Manfred Bomm
Mordloch
Schusslinie
Beweislast
Sammelband
Manfred Bomm wohnt am Rande der Schwäbischen Alb. Er hat 2004 mit dem Krimischreiben begonnen und die Figur des August Häberle nach einem realen Vorbild bei der Kriminalpolizei Göppingen entworfen. Bereits frühzeitig hat er sich dem Journalismus zugewandt und war lange Zeit in Göppingen und später in seiner Heimatstadt Geislingen für Polizei und Gerichtsreportagen zuständig. Seit dem Ruhestand widmet er sich nun ganz den Kriminalromanen. Er fühlt sich eng mit Land und Leuten verbunden, liebt die Natur, das Wandern, Reisen und Radeln und ist auch Sportflieger. Wichtig ist ihm, alle beschriebenen Schauplätze selbst aufgesucht zu haben.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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ISBN 978-3-7349-9462-3
Mordloch
Copyright der Originalausgabe © 2005 by Gmeiner-Verlag GmbH
Schusslinie
Copyright der Originalausgabe © 2006 by Gmeiner-Verlag GmbH
Beweislast
Copyright der Originalausgabe © 2007 by Gmeiner-Verlag GmbH
Manfred Bomm
Mordloch
Manfred Bomm
Schusslinie
Manfred Bomm
Beweislast
Gewidmet allen,
die mit Toleranz und Umsicht
dazu beitragen,
die Natur zu erhalten –
ohne dabei das Augenmaß für das
Machbare und
Notwendige zu verlieren.
Tragen wir alle dazu bei,
dass es gelingt,
den schmalen Grat zwischen
wirtschaftlichen Zwängen und
dem dringend gebotenen Schutz
unserer Natur zu beschreiten.
»Das ist eine bodenlose Unverschämtheit.« Die Stimme des Mannes zitterte, Schweiß stand ihm auf der Stirn. In dem Sitzungsraum des kleinen Rathauses von Waldhausen war es stickig und heiß, kein Wunder bei so vielen Zuhörern. Aus allen Räumen waren Stühle herbeigeschafft worden – trotzdem mussten sich einige mit Stehplätzen begnügen. »Ich fordere unseren Ortsvorsteher auf, noch heute zurückzutreten«, wetterte ein Mann, der in der hintersten Reihe aufgestanden war. Beifall brandete auf und zustimmende Zwischenrufe.
Der Redner, ein etwa 40-jähriger Mann mit gelockten blonden Haaren, war ein Zugezogener und sprach nicht den schwäbischen Dialekt, wie er hier oben auf der kargen Hochfläche üblich war. Die ›Fremdlinge‹, die sich in dem kleinen Neubaugebiet niedergelassen hatten, wurden von den Einheimischen meist kritisch beäugt. Dieser Fall hatte sie nun alle auf eine Stufe gestellt. Der Mann hob die zur Faust geballte rechte Hand: »Wenn das Projekt realisiert wird, ist dieser Ort auf Jahre hinaus ruiniert.« Wieder klatschten die Zuhörer. »Vergessen Sie die Bemühungen um Fremdenverkehr. Vergessen Sie die idyllischen Dampfzugfahrten. Wenn es hier nur noch nach Schweinemist stinkt, locken Sie keinen einzigen Touristen mehr her.«
Die sechs Kommunalpolitiker, die dem Ortschaftsrat des gerade mal 210 Einwohner zählenden Albdorfes angehörten, schwiegen und auch der Vorsitzende Karl Wühler äußerte sich nicht. Er war, wie es die Vorschrift besagte, vom Sitzungstisch weggerückt, weil er an dem diskutierten Projekt, das seit Monaten die Gemüter erhitzte, beteiligt und deshalb befangen war. Sein Stellvertreter Max Mayer, ein Landwirt und hier oben aufgewachsen, hatte die Leitung der Sitzung übernommen. Auch seine Stirn war schweißnass. Seit Waldhausen in das nahe Geislingen an der Steige eingemeindet worden war, hatte es kein solch brisantes Thema auf der Tagesordnung gegeben. Natürlich durfte der Ortschaftsrat als kleinstes kommunales Gremium in Baden-Württemberg so gut wie nichts entscheiden und eigentlich nur gegenüber dem Gesamtgemeinderat eine Stellungnahme abgeben, wenn’s um örtliche Belange ging. Aber die Debatten konnten hitziger sein als im Rathaus der Stadt, drunten im Tal. Dort, so klagten die Ortschaftsräte oftmals war, man mit den Problemen ländlicher Bereiche viel zu wenig vertraut und nahm sie nicht ernst genug. Was scherten auch einen Stadtrat, dem es um das parteipolitische Süppchen ging, die provinziellen Probleme – wie etwa, ob man hier oben zur Ferkelzucht noch eine Eberhaltung brauchte!
Heute allerdings ging es um viel mehr: Ein riesiger Schweinestall sollte errichtet werden, ein geradezu industrieller Betrieb – und dies aus ganz unterschiedlichen Gründen. Während die Landwirte befürchteten, dass damit die vom Gesetz vorgegebene maximal zulässige Viehhaltung auf der Gemarkung ausgeschöpft sein würde, sie selbst dann also keine Erweiterungsmöglichkeit mehr hätten, beklagten die anderen Kritiker eine enorme Gestanksentwicklung.
»Der Herr Wühler hat bei der Annahme seines Amtes als Ortsvorsteher versprochen, Schaden von der Gemeinde fern zu halten. Und was macht er nun?« Der Redner bekam einen hochroten Kopf und hob die Stimme. »Er setzt alles daran, dass das Gegenteil geschieht. Wir alle, wie wir hier sitzen, werden keinen Tag mehr erleben, an dem es hier oben nicht stinkt. Und Sie als Landwirte«, er blickte auf die Zuhörer, die sich zu ihm umgedreht hatten, »Sie werden Ihre Betriebe nie mehr erweitern können, weil das Landratsamt sagen wird, pro Hektar dürften nur so und so viele Großvieheinheiten vorhanden sein. Wenn also der Herr Wühler tut was er will, dann werden Ihnen allen automatisch Grenzen gesetzt. Und zwar für immer.«
Wieder zustimmende Rufe und Beifall. Der Mann setzte sich und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Eigentlich sah die Gemeindeordnung keine Wortbeiträge von Zuhörern vor. Doch in den kleinen Teilorten nahm man das nicht so genau.
