BUCERIUS LAW SCHOOL PRESS
Das Jahrbuch des Instituts für Stiftungsrecht und
das Recht der Non-Profit-Organisationen
Verlag:
Bucerius Law School Press, Jungiusstr. 6, 20355 Hamburg
Herausgeber:
Prof. Dr. Rainer Hüttemann, Prof. Dr. Peter Rawert, Prof. Dr. Dres. h.c. Karsten Schmidt, Prof. Dr. Birgit Weitemeyer
1. Auflage 2011
Herstellung und Auslieferung:
tredition GmbH, Mittelweg 177, 20148 Hamburg
ISBN: 978-3-86381-002-3
Das Institut für Stiftungsrecht und das Recht der Non-Profit-Organisationen wird gefördert durch:
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Das zehnte Non Profit Law Yearbook des Instituts für Stiftungsrecht und das Recht der Non-Profit-Organisationen der Bucerius Law School in Hamburg erscheint erstmals im neu gegründeten Verlag Bucerius Law School Press. Verlag und Herausgeber hoffen, unter dem Dach des eigenen Verlags unseren Lesern die in dem Yearbook gebündelte wissenschaftliche Diskussion über die rechtlichen Rahmenbedingungen des Dritten Sektors künftig aktueller und kostengünstiger anbieten zu können.
Mit seinen „Gedanken zur Republik in Europa, den USA und in der Welt“ eröffnete Daniel Thürer die zehnten Hamburger Tage des Stiftungs- und Non-Profit-Rechts, die das Institut für Stiftungsrecht und das Recht der Non-Profit-Organisationen am 5. und 6.11.2010 in Hamburg veranstaltete. Thürer analysiert die historische und verfassungsgeschichtliche Entwicklung der Republik unter besonderer Berücksichtigung der Freien und Hansestadt Hamburg sowie der Schweiz und betont im Einklang mit der Inaugurationsrede Barack Obamas, dass die Republik alle Aufgaben eines Gemeinwesens umfasse, für die nicht nur der Staat, sondern alle Bürger Verantwortung tragen.
Im staatsrechtlichen Teil des Bandes legt Michael Droege die verfassungsrechtlichen Grundlagen für die steuerliche Privilegierung gemeinnützigen Handelns in seinem Beitrag „Gemeinnützigkeitsrecht im Wettbewerb – Determinanten der Gemeinwohlförderung im offenen Steuerstaat“ dar. Ausgehend von dem Befund, dass bürgerschaftliches Engagement heute nicht nur staatliches Handeln ersetzt, entwickelt er gegenüber dem Gedanken der Staatssubstitution eine moderne, tragfähige Rechtfertigung der Steuervorteile.
Neun Jahre nach der Reform des Bundesstiftungsrechts im BGB ist „Die Verteilung der stiftungsrechtlichen Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern“ immer noch nicht abschließend geklärt, obwohl inzwischen alle 16 Länder ihre Stiftungsrechte an die Bundesreform angepasst haben. Florian Becker unterzieht insbesondere die Vorschriften über die Zweckänderung und über die gemeinwohlkonforme Zwecksetzung und Zweckverwirklichung der Stiftung einer eingehenden verfassungskompetenzrechtlichen Prüfung.
Im zivilrechtlichen Teil des Bandes beschäftigt sich Wilhelm-Albrecht Achilles mit der in der stiftungsrechtlichen Praxis außerordentlich bedeutsamen Gestaltung der „Besetzungsrechte bei Stiftungen“ und leuchtet aus, in welchem Rahmen auf diese Weise Partikularinteressen bestimmter Gruppen in die Willensbildung der Stiftung hineingetragen werden dürfen. Wegen der strikten Rückbindung auf den im Stiftungsgeschäft zum Ausdruck gekommenen und in der Stiftungssatzung organisationsrechtlich gefassten Stifterwillen seien die Grenzen wesentlich enger als etwa im Recht der Kapitalgesellschaften zu ziehen.
Was zeichnet eine Stiftung gegenüber anderen Rechtsformen aus und welche Folgerungen für zentrale stiftungsrechtliche Probleme können aus ihren besonderen Eigenschaften wie der Mitgliederlosigkeit und der Unabänderlichkeit ihres Zwecks gezogen werden? Diesen Fragen geht Dieter Reuter in seinem Beitrag „Der funktionale Stiftungsbegriff – ein Meilenstein in der stiftungsrechtlichen Diskussion?“ nach und setzt sich kritisch mit dem Versuch auseinander, über einen funktionalen rechtsformübergreifenden Begriff der Stiftung unterschiedliche Rechtsformen an diejenige der bürgerlich-rechtlichen rechtsfähigen Stiftung anzunähern.
„Brauchen wir neue Rechtsformen für NPO’s: UG, Low Profit Limited, Europäische Privatgesellschaft, wirtschaftlicher Verein oder kleine Genossenschaft?“, diese umfassende Frage beantworten Nils Krause und Esther Kindler angesichts der jüngeren Entwicklung zu stärker unternehmerischen Ansätzen altruistischen Handelns, die unter dem Schlagwort „Social Entrepreneur“ diskutiert werden. Auch im Vergleich mit teilweise neu geschaffenen speziellen Rechtsformen des angloamerikanischen Rechtskreises sehen die Autoren das deutsche Gesellschafts-, Vereins- und Genossenschaftsrecht insgesamt als gut gerüstet an, neuen Formen gemeinnützigen Handelns das richtige Rechtskleid anbieten zu können.
