Keine Täter – sondern Opfer
Hintergründe Tatsachen Folgen
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Titelbild: Donauschwäbische Vertriebene im Rot-Kreuz-Lager in Bayern 1946
Bildnachweis: Bundesarchiv Koblenz: 67, 69–71, 104, 107–109; G. Schneeweiß-Arnoldstein 30 (2), 34 (1); Schweizerisches Rotes Kreuz: Titelbild, 163, 165, 168, 187, 189, 195, 223; US Army Photograph: 61, 121, 136, 138–140, 151, 153, 191, 205; restliche Photos: Archiv des Verfassers und des Verlags
Titel und Rechte an der englischen Originalausgabe: „A Terrible Revenge. The Ethnic Cleaning of the East European Germans“, Palgrave/Macmillan, New York 2005. Transcripts and Translations of Crown-copyright records in the Public Record Office appear by permission of the Controller of H. M. Stationery Office.
Die im einzelnen nicht nachgewiesenen Aussagen und Zeugnisse in diesem Buch beruhen auf brieflichen Auskünften der betreffenden Personen gegenüber dem Autor.
Die Namen der Personen, die nur mit Anfangsbuchstaben bezeichnet werden, sind dem Autor bekannt. Die Bezeichnung wurde auf Bitte der Betroffenen verwendet.
Homepage des Autors: http://www.alfreddezayas.com
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ISBN 3-902475-15-3
eISBN 978-3-902732-92-7
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© Copyright by ARES Verlag, 2006
Layout: Ecotext Verlag, Mag. G. Schneeweiß-Arnoldstein, Wien
Printed in Austria
Gesamtherstellung: Druckerei Theiss GmbH, A-7431 St. Stefan
Dem Andenken an
Professor Dr. Dieter Blumenwitz (1939–2005), Denker, Lehrer, Völkerrechtler par Excellence, Freund
Der Verfasser möchte nicht versäumen, all den Personen zu danken, die durch ihre Auskünfte und Ratschläge seine Forschungen gefördert und so das Erscheinen dieses Bandes mit ermöglicht haben, Zeitzeugen aus den Reihen der damaligen Politiker und Heimatvertriebenen wie auch Archivare als den Hütern der Dokumente. Ein besonderer Dank gilt Herrn Dr. Klaus Neitmann (Berlin) dafür, daß er das Manuskript einer gründlichen Durchsicht unterzogen hat; seine Anregungen haben diese Arbeit ebenso wie andere des Verfassers in den zurückliegenden Jahren vielfältig bereichert. Ein herzliches Dankeschön an Dr. Werner Simon, der juristischen Bibliothek der Vereinten Nationen in Genf und an meine Freunde Konrad Badenheuer aus München und Markus Leuschner aus Bonn, die mir stets mit Rat und Statistiken zur Seiten standen. Stellvertretend für die vielen, die meine Arbeit an diesem Buch begleiteten, möchte ich Herrn Dr. Walter Vorbach und seine Frau Helene anerkennend erwähnen, die als Sudetendeutsche in Heidelberg eine neue Heimat fanden.
Danksagung
Einleitung von Erika Steinbach, MdB
Geleitwort zur ersten Auflage
Vorwort zur vierten Auflage
Teil I:
Die Deutschen in Ostmitteleuropa
Ansiedelung der Deutschen in Ostmitteleuropa seit dem 12. Jahrhundert
Kulturelle Leistungen der Ostdeutschen
Gerhart Hauptmann in Agnetendorf
Ostdeutsche im Widerstand
Teil II:
Vorgeschichte der Vertreibung – Zwischenkriegszeit und Zweiter Weltkrieg
Die Pariser Friedensregelung von 1919
Die Deutschen in Polen und in der Tschechoslowakei 1919 bis 1938
Polnische Ausschreitungen gegen Deutsche nach Kriegsbeginn
Hitlers „Lebensraum“-Politik
Hitlers Vertreibungspolitik im Nürnberger Prozeß
Teil III:
Krieg und Flucht
Oktober 1944 in Ostpreußen: Nemmersdorf
Februar 1945 in Ostpreußen: Metgethen
Sowjetische Ausschreitungen gegen Deutsche
Wider den Ungeist der Rache: Alexander Solschenizyn und andere sowjetische Offiziere
Leiden der deutschen Zivilbevölkerung während des sowjetischen Einmarsches
Die Flucht über die Ostsee
Luftterror: Die Zerstörung Dresdens
Teil IV:
Alliierte Entscheidungen zur Umsiedlung
Erste alliierte Umsiedlungspläne
Die Konferenz von Jalta
Die Konferenz von Potsdam
Teil V:
Vertreibung und Verschleppung
Die Vertreibungen aus der Tschechoslowakei
Internierungslager in Polen und in der Tschechoslowakei
Das Schicksal der Donauschwaben in Jugoslawien
„Geordnete“ Umsiedlungen
Teil VI:
Die Heimatvertriebenen in der Bundesrepublik – gestern und heute
Flüchtlingselend und alliierte Hilfsmaßnahmen
Wirtschaftliche und soziale Eingliederung der Heimatvertriebenen
Die Charta der Heimatvertriebenen
Heimatbewußtsein der Vertriebenen
Spätaussiedler
Nachwort
Thesen zur Vertreibung
Historische Thesen
Völkerrechtliche Thesen
Schlußfolgerungen
Anhang: Statistische Tabelle
Literaturverzeichnis
Anmerkungen
Register
Die zuerst 1986 veröffentlichten „Anmerkungen zur Vertreibung“ des US-Amerikaners Alfred-Maurice de Zayas haben seither etliche Neuauflagen erfahren. Es ist sehr zu begrüßen, daß nunmehr eine weitere – aktualisierte – vorliegt.
