Geheimdienste, Propaganda und Subversion hinter den Kulissen des Ersten Weltkrieges
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ISBN 978-3-902732-27-9
ISBN 978-3-902732-94-1
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Printed in Austria
Vorwort: Von Sarajewo bis zur Oktoberrevolution
Erster Teil: Die Hyänen
1. Kapitel
Finger am Abzug: Wie ein Weltkrieg ausgelöst wird
Mörder und andere Halunken: Die Attentäter und ihre Anstifter
Der dicke Franz: Österreichs Thronfolger als gefährlicher Feind
Blut und Beute: Die Erfindung Jugoslawiens
Lügen haben lange Beine: Die Vertuschung der Wahrheit über das Attentat
2. Kapitel
Ungleiche Brüder: Russlands Verwicklung in den Mord von Sarajewo
Nasdarowje, das Schwein ist tot: Die russische Siegesfeier
Marionetten: Die Raswjedka und das Mordgeschehen
Seid bereit: Mobilmachung und Mord
3. Kapitel
Redl & Co. oder Imperialismus pur: Russlands Rolle
Zweiter Teil: Adler und Löwe
4. Kapitel
Der Spion, der die Welt veränderte: Benno von Siebert
Land ohne Grenzen: Russland aus deutscher Sicht
Ein Untertan deutscher Nationalität: Benno von Siebert
Mit der Stange im Nebel: Was will Russland?
Gelogen und laviert: Die Folgerungen aus dem Siebert-Material
5. Kapitel
Ein garstig Lied: Die Regeln der Politik
Flegeljahre auf der Weltbühne: Das Deutsche Reich tritt auf den Plan
Rule Britannia: Großbritannien in der Weltpolitik
The One Man Band: Winston Churchill tritt auf
6. Kapitel
Blick über den Kanal: Wahn und Wirklichkeit der deutsch-englischen Vorkriegsspionage und deren Auswirkungen auf den Kriegsausbruch
Der Luftraum über den Stammtischen: Invasions- und Spionagehysterie und die Gründung von MI5 und MI6
Wo liegt eigentlich Deutschland? Britische Spionageaktivitäten
The Great Roundup: Die Legende vom großen Abräumen bei Kriegsausbruch
Im feinen Zwirn: Die Rolle der deutschen Militärattachés in London
7. Kapitel
Ausgerechnet Belgien: Der neutrale Staat als Spielball von Großmachtinteressen
Tor zum Kontinent: Belgien im britischen Kalkül
Augen zu und durch: Die deutsche Militärplanung
Luftschloss: Die Grundlagen des Westaufmarsches nach dem Schlieffenplan
Schlüssel an der Schelde: Antwerpen im Kalkül der Kriegsplaner
Per Gewalt ins Unrecht: Der deutsche Einmarsch in Belgien und die Geburt der Hunnen
Dritter Teil: Blindschleichen und Kreuzottern
8. Kapitel
Die Maske des Biedermanns: Die Struktur der verdeckten deutschen Kriegführung
9. Kapitel
Karl May für Beamte: Verdeckte deutsche Aktionen in aller Welt
Libau am Atlantik: Die Revolutionierung Irlands
Der Rest der Welt: Versuch einer Übersicht über die deutschen subversiven Maßnahmen
Vierter Teil: Adler, Löwe, Adler
10. Kapitel
Der unerklärte Krieg: Die Vereinigten Staaten treten auf den Plan
Der gekaufte Zeuge: N. N., alias Horst von der Goltz
Einer für alle: Hans Tauscher, der Waffenhändler
Fata Morgana und Tausendundeine Nacht: Anschläge auf die kanadischen Eisenbahnen und den Bankier J. P. Morgan
Die Magna Charta das Verbrechens: Der Erlass an den Militärattaché von Papen vom 24. Januar 1915
11. Kapitel
The Dark Invaders: Rintelen, Fay, Scheele und Co.
Der Bankier: Franz Rintelen
Der Erfinder: Robert Fay
Der Alchemist: Doktor Walter Scheele
12. Kapitel
Der große Knall: Die Explosion auf Black Tom Island
Das Recht des Siegers: Die Mixed Claims Commission
Der Zahlmeister: Paul Hilken
Der Mann, der den Zufall liebte: „Fritz“ Herrmann
Der dritte Mann: Kapitän Friedrich Hinsch
Dass nicht sein kann, was nicht sein darf: Kein deutscher Täter
13. Kapitel
Bring them in: Verdeckte britische Aktionen, um die USA in den Krieg hineinzuziehen
Die deutsche Bedrohung: Der Detektiv-Clown Paul Koenig
Die deutsche Bedrohung der amerikanischen Scheinheiligkeit: „Doctor“ Heinrich Albert
Der Puppenspieler: Reginald Hall und seine Leute
Wenn es die Briten waren: Black Tom und andere Anschläge in neuer Perspektive
Fanatischer Bauchredner: John Rathom und das Providence Journal
14. Kapitel
Der Schatz der Sierra Madre: Mexiko im amerikanischen und deutschen Kalkül
Huerta for president: Die Verschwörung um den gestürzten Präsidenten Huerta
15. Kapitel
Selbsttor und Hackentrick: Das „Zimmermann-Telegramm“
Fünfter Teil: Adler und Bär
16. Kapitel
Krieg der Illusionen: Deutschland und Russland im Krieg
Fehlstart am Abgrund: Scheinsiege an der Ostfront
Mord und Totschlag: die Fälle Nikolaj Nikolajewitsch, Massojedow und Suchomlinow
Die verfluchten Deutschen: Die vermeintliche Rolle der Deutschen in Russland
17. Kapitel
Geld und Macht: Die Russische Revolution und die Revolutionierung Russlands
Wie macht man eine Revolution? Die handelnden Personen: Lenin und Parvus
Das Trojanische Pferd: Die Unterstützung der Bolschewiki durch die deutsche Reichsleitung
