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Pielkötter hatte den dritten Tag in der Rehaklinik fast hinter sich gebracht und
inzwischen alle Anwendungen sowie Therapeuten kennengelernt. Von einigen Maßnahmen erhoffte er sich einen gewissen Erfolg, von anderen weniger. Bei den
Mahlzeiten saß er mit Wolfgang Schröder und Johannes Streckmann an einem Vierertisch. Dank Schröder, der vor lauter Reden kaum zum Atmen kam, geschweige denn zum Essen, geriet
die Unterhaltung selten ins Stocken, auch wenn Pielkötter selbst kaum etwas dazu beitrug. Meist war er zu sehr in seine eigenen
Gedanken versunken.
Leider zählte sein Tischnachbar nicht zu den Personen, mit denen er etwas anfangen
konnte, und schon gar nicht zu den Sympathieträgern. Allein diese grässliche Perücke, die der Mann trug, machte ihn für Pielkötter zu einem Exoten. Jedenfalls war er sicher, dass die volle braune Haarpracht
ohne eine einzige graue Strähne nicht echt sein konnte. Sofern man als Mann eine Glatze hatte, musste man
einfach dazu stehen, Punkt, Aus, Ende. Bei Frauen dagegen wertete Pielkötter das durchaus anders. Und dann gab es ja auch noch Verbrecher, die nicht
erkannt werden wollten. Nun ja, vielleicht plante Schröder, sich einen Kurschatten anzulachen, und glaubte, mit dieser Aufmachung mehr
Erfolg zu haben. Dazu passte allerdings weder die Tatsache, dass er den Kontakt
zu Pielkötter suchte, noch die Art der gemeinsamen Unternehmungen, die er ihm immer
wieder vorschlug. Ein Tanzvergnügen für einsame Kurgäste, die etwas Abwechslung suchten, war nicht dabei.
Aus einem Pielkötter unerklärlichen Grund, schien Schröder es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, ihm die Insel samt aller Naturschönheiten und kulturellen Sehenswürdigkeiten zu zeigen. Nach den letzten Anwendungen an diesem Freitag war Pielkötter keine plausible Ausrede mehr eingefallen und er hatte einem gemeinsamen
Spaziergang vor dem Abendessen zugestimmt. Tief in seine Gedanken versunken,
hatte Wolfgang Schröder ihn mit seinem strammen Schritt sogar etwas abgehängt. Kurz bevor sie die Stadt erreicht hatten, holte er die wenigen Meter jedoch
wieder auf.
»Schauen Sie sich das Kaiser-Wilhelm-Denkmal an!«, forderte Schröder ihn auf und deutete auf einen Obelisken aus etlichen Steinen verschiedener
Größe und mit dem Reichsadler oben drauf. »Also, mit Jahreszahlen hab ich es nicht so, das müssen Sie schon entschuldigen, aber ich denke, das dürfte um die Jahrhundertwende entstanden sein. Die Steine haben ganz
unterschiedliche Städte gestiftet. Die stehen symbolisch für das gesamte Deutschland und erinnern an die Reichseinigung von ...« Schröder räusperte sich »Wie ich schon sagte, sind Jahreszahlen nicht mein Ding, aber vielleicht haben
Sie ja in der Schule in Geschichte besser aufgepasst als ich.«
»Nun, ich grenze einmal auf einen Zeitraum von achtzehnhundertsechzig bis achtzig
ein«, antwortete Pielkötter, wobei er unwillkürlich an Karl-Heinz-Tiefenbach denken musste, wenn der Duisburger
Rechtsmediziner den ungefähren Todeszeitpunkt angab. Pielkötter hätte viel darum gegeben, jetzt mit ihm herumzuspazieren, statt mit der Nervensäge. Dabei wusste er selbst nicht einmal genau, was ihn an Schröder so störte – abgesehen von der grässlichen Perücke. Vielleicht, dass er ihn und sein Auftreten nicht richtig einschätzen konnte. Das passierte ihm äußerst selten und er schob den Gedanken eilig beiseite.