Das kompakte Buch des amerikanischen Historikers und Völkerrechtlers verbindet in vorbildlicher Weise wissenschaftliche Akribie und Mitgefühl für die Opfer der umfassendsten Vertreibung und Deportation der Menschheitsgeschichte – der Vertreibung von mehr als 15 Millionen Menschen deutscher Volkszugehörigkeit in den Jahren 1944 bis 1948. Mehr als zwei Millionen Menschen haben die Vertreibung nicht überlebt.
Dieses Buch ist wichtig. Es entspricht allen modernen wissenschaftlichen Ansprüchen. Es gehört in jede Schulbücherei und in jede öffentliche Bibliothek. Und es sollte jeder lesen, dem daran gelegen ist, Geschichte wahrhaftig zu betrachten. Die Massenvertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges ist, ob bewusst oder unbewusst, Teil deutscher Identität. Sie geht insbesondere auch die nichtvertriebenen Deutschen an. Wer sich mit diesen Schicksalen befasst, dem wird auch deutlich, warum ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ in Berlin zwingend erforderlich ist.
Der Neuauflage der „Anmerkungen zur Vertreibung“ ist größtmögliche Verbreitung im In- und Ausland zu wünschen.
Alfred-Maurice de Zayas begegnete mir zum erstenmal 1972 als Fulbright-Stipendiat an der Universität Tübingen. Schon damals beschäftigte er sich als Student der Geschichte mit Flüchtlingsfragen im Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg, was ihn dann zu einer historischen Betrachtung des Weltflüchtlingsproblems führte und insbesondere zu einer Untersuchung der Ursachen und Folgen der Vertreibung der Deutschen.
Nach Ablauf des auf ein Jahr befristeten Stipendiums kehrte der Absolvent der Harvard University und Doktor der Rechtswissenschaften in die Vereinigten Staaten zurück und nahm seine frühere Tätigkeit als Rechtsanwalt in der Wall Street wieder auf. Aber auch dort ließ ihn die Thematik der Vertreibung nicht los, und 1974 entschloß er sich seine erfolgreiche berufliche Laufbahn als Wirtschaftsanwalt erneut zu unterbrechen, um wieder nach Deutschland zu kommen und seine Forschungen über die Vertreibung fortzusetzen. Dies ist eine sehr beachtenswerte Entscheidung für einen Amerikaner spanischer Abstammung, den allein wissenschaftliches Interesse mit Deutschland verband. Er wirkte zunächst als wissenschaftlicher Assistent am Institut für Völkerrecht der Universität Göttingen und dann als Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Völkerrecht in Heidelberg. Er immatrikulierte gleichzeitig an der philosophischen Fakultät in Göttingen, um sein in Harvard und Tübingen begonnenes Studium der mittleren und neueren Geschichte fortzusetzen. Dieses schloß er 1977 mit der Promotion ab.
Die Nachforschungen zur Frage der Vertreibung stellten sich als sehr schwierig heraus. So wurde ihm z. B. die Einsichtnahme in die 3.000 Auswertungsbögen und den Sonderbericht des Bundesarchivs über Vertreibungsverbrechen zunächst verweigert. Ich habe diesen Fall zum Anlaß für eine Parlamentarische Anfrage genommen. Daraufhin wurden die Auswertungsbögen der Wissenschaft allgemein zugänglich gemacht. Der Sonderbericht ist inzwischen ebenfalls freigegeben worden. Herr de Zayas griff die Frage der Vertreibung zu einem Zeitpunkt auf, als die „neue Ostpolitik“ der damaligen Bundesregierung diesen Komplex bewußt ausklammerte.
Neben den deutschen Quellen stützt sich die Arbeit von Herrn de Zayas auf eine ganze Reihe von Untersuchungen im Ausland. Ein wesentlicher Punkt seiner Forschung war die Mitverantwortung der Anglo-Amerikaner für die Vertreibung. Deshalb befragte er eine Reihe der damals beteiligten Politiker und Diplomaten wie z. B. Sir Denis Allen, Victor Cavendish Bentinck, Sir Geoffrey Harrison, George Kennan, John McCloy, Robert Murphy, James Riddleberger, Sir Frank Roberts und Lord William Strang. Er forschte u. a. im Public Record Office (London), in den National Archives (Washington) und im Schweizerischen Bundesarchiv (Bern) nach Unterlagen, um durch nichtdeutsche Beurteilungen der Vertreibung ein möglichst objektives Bild zu erhalten.
Das Ergebnis dieser Untersuchungen, die Herr de Zayas in erster Linie für seine amerikanischen Landsleute durchführte, erschien als Buch in Boston und London unter dem Titel „Nemesis at Potsdam“ und erregte sofort großes Aufsehen. Die deutsche Fassung hat inzwischen die 7. Auflage erreicht. Es spricht für sich, daß ein hoher amerikanischer Politiker und Kenner der Materie, Robert Murphy, das Vorwort zu diesem Buch schrieb.
