetzen würde. »Wirklich fein … für einen Kopisten.« Seine Miene verfinsterte sich so stark, dass ich meinte, vor den Fenstern wäre die Sonne verschwunden. »Allerdings glaube ich nicht, dass Sie hier sind, um sich zur Kunstfälscherin ausbilden zu lassen. Wenn dem nämlich so wäre, müsste ich darauf bestehen, dass Sie sofort der Universität verwiesen werden.«
Andersens Stimme donnerte durch den Saal. Ich erstarrte. Die Blicke meiner Kommilitonen trafen mich wie Nadelspitzen. Von den meisten hatte ich kein Mitleid zu erwarten. Es gab kaum Frauen in Andersens Seminar, und die meisten Männer waren wie der Professor selbst auch der Meinung, dass eine Frau besser in einer Ehe und hinter dem Herd aufgehoben war.
Einen ähnlichen Gedanken muss der Professor mir angesehen haben.
»Und bevor Sie mir nun wieder die Ansichten Ihrer Suffragetten-Freundinnen vorhalten«, fuhr er, jetzt richtig in Rage, fort, »so kann ich Ihnen versichern, dass ich Sie eigenhändig aus dem Kurs geworfen hätte, wenn Sie ein Mann gewesen wären. Wenn ich einen van Gogh sehen will, reise ich nach Paris, aber hier will ich sehen, wer Sie sind! Und ob Sie es verdienen, von mir ausgebildet zu werden!«
Ich starrte den Professor an. Zunächst war mein Kopf wie leer, dann wurde mir klar, was für einen großen Fehler ich gemacht hatte. Es war sonst nicht meine Art, irgendwem nach dem Mund zu reden. Warum hatte ich es bei Andersen versucht?
Tränen stiegen in mir auf, doch ich wollte nicht vor den anderen heulen. Die Burschen hätten mich gewiss ausgelacht. Ich dachte an meine Mutter, überlegte, was sie in dieser Situation gesagt und getan hätte. Und auf einmal wurde mein Selbstmitleid zu Zorn.
Andersen musterte mich, wahrscheinlich erwartete er Tränen. Doch er bekam den wütendsten Blick, zu dem ich imstande war.
Die Erinnerung beiseiteschiebend, betrat ich die Wartehalle des Bahnhofs. Mein Blick fiel auf die große Uhr. Seit dem Empfang des Telegramms war eine Stunde vergangen. Vor dem Fahrkartenschalter hatte sich eine lange Schlange gebildet. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich einzureihen. In meinen Schläfen pulsierte es. Unter der bogenförmig gewölbten Decke der Halle sammelten sich die Stimmen zu einem undurchdringlichen Gemisch, es klang beinahe wie Donnergrollen. Früher hatte ich dieses Geräusch aufregend gefunden: Nach der Stille, von der ich auf unserem Gut stets umgeben war, war dies der Klang der Welt, der Freiheit für mich. Aus irgendeinem Grund störte er mich jetzt, ja er wurde mir beinahe unerträglich.
Das Pfeifen eines einfahrenden Zuges lenkte mich ein wenig ab. Weitere Leute strömten in die Wartehalle. Einige trugen Lodenmäntel wie ich, andere waren in teure Pelze gehüllt. Eine Frau mit einem riesigen Federhut zog meinen Blick an. Meine Mutter hatte wahrscheinlich Dutzende solcher Hüte. Ich selbst hielt nicht viel von diesem Pomp und schon gar nicht von diesen Kopfbedeckungen. Sie waren schwer und plump und verdeckten oftmals den Menschen darunter.
»Fräulein?«
Ich wirbelte herum. Die Schlange war inzwischen vorgerückt, und ich war an der Reihe.
»Oh, verzeihen Sie bitte, ich war in Gedanken. Ich hätte gern eine Fahrkarte nach Kristianstad. Wann fährt der nächste Zug?«
»In einer halben Stunde«, antwortete er. »Einfach?«
»Ja«, hörte ich mich antworten, noch bevor ich nachdenken konnte. Michael hatte ich versprochen, möglichst bald wieder zurück zu sein. Doch wann würde das sein? Mutter hätte mir nicht geschrieben, wenn die Verletzungen nur leicht gewesen wären. Vater und besonders Hendrik brauchten meine Unterstützung. Und wenn das Schlimmste eintraf … Ich weigerte mich, daran zu denken.
Aber ich wusste, dass ich auch dann nicht ohne Weiteres zurückkehren konnte. Und Geld für ein Ticket zu verschwenden, das ich vielleicht nicht nutzen würde, konnte ich mir nicht erlauben.
Der Mann hinter dem Schalter beäugte mich kurz und nannte mir den Preis. Ich schob ihm die Kronen über den Tresen und machte mich mit der Fahrkarte auf den Weg. Die Zeit, die ich bis zur Abfahrt des Zuges noch hatte, würde ich dafür nutzen, Mutter zu telegrafieren.