Inzwischen befanden sie sich mitten in der Fußgängerzone. Links vor ihnen lag ein architektonisch reizvoller, reichlich
verzierter Backsteinbau, der etwas Würdevolles ausstrahlte. »Das ehemalige kaiserliche Postamt«, bemerkte Schröder diesmal nur kurz und eilte weiter. Erst an dem hübschen Kurplatz blieb er stehen. Pielkötter fiel sofort ein imposantes weißes Gebäude mit Rundbögen und Säulen in der Mitte auf. Die Turmuhr unter dem grünen Dach zeigte halb sieben.
»Da drüben steht das Conversationshaus«, erklärte sein Tischnachbar sichtlich stolz, als hätte er es höchstpersönlich gebaut oder entworfen. »Ehemals Kurhaus. Wenn ich das richtig gespeichert habe, wurde das im Jahr 1800
errichtet, als man Norderney offiziell zum Seebad erklärt hat.« Er lachte, was sich eher nach dem Wiehern eines Pferdes anhörte. »Wenigstens eine Zahl, die ich mir gut merken kann. Kommen Sie! Das Gebäude ist auch innen einen Besuch wert.«
Pielkötter hätte sich lieber auf eine der Bänke an dem Brunnen in ihrer Nähe gesetzt und den Möwen zugeschaut, die von dem Wasser tranken, legte aber kein Veto ein. Schröder durchquerte im Eiltempo die Grünanlage, um anschließend die Stufen der mit Palmen bestückten Veranda des Conversationshauses hochzusteigen. Widerwillig folgte er ihm.
Seine Hoffnung, es habe vielleicht schon geschlossen, bestätigte sich nicht. Er betrat den nett gestalteten Vorraum mit zwei großen Strandkörben in einem Farbton, den er nicht benennen konnte, irgendwie zwischen grau und
hellbraun. Zum Glück war das für keine Ermittlung wichtig.
»Kommen Sie!«, wiederholte Schröder, was Pielkötter gewaltig auf die Nerven ging.
Dabei hatte sein Tischnachbar durchaus Recht. Auch das Innere war sehenswert. Ob
das spitze Glasdach in der Mitte mit dem hellen Sonnenschutz wohl einen ehemals
offenen Innenhof vor Regen geschützt hatte? Seinen selbsternannten Fremdenführer mochte er nicht danach fragen. Vielleicht verbarg sich dahinter die Angst,
dass zu viel Interesse eine weitere Rundtour nach sich ziehen könnte. Pielkötter überlegte, ob seine Abneigung gegen einen engeren Kontakt eher an seiner oder an
Schröders Persönlichkeit lag, aber dann klopfte ihm sein Tischnachbar auf die Schulter, zum Glück auf die gesunde, und es erübrigte sich, weiter darüber nachzudenken.
»Was halten Sie von einer Partie Dame?«, fragte Schröder mit einem penetranten Grinsen. »Die anderen Spieltische sind leider schon besetzt. Oder wollen wir vor dem
Abendessen noch etwas im Café Kurpalais trinken?«
Erst jetzt registrierte Pielkötter die Tische aus dunklem Holz, in die Spielfelder eingelassen waren. »Ich glaube, dazu bleibt uns zu wenig Zeit«, erwiderte er.
»Gut. Dann laufen wir am besten über den Kurgarten zur Klinik zurück.«
Der Weg führte durch eine Art Wäldchen. Schließlich kamen sie an einen kleinen See. Pielkötter hätte gerne den Enten zugeschaut, aber Schröder zog es weiter.