Es ist das Verdienst von Herrn de Zayas, die Debatte über die Vertreibung wieder eröffnet zu haben, eine Thematik, die weitgehend in Vergessenheit geraten war oder direkt vermieden wurde, weil sie als nicht „gesellschaftsfähig“ oder nicht opportun galt. In der Folgezeit haben in der Tat eine Reihe Autoren auf das Werk von de Zayas zurückgegriffen. Somit hat er wesentlich dazu beigetragen, daß die Erörterung der Vertreibung heute nicht mehr als Tabu angesehen wird.
Im Vergleich zu seinen bisherigen Büchern fällt auf, daß de Zayas mit diesem Werk keine strikt wissenschaftliche Abhandlung vorlegt, sondern ein leicht zu lesendes, engagiertes Buch, das gerade wegen seines Stiles auch einen größeren Leserkreis ansprechen wird. Es ist nicht möglich und vom Autor wohl auch nicht beabsichtigt, in dieser Form das ganze Problem der Vertreibung umfassend darzustellen. Hier wird in einer Auswahl von Bildern und Zeugnissen insbesondere ein Eindruck von dem Leid gegeben, das durch die Vertreibung über die Menschen hereingebrochen ist.
Ich begrüße diese Veröffentlichung, weil sie die notwendige Auseinandersetzung mit der Vertreibung auf wissenschaftlicher Grundlage fortführt. Hier werden die schlimmen Ereignisse der Vertreibung in einer nüchternen Weise wiedergegeben – unter besonderer Berücksichtigung der völkerrechtlichen und menschenrechtlichen Aspekte. Der nicht wegdenkbare ostdeutsche Anteil an der gesamtdeutschen Kultur wird vom nichtdeutschen Verfasser mit Verständnis und Zuneigung geschildert. Schließlich läßt er, selbst nach dem Zweiten Weltkrieg geboren, die bundesdeutsche Jugend zu Wort kommen. Die am Ende des Buches eingeschalteten „Thesen zur Vertreibung“ stellen eine beachtenswerte Synthese dar und fordern zur weiteren Diskussion heraus, indem sie die fortdauernde Bedeutung des damaligen Geschehens für die Gegenwart betonen. Nachdem wir heute vier Jahrzehnte Abstand zu den Ereignissen gewonnen haben, ist es angebracht, auch über dieses Kapitel der europäischen Geschichte eine offene und ehrliche Aussprache zu führen. Dazu leistet dieses Buch einen wichtigen Beitrag.
Ein Ereignis wie die Vertreibung der Deutschen aus den deutschen Ostprovinzen und aus Osteuropa fordert immer wieder zur Besinnung auf. Generationen von Historikern – nicht nur deutschen – werden sich damit noch auseinanderzusetzen haben. Hunderte Dissertations- und Habilitationsthemen warten auf Kandidaten.
Mittlerweile sind sechzig Jahre vergangen, aber wir sind noch immer weit davon entfernt, das damalige Geschehen in einer großen Überschau darstellerisch zu bewältigen, es in den allgemeinen Gang der deutschen und der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts einzuordnen und in seiner historischen Bedeutsamkeit zu würdigen. Zuweilen hat man gar den Eindruck, daß der Vorgang der Vertreibung im öffentlichen Bewußtsein verschüttet ist, wenn man bedenkt, auf welche Begriffe das, was in Ostdeutschland 1945 geschah, gebracht wurde und wird. Die Millionen einfacher Menschen, die damals gewaltsam zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen wurden, haben ihr Schicksal sicherlich nicht als Befreiung empfunden. Jeder Historiker, der nicht von dem Schicksal der Menschen absieht, wird nicht umhinkönnen, in sein Urteil die damalige menschliche Tragödie ohne Beschönigung und ohne Bagatellisierung einzubeziehen.
Das unermeßliche Leiden der 15 Millionen Flüchtlinge, Verschleppten und Vertriebenen, der mehr als zwei Millionen Umgekommenen oder Getöteten, der inzwischen über vier Millionen Spätaussiedler und schließlich der heute in Osteuropa als verstreute Minderheiten lebenden Daheimgebliebenen liefert Material für viele Bücher – wissenschaftliche Monographien, Romane, Dichtungen –, für Dokumentarfilme und auch für Theaterstücke. Allmählich werden solche Bücher geschrieben und Filme gedreht, die für die Öffentlichkeit diese grausame Umwälzung zu beschreiben versuchen. Aber die Welt hat im 20. Jahrhundert noch viel mehr Unheil erlebt: den Genozid an den Armeniern, die Gulags, die „Endlösung der Judenfrage“, die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, das Wüten der Roten Khmer in Kambodscha, die sog. ethnischen Säuberungen im ehemaligen Jugoslawien. Man kann mit Gerhart Hauptmann wohl sagen: „Die Weltgeschichte ist ausgerutscht.“ Doch die Menschheit muß mit ihrer Geschichte fertig werden. Jede Generation muß sich der Geschichte neu stellen.
