Die Autorinnen
Dr. med. Heike A. Kahla-Witzsch, MBA ist Fachärztin für Urologie und für Ärztliches Qualitätsmanagement sowie Risikomanagerin.
Weitere Veröffentlichungen der Autorin im Verlag W. Kohlhammer:
Heike A. Kahla-Witzsch (2010): Zertifizierung im Krankenhaus nach DIN EN ISO 9001:2008. Ein Leitfaden. 3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. 978-3-17-020943-5
Heike A. Kahla-Witzsch (2009): Praxiswissen Qualitätsmanagement im Krankenhaus. Hilfen zur Vorbereitung und Umsetzung. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. 978-3-17-020540-6
Heike A. Kahla-Witzsch, Thomas Geisinger (2004): Clinical Pathways in der Krankenhauspraxis. Ein Leitfaden. 978-3-17-017501-3
Heike A. Kahla-Witzsch/Alexandra Jorzig/Bruno Brühwiler (in Vorbereitung): Das sichere Krankenhaus. Leitfaden für das klinische Risikomanagement. 978-3-17-021611-2
Foto @ Anne Simon (www.fotografie-anne.de)
Olga Platzer ist Krankenschwester, Diplom-Pflegewirtin (FH), Qualitätsbeauftragte und interne Auditorin sowie zertifizierte klinische Risikomanagerin nach ONR.
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.
Alle Inhalte dieses Buches sind nach bestem Wissen und Gewissen sowie unter Berücksichtigung der aktuellen wissenschaftlichen Informationen entstanden. Dennoch können trotz sorgfältiger Recherche Fehler nicht komplett ausgeschlossen werden. Die Autorinnen und der Verlag übernehmen aus diesem Grund keinerlei Gewährleistung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Die Beispiele zu Erfassungslisten, Checklisten und Standards verstehen sich ausschließlich als Hilfestellung zur Ausarbeitung individueller, bereichs- und standortspezifischer Regelungen und berechtigten nicht zu der Annahme, dass diese ohne weitere Prüfung und/oder Anpassung genutzt werden können.
2. Auflage 2018
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-031983-7
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-031984-4
epub: ISBN 978-3-17-031985-1
mobi: ISBN 978-3-17-031986-8
Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.
Errare humanum est.
Irren ist menschlich.
(Seneca, 4 v. Chr. – 65 n. Chr.)
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der ersten Auflage war dieses Buch das erste Risikomanagementbuch, welches sich speziell an die Pflege richtete. Seitdem gab es viele Veränderungen, Weiterentwicklungen und neue Erkenntnisse auf dem Gebiet des Risikomanagements und der Patientensicherheit, sodass eine grundlegende Überarbeitung erforderlich wurde.
Wo immer Menschen tätig werden, kommt es zu Irrtümern aus Unwissenheit, mangelnder Sorgfalt oder Selbstüberschätzung. Seit das Institute of Medicine im Jahr 1999 seinen Report »To Err is Human – Irren ist menschlich« veröffentlichte, wurde dem Thema Risikomanagement im Gesundheitswesen und Patientensicherheit weltweit und auch in Deutschland zunehmende Aufmerksamkeit zuteil.
Handeln tut Not, da davon auszugehen ist, dass zwischen 5 und 10% der in deutschen Krankenhäusern behandelten Patienten1 ein unerwünschtes Ereignis erleiden (Aktionsbündnis Patientensicherheit 2006, S. 3), ebenso zeigt eine Veröffentlichung aus den USA (Makary 2016, S. 353), basierend auf Daten aus dem Jahr 2013, dass dort der medizinische Fehler auf Platz 3 der Todesursachenstatistik, nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs, rangiert. 14 Jahre nach der Veröffentlichung von »To Err is Human« und zahlreichen Initiativen und Anstrengungen zur Erhöhung der Patientensicherheit ist dies ein ernüchterndes Ergebnis.
Im Jahr 2013 trat das »Patientenrechtegesetz« (Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten) in Kraft, in welchem dem Thema Patientensicherheit verstärkte Bedeutung beigemessen wurde. Im Rahmen dieser Gesetzesänderung wurde dem gemeinsamen Bundesausschuss aufgetragen, in seinen Richtlinien über die grundsätzlichen Anforderungen an ein einrichtungsinternes Qualitätsmanagement wesentliche Maßnahmen zur Verbesserung der Patientensicherheit und insbesondere Mindeststandards für Risikomanagement und Fehlermeldesysteme festzulegen. Zudem müssen Krankenhäuser in den jährlichen Qualitätsberichten über den Umsetzungsstand von Risikomanagement und Fehlermeldesystemen informieren (SGB V § 137, 2013). Diese neuen gesetzlichen Anforderungen machen Risikomanagement, die Umsetzung von Maßnahmen zur Patientensicherheit, sowie die Einführung von Fehlermeldesystemen zur Pflicht.
Doch Risikomanagement und Patientensicherheit bedeuten mehr als die Erfüllung gesetzlicher Pflichten und Anforderungen!
Der Umgang mit Fehlern, Versäumnissen und Risiken im Gesundheitswesen ist sowohl menschlich als auch rechtlich oft sehr schwierig. Die Angst vor Gesichtsverlust, Berufsverbot und Strafe führt häufig dazu, dass Mängel, Unachtsamkeiten oder auch fahrlässige Verhaltensweisen, obwohl den Mitarbeiten durchaus bekannt, nur selten oder nur »hinter verschlossenen Türen« geäußert werden. Ein konstruktiver Umgang mit Fehlern, eine positive Fehlerkultur oder darüber hinausgehend eine Sicherheitskultur sind bislang in nur wenigen Gesundheitseinrichtungen anzutreffen.