Retardierende Momente: Die Russische Februarrevolution
Reise mit absichtlichen Umwegen: Lenins Transport durch Deutschland
Auf schwankendem Drahtseil: Die Bolschewiki auf dem Weg zur Oktoberrevolution
Anhang
Kurzbiographien
Quellen- und Literaturverzeichnis
1. Akten und Archivalien
1.1. Deutschland
1.2. Russland
1.3. Großbritannien
1.4. Irland
1.5. USA
2. Veröffentlichte Quellen: Aktenpublikationen, Briefe, Tagebücher pp.
3. Erinnerungen, Erlebnisberichte
4. Sekundärliteratur
5. Nachschlagewerke
6. Sonstiges
Abkürzungen und Hinweise zur Transliteration und zu russischen Datumsangaben
Namenverzeichnis
Dieses Buch beschreibt eine Reihe von Ereignissen, die in den Ersten Weltkrieg einmündeten und seinen Verlauf entscheidend prägten. Es handelt sich um eine ganze Palette zwischen den Morden von Sarajewo und der russischen Oktoberrevolution. Alle diese Ereignisse verdanken ihren Ablauf der verdeckten politischen Kriegführung. Hierbei handelt es sich um nichtmilitärische Maßnahmen. Ihr Hauptkennzeichen ist die Heimlichkeit. Diese Art der Kriegführung ist an keinerlei Kriegserklärung gebunden, und es muss nicht einmal ein einziger Schuss abgefeuert werden. Im Gegenteil: Die Verantwortlichen neigen dazu, sich dem Publikum mit dem Gesicht des Biedermanns zu präsentieren, denn die Kunst dieser Art der Kriegführung ist es, anderen die Schuld für das Geschehene in die Schuhe zu schieben.
Für den eiligen Leser habe ich die grundlegenden Ergebnisse dieses Buches in Thesenform zusammengestellt. Sie weichen von den gängigen Erzählmustern über den Ersten Weltkrieg ab:
Erster Abschnitt: Die Morde von Sarajewo
1. Der Erste Weltkrieg wurde durch die Morde von Sarajewo ausgelöst. Sie waren insofern eine notwendige Bedingung, weil der ermordete österreichische Thronfolger ein ernstzunehmender Kriegsgegner im politischen Entscheidungsgestrüpp in Wien und damit in ganz Europa war.
2. Franz Ferdinand von Österreich-Este musste aus Sicht der kriegsgewillten Staaten Europas auch deswegen beiseite geräumt werden, da er geeignet erschien, den Vielvölkerstaat der Donaumonarchie auf friedlichem Wege in eine stabile habsburgische Föderation zu überführen. Dies galt es aus französischer und russischer Sicht zu verhindern.
3. Die russische Führung war durch Spionage über die politische Frontenstellung innerhalb der österreichischen Führung genau unterrichtet. Dies gilt auch für die Absprachen zwischen Franz Ferdinand und dem deutschen Kaiser 1913/14, die übereinstimmend einen Krieg wegen der Balkan-Affären nicht wollten.
4. Der Konflikt auf dem Balkan war für Russland der gängig erscheinende Weg, die Dardanellen-Öffnung zu erzwingen. Für Frankreich war dieser Konflikt Mittel zum Zweck, den Bündnisfall gegen Deutschland auszulösen.
5. Beide Staaten unterstützten die Mordvorbereitungen von Sarajewo. Die serbischen Attentäter wurden durch die russische Militäraufklärung Raswjedka finanziert.
6. Der serbische Staat verhinderte die Detail-Aufklärung der Attentatsplanung und -durchführung. Er konnte nicht verhindern, dass zahlreiche Einzelheiten während der deutschen Besetzung 1941–44 ans Tageslicht kamen.
7. Der serbische Ministerpräsident Nikola Pašic´ betätigte sich als Meister der Intrige und der Desinformation im Zentrum der Attentate, die integraler Bestandteil der serbischen Gewaltpolitik waren.
Zweiter Abschnitt: Einkreisung Deutschlands
1. Deutschland unternahm seit der Jahrhundertwende keine geeigneten politischen Schritte, um die Gefahr einer Einkreisung zu unterbinden, obwohl die Reichsleitung hierüber durch politische Spionage rechtzeitig und zutreffend unterrichtet wurde. Deutschland traf stattdessen Kriegsvorbereitungen für einen Zweifrontenkrieg. Diese basierten auf einem Hirngespinst, dem Schlieffenplan.
2. Der Schlieffenplan beruhte auf geheimdienstlich beschafften Erkenntnissen über den angenommenen Feind. Soweit sie Frankreich betrafen, waren sie zutreffend, hinsichtlich Russlands waren sie falsch. Die deutsche Militärführung schrieb zu Unrecht die Erkenntnisse einer Petersburger Spitzenquelle fort, die 1904 aufgeflogen war.
3. Der deutschen Seite war unbekannt, dass die russischen Vorbereitungen für Mobilmachung und Aufmarsch unter Kriegsminister Wladimir Suchomlinow grundlegend verändert worden waren. Durch die heimliche Einführung einer Kriegsvorbereitungsphase war die russische Militärführung in der Lage, die Operationsfähigkeit der Armee abseits der üblichen und öffentlichen Prozeduren herzustellen. Die Einleitung dieser Maßnahmen begann in den westlichen Militärbezirken im Frühjahr 1914.
4. Die britischen Kriegsvorbereitungen gegen Deutschland begannen kurz nach der Jahrhundertwende. Der Machtwechsel in Großbritannien 1905/06 hin zu den Liberalen änderte hieran nichts, da eine Clique innerhalb dieser Partei um den Außenminister Grey zusammen mit einer kleinen Gruppe von Spitzenbeamten und Militärs am eingeschlagenen Kurs entgegen den parlamentarischen Mehrheiten festhielt.