Im Zweiten Weltkrieg haben sich Menschen wie wir großes Unrecht angetan und unendliches Leid zugefügt: 50 Millionen Menschen starben in diesem Bürger- und Bruderkrieg. Inzwischen sind zwei Generationen Deutsche, Polen, Tschechen und Russen aufgewachsen, die diese Vergangenheit nur noch aus Erzählungen der Älteren und aus Büchern kennen. Gibt es eine Kollektivschuld der Deutschen für den Krieg? Oder eine Kollektivschuld der Osteuropäer für die Vertreibung? Nein! Kollektivschuld ist ein unhistorischer, unmenschlicher und unchristlicher Gedanke. Es gibt jedoch eine kollektive Sittlichkeit, die uns alle verpflichtet.
Aller Opfer des Unrechts muß mit Ehrfurcht gedacht werden. Die Verbrechen am polnischen Volk 1939–44 bewegen uns zur existentiellen Identifizierung mit den leidenden Menschen. Die Orgie der Verbrechen, die sich über die deutschen Vertriebenen 1945–48 ergossen, muß ebenfalls das menschliche Mitgefühl erwecken, denn alle waren Opfer der Politik und der Politiker. Man sollte aufhören, nach der Nationalität eines Opfers zu fragen, denn das Leid hat keine Nationalität. Die Entscheidungen der Politik haben Millionen von einfachen Menschen für immer aus ihrer gewohnten, angestammten Lebenswelt herausgerissen, ja für viele Tod und Verderben gebracht. Die Vertreibung der Deutschen aus Ostdeutschland und aus Osteuropa kann in ihrer historischen Tragweite schwerlich überschätzt werden, wenn man bedenkt, daß dadurch ein vielhundertjähriges, bis ins 12. Jahrhundert zurückreichendes Zusammenleben und vielfach fruchtbares Zusammenwirken der Völker gewaltsam beendet wurde.
In den letzten 20 Jahren ist es in Deutschland Mode geworden, die Welt in Täter und Opfer aufzuteilen. Diese Schwarz-Weiß-Malerei ist nicht nur unhistorisch, sie ist menschenverachtend, denn diese Aufteilung verkennt die individuelle Schuld und Unschuld der Betroffenen. Jedoch kann man feststellen, daß die deutschen Vertriebenen vornehmlich und überwiegend Opfer waren – keine Täter. Die „Dokumentation der Vertreibung“, herausgegeben von Professor Theodor Schieder und Professor Hans Rothfels, sowie die Ost-Dokumentation im Bundesarchiv belegen dies ausreichend.
Die Aufgabe eines jeden Historikers liegt darin, Fakten aufzudecken, sie in ihrem Zusammenhang mit anderen historischen Ereignissen zu betrachten und daraus ein wahres und differenziertes Geschichtsbild entstehen zu lassen. In seinem Bemühen, die Vergangenheit objektiv darzustellen, muß der Historiker vorurteilslos und ausgewogen untersuchen und urteilen. Er darf sich nicht von bestehenden Mythen und Tabus daran hindern lassen, eine vergangene Epoche in ihrer Gesamtheit und die vergangenen Vorgänge in ihrer Wechselwirkung zu erforschen. Einzelne Teile der Vergangenheit unberücksichtigt zu lassen, verfälscht die Geschichtsdarstellung. So erinnerte der Berliner Historiker Ernst Nolte in einem denkwürdigen Artikel „Vergangenheit, die nicht vergehen will“ (FAZ, 6. Juni 1986) an die unentbehrliche Voraussetzung wissenschaftlicher Arbeit: „Wahrheiten willentlich auszusparen … verstößt gegen das Ethos der Wissenschaft.“
Nolte hat ebenso wie der leider zu früh verstorbene Kölner Historiker Andreas Hillgruber in seinem bemerkenswerten Buch „Zweierlei Untergang“ (1986) neue Perspektiven aufgezeigt, unter denen zentrale Vorgänge der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, die Vernichtung der Juden und die Vertreibung der Deutschen, betrachtet werden können. Diese behutsamen Stellungnahmen zweier bedeutender, deutscher Historiker wurden von dem Philosophen Jürgen Habermas und anderen als „Apologie“ hingestellt, als Versuch, die nationalsozialistischen Verbrechen durch die Erwähnung der Verbrechen anderer zu relativieren und so ein neues, von moralischer Schuldbesessenheit befreites, nationales Geschichtsbild zu schaffen.
Als amerikanischer Historiker halte ich diese Unterstellungen für abwegig, denn Nolte und Hillgruber haben durch ihre Fragestellungen und ihre Perspektiven wichtige Denkanstöße gegeben und damit nur ihre Historikerpflicht getan. Die wissenschaftliche Diskussion wird zum Scheitern gebracht, wenn sie von einer Seite unter die Herrschaft des „Verdachts“ (Hegel) gestellt wird: des Verdachts, daß die andere Seite mit ihren Aussagen böse politische Absichten verfolge. Faktisch werden Frage- und sogar Denkverbote ausgesprochen, wenn man dem Gegner unterschiebt, er betreibe mit seiner Argumentation nur fragwürdige politische Geschäfte. Dagegen ist zu setzen: „Die Moral der Wissenschaft fordert, die Argumente der Gesprächsteilnehmer unabhängig von Herkunft, Motiven, Folgen zu prüfen.“ (Thomas Nipperdey). Nichts liegt ferner als der Versuch Verbrechen aufzurechnen, wenn man sich bemüht, die Verbrechen an Juden und an Deutschen in historische Zusammenhänge einzuordnen. Wegen der „Singularität“ der nationalsozialistischen Verbrechen darf man nicht das Opfer der deutschen Vertriebenen vermindern oder gar verschweigen. Beides ist unauslöschbarer Teil unserer Vergangenheit. So bemerkte der Historiker Hagen Schulze zutreffend: „Singularität und Vergleichbarkeit historischer Erscheinungen sind also für die Geschichtswissenschaft keine sich gegenseitig ausschließenden Alternativen, sondern Komplementärbegriffe.“ (Siehe „Die Zeit“, 26. September 1986).