Während Wühler wie versteinert und bleich abseits des Tisches zusammen sank, ergriff Ortschaftsrat Klaus Hellbeiner das Wort: »Herr Flemming hat absolut Recht. Deshalb sollten wir das Vorhaben ablehnen, auch wenn die Stadtverwaltung behauptet es sei zulässig. Hier geht es um Waldhausen – und nicht um die Belange einiger Einzelner, die zulasten der Allgemeinheit Profit machen wollen.«
Erneut kam Beifall aus den Reihen der Zuhörer. Ein anderer Ortschaftsrat versuchte vergeblich, sein Schwäbisch zu verbergen und bekräftigte: »Wenn es so isch, dass wir des Thema nur abnicke dürfet, tret’ ich noch heut’ zurück.« Die Kollegin, die ihm gegenübersaß, teilte seine Einschätzung: »Ich sitz’ hier, um die Interessen Waldhausens zu vertreten – und auch wenn die Bürokraten in der Stadt behaupten, rein rechtlich sei nichts gegen dieses Projekt einzuwenden, lehne ich es ab.«
Jetzt erhob sich Wühler, ein großer stattlicher Mann knapp über 50, schlank und sportlich, mit leicht welligem braunen Haar und Schnauzbart: »Nicht als Ortsvorsteher möchte ich ein paar Sätze sagen«, begann er mit leicht unsicherer Stimme und löste sogleich einige Unmutsäußerungen der Zuhörer aus, »sondern als Privatbürger. Ich kann nur noch einmal feststellen, dass der Standort 400 Meter außerhalb des Ortes wäre und alle Berechnungen beweisen, dass in den Wohnbereichen keinerlei Geruchsbelästigungen zu befürchten sind.«
»Und bei Wind?«, rief ein Mann dazwischen. »Oder bei Nebel«, fügte ein anderer genervt hinzu. Wühler ließ sich nicht beirren: »Alle Wetterlagen und alle Windrichtungen sind in die Berechnungen eingeflossen.«
»Wühler gang hoim«, schrie eine aufgebrachte Männerstimme lautstark auf Schwäbisch, was Mayer dazu veranlasste, um mehr Sachlichkeit zu bitten.
Wühler setzte mutig hinzu: »Sehen Sie es bitte so, wie es ist: Der Privatmann Wühler stellt einen Antrag auf Baugenehmigung – und hat, auch als Ortsvorsteher, dasselbe Recht wie jeder andere Bürger. Wenn die Behörden sagen, das Projekt sei zulässig, dann sind auch alle Vorschriften eingehalten.«
»Vorschriften«, höhnte jemand aus der Zuhörerschar, »Hauptsache, die Vorschriften sind eingehalten. Was anderes interessiert in diesem Staat keinen mehr. Hauptsache, die Bürokraten sind zufrieden. Was das Volk denkt, ist denen doch scheißegal.«
Noch einmal erhob sich der zugezogene Flemming und ergänzte: »Ich sag’ nur eines, Herr Wühler.« Er machte eine kurze Pause und fixierte den Angesprochenen mit gefährlich zusammengekniffenen Augen: »Wenn das kommt, was Sie wollen, erleben Sie Ihr blaues Wunder.«
Der andere schluckte und presste hervor: »Wollen Sie mir drohen?« Seine Stimme verriet Angst. Es war plötzlich totenstill im Raum.
Flemming grinste und blickte in die Runde. »Hab’ ich das nötig?«, fragte er selbstbewusst zurück. »Eines Tages werden Dinge ans Licht kommen, Herr Wühler«, er holte zufrieden tief Luft, »da werden Sie staunen.«
An diesen Sommerabenden, wenn sich draußen in dem engen Tal die Abkühlung bemerkbar machte, herrschte in der urigen Gaststätte ›Obere Roggenmühle‹ jene gemütliche Geselligkeit, wie sie nicht nur die Einheimischen, sondern auch die Großstädter liebten. Das Lokal, in einem uralten Mühlengebäude eingerichtet, bot schwäbische Küche und war vor allem durch seine frischen Forellen weithin bekannt. Diese züchtete Gastwirt Martin Seitz höchstpersönlich in den Teichen hinterm Haus, wie es auch bereits sein Großvater, den sie alle liebevoll den ›Hecken-Tone‹ nannten, schon getan hatte. Der Spitzname stammte aus jener Zeit, als der alte Seitz noch Bürgermeister von Günzburg war, wo er nach dem Krieg Gemüsegärten für die Bevölkerung anlegen ließ. Und weil diese nur von Hecken umgeben sein durften, hatte ihn der Volksmund zum ›Hecken-Tone‹ gemacht. Als er dann die ›Obere Roggenmühle‹ erwarb, um sich damit einen alten Traum nach Freiheit und Abenteuer zu erfüllen, blieb es bei diesem Namen.
Das Fachwerkgebäude war windschief und hatte manchen Sturm überdauert. Im Laufe der Zeit hatten die Nachkommen des Lokalgründers in der Einsamkeit des Tales, das tief in die Schwäbische Alb eingeschnitten war, zwei weitere Häuser bauen dürfen, sodass eine richtige Hofstelle entstanden war, ein Paradies für Tiere. Kinder freuten sich, wenn sie mit Ponys durch die Talaue am Bach entlangreiten konnten, der die Fischteiche speiste.
Die ›Obere Roggenmühle‹ hatte sich auch zu einer Kleinkunstbühne entwickelt. Vor dem Gebäude wurde im Sommerhalbjahr, geschützt durch eine Zeltkonstruktion, Kulturelles geboten. Wenn’s kühl war, fanden die Aufführungen aber in der winkligen Wirtsstube statt, droben im ersten Obergeschoss. Zu erreichen war sie über eine ausgetretene Holztreppe, an deren Ende meist Leo lag, ein riesiger, aber gutmütiger Hund, der nur vom Erscheinungsbild her seinem Namen alle Ehre machte. Ins Lokal führte eine aus allen Fugen geratene Holztür, deren uralte Klinke kräftig gedrückt werden musste.
Von weitem klangen an diesem Samstagabend bereits fetzige Stimmungslieder aus dem Lokal. Das ›Kaos-Duo‹, zwei schwäbische Musiker, die mit eigenen Liedern die Beschwernisse des Alltags glossierten, präsentierten ein kurzweiliges Programm. Die beiden Männer, mit dem typisch blauen Gewand eines früheren Albbauern bekleidet, hatten sich mit Schlagzeug und Gitarre in eine Ecke gezwängt. Man konnte die Musiker nicht von jedem Platz aus sehen, doch war das auch gar nicht notwendig, weil allein ihre Texte schon für Heiterkeit sorgten. Das Publikum, überwiegend mittleren Alters, saß dicht gedrängt an den Tischen oder machte sich auf den Eckbänken dünn. Man stimmte voll Inbrunst in die Refrains ein und klatschte zum Takt der Musik. Renner war auch heute »I bin dr Letzte en dr Boiz« – was so viel hieß wie »Ich bin der Letzte im Lokal«. Wobei die Übersetzung nur unvollständig wiedergibt, was im Schwäbischen gemeint war. »Boiz« ist im Schwäbischen sowohl die liebevolle Bezeichnung für ein urgemütliches Lokal, kann aber auch, abwertend ausgesprochen, genau das Gegenteil bedeuten.