5. Diese Gruppe schuf abseits des parlamentarischen Budgetrechts Geheimdienststrukturen, deren Ziel die Herstellung und Verbreitung von Falschinformationen über eine deutsche Gefahr war, um auf diese Weise die Entscheidungsträger zu beeinflussen und Hysterie in der Bevölkerung auszulösen. Ein entscheidender Schlag gelang so in den ersten zwei Kriegstagen, als die parlamentarischen Gremien durch Falschinformationen über die angebliche Festnahme deutscher Spionageorganisationen getäuscht wurden. Aufgrund dieser Täuschung wurde gesetzlich eine Totalüberwachung der britischen Bevölkerung eingeführt. Hierfür bestand aus Sicht der Entscheidungsträger Anlass, da breite Teile der Bevölkerung nicht kriegswillig waren.
6. Die Reichsleitung wiegte sich in Illusionen über die britischen Vorbereitungen für einen Krieg gegen Deutschland, obgleich sie durch politische Spionage über die tatsächlichen Verhältnisse exakt und zeitgerecht informiert worden war. Sie unterließ es, die durch diese Kriegsvorbereitungen innenpolitisch kompromittierten britischen Politiker durch Erpressung zu schädigen.
7. Durch den Einmarsch in Belgien ab dem 4. August 1914 setzte sich Deutschland in der Weltmeinung irreparabel ins Unrecht. In Großbritannien nutzte die Kriegspartei das Ereignis, um sich als Hüter der belgischen Neutralität darzustellen und die britische Kriegserklärung an Deutschland auszulösen.
8. Die nach dem deutschen Einmarsch in Brüssel aufgedeckte mehrjährige Zusammenarbeit zwischen Großbritannien und Belgien für eine gemeinsame Kriegführung gegen Deutschland blieb ohne Wirkung, da sie von einer britischen Propagandawelle über angebliche deutsche Kriegsverbrechen in Belgien gekontert wurde. Die einschlägigen Publikationen beruhten auf Erfindungen einer eigens zu diesem Zweck geschaffenen britischen Propagandabehörde. Ihre Produkte waren speziell für den US-amerikanischen Pressemarkt zugeschnitten und lösten dort in einschlägigen Kreisen einen bemerkbaren Deutschenhass aus.
Dritter Abschnitt: Den Krieg mit allen Mitteln ans Ende bringen
1. Im September 1914 erkannte die deutsche Reichsleitung, dass der Krieg mit militärischen Mitteln nicht beendet werden konnte. Deswegen gründete die zivile Reichsleitung und der Generalstab je eine Stelle für die politische Kriegführung.
2. Die Instanzen zur politischen Kriegführung arbeiteten nicht koordiniert, sondern vielfach planlos und auch gegeneinander. Bis 1917 blieb umstritten, ob primär Frankreich oder Russland aus dem Feindverband herauszubrechen war und welche Mittel hierfür anzuwenden waren.
3. Die politische Kriegführung Deutschlands agierte weltweit. Soweit Großbritannien das Ziel war, reagierte dieses mit brutalen Unterdrückungsmitteln im eigenen Lager. Die deutschen Maßnahmen, denen vielfach etwas Zufälliges anhaftete, hatten, wie im Fall von Irland, schwerwiegende Folgen über das Kriegsende hinaus.
Vierter Abschnitt: Kriegsziel USA
1. Hinsichtlich der USA hatten die Mittelmächte und die Entente entgegengesetzte Ziele. Großbritannien und seine Verbündeten versuchten, die USA in den Krieg hineinzuziehen, Deutschland und seine Verbündeten, die USA herauszuhalten.
2. Zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung in den USA lancierten die Briten Gerüchte über deutsche Anschläge. Wo tatsächliche Anschläge stattfanden, konnte eine deutsche Täterschaft niemals nachgewiesen werden. In den meisten Fällen, in denen diese Anschläge genauer untersucht werden können, deuten die Indizien darauf hin, dass sie vom britischen Marinegeheimdienst begangen wurden.
3. Soweit während oder nach dem Krieg angeblich oder tatsächlich Beteiligte eine deutsche Täterschaft bezeugten, wurden sie von britischer oder amerikanischer Seite erpresst oder durch großzügige Geldzuwendungen bestochen.
4. Die USA wurden in den Krieg hineingezogen, weil das von der US-Regierung bevorzugte Vorgehen, die Ententestaaten durch üppige Lieferungen zum Siege zu bringen, bis zum Jahreswechsel 1916/17 nicht zum Erfolg geführt hatte und den beteiligten amerikanischen Geschäftsleuten eine gigantische Pleite drohte.
5. Einer der Schauplätze einer scheinbaren deutschen Bedrohung der USA war Mexiko, wo die Amerikaner einen unerklärten Krieg zur Durchsetzung eigener Wirtschaftsinteressen führten. Die hierdurch tatsächlich geschädigten britischen Konkurrenten mussten diese Aggression hinnehmen, weil sie nicht Gefahr laufen durften, die amerikanische Kriegsunterstützung gegen das Deutsche Reich zu verlieren.
6. Die Entzifferung und Verfälschung des „Zimmermann-Telegramms“, in welchem Deutschland für den Fall eines Kriegseintritts der USA mit Mexiko ein Bündnis abzuschließen vorschlug, war der Kriegspartei in den USA ein willkommener Anlass, eine Kriegspsychose zu schüren und sodann den ohnedies nicht mehr zu vermeidenden Krieg zu erklären.
Fünfter Anschnitt: Russland
1. Die taktischen Anfangserfolge unterlegener deutscher Verbände an der Ostfront beruhten nicht auf einer zutreffenden Feindaufklärung zu Friedenszeiten, sondern waren geradezu gegenteilig begründet. Es zeigte sich nämlich bereits in den ersten Kriegstagen ein massives Auftreten der russischen Armee. Damit war der deutsche Plan eines Zweifrontenkrieges, der eine gestaffeltes Vorgehen – zuerst Frankreich, dann Russland – vorsah, von vornherein gescheitert.