»Merken Sie was hier fehlt?«, fragte er und verzog das Gesicht. »Ein Kurpark soll das sein? Also, Norderney ist wirklich eine super Insel mit
tollen Attraktionen, aber von der Gestaltung eines Kurparks verstehen die nun
wirklich nichts. Okay, vielleicht haben die im Gegensatz zu anderen Kurorten
genug zu bieten, aber mir fehlen nun einmal die Blumen. Kennen Sie diese
herrlichen Rondells mit einer Unmenge an Blüten, diese Farbenpracht von andern Kurorten?«
»Ich mag Natur, die man einfach sich selbst überlässt«, entgegnete Pielkötter. »Und davon gibt es hier reichlich.«
»Die Kombination aus niedrigwachsendem Männertreu und den hohen Callas finde ich geradezu fantastisch«, ging Schröder nicht darauf ein. »Von mir aus auch Dahlien zwischen Gräsern oder Rosen mit Lavendel.« Wolfgang Schröders Miene wirkte so genüsslich, als würde er gerade sein Lieblingsgericht verspeisen.
Pielkötter verdrehte die Augen. Er konnte diese Begeisterung einfach nicht
nachvollziehen. Wie war es möglich, dass ein Mann, der zudem kein Gärtner war, sich derart für Grünzeug interessierte? Nun ja, von einem Zeitgenossen, der eine Perücke trug, war wohl nichts anderes zu erwarten. Zum wiederholten Mal bereute er
es, Schröders Angebot angenommen zu haben. Die nächste Einladung zu einer gemeinsamen Runde, würde er garantiert ablehnen. Morgen am Samstag hatte er sowieso etwas Besseres
vor. Marianne wollte ihn besuchen, die Frau, mit der er noch verheiratet war – und es auch gern bleiben würde. Während Wolfgang Schröder munter weiterplapperte, schaute er versonnen in die Ferne.
»Also, was sagen Sie dazu?«, brachte ihn sein Gesprächspartner wieder in die Gegenwart zurück. »Besuchen Sie mich mal zu Hause? Ich hoffe, meine Kur in wenigen Tagen zu
beenden, und Sie sind ja noch eine Weile hier.«
»Aber«, wandte Pielkötter ein, schaffte es jedoch nicht, seine Bedenken genauer zu begründen, Schröder unterbrach ihn sofort.
»Das wäre wirklich kein großer Aufwand für Sie. Am Sonntag zum Kaffee zum Beispiel. Ich setze mich gerne ins Auto und
hole Sie von der Fähre ab. Von uns aus ist das ein Katzensprung.«
»Und warum verbringen Sie dann das Wochenende nicht zu Hause? Als Selbstzahler
ist das doch sicher kein Problem.«
Von einer Sekunde zur anderen verdunkelte sich Schröders Miene. Zudem schien es ihm sogar für einen Moment die Sprache verschlagen zu haben. »Nun ja«, druckste er herum, »mit meiner Familie ist das Verhältnis im Moment nicht so besonders. Es gibt … äh, wie soll ich sagen … einige Differenzen. Wenn ich da morgen auflaufe, sieht das so aus, als wäre die Kur nicht wichtig für meine Gesundheit. Ich will meine Frau und meine Tochter schließlich nicht misstrauisch machen. Sie sollen glauben, ich wäre wirklich wegen meiner Arthrose in Kur.« Er räusperte sich. »Zudem gehen die davon aus, dass ich mich in einer Klinik in Süddeutschland aufhalte.«
Jetzt fängt es aber an, interessant zu werden, dachte Pielkötter, aber zu seinem Leidwesen verstummte Schröder. »Aber warum wissen die nichts von Ihrer Kur auf Norderney?«, fragte er, um Schröder zum Weiterreden zu animieren. »Und wieso nimmt Ihre Familie Ihnen das so einfach ab? Wenn die Sie besuchen möchten oder in einer falschen Klinik anrufen, fliegen Sie doch auf.«
Schröder schüttelte den Kopf. »Mich besuchen?« Seine Stimme klang nun verächtlich. »Meine Frau und meine Tochter sind doch froh, wenn die mich nicht sehen. Gut,
einmal hat Brigitte mich auf dem Handy angerufen, doch dabei sieht sie ja
nicht, in welchem Ort ich mich befinde. Und meine Tochter hat auch etwas
Besseres zu tun, als mit mir Kontakt aufzunehmen. Die gibt sich so was von anti. Studiert Betriebswirtschaftslehre, will aber niemals unsere Firma übernehmen. Und dann hat sie natürlich ihren Verlobten im Kopf.« Gedankenverloren starrte Schröder über den See und schwieg.