Eine Zugabe nach der anderen wurde gefordert. Hans-Ulrich Pohl, Sänger, Moderator und Musiker, kam ins Schwitzen. Sein inzwischen leeres Weizenbierglas hatte er neben sich auf den Holzdielenboden gestellt. Und Kollege Marcel Schindling, ein Hesse, der es trefflich verstand über die Schwaben zu witzeln, bearbeitete sein Schlagzeug im Schweiße des Angesichts immer heftiger. Die Stimmung stieg, die Temperatur in den niederen Räumen auch. Zigarettenqualm hing beißend in der Luft.
»Also«, drang Pohls kräftige Stimme durch das Lokal, »zum Schluss noch ein Liedle, das ganz aktuell unseren Freunden droben in Waldhausen g’widmet isch.« Er wusste, dass an diesem Abend eine ganze Gruppe von Gästen aus dem Albdorf herab gekommen war. »Wir haben’s alle in der Zeitung g’lesen, dass es am Dienstag ziemlich Zoff gegeben hat.«
»Richtig«, schrie einer und bekam sogleich Beifall, sodass Marcel mit einem Trommelwirbel wieder für Aufmerksamkeit sorgen musste.
»Wahrscheinlich wird mancher da oben noch das Muffensausen kriegen«, fuhr Pohl fort und winkte der schlanken Wirtin zu, sie solle ihm ein weiteres Weizenbier bringen. Wieder unterbrach ihn jemand aus dem Nebenraum, der durch zwei offen stehende Türen mit dem größeren Teil verbunden war: »Die Ferkelzucht isch die größte Schweinerei aller Zeiten.«
Der Musiker reagierte prompt: »Dass des a Sauerei isch, wird niemand bestreiten.« Beifall brandete auf. Marcel ließ erneut einen Trommelwirbel erschallen.
»Für solche Fälle«, fuhr Pohl fort und spürte, wie es ihm immer heißer wurde, »da haben wir unser spezielles Liedle. Wenn man auf den Tisch schlagen will, es aber diplomatisch tut, dann hat der Schwabe nämlich eine ganz eigenartige Formulierung parat: I sag ja nex, i moin ja bloß. Für alle Reig’schmeckte heißt das: Ich sag’ ja nichts, ich mein’ ja nur.«
An dem Tisch der Waldhauser wurde Gelächter laut. Ein älterer Mann schlug seinem deutlich schmächtigeren Nebensitzer kräftig auf die Schulter: »A Lied für dich, Mensch, s’ wär’ höchste Zeit, dass du Schwäbisch lernst.« Schon hatte das ›Kaos-Duo‹ zu singen begonnen.
Der etwa 40-jährige Mann, der als Einziger am Tisch nicht in weiblicher Begleitung war, fuhr sich durch die gelockten blonden Haaren. »Um ehrlich zu sein«, schrie er dem anderen ins Ohr, um Musik und Gesang zu übertönen, »ich bleib’ lieber beim Hochdeutsch. Euch Schwaben da oben«, er machte eine Kopfbewegung in Richtung Berg, »die werd’ ich sowieso nie verstehen.«
Der Angesprochene drehte nun seinen Kopf, um dem anderen ins Ohr brüllen zu können: »Du solltest nur verdammt aufpassen, dass du nicht mal an den Falschen gerätst.«
Dann nahmen sie die letzte Zeile des Refrains wahr: »… sonst gibt’s no z’molz a Sauerei.« Das Stichwort hatte sie aufhorchen lassen. Und selbst der Fremde verstand, was – ins Hochdeutsche übersetzt – gemeint war: »Sonst gibt es plötzlich eine Schweinerei.«
An diesem Samstag, Ende Juli 2004, als noch überall vor den baden-württembergischen Sommerferien Straßen- und Waldfeste stattfanden, war das Wetter eher herbstlich. Auf der Hochfläche der Schwäbischen Alb hingen die Wolken tief, sodass die Dämmerung rasch hereinbrach. Schade um den schönen Sommerabend, dachte sich Heinrich Westerhoff beim Blick aus dem Fenster seines schmucken Einfamilienhäuschens. »Nicht mal Wind«, stellte er fest und deutete seinem Gast mit einer Handbewegung an, was er meinte: Der schneeweiße Rotor einer Windkraftanlage, die sich knapp einen halben Kilometer entfernt in den grau-dämmrigen Himmel erhob, stand still. Westerhoff, der einer von vielen war, die in den vergangenen Jahren in diese modernen »Windmühlen« investiert hatten und sich davon satte Gewinne versprachen, erläuterte dem interessierten Zuhörer die Vorzüge einer derartigen Geldanlage. »In spätestens zwölf Jahren hat sich das Ding amortisiert«, stellte er fest und lächelte. Seine Frau, dunkelhaarig und zierlich, nickte eifrig und schüttete geröstete Erdnüsse in eine Schale, die auf dem gläsernen Wohnzimmertisch stand. Ihr Mann und der Gast, ein offenbar gut betuchter Handwerksmeister aus Stuttgart, der es gewohnt war in seinem Dachdeckerbetrieb selbst kräftig zuzupacken, saßen sich gegenüber. »Der Staat fördert die Investition«, hakte der muskelstarke, fast kahlköpfige Besucher nach und verschränkte die kräftigen Oberarme, die das helle Freizeitjackett beinahe zu sprengen drohten.
Der Gastgeber nickte: »Abgesehen von der steuerlichen Abschreibung garantiert Ihnen das Gesetz für erneuerbare Energien auf Jahre hinaus einen sicheren Kilowattpreis. Und den muss Ihnen der örtliche Stromversorger bezahlen – ob er will oder nicht.« Westerhoff griff zum Rotweinglas und prostete beiden zu. Nach einem Schluck Württemberger Trollinger mit Lemberg fasste der Handwerksmeister zusammen: »Windstrom wird, wenn ich das also richtig verstehe, sozusagen subventioniert.«
»Exakt. Unser Albwerk hier, der örtliche Stromversorger, hat sich anfangs vehement dagegen gewehrt, weil doch Energie aus den Kernkraftwerken weitaus billiger zu beziehen ist – nur vordergründig natürlich, denn keiner der Manager spricht ja davon, was die völlig verantwortungslose Endlagerung des strahlenden Materials auf Jahrtausende hinaus die Menschheit kosten wird.«
»Und jetzt hat das Albwerk seine Einstellung zur Windkraft geändert?«, wollte der Kleinunternehmer wissen.