Neben diesen psychologischen Hemmnissen sind der Aufbau von Risikomanagement und die Erfüllung der genannten Anforderungen für jede Einrichtung mit einem zusätzlichen Aufwand verbunden. Gerade in Zeiten knapper werdender Ressourcen, in der zahlreiche Kliniken, aber auch Alten- und Pflegeeinrichtungen in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht sind und mit immer weniger Personal immer mehr Leistungen erbringen müssen, schmerzt jede weitere Anforderung und will hinsichtlich Einführung und Umsetzung gut überlegt und geplant sein. Da die zur Verfügung stehenden Ressourcen begrenzt sind, muss jede Einrichtung zwischen dem Notwendigen und Möglichen abwägen, zumal eine Gegenfinanzierung der geforderten zusätzlichen Maßnahmen bislang nicht erfolgt.
Es stellen sich somit bei jeder neuen Herausforderung die Fragen:
• Brauchen wir das wirklich und was kostet es?
• Wie groß ist der mögliche Schaden oder welche Konsequenzen entstehen, wenn man es nicht tut?
Entscheidet man sich für Maßnahmen, so ist dann das Ziel, mit möglichst geringem Aufwand größtmögliche Wirkung zu erreichen.
Risikomanagement ist aus unserer Sicht eine Investition, die sich lohnt. Es schafft Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Einrichtung bei Patienten und Bewohnern und bildet die Grundlage für Stabilität und Sicherheit für Mitarbeiter und Kooperationspartner. Ein kluges und zielgerichtetes Risikomanagement lässt sich mit vielen bereits etablierten Managementsystemen und Instrumenten verknüpfen. Zwar bedeutet die Einführung eines weiteren Systems immer Aufwand und Anstrengung, doch ein wichtiger Grundsatz im Risikomanagement lautet: »Weniger ist mehr!« Durch die Fokussierung auf wesentliche, sicherheitsrelevante Themen und deren konsequente Bearbeitung kann Risikomanagement dazu beitragen, die verfügbaren Ressourcen sinnvoll einzusetzen und ein vorhandenes Qualitätsmanagement möglicherweise zu verschlanken sowie zu vereinfachen.
Gerade die Pflege, als stärkste Berufsgruppe im Gesundheitswesen, übernimmt oftmals eine Vorreiterrolle bei der Einführung und Umsetzung neuer Managementmethoden und trägt in vielen Einrichtungen dabei die Hauptlast, beispielsweise im Rahmen von Qualitätsmanagementprojekten. Aus diesem Grund möchten wir mit diesem Buch die Bedeutung von Risikomanagement und Patientensicherheit für die Mitarbeiter der Pflege unter Berücksichtigung der hier entstehenden Fragen und Problemstellungen beleuchten.
Unser Anliegen besteht darin, das Risikomanagement, Risikomanagementsystem und Methoden des Risikomanagements für die Mitarbeiter der Pflege verständlich darzustellen, die Anforderungen mit den für die Pflege relevanten Aspekten zu beleuchten und so die erforderlichen berufsgruppenspezifischen Kenntnisse und Informationen für und über das Risikomanagement zu vermitteln.
Wir orientieren uns in den nachfolgenden Kapiteln an den folgenden Fragen:
• Warum brauchen wir Risikomanagement in Einrichtungen des Gesundheitswesens?
• Welche haftungsrechtlichen Grundlagen spielen eine Rolle?
• Was ist überhaupt Risikomanagement, -system, -prozess?
• Welche Methoden und Instrumente nutzt das Risikomanagement?
• Welche Grundlagen sind für ein wirksames Risikomanagement wichtig?
• Welche Risiken entstehen im Rahmen interdisziplinärer Zusammenarbeit?
• Welche Risikobereiche sind spezifisch für die Pflege?
• Wie hängen Qualitäts- und Risikomanagement zusammen?
• Welche Möglichkeiten und Grenzen hat Risikomanagement?
Unsere Absicht war es, die einzelnen Kapitel auch für sich allein stehen zu lassen, so dass die Leserin/der Leser je nach Interesse die Reihenfolge wählen kann. Auch sollen die pflegepraktischen Kapitel als eine Art Nachschlagewerk dienen. Da die Darstellung von Anforderungen aus unserer Sicht nur dann Sinn ergibt, wenn diese anhand von Fallbeispielen erläutert werden, war es uns wichtig, eine ausgewogene Mischung aus Theorie und praktischen Beispielen anzubieten. So finden sich gerade in den Kapiteln mit hohem Praxisbezug viele Beispiele in Form von Pflegestandards, Formularen oder Checklisten, welche eine erste Orientierung geben und an die jeweilige Einrichtung adaptiert werden können.
In diesem Zusammenhang ist jedoch zu betonen, dass wir keineswegs mit den vorgestellten Beispielen »Patentlösungen« anbieten möchten. Keine der in diesem Buch verwendeten Vorlagen kann und soll ohne Anpassung und kritische Prüfung von den Einrichtungen übernommen werden, da dies sowohl den spezifischen Rahmenbedingungen als auch dem Bedürfnis der Mitarbeiter nach Partizipation bei der Erstellung widersprechen würde.
Wir hoffen, mit diesem Buch dem Thema Risikomanagement in Ihrer Einrichtung mehr Gewicht zu verleihen, Diskussionen anzustoßen und somit einen Beitrag für mehr Sicherheit für Patienten und Bewohner, aber auch für die Mitarbeiter zu leisten.
Nicht weil es schwer ist,
wagen wir es nicht,
sondern weil wir es nicht wagen,
ist es schwer.
(Seneca)
oder
Vor Fehlern ist niemand sicher.
Das Kunststück besteht darin, denselben Fehler nicht zweimal zu machen.
(Edward Heath)
Im Dezember 2017
Heike Anette Kahla-Witzsch
Olga Platzer
1 Wenn nicht anders aufgeführt, wird für alle Personen- und Funktionsbezeichnungen das generische Maskulinum verwendet. Dies schließt zu jeder Zeit die weibliche Form ein.
Für meine Töchter Alexandra und Sophie
(Heike Anette Kahla-Witzsch)
Für Thomas und Marla
(Olga Platzer)
Die moderne Gesundheitsversorgung
stellt von allen Aktivitäten auf dieser Erde
die größte Herausforderung an Sicherheit dar.2
Warum brauchen wir ein Risikomanagement in Einrichtungen des Gesundheitswesens? Je nach Blickwinkel des Betrachters werden wir auf diese Frage unterschiedliche Antworten erhalten.
