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Burkhard Wetekam

… und am
DORNBUSCH
fällt ein Schuss

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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Über den Autor

1

Der Anruf aus Anklam kam um kurz vor zehn. Es war Anke Sikorski, die neue Leiterin der Kriminalpolizeiinspektion.

»Frau Bartel, Sie werden heute einen Ausflug nach Hiddensee unternehmen. Ich nehme an, Sie wissen, worum es geht?«

Sylke fragte sich später, was ihre erste Empfindung gewesen war, als sie diese Worte gehört hatte. Erschrecken? Kaum. Nervosität? Nicht wirklich. Gegen neun Uhr hatten die Kollegen über Funk von dem Leichenfund auf dem Leuchtturm gehört und das Thema war längst über alle Flure des Polizeireviers in Barth gelaufen.

»Ich kann es mir denken«, sagte sie. »Darf ich fragen, warum nicht die Kollegen aus Stralsund oder Bergen …«

»Der Kriminaldauerdienst aus Stralsund ist vor Ort. In Bergen grassiert gerade ein Magen-Darm-Virus. Wir werden eine Ermittlungskommission einrichten und ich möchte, dass Sie von Anfang an dabei sind.«

Ein leichtes Pochen machte sich in Sylkes Stirn bemerkbar. Anke Sikorski sprach wie eine Frau, die viel zu regeln hatte und nicht den leisesten Verdacht aufkommen lassen wollte, sie könne den Überblick verlieren.

»Ich danke Ihnen, dass Sie an mich denken!«

»Danken Sie mir nicht zu früh! Der Fall könnte heikel werden. Sie arbeiten mit Staatsanwalt Rieger zusammen. Soweit ich weiß, kennen Sie sich.«

»Das ist korrekt.«

Sylke hatte begonnen, Daten und Namen auf ihre Schreibtischunterlage zu kritzeln.

»Nehmen Sie auch Kontakt zu unserem Mann auf Hiddensee auf – die kleine Polizeistation, ich glaube er heißt …«

»Kalle Strohbach«, sagte Sylke. Kalle galt als nicht besonders helle.

»Er wird sie unterstützen – im Übrigen soll er seinen Mund halten. Der Fall wird auf großes Interesse in der Öffentlichkeit stoßen – deshalb müssen alle Beteiligten gegenüber der Presse oder anderen Außenstehenden absolut zurückhaltend auftreten. Richten Sie sich bitte darauf ein, dass Sie zunächst zwei bis drei Tage auf der Insel bleiben werden. Ich sende Ihnen ein erstes Dossier per E-Mail. Rufen Sie mich heute Abend gegen 18 Uhr noch einmal an!«

Als Sylke aufgelegt hatte, musste sie tief durchatmen. Dann wusste sie, was sie seit den ersten Sekunden des Gesprächs empfunden hatte: Es war so etwas wie Hunger. Hatte sie nicht lange auf diese Chance gewartet? Sie war weder zuständig noch außergewöhnlich qualifiziert, um in solch einer Ermittlungskommission eine herausgehobene Rolle zu spielen – aber irgendwer schien sie in Anklam empfohlen zu haben. Ihr alter Bekannter, Kriminalhauptkommissar Udo Brehm, konnte es wohl kaum gewesen sein. Wahrscheinlich würde er abwarten, bis Sylke erste Ergebnisse erzielt hatte, dann die Leitung der Ermittlungen übernehmen und die allgemeine Anerkennung für sich verbuchen. Der Idiot.

Sie bereitete alles für ihren Abflug vor. Kollegen Bescheid geben, ihren Stellvertreter informieren. Das Dossier ausdrucken, das per E-Mail kam. Dienstwaffe aus dem Schrank holen. Sie würde zu Hause schnell ein paar Sachen in ihre Sporttasche packen und dann auf dem schnellsten Weg nach Hiddensee fahren. Sylke sah aus dem Fenster. Der Blick von ihrem Büro ging auf den tristen Hinterhof hinter dem Barther Polizeirevier. Alles hier war eng und verbaut. Sie freute sich darauf, aus der Stadt rauszukommen.

2

Als Tom vom Tod des Klimaforschers hörte, war er gerade dabei, die Zutaten für eine Kürbissuppe nach indischer Art zu kaufen. In der Schlange vor der Fleischtheke berichtete eine gut informierte ältere Dame vom Tod des verrückten Klimotologen.

»Klimatologe heißt das – mit a wie Arschloch«, erwiderte ein durchtrainierter Rentner im Jogginganzug.

Die Frau störte sich nicht am aggressiven Tonfall des glatzköpfigen Zwerggorillas. Im Gegenteil, augenblicklich schien sich so etwas wie ein Gleichklang der Gesinnungen einzustellen. »Neulich hat er noch behauptet, dass Zingst bald absaufen wird – tja, und gestern ist er erschossen worden.« Die alte Dame hüstelte triumphierend und orderte zwei Kilo Hackfleisch.

Obwohl in dem kurzen Wortwechsel kein Name gefallen war, wusste Tom sofort, dass sie von Volker Flosbach gesprochen hatten. Er musste an den Abend im »Max Hünten Haus« denken, etwa sechs Wochen zuvor. An diesem Abend hatte es richtig Ärger gegeben. Und das war auch kein Wunder.

Jetzt war er also tot – erschossen. Tom horchte in sich hinein – die Gehässigkeit der beiden alten Leute war ihm unangenehm. ›Überhaupt‹, dachte er, ›hat die Gehässigkeit insgesamt zugenommen.‹ Er fand, dass es sich nicht gehörte, über den Tod eines Menschen so ungeschminkt seine Genugtuung zu äußern. Aber war es besser, wenn man die Genugtuung nur insgeheim mit sich herumtrug? Er ließ den Blick im Zingster Edeka-Markt schweifen, wo an diesem Vormittag im Spätsommer reger Betrieb herrschte. Touristen, Hausfrauen, Rentner und eine laut schwadronierende Gruppe Jugendlicher schlenderten zwischen den Regalen hindurch. Tom fragte sich, wie viele von ihnen Flosbach gekannt und wie viele ihn verachtet hatten. Es war gut möglich, dass beide Zahlen ungefähr gleich hoch waren.

Er kaufte 300 Gramm Hühnerbrustfilet. Es war die letzte noch fehlende Zutat für die Kürbissuppe. Auf dem Rückweg dachte er wieder an den Abend im Max Hünten Haus. Die Veranstaltung hatte in einer angespannten, aber friedlichen Stimmung begonnen: Flosbach wirkte wie ein abgehalfterter Cowboy. Sein Gesicht war sonnengebräunt und von tiefen Falten durchzogen. Der Blick hatte Tom an einen grimmigen Hund erinnert, und seine Haare, gewellt und hellbraun mit einem Stich ins Rötliche, ließen sich grundsätzlich nicht dazu überreden, so etwas wie eine Frisur zu bilden.

So hatte Flosbach, an einem schlichten weißen Tisch sitzend, weit nach vorn gebeugt, mit mahnend erhobener Hand und einer kernigen Hausmeisterstimme etwa 60 interessierten Bürgerinnen und Bürgern seine Thesen an den Kopf geworfen, während auf seinem eigenen Kopf die Beinahe-Locken wilde Tänze vollführten. Dass Flosbachs Thesen in Zingst nicht gerne gehört wurden, konnte Tom verstehen. Wer lässt sich schon gerne sagen, dass er auf einem Pulverfass sitzt. Oder – um es etwas treffender zu formulieren – dass er demnächst absaufen wird. Dass die Wanne überläuft. Dass alle Katzen ertrinken – und diejenigen, die nicht schnell zu Fuß sind oder ein Boot besitzen, gleich mit.