»180-Grad-Kehrtwendung«, stellte Westerhoff fest und grinste. »Der Gesetzgeber hat’s geregelt – vor geraumer Zeit schon. Egal, wie viel von dem angeblich so teuren Windstrom ein Netzbetreiber in seinem Versorgungsgebiet aufkaufen muss – jetzt werden die zusätzlichen Kosten bundesweit auf alle Energiekonzerne umgelegt.« Er zeigte sich zufrieden und fügte hinzu: »Ein genialer Schachzug, Herr Glockinger, ganz genial. Jedenfalls ist das Albwerk jetzt sogar selbst in die Windstrom-Produktion eingestiegen.«
»Und Standorte für Rotoren gibt’s hier oben noch?«
Westerhoff nickte. »Noch, ja. Auch wenn die Natur- und Landschaftsschützer so langsam nervös werden. Ich kann Ihnen die Adressen von Ingenieurbüros geben, die noch immer auf der Suche nach Investoren sind.«
Glockinger nahm wieder einen Schluck Wein. »Tun Sie das. Mir scheint, da ist langfristig tatsächlich Knete zu machen.«
Westerhoff stand auf, um aus einer Schublade in der schlichten Regalwand einen Schnellhefter zu holen. »Allerdings«, sagte er dabei, »gäb’ es hier in unserem schönen idyllischen Örtchen auch noch eine andere Möglichkeit für eine Beteiligung, nämlich Schweineställe.«
»Schweineställe?«, wiederholte sein Gegenüber ungläubig.
»Richtig. Schauen Sie sich doch um auf der Alb! Entweder Windräder oder Schweineställe. An jedem Waldeck schießen Schweineställe wie Pilze aus dem Boden. Ist der große Renner. Gigantische Dinger.« Westerhoff spürte, dass er das Interesse seines Besuchers geweckt hatte. »Vergessen Sie das ländliche Bauernidyll, lieber Herr Glockinger. Schweinezucht ist heutzutage industrielles Management. Im einen Betrieb werden die Ferkel geboren, dann nach wenigen Wochen zum Mästen in einen anderen kutschiert – und später zur weiteren Aufzucht an einen Dritten gegeben. Bei uns hier in Waldhausen plant eine solche Gesellschaft gerade einen riesigen Mastbetrieb.«
Glockinger hakte nach: »Und daran kann man sich finanziell beteiligen – auch als Nicht-Landwirt?«
»Klar«, antwortete Westerhoff, »wenn’s denn vollends so weit kommt. Im Moment tun sich wahre Proteststürme dagegen auf. Gestank wird befürchtet – und dass weitere solche Betriebe auf unserer Gemarkung dann nicht mehr zugelassen werden, was manchen Landwirt an einer künftigen Expansion hindern könnte.«
Der Handwerksmeister überlegte einen kurzen Moment. »Ich weiß nicht«, meinte er schließlich zögernd und griff wieder zu seinem Rotweinglas, »ich weiß nicht, ob der Mensch überhaupt auf solche Weise mit Kreaturen umgehen darf – Lebewesen fabrikmäßig verarbeiten.« Er nahm einen Schluck und fingerte sich mit der anderen Hand einige Erdnüsse aus der metallenen Schale. »Mir geht die Käfighaltung bei den Hühnern schon gegen den Strich«, sagte er dann.
Westerhoff zuckte mit einer Wange und fuhr sich durchs volle schwarze Haar. »Ich bitt’ Sie, da geht’s um Geld. Um viel Geld. Sie müssen heutzutage rationalisieren, das wissen Sie genau so gut wie ich. Wenn Sie nicht Schritt halten, werden Sie überrollt. Was nützt es dem Landwirt, wenn er seine Tiere zwar züchtet wie zu Großvaters Zeiten – er aber nicht mehr wettbewerbsfähig ist?«
Der Handwerker presste kurz die Lippen zusammen, um dann vorwurfsvoll festzustellen: »Genau das ist doch unser aller Problem. Was scheren uns die Kreaturen, die Lebewesen um uns rum? Hauptsache Knete. Ein Tierleben ist nichts mehr wert. Ex und hopp – am Fließband. Wir vergessen, dass wir alle Bestandteil dieser Natur sind.«
Betretenes Schweigen. Westerhoff blätterte etwas verlegen in einem Schnellhefter. »Dann entspricht mit Sicherheit die Windkraft eher Ihren Vorstellungen«, meinte er etwas kleinlauter und griff den Faden wieder auf: »Energie aus absolut natürlichen Quellen, ohne Folgen und ohne nachhaltige Eingriffe in die Natur.«
Glockinger zeigte sich versöhnlich. »Deswegen bin ich gekommen, ja. Außerdem hat’s mir das Dörfchen hier angetan.« Er lächelte. »Bin Dampfbahnfan, müssen Sie wissen. Wenn die Museumsbahn fährt, komm’ ich mit der Familie her.«
»Dann sind Sie vor drei Wochen auch mitgefahren?«, schaltete sich nun die zierliche Frau Westerhoff in das Gespräch ein.
»Ja, selbstverständlich. Meine Frau und mein vierzehnjähriger Sohn sind ebenfalls begeisterte Eisenbahnfans.« Als sich Glockinger während der letzten Dampfzugfahrt erkundigt hatte, wer als Ansprechpartner für Windkraftanlagen in Frage käme, waren ihm die Westerhoffs empfohlen worden. Schließlich, so hieß es, hätten diese erst vor wenigen Monaten einen neuen Rotor in Betrieb genommen. Glockinger hatte deshalb bei ihnen angerufen und um einen Gesprächstermin gebeten. Dass dieser dann am Samstagabend zustande kam, war dem Handwerksmeister recht gewesen. Schließlich war seine freie Zeit knapp bemessen.
»Und morgen?« Frau Westerhoff schaute ihn an.
»Bitte?« Er schien irritiert zu sein.
»Morgen? Sie fährt wieder, die Dampfbahn. Sind Sie auch wieder dabei?«, präzisierte die Frau ihre Frage.
Er schüttelte schnell den Kopf. »Nein, nein«, sagte er und lächelte, »nein, diesmal nicht.« Er wollte sich jetzt nicht über Dampfzüge unterhalten. Sein Interesse galt etwas anderem – den Rotoren.
Wie sehr die Zahl der Windkraftanlagen gerade in diesem Bereich der Alb zunahm, hatte er in jüngster Vergangenheit bemerkt. Immer wenn die Museumsbahn der Ulmer Eisenbahnfreunde von Amstetten über die Hochfläche nach Ger-stetten fauchte, entdeckte er neue Rotoren. Manchmal empfand er die Anlagen, die mit ihren Flügelspitzen teilweise bis zu hundert Metern in den Himmel ragten, sogar als ein bisschen störend. Daran musste er denken, als er schließlich von weiteren Fragen ablenkte: »Eine traumhafte Gegend.« Er trank sein Weinglas leer. Draußen war es inzwischen dunkel geworden.