Im Sinne dieser aufklärerischen Pflicht habe ich diese neue Auflage überarbeitet und erweitert. Ich möchte mir die Worte Nipperdeys zu eigen machen: „Darum brauchen wir die Tugenden der Historie: Nüchternheit und Distanz, brauchen den Pluralismus jenseits des moralisierenden Verdachts und der politischen Parteinahmen.“ („Die Zeit“, 17. Oktober 1986). Ich hoffe, daß nach dem Zuammenbruch des Sowjetimperiums, die russischen, polnischen, tschechischen und auch deutschen Historiker ihre Forschung im Sinne Nipperdeys weiterführen, um zu einer besseren Beurteilung der deutschen und europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu gelangen.
Die Aufarbeitung der Vertreibung ist allerdings nicht allein eine Aufgabe für Historiker. Auch Politologen, Soziologen, Psychologen und natürlich auch Juristen müssen sich ebenfalls damit auseinandersetzen. In der Tat stellt die Vertreibung eine menschenrechtliche Problematik, die von der UNO bereits erkannt worden ist, und Gegenstand von Studien und Resolutionen wurde, wie z. B. drei Berichte des heute Richters am Internationalen Gerichtshof Awn Shawkat Al-Khasawneh, in welchen die Völkerrechtwidrigkeit aller Vertreibungen ausführlich belegt wird. Auch der erste UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, Dr. Jose Ayala Lasso, hatte ein Auge für das Leiden der deutschen Vertreibungsopfer. In einem Grußwort an die deutschen Vertriebenen am 28. Mai 1995 an der Paulskirche zu Frankfurt a. M. sagte er: „Es ist gut, daß Menschen, die Unrecht gelitten haben, bereit sind, den Teufelskreis von Rache und Vergeltung zu brechen, und auf friedlichen Wege für die Anerkennung des Rechtes auf die Heimat und für den Wiederaufbau und die Integration Europas zu arbeiten.“ Zehn Jahre später, am 6. August 2005 sagte Ayala Lasso in Berlin anläßlich der Veranstaltung 60 Jahre Vertreibung: „Ich ermutige Sie, in Ihrem Engagement für die Menschenrechte nicht nachzulassen, und weiter dafür zu wirken, daß alle Menschenrechte, und damit auch das Recht auf das eigene Heimatland, überall anerkannt und respektiert werden. Auf diese Weise werden wir zu einer neuen Weltordnung beitragen, die sich auf die Grundprinzipien der Würde und Gerechtigkeit für alle gründet.“ Man kann diese weise Worte nur zustimmen, denn die Vertriebenen waren und sind keine „Täter“ – sie waren und sind Opfer, die Anspruch auf unseren Respekt und auf unsere Anerkennung haben.
Alfred M. de Zayas
www.alfreddezayas.com
Genf, September 2005
Vertriebene. Wer sind sie? Sie kamen aus Ostpreußen, Pommern, Ostbrandenburg, Schlesien, Danzig und Memel, aus den Baltischen Staaten, aus Böhmen und Mähren, aus der Slowakei und aus Ungarn, aus Rumänien, Rußland und dem ehemaligen Jugoslawien. Sie flüchteten oder wurden in die Bundesrepublik, in die ehemalige Deutsche Demokratische Republik, nach Österreich vertrieben. Andere wanderten nach Amerika, Kanada und Australien aus. Über 15 Millionen Menschen. Inzwischen sind 60 Jahre vergangen und zwei Generationen von Nachkommen der Vertriebenen sind groß geworden. Durch Integration und Eheschließung zwischen Ost- und Westdeutschen hat bald jeder zweite Deutsche ostdeutsche Vorfahren. Viele ostdeutsche Traditionen leben im Westen weiter, getragen von Vertriebenen, die die Heimat mit sich brachten. Die deutsche Kultur aus dem Osten, Literatur, Musik, Küche und Trachten, wird noch gepflegt.
Königsberg, Memel, Danzig, Stettin, Breslau, Oppeln, Karlsbad, Eger … diese Städte sind mit der deutschen Geschichte für immer verbunden. In den Provinzen östlich der sogenannten Oder-Neiße-Linie und im Sudetenland waren die Deutschen z. T. über 700 Jahre zu Hause. Sie gründeten Städte, brachten das deutsche Recht mit, errichteten die Hanse, entwikkelten das Land, schufen Industrien und Bergwerke, komponierten Musik, dichteten und philosophierten.
Es war ein reiches, schönes Land östlich der Oder-Neiße, weniger dicht besiedelt als im Westen, kälter im Winter, wärmer im Sommer.
„Dort ragt Urwald noch; doch sag, wo blieben die Herzen, die ihn durchhüpften wie das Reh, das die Rufe der Jäger vernommen?