In Flosbachs Kurzbiografie war zu lesen, dass er eine Professur in Flensburg innehatte und außerdem als Autor und Redner tätig war. Flensburg? Professur? Tom hatte gar nicht gewusst, dass es da oben an der Grenze zu Dänemark neben der Verkehrssünderkartei auch noch eine Hochschule gab. Flosbach jedenfalls war in jeder Hinsicht ein Grenzfall. Was immer man zum Klimawandel sagen konnte – dass er tatsächlich auch Gewinner hervorbrachte, dafür lieferte der raubeinige Klimakundler den Beweis. Seine Bücher erreichten erstaunliche Auflagen, seine Vorträge waren gut besucht und Tom hatte ihn auch schon mal in einer Fernsehsendung des NDR gesehen.

An die Details aus Flosbachs Klimaprognosen konnte sich Tom nicht mehr erinnern. Aber umso besser an die Schlussfolgerungen. Darum war es im zweiten Teil seines Vortrags im Max Hünten Haus gegangen. Im Laufe dieser Dreiviertelstunde waren die bis dahin geduldigen Zuhörer zunehmend unruhiger geworden.

Flosbach hatte seinem staunenden Publikum vorgerechnet, was der Küstenschutz in Mecklenburg-Vorpommern ab dem Jahr 2050 seiner Meinung nach kosten werde. Und da dies nicht zu bezahlen sei, empfahl er, tief gelegenen Kommunen wie Zingst, das bekanntermaßen nur knapp über dem Meeresspiegel lag, im Laufe der kommenden Generation zu räumen und den Kräften einer entfesselten Natur zu überlassen. Diesen Prozess müsse man frühzeitig einleiten und solle deshalb bereits jetzt darüber nachdenken, langfristige Investitionen einzuschränken. Dies gelte beispielsweise für den Straßen- und Gebäudebau. Die Erschließung neuer Baugebiete solle verboten werden.

Es war vermutlich das erste Mal gewesen, dass Flosbach so deutlich über die Konsequenzen aus seinen Prognosen gesprochen hatte. Als er diesen Punkt in seinem Vortrag erreicht hatte, war in den hinteren Reihen ein kleiner Tumult ausgebrochen. Entrüstete Zuhörer bezeichneten den Redner wahlweise als Volksverräter oder Märchenonkel. Irgendwer rief, er solle sich zum Teufel scheren. Als ein Plastikbecher mit einem Bierrest auf Flosbachs Papieren landete, stand er auf und wischte sich einige Spritzer vom Hemd. Er strich sich die Haare aus der Stirn und blickte ins lärmende Publikum. Die Störenfriede in der letzten Reihe schimpften auf den Redner, andere wollten weiter zuhören und schimpften auf die Störenfriede. Tom saß ganz am Rand der dritten Reihe und versuchte, Flosbachs Gesichtsausdruck zu deuten. Er zeigte keine Zeichen von Verärgerung und schien sich auch keine Sorgen um seine Sicherheit zu machen. In seinem Blick lag eher so etwas wie Neugier – so, als ob ein Teil seiner Forschungsarbeit darin bestünde, die hysterischen Reaktionen auf seinen provozierenden Vortrag zu analysieren und zu bewerten. Und ja, eine Spur von Spott spielte wohl auch um seine Mundwinkel. Er stand einige Sekunden ruhig wie ein Fels in der Brandung und ließ den Sturm der Beschimpfungen an sich abprallen. Dann verließ er den Saal wortlos durch einen Nebenausgang.

3

Sylke hatte sich nie sonderlich für Hiddensee interessiert, also auch nicht für die Frage, wie man auf diese Insel gelangt und sich dort fortbewegt. Vor einigen Jahren hatte das Polizeirevier in Barth einen Betriebsausflug dorthin unternommen. Aber das war etwas anderes gewesen. Sie hatten es nicht eilig gehabt, schon auf der Fähre hatten sie die Biervorräte geplündert und viel gelacht. Die Zeit war wie im Flug vergangen. Auf der Insel hatten sie das nächstbeste Lokal mit einem akzeptablen Getränkeangebot aufgesucht. Es lag nicht weit vom Hafen entfernt. Sylke hatte mit einem Polizeianwärter geflirtet, der inzwischen nach Neubrandenburg versetzt worden war und geheiratet hatte.

Sie seufzte. Endlich schaltete die Ampel an der Abzweigung zur Rostocker Chaussee auf Grün. Die kürzeste Fährverbindung nach Hiddensee startete in Schaprode auf Rügen – aber um die zu nutzen, musste man erst einmal nach Schaprode kommen. Die Autokolonne setzte sich träge in Gang und schob sich wenig später auf die Rügenbrücke.

In Gedanken trug die Kriminalpolizistin die spärlichen Fakten über den Fall zusammen, die sie dem Dossier entnommen hatte, das ihr kurz nach dem Gespräch mit Anke Sikorski zugeschickt worden war. Volker Flosbach, Professor der Geografie in Flensburg, lebte zumindest zeitweise in einer Villa auf Hiddensee. Seine Frau hieß Greta Evani und besaß als Chanson-Sängerin eine gewisse lokale Bekanntheit. Außerdem hatte Flosbach eine Tochter aus erster Ehe, die aber nicht mehr zu Hause wohnte. Der Geograf und Klimaforscher war bekannt durch seine provokativen Veröffentlichungen zum Thema Klimawandel – er hielt es für eine ausgemachte Sache, dass die Welt vor einer apokalyptischen Zukunft stünde.

Ein Zeitungsbericht schilderte tumultartige Szenen während eines Vortrags, den Flosbach einige Wochen zuvor in Zingst gehalten hatte. Dabei hatte er offenbar Berechnungen zum zukünftigen Küstenschutz vorgestellt, in deren Konsequenz er empfahl, den Badeort im Laufe der nächsten ein bis zwei Generationen zu räumen. Sylke hatte mit dem Kopf schütteln müssen, als sie das gelesen hatte. Selbst wenn der Meeresspiegel noch so dramatisch steigen würde, konnte es doch nicht angehen, dass ein einzelner Wissenschaftler sich hinstellte und die Aufgabe ganzer Ortschaften forderte. Sie hatte so etwas noch nie gehört.

Gerade fuhr sie über die Rügenbrücke. Die Sonne hatte eine Lücke in der Wolkendecke gefunden und brachte das tiefblaue Ostseewasser zum Leuchten. Sylke versuchte über ihre Schulter einen Blick auf Stralsund zu erhaschen. Sie sah weiße Segel auf dem Strelasund und zwischen den Hafengebäuden den eigenwilligen Baukörper des Ozeaneums, ein weißer Wal, der auf der Hafeninsel gestrandet war. Kaum vorstellbar, dass sich an dieser Landschaft irgendwann etwas Grundlegendes ändern würde.

Eine halbe Stunde später traf sie am Hafen von Schaprode ein. Sie hatte Glück: Die Fähre würde bald ablegen, die Zufahrt war geöffnet und Platz auf dem Fahrzeugdeck gab es auch noch. Ein Kaugummi kauender Angestellter der Fährgesellschaft bedeutete ihr anzuhalten. Er machte ein Gesicht, als sei ihm das Mittagessen schlecht bekommen.