»Ein Stück heile Welt, ja«, entgegnete ihm Westerhoff und zog aus einer Klarsichtfolie eine Broschüre, auf der sich die Anschrift eines Ingenieurbüros für Windkraftanlagen befand. »Wir haben unser Häusle hier oben vor vier Jahren gebaut«, sagte er dabei eher beiläufig. »Ich bin leitender Angestellter einer Firma in Geislingen drunten – und fühl’ mich hier oben richtig frei. Es ist wirklich ein Idyll.«
Glockinger nahm die Broschüre und kniff die Augen zusammen: »Dann kann ich Ihnen nur den Rat geben, achten Sie darauf, dass es so bleibt.«
Westerhoff stutzte. »Sie meinen wegen des Schweinestalls?«
Der Handwerksmeister stand auf und rollte die Hochglanzbroschüre zusammen: »Glauben Sie mir – manchmal ändert sich so ein Idyll schneller, als es einem lieb ist.« Er lächelte, doch es wirkte gezwungen.
Er schwitzte und war außer Atem. Dabei war die Nacht kühl, die Luft feucht und der Boden nass. Es roch modrig. Er spürte diesen weichen Untergrund, der glitschig und schmierig unter seinen Tritten nachgab. In diesem engen Tal, dessen steil aufragende Hänge bewaldet waren, konnten auch Sommernächte ziemlich unwirtlich sein. Wenn tagsüber die mit dichten Wolken bedeckte Albkante keinen Sonnenstrahl durchließ, machte sich nachts in der engen Talaue unangenehme Kälte breit. Hier hielt sich hartnäckig eine hohe Luftfeuchtigkeit, verursacht von Quellen und einem schmalen Flüsschen.
Der Mann war mit dem schwarzen Mercedes-Kombi von der schmalen Kreisstraße, die durch das Roggental führte, in einen Forstweg abgebogen und die knapp hundert Meter zur anderen Hangseite hinüber gefahren. Dort hatte er die Scheinwerfer ausgeschaltet, den Wagen gewendet und rückwärts so nah wie möglich an den parallel zum Hangwald verlaufenden Wanderweg rangiert.
Die Augen des Mannes gewöhnten sich nur langsam an die Dunkelheit, in der sich das schmale Stück Himmel über ihm schemenhaft von der bewaldeten Umgebung abhob. Es war kurz vor drei Uhr, als er die Heckklappe des Mercedes geöffnet und diese verdammt schwere Leiche herausgezerrt hatte. Er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach und wie sein Herz pochte. Erst jetzt drang langsam in sein Bewusstsein, was er angerichtet hatte. Hektik und panische Angst machten sich breit. Er lauschte in die Schwärze. Doch außer den entfernten Schreien eines Nachtvogels und dem Plätschern von Wasser war nichts zu hören. Vor allem kein Fahrzeug. Um diese Zeit, das wusste er, verkehrten auf dieser untergeordneten Kreisstraße ohnehin nur wenige Autos. Andererseits war es die Samstagnacht, in der junge Leute von der Disko heimkommen konnten. Er griff nach der Heckklappe, zog sie nach unten und ließ sie mit einem sanften Klick einrasten.
Die Leiche, die hinter dem Wagen im aufgeweichten, regennassen Sand des Forstwegs lag, war noch warm. Der Mann blickte sich um, unfähig, irgendwelche Details zu erkennen. Orientieren konnte er sich trotzdem, denn er kannte diese Gegend, wusste also, dass sich nur ein paar Schritte entfernt in einem Hangeinschnitt eine Höhle befand. Zu ihr führte ein steiniges Bachbett, das jetzt im Sommer ausgetrocknet war.
Der Mann entsann sich des Autofahrer-Bergegriffs, wie er ihn vor Jahrzehnten in der Fahrschule gelernt hatte: Mit den Händen von hinten unter den Achseln des Opfers durchgreifen, sich dessen linken Unterarm fassen und mit beiden Händen festhalten. Auf diese Weise ließen sich sogar die schwersten Menschen rückwärts wegziehen.
Doch er hatte sich dies einfacher vorgestellt. Denn jetzt spielten die Nerven verrückt. Er fluchte in sich hinein. In der Dunkelheit entglitt ihm der leblose Körper immer wieder, fiel zur Seite, sackte weg. Es dauerte einige endlose Minuten, bis er ihn schließlich so umgedreht hatte, dass er unter den Achseln durchgreifen konnte. Und plötzlich war da ein Geräusch. Die Stille wurde zerschnitten. Der Mann erstarrte und umklammerte die Leiche noch fester, presste sie an sich, spürte den Wollpullover im Gesicht. Es war ein Motor. Eindeutig. Ein Auto. Das Herz pochte bis zum Hals. Flucht? Sollte er flüchten? Leiche und Fahrzeug zurücklassen? Tausend Gedanken in einer einzigen panischen Sekunde. Doch in Wirklichkeit wäre er zu gar nichts fähig gewesen.
Es verging eine Ewigkeit bis rechts drüben auf der Kreisstraße Scheinwerfer auftauchten, die zunächst nur von weitem unruhig durch den Bewuchs der Böschung flackerten. Der Mann zitterte am ganzen Körper, schwitzte und fror, spürte Schüttelfrost, atmete schnell und flach und hielt die Leiche weiter im Klammergriff. Er verfolgte die Lichter, die sich viel zu langsam der Einmündung des Forstwegs näherten. Entsetzliche Momente. Blinker? Abbiegen? Nein, kein Blinker, Gott sei Dank, kein Blinker, kein gelbes Licht. Kein Liebespaar, das ein lauschiges Plätzchen suchen würde, stellte der Mann fest. Die Geschwindigkeit blieb konstant. Und dann endlich war das Auto auch an der Einmündung vorbei, entfernte sich talaufwärts und ließ diese Schwärze der Nacht zurück. Wieder schrie der Nachtvogel, viel lauter als zuvor.