Risikomanagement kann unterschiedliche Inhalte und Aspekte umfassen:
• Strategische und betriebswirtschaftliche Risiken
• Patienten- und Mitarbeitersicherheit
• Compliance, die Einhaltung gesetzlicher Bestimmungen und unternehmensinterner Richtlinien (Deutscher Corporate Governance Kodex 2017, S.6)
Dabei können je nach Art der Organisation jeweils unterschiedliche Aspekte im Vordergrund stehen. Es werden andere Gründe für ein Risikomanagement in einer ambulanten oder stationären Pflegeeinrichtung gesehen werden als in einem Krankenhaus der Maximalversorgung. Ganz gleich aber, um welche Einrichtung es sich auch handeln mag, am Thema Risikomanagement führt kein Weg vorbei.
Seit Inkrafttreten des »Patientenrechtegesetzes« (Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten) und den daraus resultierenden Anforderungen ist die Implementierung von Risikomanagement und Fehlermeldesystemen für ambulant tätige Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten sowie für Krankenhäuser gesetzliche Pflicht. Ziel ist hierbei, langfristig die Patientensicherheit durch die Stärkung der Patientenperspektive zu verbessern.
Doch Risikomanagement bedeutet mehr als die Erfüllung gesetzlicher Anforderungen.
Aus Sicht der Leitung einer Organisation geht es darum, Schadensereignisse abzuwenden, die ihren Fortbestand gefährden, die Leistungsfähigkeit beeinträchtigen, den Ruf beschädigen und möglicherweise Haftungsprobleme für Führungskräfte bedingen. Patienten und Bewohnern hingegen geht es um Sicherheit in der Versorgung und Betreuung, während für die Mitarbeiter die eigene Sicherheit sowie der Schutz vor Fehlern und Fehlleistungen im Vordergrund stehen. Für Kostenträger und Haftpflichtversicherer stehen die Vermeidung von Patientenschäden und daraus entstehende Kosten im Fokus.
Unterscheidung verschiedener Sichtweisen
Im Folgenden sollen daher die unterschiedlichen Sichtweisen und Anforderungen an das Risikomanagement betrachtet werden:
• Sichtweise der Organisation
• Patienten-/Bewohnersicht
• Sicht der Mitarbeiter
• Sicht der Kostenträger
• Sicht der Haftpflichtversicherer
• Sicht des Gesetzgebers
Aus Sicht der Organisation sind juristische und betriebswirtschaftliche Aspekte für das Risikomanagement von Bedeutung.
Ziel: Juristische Unangreifbarkeit
Die juristische Sichtweise des Risikomanagements stellt Risikoprävention, Sicherheit und Schutz des Patienten in den Mittelpunkt. Vorrangiges Ziel ist es, die medizinisch-pflegerische Qualität der Krankenhausbehandlung bzw. Betreuung in Alten- oder Pflegeeinrichtungen juristisch unangreifbar zu machen sowie die Einrichtungsträger vor Vorwürfen des Organisationsverschuldens zu bewahren. So verstehen Ulsenheimer et al. (1996, S. 1280) unter einem Risikomanagementsystem »ein Schadenverhütungsprogramm und Risikovorsorgekonzept, mit dessen Hilfe potenzielle Haftungsgefahren für Arzt, Pflegepersonal und Krankenhaus aufgespürt und eliminiert bzw. gesenkt werden.«
Bereits heute nehmen die Ansprüche auf Schadensersatz und Schmerzensgeld gegenüber Ärzten, Pflegepersonen und Krankenhäusern sowie Strafverfahren wegen fahrlässiger Tötung, fahrlässiger Körperverletzung und unterlassener Hilfeleistung zu. Dass sich hierbei längst nicht mehr nur Ärzte mit möglichen Behandlungsfehlervorwürfen konfrontiert sehen, belegt ein Bericht des Instituts der Rechtsmedizin der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn (Preuß et al. 2005). Dort war der Pflegedienst als viertstärkste Berufsgruppe (nach Krankenhaus-, niedergelassenen und Notdienst-Ärzten) von möglichen Behandlungsfehlervorwürfen mit tödlichem Ausgang betroffen.
Während es beispielsweise in vielen Krankenhäusern üblich ist, bei aufgetretenen vermeintlichen oder tatsächlichen Schadensereignissen zu reagieren, zielt das juristische Risikomanagement auf Vorbeugung und Vermeidung von Haftungsfällen. Dazu werden, gemäß dem Grundsatz »aus Fehlern lernen«, aus der richterlichen und Versicherungspraxis stammende Erkenntnisse zur Vermeidung ähnlicher oder gleicher neuer Schäden eingesetzt.
Je sicherer die Behandlungsabläufe und der Einsatz der technischen Mittel, je besser die Organisation, Dokumentation und Aufklärung sind, umso weniger Schäden, Auseinandersetzungen und Angriffspunkte wird es zwischen der Patienten- und der Behandlungsseite geben. So schreibt Ulsenheimer (2002, S. 1127): »Schutz und Sicherheit des Patienten haben absolute Priorität vor allen anderen Erwägungen.«
Haftungsspezifische Bereiche
Bei der juristischen Risikoprävention geht es darum, die Einrichtung, ihre einzelnen Abteilungen und ihre Bereiche dahingehend zu analysieren, inwieweit Rechtsvorschriften, Gerichtsurteile, Leitlinien und Empfehlungen der Fachgesellschaften und Berufsverbände im Sinne einer juristischen Risikoanalyse beachtet werden.
Im Rahmen dieser Analyse zeigen sich für Einrichtungen des Gesundheitswesens folgende haftungsspezifischen »Gefahrenquellen« für Ärzte und Pflegende:
• Organisationsmängel,
• Aufklärungsmängel,
• Dokumentationsmängel,
• Gerätemängel sowie
• Fehler bei Diagnostik, Behandlung und Pflege.
Auf diese Bereiche wird daher im Rahmen der Risikoanalyse ein besonderes Augenmerk gelegt.