2. Beide Seiten hatten unzutreffende Vorstellungen über die Rolle der Russlanddeutschen bzw. der Deutschstämmigen innerhalb des russischen Establishments. Deutsche Bemühungen, diese zu illoyalem Verhalten anzustiften, blieben ebenso fruchtlos wie die russischen Maßnahmen, diesen Teil der Bevölkerung durch Zwangsmaßnahmen zu neutralisieren. Vom russischen Innenministerium organisierte Deutschen-Pogrome führten zu bedeutenden Wirtschaftsschäden.
3. Seit Anfang 1915 unternahm die deutsche Führung massive Versuche, Russland durch Sabotageakte, durch Streiks und durch Revolutionierungsmaßnahmen aus der Kriegsfront herauszubrechen. Ein von dem nach Deutschland emigrierten Sozialisten Alexander Helphand geleitetes Firmengeflecht finanzierte in geschickter Form diese Maßnahmen. Die „Februarrevolution“ 1917 beruhte zwar auch auf der Auslösung des inneren Chaos durch deutsche Kriegsmaßnahmen, überraschte aber letztlich die deutsche Seite ebenso wie das zaristische Regime.
4. Da die nach der Februarrevolution in Russland an die Macht gekommene Doppelspitze mit ihrer einen Hälfte, der Provisorischen Regierung, nicht bereit war, aus dem Krieg an der Seite der Alliieren auszusteigen, forcierte die deutsche Führung die Revolutionierungsbemühungen.
5. Zu diesem Zweck organisierte die deutsche Führung für Lenin und die führenden Bolschewiki, die sie ohnedies seit Herbst 1914 finanziert hatte, eine Reise von der Schweiz über Deutschland und Schweden nach Russland, um einen Kriegsaustritt Russlands zu erzwingen. Die deutschen Verantwortlichen unterbrachen in Berlin die Reise der russischen Revolutionäre, um Verabredungen über Ablauf und Finanzierung zu treffen. Lenin passte daraufhin sein Revolutionsprogramm mit den „Aprilthesen“ den deutschen Wünschen, nämlich die sofortige Machtübernahme herbeizuführen, an.
6. Eine erster Versuch der Machtübernahme Lenins im Juni 1917 scheiterte, aber das deutsche Finanzierungs- und Unterstützungssystem war bereits so gefestigt, das ein zweiter Putschversuch im November, die „Oktoberrevolution“, gelang. Russland schied aus der Front der Kriegsgegner aus.
Der Leser, der diese Thesen interessant findet, wird vielleicht das ganze Buch oder die ihn interessierenden Teile lesen. Von Schuld und Sühne handelt dieses Buch nicht. Ich habe mich darauf beschränkt, eine Füllhorn von Fakten auszuschütten. Der Leser mag sich dann selbst eine Meinung bilden. Ich räume gern ein, dass ich vor gut einem Jahre, als ich am Manuskript dieses Buches saß, durch die Lektüre von Christopher Clarks „The Sleepwalkers“ in diesem Erzählkonzept sehr bestärkt worden bin. Umso mehr freut es mich, welchen Erfolg die deutsche Fassung nunmehr hierzulande hat.
Meine Versuche, den Ersten Weltkrieg zu begreifen, begannen in der Zeit, als ich ein Schüler war. Da lebten noch viele Männer und Frauen, denen sich Schützengraben und Kohlrübenwinter als grausige Erinnerung unauslöschbar eingeprägt hatten. Sie haben immer wieder versucht, dem neugierig Nachfragenden das Unbegreifliche deutlich zu machen. So kommt es, dass vor meinem inneren Auge ganz konkrete Menschen die handelnden Personen sind. Jetzt, hundert Jahre nach den Ereignissen des Ersten Weltkrieges, ist vielleicht die letzte Gelegenheit, dem Tun unserer Vorfahren mit der gebotenen Akribie nachzuspüren, bevor alles im Nebel der unvordenklichen Zeiten versinkt.
Das Buch endet mit der deutschen Inszenierung der „Oktoberrevolution“. Das Jahr 1918, als das „Jahr der Entscheidung“, wird also nicht behandelt. Es wird sich weisen, ob ich die Kraft und Geduld aufbringen werde, um es auf meinen Schreibtisch zu wuchten.
Weimar, im April 2014
Dieses Buch ist dem mir unbekannten Großvater
Stephan Roewer
gewidmet. Er hatte sich geweigert, in der russischen Armee gegen Deutschland in den Krieg zu ziehen. Seine Familie sah ihn 1915 in Riga zum letzten Mal, wo er als lebenslänglich Verbannter mit einer Eisenkugel am Fuß im Konvoi zahlloser Leidensgenossen nach Sibirien aufbrechen musste. Danach verlieren sich seine Spuren.