Den steuerrechtlichen Teil bestreitet Markus Achatz mit seinen Ausführungen über „Die Erfahrungen in Österreich mit dem neuen Spendenrecht“. Achatz stellt das seit 2009 erheblich umgestaltete Spendenrecht im österreichischen Steuerrecht dar, bewertet die Gesetzesreform und gibt einen Ausblick auf allerneueste Entwicklungen, die bereits für das Jahr 2012 eingeleitet worden sind.
Im internationalen Teil stellt Francesco A. Schurr in seinem Beitrag „Stiftung und System des Gemeinnützigkeitsrechts im Fürstentum Liechtenstein“ das weithin unbekannte Gemeinnützigkeitsrecht des Fürstentums dar, das jedoch immer mehr an Bedeutung erlangt.
Welchen Haftungsrisiken Schweizer Stiftungen unterliegen, wenn sie mittels des Ansatzes der Venture Philanthropy die Tätigkeiten der unterstützten Organisationen unmittelbar geschäftsleitend fördern, unterstützen und leiten, legt Daniela Schönenberg in dem Beitrag „Venture Philanthropy – Haftung von Stiftungen für Strategieberatung am Beispiel des Schweizer Rechts“ dar – Erwägungen, die sich auf die Rechtslage in Deutschland durchaus übertragen lassen.
In dem Abschnitt der Länderberichte präsentieren Nils Krause und Matthias Grigoleit „Aus Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltungsanweisungen zum Dritten Sektor im Jahr 2010 in Deutschland“ wieder eine umfangreiche Auswahl der wichtigsten Entwicklungen. Dominique Jakob und Matthias Uhl haben den Länderbericht Schweiz zum Vereins- und Stiftungsrecht 2010 übernommen. Den Bericht über die Entwicklung des Vereins- und Stiftungsrechts im Jahr 2010 in Österreich erstellten Susanne Kalss und Johannes Zollner. In Zukunft sollen weitere Länderberichte folgen. So ist für das kommende Yearbook 2011/2012 ein Länderbericht „Italien“ geplant.
Für die umsichtige Redaktion haben die Herausgeber Frau Christine Franzius, Frau Manuela Puchalla und Frau Julia Theele, für die sorgfältige Erstellung der Bibliographie zum Non-Profit-Recht Frau Janne Seelig, für die Erstellung des Schlagwortverzeichnisses Herrn Peter Stark sowie für die zügige Übersetzung einiger der Summaries Herrn James Faulkner herzlich zu danken.
Hamburg, im September 2011
Rainer Hüttemann, Peter Rawert, Karsten Schmidt, Birgit Weitemeyer
This year the Non Profit Law Yearbook of Bucerius Institute for Foundation Law and the Law of Non-Profit Organisations is published for the first time in the newly founded Bucerius Law School Press. The publishing house and publishers hope in future to offer the readers of this Yearbook the collection of academic discussions on the legal framework of the third sector in a more up-to-date and efficient manner.
With his “Thoughts on the Republic in Europe, USA and the World”, Daniel Thürer opened the 10th Hamburg Symposium on Foundation and Non-Profit Law, hosted by the Bucerius Law School Institute on the 5 and 6 November 2010. Thürer analyses the historical and constitutional development of the republic with particular reference to the Free and Hanseatic State of Hamburg as well as Switzerland, emphasizing in tune with Barack Obama’s inaugural speech that the republic encompasses all the tasks of society for which not only the state but also all citizens bear responsibility.
In the state law section of this Yearbook, Michael Droege describes the constitutional law basis for tax privileges for non-profit activities in his paper “Law of Tax Privileges for Non-Profit Organisations in Competition – determinants for stimulating public welfare support in the open tax state”. Starting from the observation that civil engagement nowadays not only replaces state activity, he develops with respect to the idea of state substitution a modern, sustainable justification for tax privileges.
Nine years after the reform of the Federal Foundation Law in the German Civil Code (BGB), “The Allocation of Federal and State Law Legislative Competences in Foundation Law” is still not clarified definitively, even though in the meantime all 16 German Länder have rendered their Foundation Law compliant with the federal reform. Florian Becker examines in particular the regulations on changes to foundation objects and the charitable determination and realisation of foundation objects from the constitutional competence standpoint.
In the civil law part of the Yearbook, Wilhelm-Albrecht Achilles deals with the structure of “The Right to Staff Foundations”, which are extraordinarily significant for Foundation Law practice. He illuminates the framework in which the particular interests of certain groups can be incorporated in foundation policy-making. Due to the strict restraints on the foundation activity expressed in the foundation policy, and the founders will legally incorporated in the foundation articles, the limits have to be drawn more narrowly than for example in corporate law.
What distinguishes a foundation from other legal forms and what conclusions can be drawn from their particular characteristics such as the lack of members and the entrenched nature of their objects? Dieter Reuter investigates the question in his paper “The Functional Foundation Concept – a milestone in the foundation law debate?”. He takes a critical standpoint regarding the attempt by means of an overarching functional foundation concept to reconcile various legal forms to those of foundations with legal competence under civil law.