Hochrisikobereiche im Krankenhaus
Im Krankenhaus konzentriert sich das juristische Risikomanagement insbesondere auf die haftungsrechtlichen »Hochrisikobereiche«. Dies sind Intensivstationen, Operationssäle und der Kreissaal sowie Notaufnahmen.
Jährlich werden ca. 12.000 vermutete Arzthaftungsfälle durch die Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen bei den Ärztekammern bewertet. Aus diesen Verfahren werden anonymisierte Daten mit Hilfe des Medical Error Reporting Systems (MERS) einheitlich erfasst und in einer bundesweiten statistischen Erhebung zusammengeführt. 2016 (Bundesärztekammer 2016) wurden durch die Schlichtungsstellen 11.803 Anträge bearbeitet und 7.639 Sachentscheidungen gefällt. In 5.394 Fällen wurden keine Behandlungsfehler oder Aufklärungsmängel festgestellt. Bei 47 Fällen wurden Aufklärungsmängel, bei 2.198 Fällen Behandlungsfehler festgestellt, allerdings eine Kausalität in nur 1.845 Fällen bejaht.
Betrachtet man die Fachdisziplinen, gegen welche Anträge gestellt wurden, findet sich eine Häufung bei den operativen Disziplinen ( Abb. 1.1). Dies erklärt, warum gerade in diesen Bereichen Risikomanagement eine hohe Bedeutung haben sollte.
Abb. 1.1: Verteilung der Antragstellungen bei Behandlungsfehlervorwürfen nach Fachbereichen 2016
Pflegequalitätsberichte des MDS
Für den Pflegedienst als eigenständige Berufsgruppe im Gesundheitswesen fällt eine Untergliederung in »Hochrisikobereiche« deutlich schwerer. Eindeutige und umfassende Studien über die Risikosituation in der stationären und ambulanten Pflege, sieht man hier einmal von Indikatoren über Sturz und Dekubitus ab ( Kap. 7), fehlen bislang und somit auch konkrete Zahlen zu möglichen Fehlern. In 2002 trat das Gesetz zur Qualitätssicherung und zur Stärkung des Verbraucherschutzes in der Pflege3 in Kraft. Auf diesem aufbauend erfolgen seitdem in allen ambulanten und stationären Pflegediensten und -heimen jährliche Qualitätsprüfungen (nähere Ausführungen zu diesem Vorgehen Kap. 8). Seit 2009 werden die Ergebnisse dieser Prüfungen auf der Homepage des MDK veröffentlicht (siehe hierzu www.mdk.de, »Leistungserbringer«).
Wurde den Pflegeorganisationen im ersten Bericht des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen (MDS) noch ein sehr schlechtes Zeugnis ausgestellt (Brüggemann et al. 2004) – hier fielen Mängel in allen Stufen des Pflegeprozesses, in der Durchführung von Prophylaxemaßnahmen, in der Hygiene, bei der Medikamententherapie sowie in der Personalausstattung auf –, wurden die Ergebnisse über die Jahre immer besser und sind im letzten Bericht von 2014 (MDS 2014) weitestgehend zufriedenstellend. Daher lassen sich auf diese Weise für die Gesamtheit der Einrichtungen keine allgemeinen Risikobereiche mehr identifizieren.
Risikobereiche aus Sicht der Pflegekräfte
Dieser Problemstellung folgend, führten Habermann und Cramer an der Hochschule Bremen am Zentrum für Pflegeforschung und Beratung (Zepb) eine vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Studie (Projektzeitraum 2007–2009) mit dem Titel »Pflegefehler, Fehlerkultur und Fehlermanagement in stationären Versorgungseinrichtungen« (2009) durch. Ziel war hierbei, Pflegekräfte »als konstante Akteure am sogenannten ›sharp end‹ der Versorgung« (S. 4) zu ihrer »Fehlerwahrnehmung«, ihren »erinnerten Fehlerhäufigkeiten«, den »Arten von Fehlern«, und den »Fehlerkategorien« zu befragen (S. 8)4. In die Studie wurden 3.905 Pflegende aus 46 Pflegeheimen und 30 Krankenhäusern mit mehr als 50 Plätzen bzw. Betten eingeschlossen und per Fragebogen anonymisiert befragt. Bei der Betrachtung der Ergebnisse ( Tab. 1.1 und Tab. 1.2) ist erwähnenswert, dass einige Unterschiede in der Wahrnehmung zwischen der Pflege in Krankenhäusern und der in stationären Pflegeeinrichtungen zu finden sind.
So sehen fast 70% der Pflegekräfte im Krankenhaus die Diagnostik und Therapie insgesamt als risikoreich an, wohingegen diese Ansicht nur 46% der Pflegekräfte im Pflegeheim teilen. Auch haben über 60% der Pflegekräfte im Krankenhaus Angst vor Fehlern in der Arzneimitteltherapie, wohingegen dies nur knapp 40% der Pflegekräfte in Pflegeheimen so sehen.
Tab. 1.1: Fehlerkategorien (nach Habermann und Cramer 2012, S. 22)
FehlerkategorienKrankenhäuser (n = 724)Pflegeheime (n = 376) Nennungen in ProzentNennungen in Prozent
Als Fehlerursachen ( Tab. 1.2) sehen deutlich mehr Pflegekräfte im Krankenhaus, über 76%, eine hohe Arbeitsbelastung sowie Unterbrechungen (19,1%) als treibenden Faktor, wohingegen diese Ansicht von nur knapp 57% bzw. 8% der Pflegekräfte in den befragten stationären Pflegeheimen geteilt wird. Für diese scheint jedoch ein Wissens- und Motivationsmangel eine größere Bedeutung zu besitzen als für die Pflegekräfte in den Krankenhäusern (16,2%/11,2% vs. 10,6%/5,1%).