„Ich werde zu irgend welcher aktiven Beteiligung Deutschlands an diesen Dingen nicht raten, solange ich in dem Ganzen für Deutschland kein Interesse sehe, welches auch nur – entschuldigen Sie die Derbheit des Ausdrucks – die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Musketiers wert wäre.“
Reichskanzler Otto von Bismarck
am 5. Dezember 1876 im Reichstag1
Die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand2 und seiner Frau am 28. Juni 1914 in Sarajewo3 löste den Ersten Weltkrieg aus. Das gilt in der Rückschau auf die Ereignisse als Allgemeingut.4 Doch die Zeitgenossen des Attentats sahen das keineswegs so. Sie betrachteten eher neugierig, wie das durch den Doppelmord provozierte Österreich-Ungarn sich aus der Affäre ziehen würde. Es wurde ein 10-Punkte-Ultimatum an Serbien daraus. Serbien nahm es in gewundenen Worten überraschend weitgehend, wenn auch nicht vollständig, an. Daraufhin erklärte Österreich, ebenso überraschend, Serbien den Krieg.5
Für das Thema dieses Buches schält sich aus diesem scheinbaren Vierklang – Attentat, Ultimatum, teilweise Annahme, Kriegserklärung – die Frage heraus, ob es denn wirklich Strippenzieher für das Attentat gab, die genau das erreichen wollten, was dann eintrat, also einen provozierten Krieg. Ohne die Ereignisse an dieser Stelle im Einzelnen zu benennen, ist der wichtigste Einwand gegen die Annahme der gezielten Auslösung eines großen Krieges der Kalender der Entscheidungsträger für die dann ablaufenden Handlungen in den Hauptstädten Europas, nachdem das Attentat geschehen war. Mit anderen Worten: Es müsste ein Kriegsplaner genau das kalkuliert haben, was dann in der politischen Wirklichkeit ablief. Oder noch einmal anders formuliert: Ich schieße den Thronfolger über den Haufen und weiß, dass diese Bluttat in einen Weltkrieg mündet. Angesichts der Vielzahl der involvierten Entscheidungsträger und der Gegensätzlichkeit ihrer Handlungen und Überzeugungen erscheint das wenig wahrscheinlich.
Doch wie nun, wenn die Mordplaner gar nicht so stringent dachten, zum Beispiel, weil sie die Komplexität des europäischen politischen Gebäudes nicht überschauten? Wie nun, wenn sie etwas anstießen, was ihnen sodann aus dem Ruder lief? Oder wie ist es damit, dass es ihnen gleichgültig war, welche Sprengkraft ihr Anschlag entwickeln würde? Eine solche mögliche Sicht macht es notwendig, doch einen genaueren Blick auf das Attentat zu werfen.
Wie so häufig hat es derjenige, der politische Attentate erforscht, recht einfach, die Handwerker des Verbrechens namhaft zu machen. So ist es auch hier. Doch die eigentlich interessante Frage ist stets: Wer zog die Strippen und warum? Doch der Reihe nach: Im Falle des Attentats auf den österreichischen Thronfolgers sind die Ausführenden der Tat innerhalb kürzester Zeit festgenommen worden. Die Mehrzahl von ihnen waren sehr junge bosnische Serben.6
Interessant war nun, wer sie zu ihrer Tat anstiftete und sie mit Waffen und Sprengstoff versorgte. Auch das brachten die Untersuchungen mit hoher Plausibilität ans Licht: es waren serbische Ultras, die von Belgrad aus operierten.7 Das war den österreichischen Polizeibehörden sehr schnell klar. Sie kannten auch einige der Namen,8 und sie addierten zu diesen Personen als notwendigen Ermittlungsansatz eine ihnen zumindest dem Namen nach wohlbekannte Propaganda- und Terrororganisation, Narodna Odbrana (Volksschutz).9 Das traf nicht zu hundert Prozent ins Schwarze,10 denn es stand eine Geheimorganisation hinter dieser Geheimorganisation. Ihr Name lautete Ujedinjenje ili Smrt (Vereinigung oder Tod),11 vulgo: die Schwarze Hand. Der Kopf dieser Bande hieß Dragutin Dimitrijević,12 genannt Apis.13 Er war im Hauptberuf der Chef des serbischen militärischen Geheimdienstes.
An der Figur des Dragutin Dimitrijević und seiner dienstlichen Stellung als Chef des Geheimdienstes sind jahrzehntelang die kompliziertesten Untersuchungen angeschlossen worden, die entweder das Ziel hatten, die Täterschaft des serbischen Staates oder aber das Gegenteil zu beweisen.19 Man kann es verstehen, denn immerhin löste Österreich-Ungarn aufgrund des Attentats einen Krieg gegen Serbien aus, der dann zum Weltkrieg ausartete. Einfach haben es hier diejenigen, die der Meinung sind, Österreich habe eben die Ermordung seines Thronfolgers hinnehmen müssen, es sei ein Betriebsunfall, wie er in der Geschichte nun mal vorkomme, und noch einfacher mögen diejenigen argumentieren, die da sagen, das sei ihm ganz recht geschehen, dem dicken Franz Ferdinand, was habe er da auch zu suchen gehabt im feindlich gesinnten Sarajewo. Doch die Dinge sind wie so oft komplizierter.
Sarajewo lag und liegt nicht in Serbien. Und, wichtiger noch, die Bevölkerung dort ist nicht serbisch, sondern nur zu einem Teil, die übrigen Teile waren Kroaten und national indifferente Mohammedaner. Das Gegenteil hält nur derjenige für richtig, der die Fiktion eines einheitlichen südslawischen Volksstamms für real hält und damit einen Staat namens Jugoslawien.20 In der Tat wurden Serbenführer nicht müde, dergleichen Propaganda in die Welt hinauszuposaunen. Sie bekamen von den Siegerstaaten des Ersten Weltkrieges schließlich Recht und sodann die Hegemonie über einen solchen Staat zugewiesen. Dieses Konstrukt ist mit schrecklichen Gewalttätigkeiten in den 1990er Jahren wieder zerplatzt.