Der Mann nahm seine ganzen Kräfte zusammen, zog und zerrte die Leiche rückwärts weg, drehte sich halb um, versuchte das nahe Bachbett zu erkennen, das sich in einem tieferen Schwarzton von der Umgebung abhob. Plötzlich wurde ihm bewusst, wie laut die Geräusche waren, die seine Schritte in den Pfützen verursachten. Und wie die Schuhabsätze des Toten auf dem sandigen Untergrund kratzten und scharrten. Für einen Moment hielt er wieder inne, lauschte und blickte angestrengt auf den breiten, nachtschwarzen Wanderweg, über den hinweg er jetzt die Leiche ziehen musste. Nur zwei- dreihundert Meter talabwärts befand sich die ›Obere Roggenmühle‹. Tagsüber war der Weg beliebt, insbesondere bei Kindern, die hier Ponys ausreiten durften. Jetzt aber, in dieser kühlen Sommernacht, so versuchte sich der Mann selbst zu beruhigen, würde niemand auf die Idee kommen, durch die Finsternis zu spazieren. Weiter also, die Leiche fest im Klammergriff. Hinein in das ausgetrocknete Bachbett, in dem jeder Schritt auf den Steinen knirschte und klickerte. Verdammt, er hatte nicht bedacht, wie sich die leblosen Füße des Toten durch dieses angeschwemmte Geröll wühlen würden. Wenn da irgendjemand in der Nähe war, musste dieses Knirschen und Zerren und jeder Tritt in den steinigen Untergrund verdächtig erscheinen. Er würde keine Chance haben, würde wie gelähmt da stehen mit dieser Leiche in den Armen. Alle paar Schritte verharrte er und lauschte angestrengt. Wieder ein Autogeräusch. Diesmal aus der Ferne, keine Gefahr. Es stammte von einem Pkw, der auf der gegenüberliegenden Hangseite die Steinenkircher Steige aufwärts fuhr. Dort oben, zwischen den Bäumen, waren die Scheinwerfer zu sehen, wie sie sich bergwärts kämpften. Übertönt wurde dieses sanfte Motorenbrummen von dem unablässigen Schrei des Nachtvogels. Ein Kauz vermutlich.
Hinter dem Mann tat sich der pechschwarze Schlund der Höhle auf, in den das steinige Bachbett mündete. Noch ein paar Schritte und er hatte es geschafft. Schweiß rann ihm in die Augen, löste brennende Schmerzen aus. Sein Hemd klebte am Oberkörper, er keuchte und spürte, wie ihn die Kräfte verließen. Mit letzter Anstrengung zerrte er die Leiche in die Höhle, stieß mit dem Rücken gegen die Felswände, schlug den Kopf an die niedere Decke. Doch die Hektik verdrängte den Schmerz. Hier, im Schutze der stockfinstren Umgebung, war alle Vorsicht von ihm abgefallen. Wie ein Besessener zerrte er den Toten weiter, immer tiefer in den enger werdenden Gang hinein. Er wusste, dass die Höhle im Sommerhalbjahr gut und gerne zwanzig Meter weit begehbar sein würde, ehe sie in den Grundwasserspiegel tauchte. Bis dahin, so hatte er sich vorgenommen, würde er die Leiche schaffen, so weit, bis er nasse Füße kriegen würde und den Toten in das Wasser werfen konnte. Wieder hielt er inne. Der Nachtvogel schrie unablässig, irgendwo im Innern der Höhle tropfte Wasser. Das Geräusch hallte durch den felsigen Gang.
Das Grundwasser hatte sich weit zurückgezogen. Er musste sich in der Finsternis konzentrieren, beim Rückwärtsgehen an der rauen Wand entlang orientieren und zwei enge Biegungen bewältigen, an denen er mehrfach Kopf, Schulter und Rücken anstieß, die Ellbogen lädierte, stolperte und einmal sogar unsanft auf den Hintern fiel, ohne jedoch den Toten aus dem Klammergriff loszulassen. Er rappelte sich wieder auf, zog und zerrte weiter, bis seine Schritte endlich in Wasser stapften. Augenblicke später waren seine Schuhe nass, dann die Füße bis zu den Knöcheln. Weiter, noch ein Stück weiter, entschied er. Erst als ihm das eiskalte Wasser bis zu den Schenkeln stand, ließ er den Toten los, drückte ihn mit den Füßen energisch hinab, was dumpfe gurgelnde Geräusche verursachte. Dann zwängte er sich in der Enge des Ganges an der Leiche vorbei, um zum Ausgang zurückzukehren. Ihn fror, es war kalt, die nasse Hose klebte an den Beinen. Er folgte den rauen Felswänden, bis er vor sich die Öffnung zu erkennen glaubte, die sich wie ein Torbogen auftat – hinaus in eine andere Welt, in der das harte Dunkel der Nacht sanfter erschien.
Bei jedem Schritt versuchte er, das Klacken und Knirschen der losen Steine zu vermeiden. Er fühlte sich schlecht und zitterte, spürte die kalte Nässe an seiner Hose stärker denn je. Er hatte nur einen Wunsch: Weg hier, so schnell wie möglich weg. Alles vergessen, ungeschehen machen, zumindest so tun, als sei alles nur ein böser Albtraum gewesen. Bloß weg. Noch vielleicht 50 Meter durchs trockene Bachbett bis zum Auto, dessen Konturen sich schon abzeichneten. Doch dann war da wieder ein Motorengeräusch, ein verdammtes Fahrzeug, das sich talaufwärts zu nähern schien. Er verharrte, wagte nicht mehr zu atmen, lauschte – und starrte in die Finsternis, in der sich Bäume und Sträucher und der gegenüberliegende Hang als tiefschwarze Objekte hervorhoben.
Der Mann wollte gerade zu einem erlösenden Spurt ansetzen, um endlich mit dem Mercedes diesen schrecklichen Ort verlassen zu können, da schwoll das Motorengeräusch bedrohlich an. Er blieb wie erstarrt stehen. Tatsächlich – auf der gegenüberliegenden Talseite wurde der Bewuchs entlang der Straßenböschung wieder in das zitternde Licht herannahender Scheinwerfer getaucht.
Der Mann verfolgte das Flackern mit stockendem Atem, bis endlich auch das Fahrzeug Konturen annahm. Es fuhr langsam, erschreckend langsam und näherte sich dem einmündenden Forstweg. Der Mann ging zwei, drei Schritte zurück, um in die Schwärze des Hangeinschnitts einzutauchen, der zur Höhle führte.
Er verfolgte aus sicherer Deckung, wie der Wagen abbremste. Die roten Schlusslichter wurden heller – und dann geschah tatsächlich das Entsetzliche: Blinklichter. Gelbe Blinklichter. Der Wagen bog links ab, hinein in den Forstweg. Es war ein Kastenwagen. Die Scheinwerfer zogen einen weiten Lichtstreifen durch die mit Gras bewachsene Talaue. Panik. Der Mann im Bachbett stolperte rückwärts, drohte zu stürzen, fing sich wieder und rannte zum Höhlenschlund, während die Scheinwerfer die Bäume der Hangkante streiften und jene Stelle, an der er gerade noch gestanden war, in helles Licht tauchte. Offenbar hielt der Wagen nicht weit von der Straße entfernt an.