Tab. 1.2: Fehlerursachen (nach Habermann und Cramer 2012, S. 25)
FehlerursachenKrankenhäuser (n = 724)Pflegeheime (n = 376) Nennungen in ProzentNennungen in Prozent
Bei den Ergebnissen des Projektes wird deutlich, dass Risikobereiche für die Pflege nicht pauschal, im Sinne einer Blaupause für alle Einrichtungen, festgelegt werden können. So wirken sich eine hohe Komplexität und Interdisziplinarität im Krankenhaus auch auf die Pflege aus und spielen für deren Risikolandschaft eine wichtige Rolle. Dies wiederum trifft nur bedingt für die stationäre Altenpflege zu und kann für ambulante Pflegedienste (je nach Leistungsangebot) wiederum ganz anders gestaltet sein. Hier ist eine objektive und realistische Einschätzung der Ist-Situation für den jeweiligen Bereich notwendig.
Nachweis einer dokumentierten Aufbau- und Ablauforganisation
Jedes Unternehmen hat Organisationspflichten zu beachten, damit durch Betriebs- und Arbeitsabläufe Dritte nicht geschädigt werden können. Diese Pflichten resultieren aus § 823 BGB, wonach derjenige, der eine Gefahrenquelle eröffnet, die Pflicht hat, alles Erforderliche zu tun, um Schäden bei Dritten durch diese Gefahrenquelle zu verhindern (»Verkehrssicherungspflicht«) (Adams 2002).
Um dem Vorwurf des Organisationsverschuldens zu entgehen, muss ein Krankenhaus oder eine Pflegeeinrichtung, wie jedes andere Unternehmen auch, eine dokumentierte Aufbau- und Ablauforganisation nachweisen. Diese beinhaltet in Form eines Anweisungs- und Nachweissystems (Adams 2002):
• Anweisungs-, Auswahl- und Überwachungspflichten
• transparente Delegation von Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortung
• Kooperationsregelungen zwischen Mitarbeitern, einzelnen Abteilungen, Beauftragten und Externen
Die Einrichtungen müssen im Schadensfall nachweisen können, dass sie die allgemeinen Organisationspflichten beachtet haben. Beispielsweise muss eine Krankenhausleitung im Falle eines Schadens nachweisen, dass das von ihm eingesetzte Personal sorgfältig ausgewählt wurde, entsprechende Anleitung erfahren hat und überwacht wurde (Adams 2002). Weitere Aspekte, insbesondere im Hinblick auf ein personalbedingtes Organisationsverschulden und das Stellen bspw. von Überlastungs- oder Gefährdungsanzeigen, werden in Kapitel 2 weiter ausgeführt.
Sicherung des wirtschaftlichen Überlebens
Gesetzliche Bestimmungen verpflichten Unternehmen zur Einführung eines Risikomanagementsystems.
Aus betriebswirtschaftlicher Sicht gilt es, ein Risikomanagementsystem zu implementieren, das in der Lage sein muss, bestandsgefährdende Entwicklungen, die die wirtschaftliche und finanzielle Lage der Einrichtung betreffen, frühzeitig und vollständig zu identifizieren.
Gesetzliche Grundlagen
Die Gründe, die aus Sicht der Leitung für die Einführung eines Risikomanagementsystems sprechen, sind maßgeblich durch gesetzliche Bestimmungen im Haushaltsgrundsätzegesetz (HGrG), Aktiengesetz (AktG) sowie Handelsgesetzbuch (HGB) bedingt, da diese auch Einrichtungen des Gesundheitswesens, gleich welcher Rechtsform oder Trägerschaft, betreffen können.
So ist gemäß §91(2) AktG der Vorstand einer Aktiengesellschaft verpflichtet, »geeignete Maßnahmen zu treffen, insbesondere ein Überwachungssystem einzurichten, damit den Fortbestand der Gesellschaft gefährdende Entwicklungen früh erkannt werden.«
Diese Bestimmung des Aktiengesetzes gilt
• für die meisten Kapitalgesellschaften, unabhängig von der Struktur der Anteilseigner (Grundlage: Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG), und
• für alle Unternehmen (unabhängig von der gewählten Rechtsform), die nach § 53 HGrG geprüft werden müssen, da die Einrichtung eines Risikomanagementsystems nach herrschender Ansicht nur als Konkretisierung der ohnehin bereits existenten Anforderungen des § 53 HGrG gesehen wird.
Vom § 53 HGrG sind Unternehmen in der Rechtsform des privaten Rechts betroffen, die entweder einen öffentlich-rechtlichen Anteilseigner haben, der unmittelbar oder mittelbar mehr als 50% der Kapitalanteile besitzt, oder mehrere öffentlich-rechtliche Anteilseigner, von denen ein öffentlich-rechtlicher Anteilseigner mindestens 25% der Anteile besitzt und die öffentlich-rechtlichen Anteilseigner zusammen über die Mehrheit der Kapitalanteile an dem privatwirtschaftlichen Unternehmen verfügen.
Die Leitung des Krankenhauses, der ambulanten/stationären Kranken- oder Altenpflegeeinrichtung muss mit Hilfe eines Risikomanagements in die Lage versetzt werden, durch Gegenmaßnahmen Risiken zu begegnen und sie damit kalkulierbar zu machen, die sich im Sinne einer Bestandsgefährdung auswirken können.
Kreditvergabe
Auch im Bereich der Kreditvergabe gewinnt der Nachweis eines funktionstüchtigen Risikomanagementsystems eine immer größere Bedeutung. So sieht das Konsultationspapier des Baseler Ausschusses für Bankenaufsicht (Basel II) vor, bei der Kreditvergabe durch Banken an Unternehmen künftig die Kreditwürdigkeit stärker zu berücksichtigen. Hierzu wird ein sogenanntes Rating durchgeführt, das eine »Aussage über die künftige Fähigkeit eines Unternehmens zur vollständigen und termingerechten Tilgung und Verzinsung seiner Verbindlichkeiten« (Westhelle 2002, S. 19) trifft.
In Zukunft werden auch für Einrichtungen im Gesundheitswesen unabhängige Rating-Agenturen die Kreditwürdigkeit und Zukunftsperspektiven des Trägers prüfen. In diese Bewertung wird auch das Risikomanagementsystem einbezogen. Erhält ein Unternehmen ein schlechtes Rating, so erhält es unter Umständen gar keinen Kredit mehr oder muss um 3–5% höhere Kreditzinsen zahlen als ein Unternehmen mit einem guten Rating. Diese höheren Kosten müssen dann auch wieder erwirtschaftet werden.