»Hiddensee ist autofrei. Sie müssen Ihren Wagen hier lassen.«

Sylke zeigte ihm ihren Dienstausweis.

»Ich bin Ermittlungsbeamtin im Dienst.«

»Haben Sie eine Sondergenehmigung?«

»Es ist ein kurzfristiger Einsatz.«

»Die Sondergenehmigung kriegen Sie im Rathaus in Vitte.«

»Da will ich ja nachher noch hin.«

»Erst brauchen Sie die Sondergenehmigung.«

Sylke holte ihr Telefon aus der Tasche.

»Warten Sie, ich rufe den Kollegen auf der Insel an.«

»Wir legen aber jetzt ab.«

»Ich werde das klären, und dann …«

»Nö. Wir legen jetzt ab.«

Sie hätte dem Mann eine Ohrfeige verpassen können. Wütend setzte sie ihren Kleinwagen zurück und parkte ihn am Rand der Zufahrt. Sie riss die Kofferraumhaube auf und holte ihre Sporttasche heraus.

Der missgelaunte Fährmann spuckte sein Kaugummi knapp an Sylkes Füßen vorbei. »Besonders gut steht Ihr Wagen da ja nicht. Hoffen wir mal, dass das gutgeht!«

Der Himmel hatte sich wieder zugezogen und ein frischer Westwind wehte ihnen entgegen. Die Fähre schob sich ächzend und leicht schaukelnd durch das Fahrwasser zwischen Rügen und Hiddensee. Sylke suchte die Nummer von Kalle Strohbach aus ihrem Notizbuch und rief ihn an.

»Ja, bitte?«

»Kollege Strohbach? Hauptkommissarin Bartel hier, ich wurde aus Barth abgeordnet, um vorläufig die Ermittlungen bei euch zu koordinieren. Leider durfte ich mein Auto nicht mitnehmen. Können Sie mich am Hafen von Vitte abholen?«

»Ähh … nein.«

»Warum nicht?«

»Ähh … der Streifenwagen ist nicht einsatzbereit.«

»Dann nehmen Sie ein Ersatzfahrzeug!«

»Haben wir nicht.«

»Kollege Strohbach – wie Sie das lösen, ist mir egal, ich möchte am Hafen abgeholt werden. 12 Uhr 15 bin ich vor Ort. Und noch etwas: Ich benötige ein Zimmer zum Übernachten.«

»Die Insel ist um diese Zeit mehr oder weniger ausgebucht.«

»Herrgott, irgendetwas wird es doch geben!?«

»Vielleicht – vielleicht aber auch nicht.«

»Wir benötigen Räume für die Ermittlungskommission.«

»Da überlasse ich Ihnen gerne mein Büro.«

»Na, wenigstens etwas – wir sehen uns dann gleich am Hafen.«

Inzwischen hatte die Fähre auf einen nördlichen Kurs gedreht und fuhr eine Weile parallel zum Ufer. Die lang gestreckte Insel ragte als braungrüner Streifen knapp über die Wasserfläche. Sylke kämpfte gegen das bedrückende Gefühl an, dass sie vom äußersten Rand der Zivilisation nicht mehr allzu weit entfernt war. Nach einer Dreiviertelstunde Fahrt verlor die Fähre an Geschwindigkeit und schlich auf das Hafenbecken von Vitte zu, wo sie in einer umständlichen Prozedur anlegte. Die Zeit schien sich mit jeder Minute zu dehnen, ein Kaugummi, das sich von einer Landzunge zur anderen spannte, von einer Mole zur nächsten.

Auf dem Hafenplatz sah Sylke Touristen in Regenjacken, viele Fahrräder, noch mehr Handwagen, sogar eine schwarze Hochzeitskutsche, die mit Blüten, Fähnchen und einer bunten Girlande verziert war. Alles wirkte friedlich, niemand schien sich mit einem Mord zu beschäftigen, der nur wenige Kilometer weiter nördlich begangen worden war. Sylke sah sich nach einem Polizisten um. Es gab keinen. Sie hatte einen Fluch auf den Lippen, als ihr jemand auf die Schulter tippte.

Vor ihr stand ein großer, blonder Kerl mit einem bubenhaften Gesicht. Er trug Jeans und eine blaue Flanelljacke mit einem aufgenähten Logo, dass einen lächerlich grinsenden Seefahrer mit Rauschebart und Tabakpfeife zeigte. »Frau Kollegin Bartel? Ihr Wagen ist da.«

Sylke nickte ihm säuerlich zu. »Tragen Sie keine Uniform?«

»Ist gerade in der Wäsche. Außerdem hat das Vorteile, wenn man hier sozusagen inkognito unterwegs ist.« Wenn Kalle Strohbach lachte – und er schien gerne zu lachen – zeigte er seine schiefen Schneidezähne.

Sylke sah sich um und konnte kein motorisiertes Fahrzeug entdecken. »Wo ist denn …?«

Der blonde Riese zeigte auf die Hochzeitskutsche. Zwei hellbraune Pferde warteten geduldig auf einen Auftrag, auf dem Kutschbock kauerte ein weißhaariger Mann in Lederweste.

»Das ist nicht Ihr Ernst, oder?«

»Ich hab ja gesagt, dass …«

»Wenn Ihr Dienstfahrzeug kaputt ist, dann müssen Sie es reparieren lassen!«

»Es ist gar nicht kaputt. Wir betreiben hier das einzige Elektrofahrzeug der Polizei von MV.«

»Und?«

»Ich habe gestern Abend leider versäumt, es an den Strom anzuschließen. Wir müssen noch etwa zwei Stunden warten, dann könnten wir …«

Sylke betrachtete voller Widerwillen die schwarz glänzende Kutsche mit dem bunten Blumenschmuck. »Und warum muss es ausgerechnet so ein Gefährt sein?«

»Wir haben noch Hochsaison, Frau Bartel. Die anderen Kutschen sind ausgebucht.«

»Ach, hören Sie doch auf!«

Sylke warf ihre Sporttasche in die Kutsche und stieg ein. Kalle setzte sich neben sie. Wahrscheinlich gaben sie das merkwürdigste Hochzeitspaar ab, das die Insel seit Langem gesehen hatte.

»Wir fahren nach Kloster«, rief Kalle dem Weißhaarigen zu. Der Mann erwachte aus seinem Tagtraum und schnalzte. Sylke beschloss, sich durch nichts mehr aus der Ruhe bringen zu lassen.

4

»Die Lucy hat mich gefragt, ob wir das Haus ihrer Oma kaufen wollen.«

Sie saßen am Küchentisch und aßen Kürbissuppe. Clara sagte gerne die Lucy. Bei anderen Kolleginnen tat sie das nicht. Die hießen Jennifer oder Heike. Aber Lucy hieß die Lucy. Tom wusste nicht, warum. Vielleicht war sie etwas Besonderes, etwas Feineres. Er hatte keine Ahnung und dachte an den toten Klimaforscher.

»Der Flosbach ist erschossen worden.«

Clara blickte auf.