Der Fahrzeugmotor übertönte die klackernden Schritte des Mannes, der wie von Sinnen in die Höhle zurückrannte, in dieses schwarze Loch, in dem er fünf Meter hinterm Eingang erschöpft und zitternd, schwer atmend und schwitzend, an der eiskalten Felswand kauerte.
Draußen schnurrte der Motor im Leerlauf, eine Autotür wurde geöffnet. Trotz der Entfernung konnte der Mann jedes einzelne Geräusch zuordnen. Jetzt war offenbar die Wagentür offen geblieben, denn Musik aus dem Radio drang herüber. Ein volkstümlicher Schlager.
Verdammt, was hatte den Fahrer da vorne bewogen, um diese Zeit hier einzubiegen? Pinkeln? Ein Liebesabenteuer?
Augenblicke später ein kurzes blechernes Scheppern. Wie eine Schiebetür, die abrupt aufgerissen wurde. Typisch für einen älteren VW-Bus.
Die Sekunden krochen dahin. Der Mann in der Höhle hielt den Atem an, biss die Zähne fest zusammen. Er kämpfte gegen den Schüttelfrost.
Wenn er jetzt ertappt würde, war es aus. Sollte er sich im Notfall wehren? Es auf einen Kampf ankommen lassen? Aussichtslos in seinem Zustand. Außerdem konnte in dem Kastenwagen noch eine zweite Person sitzen.
Er würde keine Chance haben. Aus, vorbei. Lebenslänglich Knast.
In diesem Moment näherte sich ein weiteres Fahrzeug. Das Motorengeräusch, daran bestand gar kein Zweifel, schwoll an.
Eigentlich war sie hundemüde. Es war vier Uhr früh, doch sie konnte nicht schlafen. Seit Stunden lag sie wach. Ihre Gedanken kreisten aber nicht um ihren Ehemann, der noch immer nicht heimgekommen war, sondern um einen anderen Menschen, der ihr sehr viel mehr bedeutete. Als sie ihm vor zwei Monaten eine E-Mail geschrieben hatte, nur so, weil er ihr beiläufig seine Adresse gegeben hatte, da war eine rege Kommunikation in Gang gekommen, wie sie verliebte Teenager nicht besser hätten führen können. Sie liebte es, wie leidenschaftlich er seine Gefühle zum Ausdruck bringen konnte, wie romantisch er seine Wünsche formulierte und wie er es geschickt verstand, zwischen den Zeilen eine erotische Atmosphäre aufzubauen. Wenn sie allein war, las sie all die Mails, die sie in ihrem Computer gespeichert hatte. Auch am späten Abend hatte sie, wie von einem inneren Drang getrieben den, PC hochgefahren, um noch einmal zu genießen, was ihr der geliebte Mann im Laufe des Tages geschrieben hatte. Sie sehnte sich nach ihm und es fiel ihr schwer, überhaupt noch einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Was brachte sie dazu, ihm um 4 Uhr morgens zu schreiben, was er ihr bedeutete? Schließlich würde er es ohnehin erst im Laufe des Vormittags lesen. Doch Liebe und Sehnsucht, das hatte sie in den vergangenen Wochen in einem Wechselbad der Gefühle erlebt, waren stärker als jegliche Vernunft, stärker als all die geschäftliche Seriosität, mit der sie sich normalerweise umgab. Sie fühlte sich, obwohl schon knapp 40, wie ein verliebter Teenager. Der Mann hatte in ihr längst verschüttet geglaubte Gefühle wieder freigesetzt. Sie wunderte sich, dass ihr Ehemann noch nichts von ihrem Zustand bemerkt hatte. Sie musste doch verändert sein. Sie war gereizt, nervös, unzufrieden – und dachte nur an ihn, an den vermeintlichen Traummann, auf den sie ein halbes Leben lang gewartet hatte. Nun war er da – und doch unerreichbar. Denn beide waren sie verheiratet. Sie hatte sich aber vorgenommen, alles daran zu setzen, ihn zu bekommen. Diese Chance, das spürte sie, würde ihr das Leben kein zweites Mal mehr bieten.
Es war kalt in der Wohnung. Die groß gewachsene Frau, deren auffallend blondes Haar bis zur Schulter reichte, fröstelte, als sie nackt aus dem Ehebett kroch, die Lampe auf dem kleinen Schränkchen anknipste und sich ihren Morgenmantel überstreifte.
Sie holte tief Luft und ging in das kleine Büro hinüber, das sie sich in dem schmucken Einfamilienhäuschen eingerichtet hatte. Von diesem winzigen Zimmer aus erledigte sie ihre Geschäfte. Die Wand auf der rechten Seite wurde von drei übereinander angebrachten Regalen beherrscht, deren Bretter sich unter der Last von Aktenordnern und Büchern bogen. Im Laufe der Zeit hatte sie eine umfangreiche Literatur über internationales Wirtschaftsrecht und zu den Gepflogenheiten im Ex- und Import zusammengetragen.
Der Schreibtisch war vor das Fenster gerückt, der Rollladen geschlossen.
Gerade als sich die Frau in den schwarzen Schreibtischsessel fallen lassen wollte, schien es ihr, als habe sie ein Geräusch vernommen. Etwas, das nicht zu der Stille dieses Wohngebiets passen wollte. Sie verharrte in der Bewegung, weil sie für einen kurzen Moment befürchtete, ihr Mann käme heim. Doch offenbar hatte sie nur den Motor eines vorbeifahrenden Autos gehört. Vielleicht der junge Nachbar, der in den Samstagnächten stets lange fortzubleiben pflegte, dachte sie. Ihr Blick streifte dabei die gerahmten Bilder, die der Wand auf der linken Zimmerseite Farbtupfer verliehen. Es waren Ansichten von Istanbul, darunter die weltberühmte Hagia-Sophia-Moschee und die Meerenge am Bosporus.
Die Frau setzte sich in den Bürosessel, schloss sehnsuchtsvoll die Augen und griff zu der Computer-Maus, mit der sie den schwarzen Bildschirm zum Leben erweckte. Sie spürte unter dem Morgenmantel die Kälte um ihre nackten Beine streichen. Wie traumhaft, so dachte sie, wäre jetzt die Nähe und Wärme dieses Mannes gewesen.