… Wüst sind alle die Farmen, die Farmer auf immer geschieden;
alle zerstreut wie der Staub, wie die Blätter, die wütender Herbststurm packt,
hoch wirbelt empor, weit über den Ozean hinstreut …“
Erinnerungen an Ostpreußen oder Pommern? Nein. So verewigte der amerikanische Dichter Henry Wadsworth Longfellow in „Evangeline“ die Vertreibung der 15.000 französischen Bauern 1755 aus Neuschottland im heutigen Kanada, wo ihre Vorfahren seit hundert Jahren friedlich gelebt hatten, katholische Franzosen, die der englische Gouverneur Charles Lawrence loswerden wollte. Die Höfe wurden beschlagnahmt, die Familien auseinandergesprengt, die Männer in Schiffe verladen und in die übrigen englischen Kolonien verstreut, Frauen und Kinder blieben von ihren Männern und Vätern getrennt. Sie sahen sich nie wieder.
Es hatte schon vorher, bereits im Altertum, Vertreibungen gegeben. In neuerer Zeit traf ein solches Schicksal 1492 die Juden in Spanien, 1685 und wieder 1701 die Hugenotten in Frankreich, 1731/32 die Protestanten in Salzburg – über 20.000. Und gerade durch den Druck der Intoleranz in anderen Staaten kamen viele der Verfolgten nach Preußen: Hugenotten und Salzburger, die echte Ostpreußen und Pommern wurden. In Nordamerika wurden nicht nur die Franzosen aus Akadien vertrieben, sondern auch die autochtone Bevölkerung, die nördlich des Rio Grande seit Jahrtausenden lebte. Zehn Millionen Menschen, die Urbevölkerung des Kontinents, wurden nicht nur vertrieben, sondern schließlich auch ausgerottet.1
Anfang des 20. Jahrhunderts wurden zwei Millionen Armenier im Osmanischen Reich vertrieben, wobei ca. 1,5 Millionen umkamen. Es war der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts.2
Deutsche Historiker wiesen im 19. Jahrhundert öfter darauf hin, daß schon die Ostgermanen im heutigen Polen seßhaft waren, z. B. die Wandalen, die um 400 nach Christus unter ihrem König Geiserich nach Westen zogen. Die Silingen gaben sogar der späteren Provinz Schlesien den Namen, ehe sie an den Rhein und weiter nach Andalusien wanderten. Die Goten bewohnten als einheitliches Volk das Gebiet um die Weichsel. Um 200 nach Christus begannen sie ihren Zug nach Süden und teilten sich in Ostgoten, die an der Krim, im Balkan und Italien siedelten, und Westgoten oder Wisigoten, die in das Gebiet des späteren Frankreich und Spanien wanderten.
Dies sind gewiß historische Tatsachen, doch muß ergänzend festgestellt werden, daß die Ostgermanen nicht einfach als Vorfahren der heutigen Deutschen und Österreicher betrachtet werden können. Die ostgermanischen Stämme waren zwar einige Jahrhunderte im Gebiet des heutigen Polen seßhaft, aber sie wanderten großteils ab und slawische Stämme nahmen die Gebiete bis zur Oder ein. Um 960 entstand unter Mieszko I. der Fürstenstaat Polen, dessen Kernraum an der mittleren Warthe (Posen und Gnesen), am Goplo-See und an der mittleren Weichsel lag. Die Dynastie der Piasten zog vom 12. bis ins 14. Jahrhundert unzählige deutsche Mönche, Bauern, Handwerker und Ritter ins Land, das nun dank deren Arbeit aufblühte. Dies geschah aber ohne jeden Druck von deutscher Seite, so daß das Schlagwort vom „deutschen Drang nach Osten“ bzw. von einem mittelalterlichen Eroberungszug zu Lebensraumzwecken nicht gerecht wird.
Weiter nördlich lebten nicht-slawische Völker, u. a. die Pruzzen an der Ostsee, welche die polnischen Fürsten ohne Erfolg zu bezwingen suchten. Anfang des 13. Jahrhunderts bat Herzog Konrad von Masowien den Deutschen Orden, einen der aus dem Geist der Kreuzzüge entstandenen geistlichen Ritterorden, um Unterstützung. Kaiser Friedrich II. schuf daraufhin durch die Goldene Bulle von Rimini im Jahre 1226 die rechtliche Grundlage für die Eroberung und Christianisierung des Preußenlandes. Sein Freund und Berater Hermann von Salza, Hochmeister des Ordens, folgte dem Appell Konrads und wurde vom Kaiser mit dem Kulmer Land und Preußen belehnt.
Nach der Unterwerfung und Christianisierung der Pruzzen und der übrigen Baltenvölker bis Estland konsolidierte sich die politische Macht des Deutschordensstaates längs der Ostsee von Danzig bis Reval (heute Tallinn). Sitz des Hochmeisters wurde die Marienburg an der Nogat. Deutsche Siedler gründeten in Preußen (östlich der Weichsel) 93 Städte und 1400 Dörfer, brachten deutsches Recht und schufen so ein blühendes Land. 700 Jahre haben sie dieses Gebiet ihre Heimat genannt, viel länger, als das von Europäern kolonisierte Amerika besteht.
Deutsche Siedler kamen auch in andere Teile Mittel- und Osteuropas. König Ottokar II. (1253–1278) und andere förderten die deutschen Siedlungen in Böhmen und Mähren. So entstand vor 700 Jahren das später nach den Sudetengebirgen genannte Sudetenland. Allerdings gehörte das Egerland ursprünglich nicht zum Königreich Böhmen, sondern zum Herzogtum Bayern.