“Are new legal forms necessary for non-profit organisations: European Entrepreneurial Company (UG), Low Profit Limited, European Private Company, Commercial Association or Small Cooperative?” Nils Krause and Esther Kindler answer this wide-ranging question with regard to the recent developments towards a stronger entrepreneurial approach in charitable activity, as discussed under the heading “Social Entrepreneur”. Also in comparison to partly newly created and specialised legal forms in Anglo-American legal circles, the authors see the German law of companies, associations and cooperatives as generally wellequipped to be able to offer new forms of non-profit activity appropriate legal clothing.
The tax law part is provided by Markus Achatz with his ideas on “The Experience of Austria with the New Law of Charitable Donations”. Achatz presents the Austrian tax law and its since 2009 significantly restructured donation law, evaluates the legislative reform and gives a view of the latest developments which are already introduced for 2012.
In the international section, Francesco A. Schurr, in his paper on “Foundations and the System of Tax Privileges for Non-Profit Organisations in the Principality of Liechtenstein”, presents the largely unknown non-profit law of the principality, which however is ever growing in importance.
In the paper “Venture Philanthropy – liability of foundations for strategic consultancy with the example of Swiss law”, Daniela Schönenberg explores which liability risks Swiss foundations are subject to if they directly promote, support and direct the activities of the supported institutions through the application of venture philanthropy. These are considerations which are certainly relevant for Germany.
In the section on country reports, Nils Krause and Matthias Grigoleit present „Legislation, jurisprudence and administrative orders on the third sector in Germany 2010“. Again they present a broad selection of the most significant developments. Regarding national developments in the law of associations and foundation law, Dominique Jakob and Matthias Uhl have taken over the 2010 national report for Switzerland, while Susanne Kalss and Johannes Zollner present the 2010 report for Austria. Further national reports are planned such as one in 2011/2012 on Italy.
We would like to extend our warm thanks to Christine Franzius, Manuela Puchalla and Julia Theele for their painstaking editing of the Non Profit Law Yearbook, to Janne Seelig for carefully compiling the bibliography, to Peter Stark for producing the index, and to James Faulkner for translating a number of summaries.
Rainer Hüttemann, Peter Rawert, Karsten Schmidt, Birgit Weitemeyer
DANIEL THÜRER
Es ist ein großes Privileg, vor einem so ausgesuchten Kreis von Kolleginnen und Kollegen eine »Hamburger Rede« halten zu dürfen. Ich freue mich, an der Bucerius Law School sprechen zu dürfen, die mich von ihrem liberalen Geist und ihrer privatrechtlichen Konstruktion her schon lange fasziniert hat; auch fühle ich mich hier in vielfacher Hinsicht in die prächtigen Studienjahre zurückversetzt, die ich seinerzeit in England verbrachte. Ich freue mich, ein klassisches und doch – wie ich meine – höchst modern werdendes Thema aufzugreifen und einige Gedanken zur Republik in Europa, den Vereinigten Staaten und in der Welt entwickeln zu dürfen. Ich danke den Verantwortlichen herzlich für die Einladung.
Beginnen wir mit Europa. Die »res publica« gehört zu den identitätsstiftenden Ideen Europas von der Antike bis zur Gegenwart. Sie hat Potential für die Zukunft. Viele Länder spielten dabei eine wichtige Rolle. Ich konzentriere mich nachfolgend auf Deutschland und am Rande auch auf die Schweiz.
Beginnen wir mit Deutschland. Deutschland bezeichnet sich im Grundgesetz als Republik. Das ist nichts Besonderes. Hundert andere Staaten der Welt nennen sich auch Republiken, z.T. mit präzisierenden Adjektiven wie etwa »Volks-Republik«, »demokratische, auf Arbeit gegründete Republik« (französische Verfassung von 1947) oder »une République indivisible, laïque, démocratique et sociale« (französische Verfassung von 1958).
Im operativen Teil des Grundgesetzes tritt der Begriff nur noch im Rahmen der föderativen Homogenitätsklausel in Art. 28 Abs. 1 GG auf. Er scheint verblasst, die Lehrbücher und Kommentare des Staatsrechts erwähnen ihn nur mehr am Rande. Dennoch ist die Rolle Deutschlands in der Geschichte des Republikgedankens bedeutsam.
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Zusammenbruch des Kaiserreichs verkündete die Weimarer Verfassung in Art. 1: »Das Deutsche Reich ist eine Republik.« Dieser Satz war Auftakt zu einer neuen Epoche in der Verfassungsgeschichte Deutschlands.