»Ich verstehe immer noch nicht ganz, aus welchem Grund Ihre Familie nicht wissen
soll, dass Sie auf Norderney sind«, hakte Pielkötter noch einmal nach, weil er seine Neugier kaum zügeln konnte.
»Ach, vergessen Sie es einfach.« Er versuchte zu lachen, was mehr als seltsam klang. »Mit etwas Glück beende ich meine Kur sowieso in wenigen Tagen. Dann habe ich alles zusammen,
was ich brauche.«
Merkwürdige Bezeichnung für die Anwendungen, dachte Pielkötter, oder meinte er etwas ganz anderes?
»Aber jetzt genug davon. Lassen Sie uns einfach unsere kleine Rundtour durch den
Kurpark genießen, auch wenn mir hier eine überbordende Blumenpracht fehlt.«
Pielkötter musste sich wohl oder übel damit zufriedengeben. Am liebsten hätte er nachgebohrt, aber er war nicht im Dienst. Wenn der Mann sein Geheimnis
loswerden wollte, würde er es ihm erzählen, allerdings hatte er keinerlei Berechtigung, es aus ihm herauszukitzeln. »Aber gegen Ihre Arthrose sind die Anwendungen, die Sie erhalten, doch gut, oder?«, stellte er eine letzte Frage.
»Klar! Auf jeden Fall schadet die Therapie nicht. Und die Bäder nehme ich sogar gerne mit, besonders diese Blubberwanne mit der Betreuung
durch Schwester Monika.« Schröder seufzte laut. »Eigentlich bin ich fit wie ein junger Hüpfer, wenn ich meinem Hausarzt glauben darf. Ich hoffe nur, dass der das nicht
meiner Familie steckt.« Er führte die Hände zum Kopf und nestelte an seiner Perücke herum. Mit seltsamer Miene hielt er für einen Moment in der Bewegung inne, als wunderte er sich selbst über das künstliche Haar. »Sobald ich wieder zu Hause bin, fahre ich in die nächste Gärtnerei und decke mich mit neuen Pflanzen ein«, erklärte er plötzlich.
»Woher kommt Ihre Begeisterung für das Gärtnern? Sagten Sie nicht gestern beim Abendessen, Sie seien Architekt?«
»Beim Abendessen? Sie meinem bei diesem gemischten Rohkostsalat mit Gemüsesülze. Wie passt das denn zusammen? Außerdem hasse ich Sülze, egal womit. Was die Küche betrifft bin ich jedenfalls froh, wenn ich wieder zu Hause bin. Man kann
meiner Frau ja viel nachsagen, aber sie kocht ganz ausgezeichnet. Also, wenn
sie mal kocht.« Mit einer hektischen Bewegung berührte er zunächst sein Haar, fuhr sich dann jedoch über die Stirn. »Ach ja, Architekt bin ich nicht, nicht einmal Bauleiter. Den Posten hat mein
Bruder inne. Ich bin für die Finanzen unserer Firma zuständig.«
»Da haben Sie sicher viel Stress«, erwiderte Pielkötter schnell, ehe sein Gesprächspartner das Thema Blumen wieder aufgreifen konnte.
»Ja, Vermögen zu besitzen, wird manchmal zu einer ganz schönen Last. Deshalb brauche ich die Gartenarbeit dringend als Ausgleich. Also,
wenn ich Blumen pflanze … Wie schon gesagt, sobald ich aus der Kur zurück bin, finden sie mich in der Gärtnerei.« Plötzlich schaute er Pielkötter in die Augen, schien den genervten Blick jedoch nicht zu bemerken. »Bei Ihrem Besuch können Sie dann das Resultat meiner Arbeit bestaunen.«
Dazu wird es nicht kommen, dachte Pielkötter.
Er sollte Recht behalten, wenn auch ganz anders, als er jetzt erwartete.