In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, von der in diesem Buch die Rede ist, waren die Serben erst am Beginn ihrer Expansion. Im Ersten Balkankrieg (1912/13) kämpften sie zusammen mit anderen gegen das auf dem Balkan immer noch tonangebende Osmanische Reich. Als dieses von dort weitgehend verdrängt war, ging es im Zweiten Balkankrieg (1913) um die Aufteilung der Beute. Hierbei war Serbien recht erfolgreich. Es konnte seinen Staatsbestand nahezu verdoppeln. Dass das möglich war, lag an einer Armee, die schlagkräftiger war als die Armeen der anderen Anrainer und ehemaligen Kampfgenossen. Und dass diese Armee so schlagkräftig war, lag daran, dass sie mit viel französischem Geld aufgerüstet und ausgebildet worden war und diese Armee zudem mit brutalsten Methoden vorging, ja vorgehen konnte, zumal die Weltmächte Russland, Frankreich und Großbritannien dem Treiben augenzwinkernd zusahen.21
Das französische Interesse war einfach und, wenn man so will, gut nachvollziehbar. Ständige Auseinandersetzungen Österreich-Ungarns mit seinen Nachbarn waren willkommen, damit die Habsburger Großmacht im Falle eines deutsch-französischen Krieges anderweitig beschäftigt war. Diese Auffassung war nicht irgendwie vom Himmel gefallen, sondern sie wurde in Frankreich von einer erstarkenden Kriegspartei formuliert, deren politische Führerschaft Raymond Poincaré22 innehatte, der in eben diesen kurzen Vorkriegsjahren erst Außenminister, dann Ministerpräsident und schließlich Präsident der Republik wurde.
Das französische Balkanengagement war für ihn Mittel zum Zweck. Der Zweck hieß: den russischen Entente-Genossen in seinem kriegerischen Impetus gegen die Donaumonarchie zu bestärken, um auf diese Weise einen Bündniskrieg mit deutscher Beteiligung auszulösen.23 Um es klar zu sagen: Russlands kriegerische Verwicklung auf dem Balkan sollte ihrerseits für Frankreich zum Bündnisfall werden, und das war neu.24 Man kann diese gravierende Änderung der französischen Außen- und Kriegspolitik auf das Jahr 1912 datieren, nachdem der damalige Außenminister Poincaré ein in diese Richtung zielendes Militärkräftegutachten beim Generalstab angefordert hatte, das Anfang September 1912 im Außenministerium erörtert wurde.25 Aus dem Defensivbündnis der Entente wurde so eine potenzielle Angriffsabsprache. Indessen: Das französische Ziel blieb dasselbe, es hieß Krieg mit Deutschland, nun jedoch fast um jeden Preis. Diese Rechnung ging 1914 auf.
Österreichs Thronfolger war in der Rechnung aller Kriegsfreunde eine gefährliche Größe.26 Dies lag nicht an seiner militärischen Aggressivität, sondern geradezu im Gegenteil begründet. Dieser Thronfolger ließ nämlich deutlich erkennen, dass er dem Vielvölkerstaat der Donaumonarchie durch weitgehende Autonomierechte ein völlig neues Gesicht geben wollte. Nichts konnte den Jugoslawienfreunden in Belgrad, Paris und Sankt Petersburg unangenehmer sein als der Gedanke, dass in Zagreb eine weitgehend autonome kroatische Regierung unter dem außenpolitischen Schirm Wiens das Sagen haben könnte. Eine solche Regierung würde den Terror aus Belgrad als das entlarven, was er war: eine gewaltsame Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes.
Somit war das Ziel eines spektakulären Anschlags klar: es war der Thronfolger und es war Eile geboten, denn war Franz Ferdinand erst einmal im Amte, konnten in Windeseile die großserbischen Felle davonschwimmen. Dass der befürchtete Amtswechsel nur zu bald eintreten würde, war auch klar, denn die Regierungszeit der greisen Kaisers Franz Joseph neigte sich erkennbar dem Ende entgegen. Es mag sein, dass die Kundschafterstelle Temesvár des k. u. k. Evidenzbüros nur Geschwätz und Hörensagen kolportierte, als sie am 6. Mai 1914 berichtete, Serben gingen davon aus, man werde beim Tod des Kaisers in Bosnien einzumarschieren.27 Doch mag die Meldung einen wahren Kern gehabt haben, wonach es militanten Serben darauf ankam, gar nicht erst die Inthronisierung von Franz Ferdinand abzuwarten.
Man muss einen kleinen Moment bei diesem Thronfolger verweilen. Er kommt in den meisten Beschreibungen nicht besonders gut weg.28 Es ist, als wollte die Nachwelt den Dauerkonflikt mit seinem Onkel, dem Kaiser Franz Joseph, bis zum Sankt Nimmerleinstag fortschreiben. Fest steht, dass die Herren einander nicht mochten, um es milde zu formulieren, und wenig überraschend ist es, dass die Hofschranzen beiderlei Geschlechts sich bemüßigt sahen, Partei zu ergreifen. Solange der Kaiser noch rüstig war, ist klar, auf welcher Seite. Doch mit dem herannahenden Machtwechsel mögen sich, wenn auch auf leisen Sohlen, die Reihen bei Hofe gelichtet haben. Da Franz Ferdinand nun niemals an die Macht kam, waren die Wendehälse bei seinem Tod genötigt, die Wende wieder rückwärts zu machen. Sie beließen es dann nach dem baldigen Ende der Monarchie dabei und rückten den verblichenen Kaiser in die Mitte ihrer Andacht. Für den Ermordeten blieb also wenig Platz.
Bei dieser Lage ist es wenig erstaunlich, dass das, was es über Franz Ferdinand zu lesen gibt, so wenig schmeichelhaft ausfällt. Als er im Jahre 1900 die böhmische Gräfin Sophie Chotek von Chotkowa29 heiratete, war dies ein Skandal der ersten Güte, denn die Dame seines Herzens war in den Augen des kaiserlichen Oheims und aufgrund der heute längst vergessenen habsburgischen Hausgesetze nicht ebenbürtig. Die erbetene und nach damaligem Brauch notwendige Zustimmung zur Eheschließung gab der Kaiser nach empörendem Hin und Her erst, als Franz Ferdinand das feierliche Gelöbnis abgegeben hatte, dass Kinder aus dieser Verbindung keinen Anspruch auf das Thronerbe erheben konnten. Heute, wo man das Ende der Monarchie kennt, lächelt man über diese Nichtigkeit, damals war es eine Staatsaffäre und ein Kraftakt, der einen liebenden Mann zeigt und einen seltsam modern anmutenden Menschen.