Welch bedeutsamer Wendepunkt dies war, geht etwa aus der Rede Thomas Manns »Von Deutscher Republik« hervor, die er am 13. Oktober 1922 in Berlin gehalten hatte. Das publizistische Echo war groß; der konservative Thomas Mann legte hier ein Bekenntnis zur neu errichteten Republik ab. Dabei definierte er Republik nicht als etwas, was sei, sondern als etwas, was zu schaffen sei. Mann führte aus: »Der Versuch aber, und sollte er auch nur mit unzulänglichen Mitteln unternommen sein, zu dieser notwendigen Schöpfung geistig beizutragen und einem unseligen Staatswesen, das keine Bürger hat, etwas wie Idee, Seele, Lebensgeist einzuflößen, verdient, wie mir auch nach hundert Nackenschlägen noch scheinen will, keinen Schimpf.« Wie bedeutsam dieses Bekenntnis von 1922 zur Republik war, wurde mir eigentlich erst bewusst, als ich unlängst aus den Aufzeichnungen eines Gesprächs, das Helmut Schmidt mit Fritz Stern führte, erfuhr, dass er – Helmut Schmidt – seinerzeit in der Schule die Worte Demokratie, Rechtsstaat, Naturrecht, Menschenrechte nie gehört hätte.
Der Begriff der Republik hat in der Folge seinen revolutionären Klang längst verloren: ein Indiz dafür, wie sehr sich seither Staat und Gesellschaft gewandelt haben. Ist der Republikbegriff erloschen? Ich glaube nicht. Ich hoffe, nachfolgend demonstrieren und Sie davon überzeugen zu können, dass er eine Renaissance haben könnte, eine Zukunft haben wird.
Lassen Sie mich, Deutschland betreffend, zwei Beispiele anfügen. Der eine Fall - besonders faszinierend – ist der Mikrokosmos der Stadt, in der wir uns heute befinden: Hamburg. Der andere betrifft die Figur eines »Verfassungspatriotismus«, wie sie zunächst von Dolf Sternberg für die Bundesrepublik geprägt und dann von Jürgen Habermas auch als Leitidee auch für die Organisation des europäischen Kontinents übernommen wurde.
Zunächst zum »genius loci«, zur »Idee Hamburg«. Es steht mir als Nicht-Deutschem und Nicht-Historiker nicht zu, Ihnen die Geschichte dieser Stadt vor Augen zu führen. Ich glaube aber, dass das Phänomen der Städtefreiheit, wie sie sich seit dem Mittelalter in Oberitalien, Flandern und Holland, der Schweiz und eben im Rahmen der Hansestädte zu entfalten begann, als eine Keimzelle und ein Kristallisationskern der republikanischen Idee gerade für uns Heutigen wieder von großem Interesse ist.
Hamburg gehörte mit Speyer, Worms, Lübeck, Erfurt, Straßburg und Köln zu den ersten deutschen Städten, die sich mit einem Rat selbst regierten. Es war, wie Köln oder Nürnberg und später viele andere, zum Teil auch kleinere Städte, eine »Freie Reichstadt« und stand im Gegensatz zum obrigkeitlichen, zum Teil absolutistischen Geist, wie er seit dem Westfälischen Frieden in den zahlreichen deutschen König- und Fürstentümern vorherrschte. 1712 gab sich Hamburg eine Verfassung, die nach heftigem Machtkampf einen Kompromiss zwischen »Rat« und »Bürgerschaft« hervorbrachte. Interessant war, dass gegen Ende des 18. Jahrhunderts auch die aufklärerische Idee des »Patriotismus«, wie sie sich in ganz Europa in vielfältigen Formen manifestierte, in Hamburg Niederschlag und Verkörperung fand. Mit Patriotismus meinten seine Verfechter die Liebe zu Institutionen und die Lebensweise, welche die gemeinsame Freiheit eines Volkes trugen: d.h. die Liebe zur Republik und zum Patriotismus ist klar vom später aufbrechenden Nationalismus zu unterscheiden, der auf einer ethnischen, kulturellen und spirituellen Grundlage beruhte.
Symptomatisch für den Zeitgeist war, dass in Hamburg während einiger Jahre auch eine Zeitschrift mit dem Namen »Der Patriot« erschien. Der »Patriot« war eine fiktive Figur, die Beiträge waren anonym. Alle unterhielten sich wie eine Tischgesellschaft und vertraten ihre Ansichten, so gut sie konnten, ohne Unterschied. Sie bedienten sich lateinischer und griechischer Mottos, um so – wie sie sagten – ihre Vorgänger aus Athen und Rom zu ehren.
Im Gefolge der Französischen Revolution und Besetzung gelangte Hamburg als Handelsstadt und als Tor Deutschlands zur Welt zu immer größerem Wohlstand und die Freiheit des Handels und des Marktes begann das alte Bürgerethos zu verdrängen. Dennoch beobachtete eine Historikerin, die Hamburger hätten mit beträchtlicher Skepsis den Individualismus und jede Form von Freiheit beurteilt, die jedem erlaubte zu tun und zu lassen, was er wolle, dies weil ein solcher Gesellschaftszustand Unordnung und Missachtung des Rechts und äußerste Verwirrung mit sich gebracht hätte.
»Thus Hamburg’s communitarian republicanism”, urteilte die Historikerin, »always priviledged communal responsibility and Hamburg traditions over liberty. Hamburgers indeed identified ‘liberty’ brought by the French Revolution as the antithesis of ‘true’ liberty, preferring an older, time-tested overlap of public and private affairs and virtues.”