»Nur Unternehmen, die frühzeitig ein Risikomanagement betreiben, werden in der Lage sein, sich auch in Krisensituationen am Markt zu behaupten« (Westhelle 2002, S. 18) und werden demzufolge fähig sein, den Banken aufgenommene Kredite und deren Zinsen zu bezahlen.
Ohne ein solches Risikomanagementsystem wird die Erlangung von Krediten auf dem freien Kapitalmarkt zukünftig entweder sehr teuer oder unmöglich werden.
Gesundheitspolitische und ökonomische Rahmenbedingungen für Krankenhäuser und andere Einrichtungen des Gesundheitswesens ändern sich in immer kürzeren Zeitabständen. Daher ist primäres Ziel des Risikomanagements aus betriebswirtschaftlicher Sicht, das wirtschaftliche Überleben der Organisation sicherzustellen.
Sicherheit in der Behandlung und Betreuung
Aus Sicht der Patienten und Bewohner bedeutet Risikomanagement vor allen Dingen Sicherheit in der Behandlung sowie Schutz vor Fehlern und Irrtümern. Patienten erwarten eine qualitativ hochwertige Behandlung und Betreuung zur Wiederherstellung bzw. Erhaltung ihrer Gesundheit und ihres Wohlbefindens. Die Versorgung soll so geplant und durchgeführt werden, dass keine Komplikationen auftreten. Sowohl für Patienten und Bewohner als auch für die Angehörigen ist die Sicherheit in der Behandlung und Betreuung ein zentrales Bedürfnis. Gerade der zunehmende Hilfebedarf sowie die Überforderung mit der Situation begründen die Inanspruchnahme der Leistung. Die Einsicht, allein mit der Situation nicht mehr zurechtzukommen, die Angst, allein zu stürzen, sich zu verletzen oder zu verwahrlosen, begründen die Erwartungshaltung, dass alles getan wird, um negative Ereignisse zu vermeiden.
Diskussionen über Fehler in der Medizin und über Pflegeskandale, die zum Teil in reißerischer Form in den Medien erfolgen, sensibilisieren Patienten und ihre Angehörigen, schüren Ängste und belasten das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt, Pflegekraft und Patient. So ist es nicht verwunderlich, dass 87% der Deutschen meinen, dass Ärzte- und Pflegefehler prinzipiell nicht entschuldbar seien (Lechleuthner 2001). In einer Studie, durchgeführt durch den Asklepios Konzern (Asklepios Kliniken 2015) an 1.000 befragten Bundesbürgern über 18 Jahren, war insbesondere die Angst vor einer Ansteckung mit multiresistenten Keimen (65%) für die Patienten besonders bedrohlich. Dies ist sicherlich nicht verwunderlich, da gerade die Ausbreitung von multiresistenten Erregern, sowohl beim Menschen als auch beim Tier, immer wieder in den Medien präsent ist (bspw. Zeit Online 2014) und auch durch die Fachwelt kritisch diskutiert und mit Informationen flankiert wird5. Auch die Angst vor Behandlungsfehlern ist mit 49% ganz oben auf der Liste der Dinge, die Patienten während eines stationären Aufenthaltes am meisten Sorgen bereiten ( Abb. 1.2).
Abb. 1.2: »Das bereitet den Patienten bei einem Klinikaufenthalt Sorgen« (aus: Asklepios Kliniken 2015)
2003 kam der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (S. 56) zu dem Ergebnis, dass immerhin 19% der Bürger glaubten, mindestens einmal in ihrem Leben einen medizinischen Behandlungsfehler erlitten zu haben, die Hälfte davon im Rahmen einer Behandlung durch einen niedergelassenen Arzt. Diese Ergebnisse konnten seitdem in dieser Form nicht mehr verifiziert werden. So erkennt auch das Bundesgesundheitsministerium auf seiner Homepage6 an, dass es »zu Behandlungsfehlern oder Behandlungsfehlervorwürfen […] keine Bundesstatistik« gibt und verweist in der Folge auf die Datenerhebungen des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS). Diese Daten beziehen jedoch nur diejenigen Fälle mit ein, welche tatsächlich durch die Betroffenen gemeldet wurden. Hier kann man sicherlich von einer hohen Grauzone ausgehen, da eine Meldung primär nur dann erfolgt, wenn Aufwand und Mühe der Meldung mit den zu erwartenden Vorteilen (bspw. einer Kompensation) ausgeglichen werden. Diese sind für den Betroffenen nicht immer einfach abzuschätzen und so verlaufen viele Verdachtsfälle noch vor einer Meldung im Sande oder werden, wenn überhaupt, per Beschwerdemanagement oder soziale Medien direkt kommuniziert. Gerade bei letzterem erfolgt in der Folge eine »Abstimmung mit den Füßen«, welche nur sehr schlecht zu quantifizieren ist. Daher ist es nur folgerichtig, wenn Bernsmann et al. (2002, S. 25) feststellen: »Wer auch immer es ernst meint mit der Qualität im Gesundheitswesen, muss die Erwartungen, Bedürfnisse und Urteile der Klienten, Patienten, Kunden erfragen, sie ernst nehmen, analysieren und in seine Entscheidungen einfließen lassen.«
Patientenwunsch: Information und Transparenz
Auch im deutschen Gesundheitswesen hat das Zeitalter des informierten, aufgeklärten Patienten bzw. Bewohners und Angehörigen begonnen. Patienten bemühen sich zunehmend um Informationen zur Art ihrer Erkrankung, zu Diagnostik und Therapiemöglichkeiten sowie zu geeigneten Anbietern. Dazu nutzen sie moderne Informationstechnologien wie das Internet, um sich schnell und einfach über Gesundheitsthemen zu informieren.