Eger war eine deutsche Kaufmannssiedlung, die Mitte des 12. Jahrhunderts reichsunmittelbar wurde. Die Burg diente den Staufern als Kaiserpfalz, und dort verkündete Kaiser Friedrich II. im Jahre 1213 die Goldene Bulle von Eger. Erst 1322 verpfändete Kaiser Ludwig der Bayer das Egerland an den Böhmenkönig Johann von Luxemburg. Die Bevölkerung blieb aber nach wie vor ethnisch und linguistisch deutsch.
Mittlerweile verstärkte sich der Zug deutscher Siedler in den Südosten über die Karpaten bis in das Moldaugebiet und in die Walachei und darüber hinaus bis an das Schwarze Meer – Bessarabien nördlich und Dobrudscha südlich des Donaudeltas. Es war eine reine Rodungskolonisation; durch sie wurden vor allem die Urwälder des Karpatenbogens erschlossen und viele Städtegründungen ermöglicht. Mitte des 12. Jahrhunderts gründeten Nürnberger Bauern Hermannsdorf (später Hermannsstadt) in Siebenbürgen. Mitte des 13. Jahrhunderts, als die Mongolen Rußland überrannten und Hermannsdorf zerstörten (1241), siedelte König Bela IV. von Ungarn Deutsche hauptsächlich zur Grenzverteidigung in Siebenbürgen an. Im 17. Jahrhundert wurde Siebenbürgen dann habsburgische Provinz.
Das Buchenland, die Bukowina, war von Ruthenen, Rumänen und Deutschen besiedelt. Auch diese Region kam 1775 zu Österreich und wurde ein selbständiges Kronland.
Von den Deutschen im Südosten bildeten die Donauschwaben mit 1,5 Millionen Menschen die größte Gruppe. Diese Siedler waren anfangs aus den westlichen Nachbarlandschaften, später zum großen Teil aus den süddeutschen Gebieten beiderseits des Rheins gekommen und siedelten sich im Ungarischen Becken, im späteren Rumänien und Jugoslawien an. Sie folgten nach der Befreiung des Ungarlandes von der Türkenherrschaft dem Ruf des Kaisers zur Wiederbesiedlung entvölkerten Landes. Ein entsprechendes Gesetz wurde 1689 erlassen, die Einwanderung deutscher Bauern und Bergleute in größerem Umfang setzte jedoch erst nach 1723 ein. Das Siedlungsgebiet der „Schwaben“, wie alle deutschen Einwanderer unabhängig von ihrem Herkunftsland, u. a. Rheinpfalz, Hessen, genannt wurden, lag weit zerstreut über die ganze ungarische Tiefebene. Schwerpunkte waren das südwestliche Ungarische Mittelgebirge mit dem Zentrum Budapest, wo 11.000 Einwohner Deutsch als Nationalität und 22.300 als Muttersprache (1941) angaben, die Schwäbische Türkei südlich des Plattensees, Slawonien zwischen Save und Drau und das westlich daran angrenzende Syrmien.
Ebenfalls von Donauschwaben besiedelt war die Batschka, die sich zwischen Donau und Theiß nach Serbien und Kroatien hinein erstreckte, und als bedeutendstes Siedlungsgebiet das östlich der Theiß bis zur Donau und den Karpaten reichende Banat. 86 fast rein deutsche Gemeinden und weitere 332 Gemeinden mit deutscher Mehrheit waren über rumänisches, serbo-kroatisches und ungarisches Gebiet verstreut. Sie waren friedliche, brave Leute, die Donauschwaben, fleißige Bürger, die auch Zeit zur Muße hatten:
Dort im fernen Ungarlande
Freundlich schmuck ein Dörfchen steht,
Rings umrauscht von Waldesrande,
Mild von Segen rings umweht.
An des Dörfchens stillem Saume
Ist ein Hüttlein hingestellt,
Das in seinem schmalen Raume
Wahret meine Herzenswelt.(Nikolaus Lenau)
Welche Rolle spielten diese Ostdeutschen in der deutschen Geschichte? Welche berühmte Deutschen stammten aus dem Osten?
In Posen, damals zu Preußen gehörend, wurden Reichspräsident Paul von Hindenburg (1847) und der Raketenkonstrukteur Wernher von Braun (1912) geboren, in Kulm (Westpreußen) der Führer der Sozialdemokratie, Kurt Schumacher (1894–1952). Aus dem Baltikum stammte der Kunsthistoriker Georg Dehio, 1850 in Reval (Tallinn, Estland) geboren. Zu den berühmten Donauschwaben zählen der Dichter Nikolaus Lenau (Deckname des Nikolaus Franz Niembsch Edler von Strehlenau), geb. 1802 in Csatád in Ungarn, und der Dramaturg und Romancier Adam Müller-Guttenbrunn, geb. 1852 im Banat.
Aus Thorn stammte Nikolaus Kopernikus (1473–1543)3, der zur deutschen ethnischen Gruppe gehörte und als deutscher Student in Bologna studierte. Er lebte als Domherr in Frauenburg, Ermland (Ostpreußen).