Ich weiß nicht, ob das damals so zutraf und heute noch so ist. Die Geschichte Hamburgs ist voller Widersprüche; Interpretationen in der Geschichtsschreibung gehen weit auseinander. Das angedeutete Bild Hamburgs als einer »Bürgerstadt« hat mich jedenfalls seit jeher angesprochen und mich mitunter dazu motiviert, das Thema der »res publica« gerade hier aufzugreifen und gerade vor Ihnen zu erörtern.
Zu Idee und Begriff des Verfassungspatriotismus meint Jürgen Habermas, dass sich eine politische Kultur, in der die Verfassungsgrundsätze Wurzeln schlagen können, keineswegs auf eine allen Staatsbürgern gemeinsame ethnische, sprachliche und kulturelle Herkunft stützen müsse; eine liberale politische Kultur bilde nur den gemeinsamen Nenner eines Verfassungspatriotismus, der gleichzeitig den Sinn für die Vielfalt und die Integrität der verschiedenen koexistierenden Lebensformen einer multikulturellen Gesellschaft schärft. Habermas versteht seine Idee auch im Sinne eines europäischen Verfassungspatriotismus. Die Schweiz gebe ein Beispiel dafür, dass sich ein solches gemeinsames politisch-kulturelles Selbstverständnis aus den kulturellen Orientierungen verschiedener Nationalitäten ausdifferenzieren könne.
Damit gelangen wir zur Schweiz. Die Schweiz wurde schon als die älteste Republik Europas bezeichnet. Das ist wohl etwas ungenau. Denn die Schweiz trug zwar während der Helvetik (1798-1803) den Namen »Helvetische Republik«, war aber vorher und dann wieder bis 1848 ein loser Staatenbund, der freilich für den republikanischen Gedanken einen fruchtbaren Boden abgab. So nennen sich heute noch alle rein französischsprechenden Kantone und das Tessin in ihren Verfassungen »Republiken«, z.B. um den »Benjamin« der Kantone zu nennen »République et Canton du Jura«. In der Bundesverfassung von 1874 bildete das Erfordernis der republikanischen Staatsform für die Kantone, wie in der amerikanischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz, noch Teil einer bundesstaatlichen Homogenitätsklausel, doch ist dieses Element in der neuen Verfassung von 2000 entfallen.
Interessanter als der formal-verfassungsrechtliche Aspekt sind wohl die staatspolitischen, staatsphilosophischen und literarischen Umfelder des Begriffs der Republik, wie sie im Laufe der Geschichte in Erscheinung traten.
Parallelen zu Hamburg eröffnen sich. Im Vordergrund stehen wohl Zürich und Genf. In Zürich war zwar der Begriff »Republik« nie geläufig; man sprach – ausgeprägt in der Verfassung von 1869 – von Demokratie. Der Dichter Gottfried Keller hat aber, vor allem in den »Leuten von Seldwyla« den republikanischen Gedanken, die Vaterlandsliebe in einer Gesellschaft freiheitlich gesinnter Bürger, in prächtigen, humorvollen Erzählungen eine literarische Form gegeben.
In Genf war es Jean-Jacques Rousseau, der im 6. Kapitel des Ersten Buches des »Contrat Social« begriffliche Klarheit schuf. Bei der Erklärung des Ausdrucks »Republik« bzw. »Polis« findet sich die Kritik, dass die meisten Autoren die Begriffe Stadt (ville) und Polis (cité), Städter (bourgeois) und Bürger (citoyen) verwechselten. Sie wüssten nicht mehr, dass die Häuser die Stadt, die Bürger (citoyens) aber die Polis machen. Und von diesen »citoyens« sagte Rousseau, dass ihr wesentliches Definitionselement die Teilhaberschaft am Grundgut der öffentlich-republikanischen Autonomie sei; was die Mitglieder der Polis betreffe, so trügen sie als Gesamtheit den Namen Volk, als Einzelne würden sie sich citoyens nennen, sofern sie Teilhaber an der Souveränität des Staates seien.
Das schönste Denkmal des schweizerischen Republikanismus aber setzte ein deutscher Dichter: Friedrich Schiller, Repräsentant einer der hellsten Momente in der deutschen Ideengeschichte, verkörperte in seinem letzten Drama, »Wilhelm Tell«, den republikanischen Gedanken, dramaturgisch wirkungsvoll inszeniert, in monumentaler Weise.
Gestalten wie die Schwyzer Stauffacher und Landammann Reding, die Urner Wilhelm Tell und Freiherr von Attinghausen, der Unterwaldner Melchtal und andere Akteure des Dramas waren wohl heroischer als die Leute, die damals in der Urschweiz lebten und die Schiller, der nie die Schweiz bereiste, nie gesehen hatte. Schiller hat mit ihnen aber mächtige Denkmäler dessen geschaffen, was republikanische Bürgerkultur bedeutet. Die einsame Rütliwiese – schlicht und ohne Insignien von Macht – symbolisierte als wirkungsvoller Hintergrund die Ursprünglichkeit, Nüchternheit der republikanischen Gemeinschaft.