Sie klickte eine neue Nachricht an und tippte im Zehn-Finger-System in Windeseile die Empfängeradresse ein. »Geliebter Traummann«, schrieb sie, »seit Stunden liege ich wach und habe nur einen einzigen Gedanken: Dich. Wieder beginnt ein neuer Tag und ich spüre, wie die Zeit verrinnt, ohne dass wir sie genießen können. Weißt Du, wie qualvoll der Gedanke ist, Dich im Bett bei Deiner Frau zu wissen, obwohl wir beide doch wissen, dass wir zusammengehören?« Sie brach ab. Trotz der Tastengeräusche und des Computergebläses hatte sie wieder ein Geräusch vernommen. Es kam von draußen und es hörte sich so an, als sei erneut ein Auto hergefahren. Sie musste vorsichtig sein. Denn falls ihr Mann auftauchte, würde sie sofort das angefangene E-Mail wegdrücken, den Bildschirm abschalten und so tun, als sei sie auf dem Weg zur Toilette.
Doch auch diesmal blieb alles still. Sie schrieb weiter: »Ich möchte Dich nicht drängen, geliebter Schatz, aber ich glaube, ich halte das nicht mehr länger aus. Ich kann keine Nacht mehr schlafen, ich bin fix und fertig.« Sie überlegte einen Augenblick, dann nahm sie den ganzen Mut zusammen und schrieb: »Deshalb, geliebter Schatz, ist die Zeit für eine Entscheidung gekommen.« Wieder zögerte sie, holte tief Luft und lehnte sich zurück. Sie schloss die Augen und kämpfte innerlich mit sich, ob sie’s tun sollte. Dann nahm sie alle Kraft zusammen, die ihr nach den Wochen der Ungewissheit, der schlaflosen Nächte und des Bangens noch geblieben war, und tippte in die Tasten: »Entweder sie oder ich.« Als sie es geschrieben hatte, war ihr irgendwie wohler, obwohl sie zu frösteln begann. Obwohl sie wusste, dass sie damit eine Entscheidung herbeiführen würde, die gegen sie ausgehen konnte.
Sie führte den Mauszeiger zu dem Feld »Senden« – und zögerte erneut. Sollte sie es tun? Jetzt? Eine kleine Bewegung des rechten Zeigefingers würde genügen, um den Brief augenblicklich dorthin gelangen zu lassen, wo ihn ihr Geliebter irgendwann in den nächsten Stunden lesen würde. Plötzlich spürte sie wieder das Wechselbad der Gefühle. Sie dachte an die heimlichen Stunden, die sie sich beide abgerungen hatten, an ihre Spaziergänge im Wald, an die lauen Nächte in seinem Auto und an all das, was sie miteinander getan hatten. Sollte sie das alles aufs Spiel setzen? Sollte sie ihn wirklich – erpressen? Jetzt oder nie? Ihre Gedanken fuhren Achterbahn. Wieder waren da diese Zweifel, an sich und der Welt, an ihm und überhaupt an allem. Was sollte sie bloß tun? Klicken – und abschicken? Würde er sich erpresst fühlen? Alles beenden? Den Traum zerstören? Sich zu einer unüberlegten Handlung hinreißen lassen?
Sie atmete tief durch und starrte wie hypnotisiert auf das E-Mail, das irgendwie drohend auf dem Bildschirm darauf wartete, endlich abgeschickt zu werden.
Sie fröstelte jetzt stärker und begann zu zittern.
Sein Atem stockte. Da näherte sich ein zweites Auto, verlangsamte das Tempo. Sehen konnte er es aus dem Versteck heraus nicht, aber sein Gehör trog ihn nicht. Es musste ein Pkw sein, der ebenfalls in den Forstweg einbog. Der Mann im Höhlenschlund vernahm eindeutig das Knirschen der Kieselsteine unter den Rädern. Hinter ihm hallte das Platschen von Wassertropfen durch den felsigen Gang, monoton, im Sekundentakt, als sei’s ein Countdown.
Der Mann spürte plötzlich wieder die nassen Hosenbeine, die eisige Kälte, die seine Füße umgab. Er lehnte sich an die kantige Felswand und lauschte in die Nacht hinaus. Zwei Motoren im Leerlauf, Musik aus einem Radio, dann das Schlagen einer Wagentür. Jemand schien auszusteigen. Ein konspiratives Treffen? Der Mann im Höhlenversteck kämpfte gegen das Zittern. Wurde er Zeuge eines Verbrechens? Er, der gerade selbst eines verübt hatte? Eines, das schlimmer kaum sein konnte. Was, wenn eine dieser Personen auch etwas beseitigen wollte – hier, in dieser Höhle?
Er war aufs Äußerste angespannt, stets darauf gefasst, vorne im Bachbett, direkt vor sich, Schritte zu hören. Doch außer dem Brummen der Motoren und der Musik war da nichts. Erst nach einer halben Ewigkeit fiel wieder eine Autotür ins Schloss – vermutlich am Pkw, dessen Fahrer nun Gas gab. Es hörte sich so an, als würde der Wagen wenden und sich dann talaufwärts entfernen. Der Mann atmete auf. Doch die Gefahr war damit nicht gebannt. Er wagte sich ein paar Schritte nach vorne, um die Silhouetten der Fahrzeuge zu erkennen. Eindeutig: Ein Stück weit von dem Mercedes entfernt stand immer noch dieser Kastenwagen, aus dem die Musik herüber klang. Der Fahrer, das war aus dieser Entfernung zu erkennen, hantierte im Laderaum mit einer Taschenlampe und sortierte offenbar Kisten. Es vergingen fast fünf Minuten, bis der Lichtstrahl erlosch und die Schiebetür wieder zugezogen wurde. Die Schritte des Fahrers knirschten, als er um den Kastenwagen ging und sich wieder hinters Steuer setzte. Die Tür fiel dumpf ins Schloss, das Scheinwerferlicht des drehenden Fahrzeugs traf den schwarzen Mercedes, schwenkte dann aber talabwärts, strich quer über die Wiese und zur anderen Talseite hinüber. Der Kastenwagen hatte gewendet und wieder die Straße erreicht.
Er blinkte links, bog ab und entfernte sich rasch.
Der Mann in der Höhle wollte keinen Augenblick mehr länger an diesem schrecklichen Ort hier verbringen, begann zu rennen, stolperte über große Steine und spürte beim nächsten Tritt den kiesigen Untergrund. Er wollte weg, nur weg. Flüchten. Als er den Forstweg erreichte, hechtete er mit zwei kräftigen Sprüngen aus dem Bachbett und war Sekunden später an der Fahrertür des Mercedes, riss sie auf und erschrak, als sich die Innenbeleuchtung einschaltete. Er ließ sich erschöpft in den ledernen Sitz fallen und zog sofort die Tür zu, um damit das Licht zu löschen und den Motor zu starten. Noch 50 Meter bis zur Kreisstraße, dann würde er diesen Albtraum hinter sich lassen. Und alles würde zurückbleiben – als ob nie etwas gewesen wäre.
Als er in die Straße nach links einbog, fühlte er sich zum ersten Mal seit einer Stunde wieder frei. Es war ihm, als sei ein Kapitel abgeschlossen.