Das große Interesse an Ärzte- und Krankenhauslisten, wie sie zum Beispiel in der Zeitschrift Focus veröffentlicht werden, zeigt uns, dass Patienten mehr Informationen und Transparenz hinsichtlich der Qualität der Leistungen ihrer behandelnden Ärzte und Krankeneinrichtungen wünschen. Dieser Entwicklung trägt auch die Gesetzgebung Rechnung, die die Krankenhäuser seit 2005 zur Veröffentlichung eines strukturierten Qualitätsberichtes verpflichtet, der im Internet allen Interessierten zur Verfügung steht. Auf diese Weise sollen Patienten mehr Transparenz über das Leistungsangebot und die Qualität der erbrachten Leistungen der Krankenhäuser erhalten. »Patienten wünschen Information und Partizipation. Übernehmen Arzt und Patient gemeinsam die Verantwortung für die Behandlung, führt dies in der Regel zu einem besseren Behandlungserfolg«, so schreibt Bathelt im Deutschen Ärzteblatt (2004, S. 154). Die vielfältigen Medienberichte über neueste Therapien und deren Erfolge wecken aber auch Erwartungen und Ansprüche bei den Betroffenen, welche nicht immer vollumfänglich von Seiten der Leistungserbringer erfüllt werden können oder für die einzelne Therapie sinnvoll erscheinen.
Seit 2011 werden die Daten der gesetzlichen Qualitätsberichte im Rahmen eines Ärztenavigators unter www.weisse-liste.de zur Verfügung gestellt, auf welche u. a. die AOK, die Barmer Ersatzkasse und die Techniker Krankenkasse zugreifen. Diente das Portal den Patienten zu Beginn als Hilfestellung bei der Suche nach geeigneten Ärzten und Einrichtungen für ihre Diagnose, wurde die Plattform nach und nach auch mit Suchfunktionen zu Pflegediensten erweitert und stellte zunehmend auch praktische Entscheidungshilfen zur Verfügung. Heute finden sich in der Weißen Liste ebenfalls Ergebnisse von Zufriedenheitsbefragungen, die Vergleichsdaten der externen Qualitätssicherung sowie die Möglichkeit, Erfahrungsberichte über die Einrichtungen mit anderen zu teilen.
Aber nicht nur in Krankenhäusern treffen wir zunehmend auf Patienten, die sich über die Art und Weise ihrer Behandlung informiert haben und gezielt eine bestimmte Einrichtung aufsuchen oder eine bestimmte Behandlung erwarten. Auch interessierte Kunden von Pflegediensten und Pflegeeinrichtungen suchen zumeist sehr gewissenhaft diejenige Einrichtung aus, welche ihren Vorstellungen am ehesten entspricht. Hilfestellung finden sie hierbei über ihre Krankenkasse, aber auch über die Online-Suchportale (s. o.).
Bemühungen der Politik
Auf politischer Ebene wurde und wird viel unternommen, um die Rechte von Patienten und Heimbewohnern in Deutschland zu stärken. So wurden bereits im Gesetz zur Modernisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GMG) zahlreiche Neuerungen zur Stärkung der Patientenrechte eingeführt. Beispielsweise wurde die Einführung eines Beauftragten für die Belange der Patientinnen und Patienten und die Beteiligung von Interessenvertretungen der Patientinnen und Patienten unter anderem im Gemeinsamen Bundesausschuss der Ärzte und Krankenversicherungen beschlossen (Merten 2003).
Seit 1.1.2004 gibt es einen Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten. Gemäß GKV-Modernisierungsgesetz soll der Patientenbeauftragte darauf hinwirken, dass die Belange der Patienten, vor allem deren Beratungs- und Informationsrechte, berücksichtigt werden (Barthelt 2004). Die Novellierung des Heimgesetzes und der Heimmitwirkungsverordnung 2002 haben die Rechtsstellung der Heimbewohner gestärkt und die Möglichkeiten der Partizipation in Angelegenheiten des Heimbetriebs verbessert.
Das Patientenrechtegesetz
Mit dem im Februar 2013 in Kraft getretenen »Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten« (Patientenrechtegesetz)7 sollen transparente Regelungen geschaffen und Patienten wie auch Behandelnden, also auch Ärztinnen und Ärzten und anderen therapeutischen Berufen, die nötige Rechtssicherheit gegeben werden.
Im Rahmen der Gesetzesänderung wurden zahlreiche gesetzliche Regelungen getroffen, um die Rechte der Patientinnen und Patienten gegenüber den Leistungsträgern und bei Behandlungsfehlern im sozialversicherungsrechtlichen Kontext zu stärken und auch eine Verbesserung der Patientenbeteiligung in der Selbstverwaltung zu erreichen.
Es werden die Pflichten der Behandelnden insbesondere in Bezug auf Informations- bzw. Aufklärungspflichten, Regelungen zur Dokumentation der Behandlung und das Einsichtsrecht der Patientin bzw. des Patienten in Krankenunterlagen geregelt. Zur Verbesserung der Patientensicherheit wird die Verpflichtung zur Einführung von Risikomanagement und Fehlermeldesystemen erlassen.
In dem vom Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten, sowie Bevollmächtigtem für die Pflege und von den Bundesministerien für Gesundheit, Justiz und Verbraucherschutz herausgegebenen »Ratgeber für Patientenrechte«8 werden die derzeit geltenden gesetzlichen Regelungen einfach und verständlich wiedergegeben.
Auch für Heimbewohner wurde durch das Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend eine Informationsbroschüre herausgegeben, welche diese über ihre Rechte informiert. Die in 2004 erstmals veröffentlichte Broschüre wurde auf Grundlage des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes in 2008 aktualisiert (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2008) und möchte alle Heimbewohner und Heimbewohnerinnen »über die Rechtslage nach dem Heimgesetz des Bundes« informieren. In der Anlage finden sich neben einer Checkliste zur Auswahl des richtigen Pflegeheims auch die Auszüge relevanter Gesetze sowie Adressen von Heimträgerverbänden, Landessozialbehörden oder Senioren-Organisationen.