Damit kommen wir zu den Vereinigten Staaten. Es ist interessant: der Rütlischwur hört sich in thematischer Stoßrichtung, Wortwahl und Pathos an wie die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten. Es war »the music of the age«, die sowohl Friedrich Schiller wie Thomas Jefferson zum Ausdruck brachten. Sie bekämpften die Willkür der Tyrannenmacht, um Raum für bürgerliche Freiheit zu schaffen. Die Gemeinschaft der Bürger sollte sich selbst regieren. Jefferson wandte sich mit der Unabhängigkeitserklärung an das »Forum of mankind«, so wie schon Thomas Paine, der – ebenfalls in universalistischen Kategorien denkend – 1776 in »Common Sense« dazu aufrief, alle Spaltungen zwischen den Parteien zu überwinden: »Let none other be heard among us, than those of a good citizen…, and a virtuous supporter of the RIGHTS of MANKIND, and of FREE AND INDEPENDENT STATES OF AMERICA.«
Wir finden eindrückliche Zeugnisse der Idee der politischen, aktiven Freiheit in der politischen Literatur, die von Tocquevilles »De la Démocratie en Amérique« bis zu den engagierten Schriften Hannah Arendts reichen. Tocqueville befasste sich etwa mit den Town Hall Meetings in New England, Nachbarschaften oder dem Vereinsleben (associations), die ähnlich wie sie für die Schweiz Gottfried Keller anschaulich beschrieb, das Unterholz, die soziologische Infrastruktur der gelebten Demokratie, ausmachen. Arendt befasste sich mit der politischen Betätigung als Kraft, die als solche und nicht nur als Mittel zum Zweck politische Freiheit verwirklicht.
Präsidenten der USA haben sich immer wieder auf demokratische Tugenden berufen. Das beginnt mit dem Appell an die »public virtues«, den George Washington anlässlich der Schlacht bei Washington aussprach, nachdem schon die Virginia Bill of Rights von 1776 in Section 15 die Bürgertugend zum Ausdruck gebracht hatte.
Berühmt waren Reden von Präsident Abraham Lincoln. In der Enge der elterlichen Farm in Illinois aufgewachsen, kannte er zunächst nur die Bibel als Lektüre. Er wurde dann in der Frontier-Stadt Springfield, der dörflichen Hauptstadt des Gliedstaates, Anwalt, und in Springfield prägte er auch den berühmt gewordenen Satz: »A house divided against itself cannot stand.” Es erschien als Ziel des Staatsmannes, die Einheit der Vereinigten Staaten zu erhalten, dies unter Einbezug der schwarzen Bevölkerung. Lincoln’s Lebensaufgabe wurde es denn auch, das Land zusammenzuhalten und die Schwarzen in einen gemeinsamen Staat zu integrieren und in diesem Sinn »a more perfect Union« zu schaffen.
Die eindrücklichste Figur in der republikanischen Entwicklung der Vereinigten Staaten ist vielleicht der gegenwärtige, 44. Präsident, Barack Obama. Die Civil Rights Bewegung ebnete Obama den Weg ins Weiße Haus. Symbolisch stand Obama auf Martin Luther-King’s Schultern. In der Kampagne wurde gesagt: »Rosa sat so Martin could walk; Martin walked so Barack could run; Barack ran so our children could fly.” Barack Obama, »editor” der Harvard Law Review, unterrichtete an der University of Chicago Law School, »a job I enjoyed” – so sagte er selber – »and I was frequently invited to speak around town. I had preserved my independence, my good name, and my marriage, all of which statistically speaking, had been placed at risk the moment I set foot in the state capital.”
In der Inaugurationsrede finden sich eindrückliche Sätze über Kriegsveteranen: »They saw America as bigger than the sum of our individual ambitions, greater than all the differences of birth or wealth or faction.” Und: »We honor them not only because they are the guardians of our liberty, but because they embody the spirit of service – A willingness to find meaning in something greater than themselves. And yet, at this moment – a moment that will define us as generation – it is precisely this spirit that must inhabit us all.” »Our economy”, fand Obama, »is badly weakened, a consequence of greed and irresponsibility on the part of some, but our collective failure to make hard choices and prepare the nation for a new age.” Und er folgerte: »What is required of us is now a new era of responsibility – a recognition on the part of every American that we have duties to ourselves, our nation, and the world, duties that we do not grudgingly accept but rather seize gladly, firm in the knowledge that there is nothing so satisfying to the spirit, so defining of our character, than giving our all to a difficult task. This is the price and the promise of citizenship.”
Wir haben uns nun lange mit der Entwicklung des Republik-Begriffs auseinandergesetzt, dies auf dem Hintergrund der deutschen, schweizerischen und amerikanischen Geschichte. Dies geschah nicht »art pour art«. Wir gelangen zu einer globalen Einschätzung.
Ich glaube, dass im Gedanken der Republik viel Gestaltungspotenzial für die Zukunft steckt. Dabei möchte ich nachfolgend von einem weiteren Konzept der »res publica« ausgehen, den Begriff also nicht auf den Rahmen der Staatlichkeit beschränken, ein Gebilde also, das nach der Jellinek’schen Definition durch Gebiet (Grenzen), Volk (Staatsbürger) und Souveränität (Hoheitsgewalt) konstituiert ist. Im Sinne Lincolns meine ich mit »res publica« vielmehr »Angelegenheiten« des Gemeinwesens, die in der »Verantwortung Aller« (nicht bloß einiger Machthaber) liegen und »öffentlich«, d.h. transparent, gehandhabt werden. »Angelegenheiten« der Allgemeinheit sollen dem öffentlichen Wohl dienen und auf der Grundlage des Rechts wahrgenommen werden.