Bohrt man ein wenig tiefer in diesem Leben, so wird deutlich, dass Franz Ferdinand nicht nur geradezu revolutionär dachte, was die Integration der Slawen und anderer Völkerstämme in die Donaumonarchie anging, sondern dass er dies auch, entgegen seinem vielfach kolportierten ungünstigen Ruf, ganz ohne kriegerische Konflikte zu tun gedachte. Ihm schwebte ein südlicher Slawenstaat, also ein Jugoslawien innerhalb den Grenzen der Monarchie vor. Die Idee kam bekanntlich nicht zur Ausführung. Wie sehr sie Serbien das Wasser hätte abgraben können, kann bestenfalls als Möglichkeit gedacht werden.
Indessen: Wie real diese Möglichkeit eingeschätzt wurde, lässt sich an den hasserfüllten Kampagnen nachvollziehen, die, von Belgrad gesteuert, gegen den Thronfolger losgetreten wurden und ihn als unverbesserlichen Kriegstreiber denunzierten. Wenn etwas an diesem Vorgang irritiert, so ist es die Primitivität des dahintersteckenden Desinformationsmanövers und die Gläubigkeit, mit der die Zeitgenossen diesen Lügen aufgesessen sind.30
Es war ein Dreiklang von Aktionen, die wie folgt abliefen:
• 1907/8 wurden dem österreichischen Außenministerium über die Botschaft in Belgrad Dokumente zugespielt, die ein Zusammenwirken von Vertretern kroatischer und anderer Minderheiten scheinbar unter Beweis stellten, dessen Ziel die Abspaltung von der Donaumonarchie war. Dies führte zu einem Hochverratsprozess31 gegen die angeblich Betroffenen, bei dem sich herausstellte, dass diese Dokumente Fälschungen waren.
• 1908 wurden dem österreichischen Außenministerium wiederum über die Belgrader Botschaft Dokumente zugespielt, die besagten, dass die Abspaltungsbewegung aus Belgrad gesteuert wurden. Ein entsprechend berichtender Aufsatz32 des bekannten österreichischen Historikers Heinrich Friedjung33 führte zu Unterlassungsklagen der Bezichtigten, die geltend machen konnten, dass die fraglichen Dokumente Fälschungen seien.
• Ein Jahr später, 1910, erschien eine Broschüre, deren angeblicher Autor sich selbst bezichtigte, ein serbischer Agent in österreichischen Diensten gewesen zu sein, der von der Botschaft in Belgrad aufgefordert worden sei, mit ihr zusammen die Dokumente mit dem schon geschilderten Inhalt zu fälschen, wobei es vor allem der Wille des Thronfolgers gewesen sei, Serbien in einen provozierten Krieg zu treiben.
Wie gesagt, es ist irritierend, wie willig die veröffentlichte Weltmeinung auf diesen Unsinn hereinfiel. Vermutlich lag es daran, dass die zutage tretenden Scheinfakten den tatsächlichen Gegebenheiten zum Verwechseln ähnlich waren:
• Es gab tatsächlich ein bemerkbare Abspaltungsbewegung innerhalb der Donaumonarchie. Die im Agramer Hochverratsverfahren erhobenen Vorwürfe waren im Prinzip richtig, wurden jedoch durch gefälschte Dokumente belegt.
• Die Abspaltungsbewegung wurde, zumindest was den Balkan anbetraf, mit Geld, Waffen und Argumenten aus Belgrad versorgt.34
• Es gab den sich selbst bezichtigenden Agenten in Belgrad tatsächlich. Doch der scheinbar den Österreichern dienende Mann trug auf zwei Schultern.35 Um das zu bemänteln, wurde gegen ihn nach seinem scheinbaren reuigem Geständnis ein Prozess inszeniert. Wenn sich der heutige Beobachter eins fragt, so ist es dies: Wer von diesen Serben war in der Lage, eine derartige Kampagne loszutreten? Der Blick fällt auf den serbischen Ministerpräsidenten Nicola Pašić, auch auf seine Unterstützer aus St. Petersburg. Von beiden wird noch die Rede sein müssen.
Noch einmal: Das Desinformationsmanöver aus Belgrad36 hatte eine doppelte Speerspitze: Sie zielte auf die Abspaltung von Bosnien-Herzegowina von der Donaumonarchie und seine Einverleibung nach Serbien und sie zielte speziell gegen den österreichischen Thronfolger.37 Er war den Großserben und ihren internationalen Freunden gefährlich. Vor allem Franz Ferdinands fast aggressiv zu nennende Abneigung, Kriege zu führen, verdient in diesem Zusammenhang eine spezielle Erwähnung. Sie wirkt bei ungenauem Hinsehen wie ein Widerspruch in sich: Ausgerechnet der Mann, den der Kaiser zum Generalinspekteur der k. u. k. Armee ernannt hatte, war einer, der den Einsatz dieser Armee nicht wollte.
Franz Ferdinand setzte sich damit in direkten Gegensatz zu den Spitzensoldaten ebendieser Armee, aus denen der seit 1906 als Generalstabschef amtierende Conrad von Hötzendorf38 besonders herausragt. Wenn es einen in der Donaumonarchie gab, der geradezu gebetsmühlenhaft zum Präventivkrieg, mal gegen Serbien, mal gegen Italien aufrief, so war es dieser Conrad. Solange der Thronfolger lebte, drang Conrad mit seinen Kriegsforderungen nicht durch. Im Moment seines Todes änderte sich alles. Die Kriegspartei in Wien bekam Oberwasser und das in einer Weise, die in Monatsfrist zum erstrebten Ziel führte: Österreich führte Krieg gegen Serbien.