Fehler aus Patientensicht
Wir alle wissen, dass es in einem hochkomplexen Gesundheitssystem auch bei größter Anstrengung keine 100%-ige Sicherheit geben kann und es immer wieder zu Komplikationen und Behandlungsfehlern kommen wird. Dennoch erwarten Patienten eine komplikationsfreie Behandlung sowie die möglichst vollständige Wiederherstellung oder Erhaltung ihrer Gesundheit. Vielleicht haben auch die zahlreichen Ärzte-TV-Serien zu diesen wenig realistischen Vorstellungen und Erwartungen an das medizinische Personal beigetragen. Kelch (2003) bemerkt: »Patienten neigen dazu – weitgehend in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung –, vom Idealtypus eines alles beherrschenden, zur rechten Zeit an alles denkenden und stets die richtige Entscheidung treffenden Berufsangehörigen auszugehen, der in der Realität nicht existiert.«
Hansis (2001/1) hat die folgenden drei Teilursachen aufgezeigt, die einzeln oder in Kombination vorliegen können, wenn es bei einer Behandlung zu einer Komplikation oder zu einem Ergebnis kommt, das die Erwartungen nicht erfüllt. Diese Ursachen können sein:
• Begleiterscheinungen der Krankheit an sich, die auch bei bestem Verlauf nicht zu vermeiden sind
• unerwünschte Folgen oder Begleiterscheinungen der Behandlung, die ebenfalls nicht immer zu umgehen sind (methodenimmanente Probleme)
• Folgen einer unzureichenden Diagnostik, Therapie und Pflege sowie im Zusammenhang hiermit Folgen medizinischer und pflegerischer Behandlungsfehler
Man sollte sich bewusst machen, dass Patienten, Angehörige, ja selbst medizinische Fachgutachter nicht in allen Fällen zweifelsfrei beurteilen können, ob es sich bei einer Komplikation tatsächlich um einen vermeidbaren Behandlungsfehler handelt oder ob es sich doch um die Folge von Krankheit und Begleitumständen handelt. Wichtig ist auch zu bedenken, dass sich Patienten und medizinisches Fachpersonal in der Wahrnehmung von Fehlern unterscheiden. So verstehen nach Gallagher et al. (2003) Patienten beispielsweise unter Fehlern auch
• schlechten Service (z. B. lange Wartezeiten auf Untersuchungen),
• nicht zu verhindernde Folgen oder Begleiterscheinungen der Behandlung und
• fehlende oder mangelnde soziale Kompetenz (z. B. unfreundliches Verhalten der Pflegekräfte oder des Arztes).
Auf die Bedeutung der Kommunikation zwischen Patient und medizinischem Personal kann nicht oft genug hingewiesen werden. So erlebt der Patient in einer Großklinik statt Zuwendung unter Umständen ständig wechselnde Gesichter der ihn betreuenden Ärzte, Pflegepersonen und Therapeuten und fühlt sich einer anonymen Apparatemedizin ausgeliefert. Bei Komplikationen oder Nichtgenesung wird dann schnell die Schuldfrage gestellt.
Aufdecken von Fehlern schafft Vertrauen
Doch was sollte man tun, wenn es tatsächlich zu einem Zwischenfall, zu einem Behandlungsfehler gekommen ist? In den USA gibt es in einigen Bundesstaaten bereits seit vielen Jahren die gesetzliche Verpflichtung, Patienten über unerwartete Ergebnisse der Behandlung zu informieren (Gallagher et al. 2003) und seit dem Patientenrechtegesetz 2013 gilt auch in Deutschland gemäß § 630 c BGB, dass der Behandelnde verpflichtet ist, bei Umständen, die die Annahme eines Behandlungsfehlers begründen, den Patienten auf Nachfrage oder zur Abwendung gesundheitlicher Gefahren darüber zu informieren.
Wie Untersuchungen in den USA jedoch zeigen, ist diese Aufklärung von Patienten über Zwischenfälle keineswegs geübte Praxis. Ärzte und Pflegekräfte scheuen sich, Patienten
• aus Angst vor juristischen Konsequenzen und Haftungsklagen,
• aus Angst vor Rufschädigung oder
• aus Scham
zu informieren. Wen wundert es also, dass nur 30% der Patienten, die einen medizinischen und/oder pflegerischen Behandlungsfehler erlebten, hierüber von den beteiligten Ärzten oder Pflegepersonen tatsächlich informiert wurden? Dabei führt gerade das Verschweigen dieser Ereignisse zu Misstrauen und erhöht die Wahrscheinlichkeit juristischer Schritte.
Patienten und Angehörige wünschen sich die volle Aufdeckung von Behandlungsfehlern. Sie möchten wissen, was und warum der Fehler passiert ist, wie die Konsequenzen aussehen und was unternommen wurde, um Wiederholungen zu vermeiden. Neben der Aufklärung erwarten sie von den Verantwortlichen psychologische Unterstützung und eine Entschuldigung (Gallagher et al. 2003). Aber auch das aktive Einbeziehen der Sichtweise der Betroffenen ist ein entscheidendes Bedürfnis. So wurde 2006 in Australien durch das nationale Steuerungs-Komitee zur Implementierung einer nationalen Offenheitspolitik nach medizinischen Zwischenfällen eine Pilotstudie durchgeführt, an welcher insgesamt 42 Einrichtungen teilnahmen (Iedema, R. A. M. et al. 2008). In durchgeführten Interviews mit 23 Patienten und Angehörigen war den Interviewten insbesondere wichtig (S. 399), dass9:
• ihnen (und/oder ihren Familienangehörigen) durch eine ernstgemeinte und zeitnahe Entschuldigung Respekt entgegengebracht wird,
• eine Aufarbeitung, soweit dies möglich ist, durch diejenigen durchgeführt wird, die auch am eigentlichen Vorfall beteiligt waren und
• es für die Patienten/Angehörigen möglich ist, eine Vertrauens- bzw. Unterstützungsperson hinzuzuziehen.
Patienten/Angehörige sehen sich besonders dann positiv einbezogen, wenn:
• das Personal ein Interesse daran zeigt, welche Umstände und Einzelheiten für den Patienten/die Angehörigen wichtig sind und welche er/sie aufgeklärt oder aufgearbeitet haben möchte/n und