Der Begriff der »res publica« ist viel weiter als derjenige der Republik im Sinne des Staates. Er umfasst, holistisch, den ganzen Aufgabenbereich eines Gemeinwesens. Er beschränkt sich nicht auf die Abgrenzung von Machtsphären, sondern umschließt auch ein Ethos. Er begreift auch Pflichten, Verantwortung und Verantwortlichkeit von Behörden und Bürgern. »Res publica« hat eine internationale und eine nationale Dimension. Nach den Grundgedanken der »res publica« sollen Staaten und die internationale Gemeinschaft gestaltet werden. Verwenden wir den so verstandenen Begriff der »res publica« als Wertmaßstab, so stoßen wir in der modernen Praxis auf befremdende Phänomene, die ich – etwas ungenau und provokativ – als »neue Feudalismen« bezeichnen möchte.
Beginnen wir mit dem internationalen Bereich. Die internationale Gemeinschaft (oder Staatengemeinschaft) setzt sich, wie schon von Immanuel Kant zukunftsweisend gefordert, modellhaft aus als »Republiken« konstituierten Staaten zusammen, die – so die Charta der Vereinten Nationen – völkervertraglich als Organisationen zur Wahrnehmung gemeinsamer Aufgaben verfasst sind.
Ein Blick auf die reale Wirkungsweise der internationalen »Gemeinschaft« offenbart aber, dass – auf Grund der rechtlichen Architektur, vor allem aber der hinter der Fassade des Rechts ablaufenden faktischen Machtverhältnisse – die Ideale der »res publica« nur sehr unvollkommen verwirklicht sind. Der Sicherheitsrat etwa entspricht in seiner Zusammensetzung nicht dem Prinzip der Gleichberechtigung der Staaten (er beruht auf einem »vertikalen«, nicht »horizontalen« Ordnungsprinzip), er ist in seiner Zusammensetzung nicht repräsentativ für die Weltgemeinschaft, und er verhandelt wichtige Geschäfte hinter »verschlossenen Türen« (also nicht transparent). Auch vermag die UNO, zusammen mit anderen internationalen Organisationen, das »common good« der Staaten und Völker nicht in genügender Weise wahrzunehmen.
Das Stoßende an der neueren Entwicklung ist nun aber, dass sich sogenannte »Leaders of the World” außerhalb der völkerrechtlich legitimierten Institutionen und ohne jegliche rechtliche Basis zu Machtgebilden wie etwa der G-20 zusammengeschlossen haben, die einen beträchtlichen Einfluss auf die Welt der Staaten und der internationalen Organisationen ausüben. Diese Gebilde funktionieren nicht auf der Basis und mit den Mitteln des Rechts. Sie bestehen aus selbsternannten »Direktoren« des internationalen Geschehens. Die Fragwürdigkeit dieser Entwicklung reflektiert sich etwa im unlängst gemachten Vorschlag des Präsidenten der »Bank of England«, wonach am G-20-Treffen verbindliche Beschlüsse an die Adresse der Weltfinanzinstitutionen (IMF, Weltbank) gemacht werden können.
Das sich neu entwickelnde Regime von »world governance« ähnelt in gewisser Hinsicht der Pentarchie des 19. Jahrhunderts: Personen (mit all ihren Eitelkeiten und ihrem protokollarischen Pomp, von politischen Gipfeln bis zur Präsenz bei Katastrophen und oder etwa den Olympischen Spielen) erscheinen wichtiger als die Sache. Von Debatten vor dem Forum der Weltöffentlichkeit, wie dies in den großen Revolutionen der Aufklärung etwa von Thomas Jefferson in der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 oder Thomas Paine gefordert wurde, ist keine Rede.
Bestimmend sind die Machtverhältnisse und nicht rechtlich geregelte, auf Repräsentativität und Fairness gegründete Verfahrensabläufe. Angesichts des obskuren Charakters solcher Regime können Mechanismen der Verantwortlichkeit nicht greifen. Für »Civil Society« und Bürger stehen weder direkt noch indirekt Kanäle zur Verfügung, um Einfluss zu nehmen. Die Entwicklungen stehen in drastischem Gegensatz zu den Idealen einer internationalen »res publica«. Ich spreche daher eben von Phänomenen eines neuen internationalen Feudalismus.
Erscheinungen zur Unterminierung des »res publica«-Gedankens zeigen sich aber vor allem auch innerhalb von Staaten. Ich denke dabei vor allem an Machtentwicklungen, wie sie sich nach dem Kalten Krieg im Zeichen der Globalisierung und der Ausbreitung des neoliberalen Wirtschaftssystems ergeben haben. In vielen Ländern sind große Unternehmungen zu »Staaten im Staat« geworden. So wie im alten Preußen das Militär einen Primat vor dem Staat beanspruchte, es also (wie auch in anderen Ländern) einen »militärisch-politischen Komplex« gab, so üben heute – in freilich variierendem Masse – in vielen Staaten wirtschaftliche Kräfte einen dominierenden Einfluss aus.