»Was hat das jetzt mit dem Haus zu tun?«

»Nichts – aber es ist doch eine spannende Nachricht.«

»Und dass wir das Haus von Lucys Oma kaufen könnten, ist nicht spannend? Endlich könnten wir raus aus dieser Wohnung, wir hätten einen eigenen Garten, Platz für meine Werkstatt. Und du …«

»Clara, darüber reden wir doch jetzt schon den ganzen Sommer. Mal soll die Oma ins Altenheim ziehen, dann soll sie doch bleiben, dann soll ihr Großneffe das Haus übernehmen – das kann sich doch noch Jahre hinziehen.«

»Lucys Oma ist letzte Woche gestorben – hatte ich das nicht erwähnt?«

»Nö.«

»Und der Großneffe hat einen Studienplatz in München.«

»Und der Flosbach ist noch immer tot.«

Clara sah ihn mit schief gelegtem Kopf an. »Du willst mich verarschen.«

»Absolut nicht. Vorhin an der Fleischtheke war das Gesprächsthema, aber man weiß ja nie, was die alten Leute sich so zusammenreimen, wenn sie auf die blutigen Steaks starren. Deshalb habe ich eben im Internet nachgesehen. Er ist tatsächlich heute Nacht erschossen worden. Auf Hiddensee, oben auf dem Leuchtturm.«

»Nachts auf dem Leuchtturm? Was hat er denn da gemacht?«

»Darüber wusste die Internetseite der Ostsee-Zeitung leider nichts.«

Clara nickte nachdenklich. »Er hat sich ja bei einigen Leuten unbeliebt gemacht. Aber gut – geht uns eigentlich nichts an. Und was hältst du jetzt von der Sache mit dem Haus von Lucys Oma?«

»Interessant.«

»Mehr nicht?«

Tom war etwas enttäuscht über den Gesprächsverlauf. »Das war jetzt so etwas wie eine Kreuzsee.«

»Eine was?«

»Moment!« Er hatte ein etwas zähes Stück Hühnerfleisch erwischt und musste erst einmal zu Ende kauen, bevor er Clara seine Gedanken erläutern konnte. »Manchmal kommt es vor, dass die Wellen auf dem Meer in verschiedene Richtungen laufen, zum Beispiel, wenn der Wind plötzlich gedreht hat. Und da, wo sie zusammenstoßen, wird es sehr ungemütlich – das Wasser ist aufgewühlt, die Wellen werden plötzlich sehr hoch, sodass kleinere Boote darin kentern können. Das nennt man dann Kreuzsee.«

»Toll. Und was hat das jetzt zu bedeuten?«

»Wir haben beide gleichzeitig versucht, eine interessante Neuigkeit zu erzählen, und was dabei herauskam, war ein etwas wirres Gespräch, in dem Dinge aufeinander prallten, die nichts miteinander zu tun haben.«

Clara blickte nachdenklich über den Esstisch. »Vielleicht haben beide Nachrichten ja doch etwas miteinander zu tun.«

»Meinst du, der Geist von Lucys Oma hat Flosbach erschossen?«

»Blödmann – ich meinte es eher allgemein. Flosbach hat sich wegen seiner Äußerungen über Zingst hier total unbeliebt gemacht. Jetzt stellen sich manche die Frage, ob der Wert ihrer Immobilien leiden könnte. Vielleicht will der Großneffe genau deshalb das Haus nicht übernehmen.«

Tom hielt das für sehr weit hergeholt. »Von den Thesen Flosbachs, denen kein Mensch zustimmt, bis zu ganz konkreten Handlungen ist es doch ein weiter Weg. Denkst du, dass wegen dieses düsteren Zukunftsgeredes auch nur ein einziger Mensch sein Haus hier verkaufen würde?«

»Ich weiß nicht. Du hättest also kein Problem, das Haus von Lucys Oma zu kaufen? Auf einem Grundstück, das nur einen kleinen Luftsprung über dem Meeresspiegel liegt, und mit einem Kredit, den du in den nächsten dreißig Jahren abbezahlen musst? Was ist, wenn in dieser Zeit der Meeresspiegel genau um diesen Luftsprung ansteigt, wie Flosbach es für möglich hält? Und was ist mit unseren Kindern, die dieses Haus irgendwann mal erben werden und anschließend weitere vierzig Jahre hier leben wollen?«

Tom ließ sich ein Stück weich gekochten Kürbis auf der Zunge zergehen, um etwas Zeit zu gewinnen. Der Geschmack changierte zwischen Nuss und Möhre, hatte aber auch einen süßlichen Unterton, als hätte jemand heimlich etwas Banane in die Suppe gerührt. »Das sind mir zu viele komplizierte Fragen auf einmal. Ich muss darüber in Ruhe nachdenken. Und ich habe keine Ahnung, ob ich die Idee mit dem Haus überhaupt gut finde.«

Clara lehnte sich zurück und sah ihn neckisch an. »Und die Idee mit den Kindern?«

»Ach, Clara, ich weiß im Augenblick nur eins.«

»Und das wäre?«

»Diese Kürbisse, die neuerdings in Vorpommern wachsen, schmecken erstaunlich gut.«

Später tranken sie Espresso. Clara lag auf dem Sofa und las Zeitung. Das tat sie meistens, wenn sie vom Frühdienst erschöpft war. Manchmal schlief sie dann mit der Zeitung in der Hand ein. »Du Tom, darf ich dir etwas sagen?« So leitete sie meistens eine Beschwerde ein.

»Natürlich!«

»Es ist toll, dass du in letzter Zeit so viel und so gut kochst. Ich mag das, nach Hause zu kommen, und der Mann im Haus hat das Mittagessen zubereitet.«

»Aber?«

»Es könnte von mir aus immer so weiter gehen.«

»Wo ist jetzt das Problem?«

»Es gibt kein Problem – ich habe nur einen winzigen Verbesserungsvorschlag.« Clara richtete sich auf und blickte ihn treuherzig an. »Warum gibt es dauernd Kürbis? Nicht, dass du mich falsch verstehst, aber … Kürbissuppe, Kürbisauflauf, Kürbispizza, Kürbisquiche, dann wieder Kürbissuppe. Das ist mir auf Dauer zu einseitig.«

»Es ist halt die Jahreszeit.«

»Aber es gibt doch jetzt auch noch andere schöne Sachen.«

Tom seufzte. Er hatte das schon seit Tagen befürchtet. Clara hatte den Speiseplan erstaunlich lange geduldet. »Ich muss dir da etwas erklären. Ich habe einen Klienten, mit dem ich ein Basishonorar und ein Erfolgshonorar vereinbart habe. Das Erfolgshonorar besteht aus einer Geldzahlung, das Basishonorar aus Kürbissen.«

»Wieso das denn?«

»Kürbisse sind das Einzige, was er im Augenblick im Überfluss hat. Gerald Groeben ist derjenige, der hier in der Gegend die größten Kürbispflanzungen unterhält – überwiegend diese wunderschön orangeroten Hokkaidos. Leider werden diese sympathischen Riesenbeeren in letzter Zeit im großen Stil vom Acker geklaut. Groeben hat mich gefragt, ob ich ihm helfen würde, den Dieb zu finden.«

Clara musste lachen. »Nein, wie blöd! Das stelle ich mir schwierig vor.«

»Ist es auch. Ich muss auch gleich wieder hin. Der Mann hat schon dreimal angerufen – heute Nacht hat der Dieb wieder zugeschlagen. Es wird langsam unangenehm, aber ich kann den Acker ja nicht rund um die Uhr bewachen. Heute Abend könnte es aber sehr spät werden. Ich nehme mir was zu essen mit.«