Der Zusammenhang ist so auffällig, dass man sich heute wundern mag, warum nicht von Anfang an darauf hingewiesen worden ist. Es war der Tod des kriegsunwilligen Thronfolgers, der den Kriegsentschluss in Wien erst möglich machte. Die Auswahl des Thronfolgers als Anschlagsziel war also aus Sicht aller Kriegsfreunde doppelt richtig.39 Diese Übereinstimmung zwischen den im Prinzip Gleichgesinnten in Wien und in Belgrad ist irritierend. Wollte man es auf die Spitze treiben, so könnte man mutmaßen, dass sie bei der Verfolgung dieses Ziels verdeckt zusammenwirkten. Das wäre dann die Verschwörung pur, deswegen soll das hier nicht weiter verfolgt werden.40 Stattdessen sollte man sagen: Sie zogen am selben Strang, wenn auch in verschiedene Richtungen.
Zurück nach Serbien und seinen politischen Gewalttätern. Wie der schöne Schein der Süd-Slawen in Wirklichkeit aussah, konnte man in den 1912/13 von Serbien annektierten Gebieten studieren. Die angeblich heimgeholten slawischen Brüder wurden mit Terror überzogen. Die neue Herrschaft spottete jeder Beschreibung. Sie wurde von lokalen serbischen Bandenführern ausgeübt, denen es nichts ausmachte, ihnen nicht genehme Ortschaften abzuriegeln, die männlichen Bewohner in Reih und Glied zu erschießen, die Häuser anzubrennen und fliehende Frauen und Kinder zu erschlagen.41 So haben es beispielsweise die britischen Vizekonsuln vor Ort aus Skopje und Monastir detailliert berichtet,42 und es besteht wenig Anlass, diesen Berichten zu misstrauen. Wie eine grausame Bestätigung klingt es vielmehr, wenn der britische Geschäftsträger in Belgrad dem Foreign Office in London nachgrade das Gegenteil mitteilte und auch nicht vergaß darauf hinzuweisen, dass Berichte über serbische Gräuel nichts weiter seien als anti-serbische Propaganda.43 – Man sieht nur, was man sehen möchte. Serbien war auch im britischen Kalkül eine wichtige Größe, es riegelte die Mittelbundmächte auf dem Balkan nach Süden hin ab.
Solche Machtmechanismen der Großmächte sind nichts Neues und auch nichts Einmaliges. In der Gegenwart sind an den gleichen Orten ganz ähnliche Verbrechen passiert, nur wurde dem Morden seit Anfang der 1990er Jahre das stark verharmlosende Modewort „ethnische Säuberung“ verliehen. Das klingt nach der reinlichen Hausfrau, die gegen die lästige Lebensmittelmotte vorgeht. Doch in Wirklichkeit geht es um das Abschlachten von Menschen.
Doch zurück in die Zeit vor dem Kriegsausbuch: Eine wahre Meisterschaft im Entwickeln gewundener Floskeln des Wohlverhaltens entwickelte der serbische Ministerpräsident Nicola Pašić (Paschitsch).44 Seine diplomatischen und politischen Äußerungen machten regelmäßig den Spagat zwischen bürgerlicher Konvention und nackter Gewalttat. In der Realität ging es darum, die serbische Übergriffe auf die Zivilbevölkerungen im Interesse der Unterstützermächte abzustreiten oder zu beschönigen und somit dort akzeptabel zu machen. Es war ein einfacher Trick: Pašić bestritt unter Berufung auf die eigene Wohlanständigkeit, mit solchen Dingen etwas zu tun zu haben. Und wenn Ausschreitungen sich nicht mehr dementieren ließen, bezeichnete er sie verniedlichend als Entgleisungen. Ein solches Verhalten wurde beispielsweise von englischen Diplomaten im Hinblick auf die eigene Öffentlichkeit fast unverhohlen eingefordert.45
In Wirklichkeit war es so, dass Pašić recht genau wusste, was gespielt wurde, wenn er auch nicht unbedingt die treibende Kraft hierfür war. Er besaß mindestens einen persönlichen Agenten innerhalb der Terrororganisation der „Schwarzen Hand“.46 Dessen Name war Milan Ciganović.47 Dieser wurde den österreichischen Ermittlungsbehörden durch die Aussagen der Attentäter bereits nach wenigen Tagen bekannt und folglich im österreichischen Ultimatum namentlich als festzunehmen erwähnt. Doch die serbische Seite leugnete zunächst kalt dessen Existenz48 und ließ den Mann untertauchen. Sodann erklärte man mit treuem Augenaufschlag, man wisse nicht, wo der Mann stecke, suche ihn nun aber per Steckbrief.49
Den krönenden Abschluss fand Pašićs zwiespältiges Treiben im Sommer 1917. Längst war der herbeigesehnte Große Krieg da, doch die serbische Armee war im zweiten Kriegsjahr von deutsch-österreichischen Interventionsstreitkräften vernichtend geschlagen und deren Reste ins griechische Saloniki vertrieben worden.50 Dort ließ die ebenfalls geflohene serbische Regierung, angeblich überrascht von den Machenschaften ihres Geheimdienstchef Dragutin Dimitrijević, diesen und einige seiner Spießgesellen festnehmen, als Verräter zum Tode verurteilen und erschießen. Ein totsicheres Mittel, um unbequeme Zeugen für immer zum Schweigen zu bringen und die eigene Rolle ein für alle Mal zu vernebeln.51 Fast genau zum dritten Jahrestag des Sarajewo-Mordes, am 24. Juni 1917, fand so der blutrünstige Dragutin Dimitrijević durch seine serbischen Landsleute ein gewaltsames Ende. Unter den Verurteilten befand sich auch Milan Ciganović, der die anderen auf der Anklagebank schwer belastete. Doch, oh Wunder, er selbst entging dem Todesurteil – ein Indiz dafür, wie sehr sich Pašic diesem Gewalttäter verpflichtet fühlte.