In vielen Fällen kam es zu massiven Missbräuchen der Macht. Ich nenne einige Belege. In einer Rede vom 20. April 2010 über »Plünderer in Geschäftsanzügen« sagte Nobelpreisträger Paul Krugman: »Faktum ist, dass ein Großteil der Finanzindustrie ein Schwindelgeschäft (racket) geworden ist - ein Spiel, in welchem eine Handvoll Leute verschwenderisch dafür bezahlt werden, dass sie Verbraucher und Investoren irreführen und ausbeuten. Und wenn wir den Boom dieser Praktiken nicht dämpfen, wird das Schwindelgeschäft einfach weitergehen.«
Und Paul Krugmann schrieb auch: »Es ist tröstlich zu behaupten, die Finanzkrise sei durch nichts anderes als durch ehrliche Irrtümer entstanden. Aber so war es nicht: Sie war zum größten Teil das Ergebnis eines korrupten Systems. Und die Rating-Agenturen waren ein großer Teil dieser Korruption.«
Susanne Schmidt beschrieb ungeschminkt den »Markt ohne Moral«: »Mit Ellbogen und Arroganz geht eine seltsame Amoral einher. Notabene: Amoral, nicht Unmoral! Es interessiert in der Finanzwelt einfach nicht, wie man von den Normalmenschen wahrgenommen wird, oder besser: Normalmenschen interessieren nur insofern, als ihr Verhalten in ökonomische Indizes eingespeist wird, die dann ihrerseits die Finanzmärkte beeinflussen.«
Macht verleitet zu Missbrauch und Arroganz. Macht muss aufgeteilt, eingeschränkt und kontrolliert werden. Das lehren wir im Staatsrecht, wenn wir von Grundrechten, föderalen und dezentralen Staatsstrukturen oder politischen bzw. richterlichen Verfahren der Verantwortlichkeit von Machthabern sprechen.
In der englischen Verfassungsgeschichte hieß es lange »The King can do no wrong«. Heute ist die Staatsmacht umfassenden richterlichen Kontrollen der Machtausübung unterworfen. Soll es anders sein bei mächtigen Wirtschaftskonzernen? Sollen sie sich nicht als »good corporate citizens« verhalten müssen? Wie ist es zu rechtfertigen, dass Unternehmensführer zivil- und strafrechtlich praktisch Immunität genießen?
Interessant ist jedenfalls Art. 28 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, wo es heißt: »Everyone is entitled to a social and international order in which the rights and freedoms set forth in the Declaration can be fully realized.« Liegt in diesem Satz nicht im Keim ein umfassender, auch die gesellschaftlichen, horizontalen Verhältnisse umschließender Menschenrechtsgedanke begründet?
Vor einigen Jahren war ich zum ersten Mal in Hamburg. Die Redaktion des Wochenmagazins DIE ZEIT hatte eine Gruppe von Experten zu einer Diskussion der Frage eingeladen, ob dem Katalog der Menschenrechte auch ein solcher über Menschenpflichten zur Seite gestellt werden solle. Der Vorschlag kam von einer Gruppe verdienter, »älterer Staatsmänner«, zu denen auch der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt gehörte, dem auch die Leitung der Gespräche oblag.
Die Idee, als Pendant zur Allgemeinen Menschenrechtserklärung die grundlegenden Pflichten des Menschen zu kodifizieren, stieß in unserer Gruppe auf Skepsis, ja Ablehnung. Die »raison d’être« der Menschenrechte, fanden die Teilnehmer, liege darin, Willkür von Herrschern und Machtmissbrauch zu bekämpfen. Eine Großzahl der Staatsregime in der Welt hätte – so wurde dargetan – einen autokratischen Charakter. Die Menschenrechte stünden in Gefahr, als Instrumente zum Schutze der Machtunterworfenen an Durchschlagskraft zu verlieren, wenn sie durch Menschenpflichten ergänzt würden. Denn nur zu leicht sei es für den Machthaber, unter Berufung auf Menschenpflichten die in langer Geschichte erkämpften Menschenrechte zu relativieren, auszuhebeln oder in ihr Gegenteil zu verwandeln.
Helmut Schmidt fühlte sich missverstanden. Er hatte kein Gehör für solche Töne der Kritik. Nunmehr, nachdem ich mehrere der Schmidt’schen Bücher gelesen habe, verstehe ich seine republikanische, von Hamburgs Staatstradition geprägte Gedankenwelt viel besser, ja bewundere ich sie. Sie haben mir, sehr geehrte Frau Vorsitzende, eine Gelegenheit gegeben, Abbitte zu leisten.
1Druckfassung der Rede, gehalten am 5. November 2010 anlässlich der 10. Hamburger Tage des Stiftungs- und Non-Profit-Rechts an der Bucerius Law School, Hamburg.
2Ich danke dem Institut für Stiftungsrecht und das Recht der Non-Profit-Organisationen und insbesondere Frau Professor Birgit Weitemeyer ganz herzlich für die Einladung. Sie hat mich für weitere Arbeit auf diesem Gebiet (insbesondere der Gemeinnützigkeit) inspiriert. Auch danke ich Herrn cand. phil. Jonathan Pärli für tatkräftige Mitarbeit.
MICHAEL DROEGE
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