Clara lachte noch immer. »Das ist wirklich zu blöd. Warum erntet er seine Kürbisse nicht einfach ab?«

»Wenn sie nicht richtig ausgereift sind, lassen sie sich nicht lange lagern.«

»Da spricht der Experte – und wo kommen die Kürbisse her, die wir seit zwei Wochen täglich essen?«

»Das sind Pflanzen, die schon früh im Gewächshaus auf ihren Einsatz vorbereitet worden sind. Mit denen wird die Kürbissaison noch länger.«

»Frag den Herrn Groeben doch mal, ob er das Basishonorar nicht auch in Form von anderen Ackerfrüchten zahlen kann!«

»Wenn du mir dein Auto leihst, werde ich mich gerne darum bemühen.«

Clara ließ sich auf das Sofa zurückfallen und sah grimmig an die Decke. »Immerhin nett, dass du noch fragst. Du könntest dir mal einen eigenen Firmenwagen anschaffen.«

Tom stand auf, gab ihr einen Kuss und zog sich die Jacke über. Im Weggehen drehte er sich noch einmal um. »Der Autohändler nimmt leider keine Kürbisse.«

5

Die Hufe der beiden Pferde klackerten einen verträumten Samba auf die Betonpiste. Wie ein großer Bollerwagen rumpelte und quietschte die Kutsche. Spaziergänger blieben stehen, blickten ihnen nach. Einige lachten, andere zückten ihre Mobiltelefone und machten Fotos. Sylke klammerte sich mit einer Hand krampfhaft an die Seitenwand und versuchte sich auf ihren Vorsatz zu konzentrieren, sich nicht mehr aus der Ruhe bringen zu lassen.

Es war die mit Abstand langsamste und eigenartigste Einsatzfahrt, die sie je erlebt hatte. Immerhin konnte man sich so den Lärm eines Martinshorns sparen. Kalle Strohbach fühlte sich verpflichtet, der Kollegin vom Festland einige Sehenswürdigkeiten zu erläutern und ihr das Dorf Kloster als kulturelles Zentrum der Insel näherzubringen. Gleich vorn am Ortseingang lag, etwas zurückliegend in einem Winkel zwischen dem Deich und einem steilen Hang, das Hiddenseer Heimatmuseum.

»Hier wird der Goldschatz gezeigt, der nach den großen Sturmfluten in den 1870er-Jahren nach und nach gefunden wurde«, erklärte der Inselpolizist. »Es ist echter Wikingerschmuck.«

»Was Sie nicht sagen!«

»Also, wir haben hier leider nicht den richtigen Schatz, sondern nur ein Desiderat.«

»Sie meinen: Duplikat?«

»Ja, sage ich doch! Also, ich denke, man könnte hier auch unbesorgt das Original zeigen. Ich würde mir schon zutrauen, darauf aufzupassen.« Er lachte wieder.

Sylke presste sich tief in die Rückenlehne und starrte geradeaus.

»Hier links kommt jetzt das Gerhart-Hauptmann-Haus. Wussten Sie, dass der Mann einen Nobelpreis bekommen hat?«

Sylke schüttelte verzweifelt den Kopf. »Gegenfrage: Können Sie mir etwas über Volker Flosbach sagen? War er hier auf der Insel auch so prominent wie Gerhart Hauptmann?«

Kalle reckte den Kopf in die Luft. »Eher weniger. Er selbst war ja oft gar nicht hier, weil er in Flensburg an der Universität gearbeitet hat. Seine Frau wohnt wohl die meiste Zeit oben in der Villa. Sie ist Sängerin – haben Sie das gewusst?«

»Schon, ja.«

»Kennen Sie das? ›Mit der Flut kommt Ruth‹.« Der große, stämmige Mann sang mit einer überraschend knabenhaften Stimme ein paar wackelige Töne. »Das war ihr bekanntestes Lied, ist aber auch schon zwanzig Jahre her. Sie tritt gelegentlich mal beim Hafenfest auf. Schlager und Chansons und so was.« Sie passierten die Inselkirche. »Da links, auf dem Friedhof, ist der Hauptmann begraben.«

»Welcher Hauptmann?«

»Na, der Gerhart. Und Gret Palucca und Walter Felsenstein. Kennen Sie Felsenstein?«

Sylke seufzte. »Nicht wirklich.«

Kalles Stimme wurde düster. »Demnächst wird dann wohl auch Volker Flosbach hier liegen.«

»Geht das nicht ein bisschen schneller?«, rief Sylke dem Kutscher zu.

Der weißhaarige Mann drehte sich um und warf ihr einen langen Blick zu. »Junge Frau, das ist das übliche Insel-Tempo. Wenn ich schneller fahre, sitzt mir gleich die Polizei im Nacken.«

Sylke glaubte sein Kichern zu hören, aber vielleicht war es auch nur das Quietschen der Federung. An der nächsten Kreuzung zweigte endlich der Leuchtturmweg ab. Als die Kutsche um die Kurve rollte, kam ihnen ein etwa fünfzigjähriger Mann auf einem Fahrrad entgegen. Kalle ließ den Kutscher anhalten. Er stieg aus und versperrte dem Radfahrer den Weg. »Stopp, stehen bleiben, sofort stehen bleiben!«

Sylke drehte sich zur Seite. »Herr Strohbach, was wird das denn jetzt?!«

Auch der Radfahrer sah dem Polizisten verwundert entgegen und bremste ab. »Was ist denn los, Mann?«

Kalle trat ihm mit hoch erhobener Dienstmarke entgegen. »Nichts, ›Mann‹! ›Guten Tag, Herr Polizeiobermeister‹ heißt das.«

»Und? Wie steht’s, Herr Oberpolizeimeister?«

»Was haben Sie da am Lenker hängen?«

Es war unschwer zu erkennen, dass dort eine blassgelbe, abgenutzte Einkaufstasche baumelte. »Das ist mein Proviant. Hab mal ’nen Ausflug zum Bessin gemacht. Wollte mal schauen, wie weit der Sanddorn ist.«

Kalle zupfte an dem Einkaufsbeutel und hob drohend die Hand. »Wenn diese Tasche in die Speichen kommt, dann liegst du ganz schnell auf der Piste. In diesem Zustand ist das Fahrrad nicht verkehrstauglich.«

Der Mann strich sich den Schweiß von der Stirn und blickte Kalle entgeistert an. »Ist das jetzt Ihr Ernst?«

Sylke schlug mit der Faust auf die Kutschbank. »Herr Strohbach, kommen Sie bitte!«

»Ich belasse es für dieses Mal bei einer unentgeltlichen Verwarnung«, verkündete Kalle.

Der Mann nahm zögernd die Tasche vom Lenker. »Soll ich das Ding jetzt in die Hand nehmen? Ist das denn sicherer?«

»Wie Sie das lösen, ist Ihr Problem. Gepäckträger, Fahrradkorb, Anhänger – es gibt viele Möglichkeiten.« Kalle kehrte mit breiter Brust zurück. Die Kutsche schaukelte, als er sich auf seinen Platz fallen ließ.