Aus dem Sudetenland stammte der Autokonstrukteur Ferdinand Porsche, geboren 1885 in Maffersdorf bei Reichenberg, Erbauer des ersten Volkswagens, später des Sportwagens, der seinen Namen trägt. Auch er gehört zu den Vertriebenen und starb 1951 in Stuttgart.
Der Naturforscher und Augustinerpater Gregor Mendel stammte aus dem mährischen Heinzendorf (1822) und wirkte in Brünn, wo er seine Forschungen über die Vererbung in den Mendelschen Gesetzen formulierte. Er starb 1884 in Brünn.
Aus Aicha (heute Dubi, Böhmen) entstammten Rudolf und Leopold Blaschka, die 1877–1937 im Dresdener Atelier die weltberühmten Glasblumen im Auftrag der Harvard University anfertigten. Heute kann man über 4.000 dieser Glasblumen von erstaunlicher Schönheit in Harvards Botanischem Museum in Boston, USA, bewundern.
Rainer Maria Rilke, einer der größten deutschen Dichter, ist 1875 in Prag geboren. 1875 schrieb er das „Larenopfer“, 90 Gedichte an seine Heimatstadt Prag und seine Heimat Böhmen.4 1922 veröffentlichte er sein Meisterwerk, die „Duineser Elegien“.
Ebenfalls in Prag wurde Bertha von Suttner geboren (1843), die Weltruhm erlangte, indem sie die Friedensidee volkstümlich machte, u. a. durch ihr großes Werk „Die Waffen nieder“. Sie war die erste Frau, die den Friedensnobelpreis erhielt (1905).
Auch zahlreiche Juden, die zum deutschen Kulturkreis gehören und Unsterbliches dazu beitrugen, stammten aus Böhmen und Mähren. Franz Kafka ist 1883 in Prag geboren; Franz Werfel (Prag, 1890), das Sprachrohr der Expressionisten, Autor des berühmten Romans über den Völkermord an den Armeniern „Die 40 Tage des Musa Dagh“; der Philosoph Edmund Husserl, Professor in Göttingen und Freiburg im Breisgau, Gründer der Schule der Phänomenologie, geb. 1859 in Proßnitz (Mähren); Sigmund Freud, Begründer der Psychoanalyse, geb. 1856 in Freiberg (Mähren), und der großartige romantische Komponist Gustav Mahler (1860–1911), geboren in Kalischt (Böhmen), aber untrennbar mit der Stadt Wien verbunden.
Während des Zweiten Weltkrieges, noch vor der Vertreibung aus dem Sudetenland, wurde am 12. August 1944 in Marienbad der hervorragende Heldentenor Peter Hofmann geboren, den jeder Opernfreund nicht nur als großartigen Sänger, sondern auch als überzeugenden Schauspieler kennt, vor allem in den Wagnerschen Rollen Parsifal und Siegmund.
Auch in unseren Tagen erkennen wir unter den Kindern von Vertriebenen viele bekannte Deutsche, von denen man nicht ahnt, daß sie ostdeutsche Vorfahren haben – so Boris Becker, Tennischampion und dreifacher Wimbledon-Sieger, dessen Mutter Elvira, geb. Pisch, Sudetendeutsche aus Kunewald, Kreis Neutitschein, unweit Olmütz und Mährisch Ostrau ist.
Berühmte deutsche Musiker kamen aus Ostpreußen, wie der Opernkomponist Otto Nikolai, geb. 1810 in Königsberg, dessen Oper „Die Lustigen Weiber von Windsor“ überall in der Welt zu sehen und zu hören ist. Ebenfalls in Königsberg wurde der Komponist und Dichter E. T. A. Hoffmann geboren. Er komponierte ein tiefgreifendes „Miserere“ und gehörte zu den Vorläufern der musikalischen Romantik. Aber auch durch seine Dichtungen wirkte Hoffmann nachhaltig auf die Musikentwicklung, lieferte den Stoff u. a. für Wagners Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“, für Tschaikowskijs Ballett „Der Nußknacker“ und natürlich für Offenbachs Oper „Hoffmanns Erzählungen“. Zu den bekanntesten deutschen Malern zählt Lovis Corinth, geboren 1858 in Tapiau, einer der Führer des Impressionismus und wohl der bedeutendste deutsche Künstler seiner Generation. Als bildende Künstlerin sei vor allem Käthe Kollwitz (1867–1945) aus Königsberg erwähnt, bekannt durch ihren Zyklus zu Gerhart Hauptmanns „Webern“ und durch ihre Holzschnittfolge „Der Krieg“. Sie trat auch mit Radierungen und Plastiken hervor.
Ostpreußen ist auch die Heimat zahlreicher Dichter wie Johann Gottfried Herder (1744–1803) und – in unserer Zeit – Agnes Miegel (1879–1964), in Königsberg geboren, die die Vertreibung noch miterlebte und 1949 einen Band Flüchtlingsgedichte „Du aber bleibst in mir“ herausgab:
Es war ein Land, – wir liebten dies Land, –
Aber Grauen sank drüber wie Dünensand.
Verweht wie im Bruch des Elches Spur
Ist die Fährte von Mensch und Kreatur, –
Sie erstarrten im Schnee, sie verglühten im Brand,
Sie verdarben elend in Feindesland,
Sie liegen tief auf der Ostsee Grund,
Flut wäscht ihr Gebein in Bucht und Sund,
Sie schlafen in Jütlands sandigem Schoß, –
Und wir Letzten treiben heimatlos,