»War das jetzt nötig?«, zischte Sylke. »Wir haben ein Tötungsdelikt aufzuklären.«

»Verkehrserziehung ist auch wichtig. Zum Glück gibt es bei uns selten schwere Unfälle. Sie können mich übrigens auch gerne Kalle nennen.«

Sylke schüttelte den Kopf und tröstete sich damit, dass die Kutsche nun endlich den Ort hinter sich ließ. Der Leuchtturmweg erklomm in malerischen Bögen das nördliche Hochland der Insel. Dabei wurde die Piste nun richtig steil, die Pferde schnaubten und verlangsamten ein weiteres Mal ihr Tempo. Der weißhaarige Kutscher rief den Tieren aufmunternde Worte zu. Sylke war mittlerweile überzeugt, dass ein Fluch auf ihrem Auftrag lastete. Je näher sie dem Tatort kam, umso langsamer ging es voran – sie hatte das Gefühl, dass sie bald in einer quälenden Zeitlupe stecken bleiben würde. Die Zeit würde einfach anhalten und in den nächsten tausend Jahren würde sich diese verdammte Kutsche keinen Millimeter mehr voran bewegen. Es war eine Katastrophe.

Und es war noch nicht zu Ende. Kurz bevor sie ein kleines Waldstück durchquerten, wies der Inselpolizist mit dem Daumen über die Schulter. »Ich weiß, dass Sie gerade in Gedanken mit dem Toten auf dem Leuchtturm beschäftigt sind. Aber es würde sich lohnen, einmal nach hinten zu blicken. Von dieser Stelle aus haben Sie einen wunderbaren Blick über die gesamte Insel.«

Widerwillig drehte Sylke den Kopf um. Sie sah einen Streifen Land, der sich zwischen grauen Wasserflächen weit nach Süden erstreckte. Irgendwo im Süden von Kloster verschwand die Landschaft in einem undurchdringlichen Dunst. Erde, Wasser und Himmel flossen ineinander, die Welt verlor jede Form.

»Gut, ich gebe zu, wir hatten schon bessere Wetterbedingungen«, seufzte Kalle.

Sie rollten inzwischen durch einen beschaulichen Kiefernwald. An einer Wegkreuzung nahm die Kutsche einen Abzweig nach links und passierte wenig später das Ausflugslokal »Zum Klausner«, das malerisch oberhalb des Steilufers lag. Dann war der Wald zu Ende. Unvermittelt öffnete sich der Blick auf das Hochland. Über sanften Hügeln, die mit trockenem Gras, Ginster und einigen windzerzausten Kiefern bewachsen waren, erhob sich der Leuchtturm Dornbusch. Der weiße Zylinder, gekrönt von einem gläsernen Laternenhaus mit einer markanten roten Blechkuppel, beherrschte das Bild und erschien zugleich wie ein Fremdkörper, ein Solitär, der auch nach tausend Jahren nicht mit dieser kargen Landschaft verwachsen würde. Es war ein Postkartenmotiv, millionenfach reproduziert, kein Maler hätte es besser komponieren können. ›Ein seltsamer Ort, um einen Menschen umzubringen‹, dachte Sylke. Nachdem sie so lange gebraucht hatte, den Tatort zu erreichen, ließ der Anblick des Leuchtturms sie schaudern.

Am Fuß der Treppe, die zum Eingang des Turms führte, standen zwei Kleinbusse – die Kollegen aus Stralsund hatten es also irgendwie geschafft, ihre Fahrzeuge bis zu diesem Punkt am Ende der Welt zu bringen. Sylke nahm ihre Sporttasche über die Schulter und ging entschlossen darauf zu. Kalle hielt sich zwei Schritte hinter ihr. Am rot-weißen Absperrband erwarteten sie zwei Kollegen vom Kriminaldauerdienst.

»Frau Bartel? Da sind Sie ja endlich!«

Es war genau die Art von Empfang, die Sylke wieder in Schwung brachte. »Danke für die nette Begrüßung. Die originelle Wahl der Verkehrsmittel war nicht meine Idee.« Sie konnte aus den Augenwinkeln sehen, dass Kalle sein Gesicht verzog. »Können wir uns bitte die Leiche ansehen?«

Die beiden Beamten aus Stralsund, einer grauhaarig und um die sechzig, der andere bärtig, untersetzt und zwanzig Jahre jünger, folgten ihr zum Leuchtturm. Sie hatte bemerkt, wie die beiden sich zuzwinkerten. »Der Gerichtsmediziner ist schon wieder auf dem Weg nach Greifswald – er ist übrigens mit dem Hubschrauber gekommen«, sagte der Ältere.

Sylke ignorierte den spöttischen Unterton.

»Und die Leiche hat er auch gleich mitgenommen.«

Sie fuhr herum. »Wie bitte? Wer hat erlaubt …«

»Sie waren ja nicht da.«

»Sie hätten mich anrufen können, bevor Sie diese Entscheidung treffen!«

Der Bärtige zog an ihr vorbei. »Kommen Sie, wir zeigen Ihnen den Fundort. Wir haben über hundert Fotos gemacht – die stellen wir Ihnen noch heute zur Verfügung.«

Sylke folgte dem Mann durch die Eingangstür in den Turm. Der winzige Schalterraum, an dem sonst der Turmwärter saß und das Eintrittsgeld kassierte, war verwaist.

Am Fuß der Wendeltreppe kamen ihnen zwei Kollegen von der Kriminaltechnik entgegen. Sie trugen weiße Schutzanzüge. »Sie können sich am Tatort jetzt gerne umsehen – wir sind fertig. Kümmert sich jemand um die Sauerei da oben?«

»Frag doch mal den Kollegen von der Insel – die haben hier doch bestimmt einen qualifizierten Tatortreiniger, der auf seinen ersten Einsatz seit zwanzig Jahren wartet.«

Sie stiegen die Wendeltreppe hinauf. Der Ältere der beiden Stralsunder Beamten blieb zurück – offenbar war ihm der Aufstieg über die hundert Stufen zu anstrengend. Kurz vor der letzten begehbaren Ebene wurde die Treppe so schmal, dass dort nicht einmal zwei schlanke Menschen einander begegnen konnten. Als Sylke die Holztür zur Aussichtsplattform öffnete, schlug ihr ein kühler Windstoß entgegen.

»Ja, es wird Herbst, denke ich«, rief der bärtige Kollege aus Stralsund ihr von hinten zu.

Dann stand sie auf der Galerie. Ein etwa achtzig Zentimeter breiter Weg, der mit einem hohen Geländer gesichert war, führte um die Turmspitze herum. Gleich vorne bei der Tür waren mit Kreide die Umrisse eines Körpers auf die Granitplatten gezeichnet.

»Er lag auf dem Rücken, die Kugel ist glatt in die Brust gegangen«, rief der Bärtige. Er musste sich anstrengen, das Rauschen des Windes zu übertönen. »Wir nehmen an, dass der Schütze hier – genau wie wir eben – aus der Tür gekommen ist. Als Flosbach ihm entgegentrat, hat er dann, ohne lange zu zögern, geschossen. Es gab am Körper des Toten keine Zeichen von Abwehr, Flucht oder eines Kampfes. Die Analyse des Schusskanals wird uns möglicherweise einen Hinweis auf die Größe des Täters geben.«

»Was ist mit der Tatwaffe?«

»Negativ. Dem Einschussloch nach zu urteilen ein kleines Kaliber – aber wie gesagt: eiskalt ins Herz versenkt. Und das mitten in der Nacht.«

»Sozusagen ein Glückstreffer.«

Der ältere Kollege hatte sich doch noch herauf bemüht und keuchend die Galerie betreten. Sylke fuhr ihn an: »Haben Sie ernsthaft ›Glückstreffer‹ gesagt?«

»’tschuldigung«, murmelte er. »Aber es war ja Nacht, also dunkel.«

Sylke scheuchte die Männer mit einer unwirschen Geste ein Stück zur Seite und ging einen Schritt zurück in das Treppenhaus. Eine nicht besonders starke Wandlampe erleuchtete die letzten Stufen. Die Kriminalpolizistin wandte sich wieder der Galerie zu. Sie sprach mehr zu sich selbst als zu den beiden Kollegen aus Stralsund. »Wer nachts diese Treppe hinaufsteigt, wird vorher die Innenbeleuchtung des Turms eingeschaltet haben. Der Täter oder die Täterin ist bei geöffneter Tür hier stehen geblieben, der Lichtschein fiel nach draußen auf die Galerie. Möglicherweise hat er oder sie Flosbach herbeigerufen oder er kam von selbst herbei, vielleicht, weil er den Schein der Treppenhausbeleuchtung wahrgenommen hat.«

»Wie die Motte zum Licht«, warf der Grauhaarige ein.

Sylke ignorierte ihn. »Sobald Flosbach im Licht stand, konnte der Täter oder die Täterin gezielt schießen. Ich würde ja gerne wissen, ob und was die beiden noch gesprochen haben.« Sie wandte sich den beiden Männern zu. »Was hatte Flosbach dabei?«

»Nichts Ungewöhnliches. Ein Portemonnaie mit Ausweis, Führerschein, Kreditkarten, etwas Bargeld. Kein Telefon. Er trug Hemd und Krawatte, einen leichten Mantel, etwas zu dünn für eine kalte Nacht hier oben.«

»Um Geld ging es dem Täter oder der Täterin also nicht.«

Die eingetrocknete Blutlache auf dem Boden war von beträchtlicher Größe, Flosbachs blutige Hände, mit denen er sich vermutlich an die Brust gefasst hatte, hatten rote Schmierspuren auf der weiß gestrichenen Turmwand hinterlassen.

Sylke ging zur Nordseite. Sie sog die Luft ein und spürte einen leichten Schwindel. Das lag wohl weniger an den Blutspuren auf dem Boden als an der Höhe und den Anstrengungen, die sie hinter sich hatte. Auf dem Weg hatte sie fortwährend gegen ihre Ungeduld ankämpfen müssen. Seit sie am Tatort angelangt war, kämpfte sie mit einer anderen Regung: Sie ahnte, dass ihr etwas vorenthalten wurde. Dass irgendwer aus irgendwelchen Gründen danach strebte, sie, die Ermittlerin, von der Klärung des Falls abzuhalten.

Der zunehmende Wind hatte den Dunst über dem Meer ein wenig vertrieben. Land und Wasser waren jetzt deutlich voneinander zu unterscheiden. Rechts, auf der anderen Seite des Ostseearms, zeichnete sich die ausgefranste Uferlinie der Insel Rügen ab. Und jenseits der Nordspitze von Hiddensee erstreckte sich eine endlose Wasserfläche, die sich in einem undefinierbaren Grau verlor. Es schien so, als ob die Welt in dieser Richtung in etwas anderes überging, vielleicht ein nordisches Sagenreich oder die kalte Welt der Toten.

Damals, beim Betriebsausflug, hatten sie es nicht einmal bis auf den Leuchtturm geschafft. Sie waren unten im Ort hängengeblieben, hatten die Biervorräte eines Gartencafés geplündert, hatten zotige Sprüche gemacht und ihren dummen Polizeitratsch verbreitet. Es kam Sylke so vor, als habe dieser Ausflug sie auf eine andere Insel geführt, in eine andere Welt als diese hier oben.

Sie fragte sich, was Flosbach dazu getrieben hatte, mitten in der Nacht auf den Turm zu steigen. In einer klaren Sommernacht mochte sich das lohnen, aber bei Wind und Nieselregen? Worüber hatte er hier oben nachgedacht? Über den Anstieg des Meeresspiegels? Es lag eine gewisse Ironie in der Tatsache, dass er am höchsten begehbaren Punkt der Insel den Tod gefunden hatte.

Sie kehrte zu den Kollegen aus Stralsund zurück. »Haben Sie irgendwelche Informationen darüber, wie der Mann um diese Zeit hier hochgekommen ist? Der Turm war doch sicher abgeschlossen.«

Der Bärtige nickte. »Da fragen Sie am besten die Turmaufseherin. Wir haben sie in unseren Bus gesetzt und ihr einen heißen Tee verabreicht.«

»Jo«, fügte der Ältere hinzu, »sie wartet hier mittlerweile schon seit mehr als drei Stunden.«

Lag da schon wieder ein Vorwurf in seiner Stimme? Herrgott, wenn es nun mal so wahnsinnig kompliziert war, auf diese Insel zu kommen! Sylke fühlte sich wie ein Geysir, in dem es immer heftiger brodelte. Die Eruption war nicht mehr abzuwenden, wenn der Mann mit den fettigen grauen Haaren nicht bald aus ihrem Gesichtskreis verschwinden würde. Es fehlte nicht mehr viel. »Haben Sie schon die Umgebung des Turms überprüft?«

»Nein.«

»Dann durchkämmen Sie bitte das Gelände im Umkreis von 50 Metern. Jeden Quadratmeter.«

Der Bärtige wiegte den Kopf. »Das ist ja eigentlich nicht unsere Aufgabe. Wir sind nur für die Tatortsicherung hier.«

Sylke baute sich vor den beiden auf. »Wenn Täter oder Opfer irgendetwas vom Leuchtturm geworfen haben, dann gehört das auch zum Tatort, oder? Sie hätten das schon längst tun können. Wir haben hier viel Zeit verloren. Der Kollege Strohbach wird Ihnen helfen.«

Der Grauhaarige starrte Sylke durchdringend an. »Sie sind nicht die Leiterin der Ermittlungskommission.«

»Solange es keinen Leiter gibt, trage ich die Verantwortung.« Sylke spürte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg.

Der Bärtige drängte sich vor seinen Kollegen. »Wir wollen da keinen Ärger machen, aber …«

»Wenn Sie keinen Ärger machen wollen, dann lassen Sie es doch einfach. Und ziehen Sie den Radius besser auf 100 Meter – 50 sind zu wenig. Immerhin suchen wir noch die Tatwaffe.« Sie ließ die beiden auf der Plattform zurück und stieg wieder die Treppe hinab.

Die Turmaufseherin war eine zierliche Frau mit schmalem Gesicht und glatten schulterlangen Haaren. Sylke setzte sich zu ihr in den Kleinbus. »Sie haben den Toten gefunden?«

Die Frau nickte mit finsterem Blick. »Es war schrecklich. Da war alles voller Blut. So was ist hier noch nie passiert.«

»Warum waren Sie heute Morgen oben auf dem Turm?«

»Ich gehe morgens vor der Turmöffnung und nachmittags, wenn wir schließen, einmal nach oben und mache einen Kontrollgang.«

»Außerhalb der Öffnungszeiten ist der Turm abgeschlossen?«

»Ja, sicher.«

»Waren Sie gestern Nachmittag auch hier?«

»Sie meinen … Ich bin mir ganz sicher, dass ich den Turm abgeschlossen habe.«

»Wer hat noch einen Schlüssel zu dieser Tür?«

»In der Gemeindeverwaltung gibt es mehrere Schlüssel. Aber sonst? Ich wüsste niemanden.«

»Kannten Sie Herrn Flosbach?«

Die Frau machte große Augen. »Ich? Nein. Ich meine, man hat schon mal gehört, dass er hier in Kloster wohnte, aber … nein, kennen tue ich die Leute nicht.«

»Gut. Für heute muss der Turm geschlossen bleiben. Gehen Sie bitte zu dem Kollegen mit der blauen Weste und überlassen Sie ihm für heute den Schlüssel zum Turm. Nach der Reinigung des Tatorts bekommen Sie ihn wieder.« Sie stieg aus dem Kleinbus, wandte sich dann aber noch einmal um. »Am besten gehen Sie dann nach Hause und ruhen sich aus von der Aufregung.«

Sylke trat ins Freie. Die Kollegen aus Stralsund und Kalle Strohbach durchstreiften das Gebüsch am Fuß des Turms. Eine Gruppe von Wanderern hatte sich an der Polizeiabsperrung versammelt. Die Frauen und Männer trugen Regenjacken und Rucksäcke und diskutierten angeregt. Sylke überlegte, ob sich eine Befragung lohnen könnte. Aber bevor sie sich entschieden hatte, fiel ihr eine weitere Person auf: eine junge Frau, die sich in großen Schritten und mit wehendem Trenchcoat vom Wald her dem Turm näherte. Sie schien erregt zu sein. Ihre blonden Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der ungestüm wippte. Die Frau passierte die Gruppe der Wanderer und riss das Absperrband der Polizei mit einer kraftvollen Bewegung nach oben. Sylke wusste, dass ihr nun eine weitere unangenehme Begegnung bevorstehen würde.

6

»Können Sie sich das vorstellen?!« Die junge Frau im Trenchcoat hatte beide Hände zu Fäusten geballt. »Vor fünf Wochen bekam mein Vater Morddrohungen. Und jetzt … jetzt höre ich, dass er umgebracht wurde. Was haben Sie unternommen? Was hat die Polizei in Bergen unternommen?«

»Sie haben sich dort wegen der Drohungen gemeldet?«

»Ja, sicher! Aber es ist nichts passiert. Gar nichts!«

Ihre Worte gellten über das Plateau vor dem Leuchtturm und wurden vom Westwind über die Hügel getragen. Sylke wartete. Sie wusste, dass sie jetzt ruhig bleiben musste – nach allem, was an diesem Tag schon passiert war, musste sie immer und immer wieder ruhig bleiben. Es war anstrengend. Sie sprach leise, jedes Wort betonend. »Wissen Sie etwas über den Absender der Drohungen?«

»Es kam anonym per E-Mail. Zwei Mal im Abstand von wenigen Stunden.«

»Ich werde mich darum kümmern.«

»Kümmern? Jetzt ist es ja wohl zu spät!« Die Stimme der jungen Frau überschlug sich. Einen Moment lang glaubte Sylke, sie würde anfangen zu weinen. Sie konnte es nicht gut ertragen, wenn Menschen vor ihren Augen heulten. Zum Glück fing sich die Tochter Flosbachs wieder. Sie zischte Sylke an: »Sie können sich darauf einstellen, dass unser Anwalt in dieser Angelegenheit auf Sie zukommt.«

Sylke ließ die Attacke an sich abprallen. Sie tat das, was sie gelernt hatte, wenn ihr Wut entgegenschlug – ihr mit Ruhe und Offenheit begegnen. »Wir sind im Augenblick noch dabei, den Tatort zu untersuchen und die Ereignisse der letzten Nacht zu rekonstruieren. Vielleicht können Sie uns dabei helfen. Es wäre für uns zum Beispiel wichtig, herauszufinden, was Ihr Vater mitten in der Nacht auf dem Leuchtturm wollte.«

Britta Flosbach sah Sylke verächtlich an. »Das Rätsel lässt sich einfach lösen. Mein Vater hat gestern mit Freunden und Kollegen seinen 60. Geburtstag gefeiert, unten im Hotel Hitthim. Nach der Feier ist er noch auf den Leuchtturm gestiegen – das macht er jedes Jahr an seinem Geburtstag. Ist so eine Marotte von ihm.«

»Und wie kommt er an den Schlüssel?«

»Hat er sich bei der Gemeindeverwaltung ausgeliehen. Das ist kein großes Problem hier. Die Insel ist klein, man kennt sich.«

Sylke sah sich die junge Frau näher an. Sie trug schwarze Jeans, eine Seidenbluse in korallenrosa und ein meerblaues Halstuch – farblich alles geschmackvoll aufeinander abgestimmt. »Und Sie?«, fragte sie sanft, »Sie waren sicher auch auf der Geburtstagsfeier.«

»Ich hatte wichtige Kundengespräche in Hamburg. Wir haben in der Familie schon am vergangenen Wochenende miteinander angestoßen. Als ich heute Morgen gehört habe, was passiert ist, bin ich natürlich sofort hergekommen.«

»Wie haben Sie das so schnell geschafft?«

»Ich habe mir ein Wassertaxi an den Hafen Barhöft bestellt. Von da aus ist man schneller auf der Insel als von Stralsund.«

Sylke nickte. Es gab also mehrere und bessere Wege nach Hiddensee, als sie gedacht hatte. Einmal mehr hatte sie das Gefühl, dass ihr wichtige Informationen vorenthalten wurden – oder war sie einfach nur ungeschickt? »Darf ich fragen, was Sie beruflich machen?«

»Unternehmensberatung, vor allem im Hinblick auf IT-Lösungen. Ich wohne in Hamburg.« Die junge Frau blickte mit einem düsteren Gesichtsausdruck am Leuchtturm hoch. »Kann ich meinen Vater sehen? Den Ort, wo es passiert ist?«

Sylke musste schlucken. »Ich würde Ihnen nicht empfehlen, auf den Turm zu steigen. Ihr Vater ist bereits im Institut für Rechtsmedizin in Greifswald. Ich gebe Ihnen die Kontaktdaten, dann können Sie einen Termin vereinbaren. Fühlen Sie sich stark genug dafür?«

Britta Flosbach schüttelte sich. Sylke wusste nicht, ob sie das tat, weil sie sich einen Besuch in der Gerichtsmedizin vorstellte, oder ob sie das Mitleid abschütteln wollte, das Sylke ihr entgegenbrachte. Es war klar, dass die Tochter des Mordopfers kein Mitgefühl wollte. »Ich mache mir Sorgen um meine Stiefmutter. Sie ist vollkommen fertig.«

»Ist jetzt jemand bei ihr?«

»Ich werde mich in den nächsten Tagen um sie kümmern. Wir müssen ja auch die Trauerfeier … ach, es ist alles so schrecklich.«

»Wir können Ihnen eine Polizeipsychologin vermitteln.«

»Das ist sicher nicht die Art von Beistand, den meine Stiefmutter benötigt.«

»Wir würden gerne mit Ihnen beiden noch einmal ausführlich sprechen – am besten noch heute …«

»Ausgeschlossen!«, rief die junge Frau. »Meine Stiefmutter ist damit heute überfordert. Tun Sie lieber Ihre Arbeit!«

»Das ist unsere Arbeit – aber ich verstehe Sie gut. Wir werden dann morgen zu Ihnen kommen.«

Britta Flosbach nickte widerwillig. »Wissen Sie schon irgendetwas darüber, wie das … ich meine, wer …«