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Buch

Ein Mann wird in seinem Sessel erschossen aufgefunden – mit dem Ehering seiner Tochter am Finger. Ein Bestatter sucht verzweifelt nach seinem verschwundenen Bruder. Eine Frau kämpft darum, die Kontrolle über ihr Leben zu behalten, während ihr Mann von Tag zu Tag gefährlicher wird ... Fredrika Bergman und Alex Recht erkennen einen Zusammenhang zwischen diesen Fällen. Sie begeben sich auf eine Spurensuche, die in die Vergangenheit führt – zu Sünden, die längst begraben schienen und doch tödlicher denn je sind.

Autorin

Kristina Ohlsson, Jahrgang 1979, arbeitete im schwedischen Außen- und Verteidigungsministerium als Expertin für EU-Außenpolitik und Nahostfragen, bei der nationalen schwedischen Polizeibehörde in Stockholm und als Terrorismusexpertin bei der OSZE in Wien. Mit ihrem Debütroman »Aschenputtel« gelang ihr der internationale Durchbruch und der Auftakt zu einer hoch gelobten Thrillerreihe um die Ermittler Fredrika Bergman und Alex Recht, die mit »Sündengräber« spektakulär ausklingt. Neben der Veröffentlichung zahlreicher Jugendbücher schuf Kristina Ohlsson außerdem einen neuen Ermittler: Anwalt Martin Benner, der in »Schwesterherz« und »Bruderlüge« einen aufsehenerregenden Fall zu lösen hat.

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Syndafloder« bei Piratförlaget, Stockholm.

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Copyright der Originalausgabe © Kristina Ohlsson 2017

Published by agreement with Salomonsson Agency

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019 by Limes Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Leena Flegler

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: Roy Bishop/Arcangel Images

BL · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-22318-2
V003

www.limes-verlag.de

Für Annika,
ein
e der Allerbesten

Dies ist eine erfundene Geschichte.

Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und realen Ereignissen sind dem Zufall geschuldet.

Drei verirrte Männer

April 2016

Der erste Mann: Das Testament

ALL DIESE ENTSCHEIDUNGEN. Während seiner letzten Lebensmonate sollte er diesen Gedanken am häufigsten haben. All die Fragen, die eine Antwort erforderten, all die Antworten, die wiederum Entscheidungen gleichkamen. Wie er leben wollte; wie er sterben wollte. Welche Geheimnisse er noch jemandem mitteilen wollte und wie viele er mit ins Grab nehmen würde.

Sie verdiente es, Bescheid zu wissen. Davon war er fest überzeugt. Weniger sicher war er sich, ob sie wirklich wissen müsste, was er all die Jahre vor ihr geheim gehalten hatte, während er noch am Leben gewesen war. Immerhin war er immer der Ansicht gewesen, ihrer Beziehung gehe es am besten, wenn er weiterhin schwieg. Ihre Zeit war so knapp bemessen, und er hatte noch so viel zu tun … oder um eine abgegriffene Formulierung zu gebrauchen: Nun war die Zeit gekommen, alte Sünden zu sühnen.

Also setzte er sich an einem regnerischen Vormittag im April an seinen Schreibtisch und verfasste den wichtigsten Brief seines Lebens. Jedes Wort musste mit größter Sorgfalt gewählt werden, jeder Satz sollte aufs Äußerste feinpoliert sein. Als er fertig war, las er den Text wieder und immer wieder; öfter, als er hinterher zu zählen vermocht hätte. Irgendwann war er zufrieden. Oder vielmehr resigniert. Besser würde es nicht mehr werden. Und er würde niemals erleben, wie sie reagierte, sobald sie erführe, was er getan hatte. Erschöpft stand er auf. Er musste zu Mittag essen, sich ausruhen, einen Spaziergang machen. Er musste raus. Doch mit einem Mal überkamen ihn Reue und Unruhe.

Er setzte sich.

Noch mal von vorn, dachte er. Ich muss diesen Brief noch mal lesen.

Also tat er es.

Geliebte,

nun ist eine Weile vergangen, seit wir den schlimmsten aller Bescheide erhalten haben. Mein Todestag steht fest, wir kennen beide das Datum. Es ist unbegreiflich – ich kann es nicht fassen –, dass ich hier sitze und schreibe und gleichzeitig weiß, dass meine Zeit bemessen ist. Das war sie im Grunde immer, auch wenn wir Menschen oft nachlässig glauben, dass der Tod nur für andere gilt und nicht für uns selbst. Als gäbe es eine dritte Alternative irgendwo zwischen dem ewigen Leben und der ewigen Ruhe. Als könnte man, ganz wie man wollte, durch das Tor schreiten, das die Lebenden von den Toten trennt. Glaub mir, so ist es nicht.

Vielleicht verdiene ich es nicht besser. Vielleicht ist es sogar gerecht, dass ich früher abberufen werde, als wir beide es uns gewünscht haben. Deshalb schreibe ich diesen Brief – weil ich eine solche Angst habe, dass ich den Tod verdienen könnte, der vor mir liegt.

Du sollst endlich erfahren, dass ich vor etlichen Jahren etwas erbärmlich Dummes getan habe. Weißt Du noch, als unsere Tochter gerade zur Welt gekommen war und ich immer noch mit den Verletzungen zu kämpfen hatte, die ich mir bei dem Autounfall zugezogen hatte? Natürlich erinnerst Du Dich, das war eine schlimme Zeit. Und sicher erinnerst Du Dich auch noch an die Tabletten, die ich genommen habe, und daran, wie wir darüber gelacht haben, dass sie stark genug seien, um ein Pferd in Tiefschlaf zu versetzen. Gott weiß, dass ich die Tabletten gebraucht habe, um den Alltag durchzustehen, um meine Kräfte und meinen Körper zurückzugewinnen. Aber es war, wie Du gesagt hast – Kopf und Blick wurden einfach nicht klar, ehe die Schmerzen endlich nachließen und ich mich vom Morphium freigemacht hatte.

Ein einziges Mal war ich unaufmerksam. Ein einziges Mal. Doch das genügte, um das Leben eines Menschen zu zerstören. Es war ein Dienstag. Folgendes ist passiert:

Ich setzte mich ins Auto, um nach Uppsala zu fahren und meinen Chef anlässlich eines Geschäftsessens zu treffen, das später am Abend stattfinden sollte. Obwohl ich krankgeschrieben war, obwohl ich Probleme hatte, mich zu bewegen. Und obwohl meine Sinne durch die vielen Tabletten benebelt waren. Ich hätte mit der Bahn fahren müssen. Aber das tat ich nicht.

Und ich überfuhr einen anderen Menschen.

Ja, du hast richtig gelesen. Es ist schrecklich und verdammt noch mal unmöglich, es ungeschehen zu machen. Das Geräusch, als sie auf die Motorhaube krachte, als ihr Kopf gegen die Windschutzscheibe knallte … und dann der vollkommen bizarre Anblick, wie sie keine drei Sekunden später leblos auf der Straße hinter dem Auto lag. Ich weiß noch, wie ich in den Rückspiegel starrte und nicht begreifen konnte, wie sie dort hingekommen war.

Alles andere hingegen begriff ich nur allzu gut.

Entweder würde ich anhalten und die Verantwortung dafür übernehmen müssen, was ich getan hatte, und da wäre mein Leben zu Ende. Da würde ich vielleicht sogar Dich und unser Kind verlieren. Oder ich würde weiterfahren und so tun, als wäre nichts geschehen. Ich sah mich um, entdeckte keine Menschenseele, keinen Zeugen. Da war bloß Stille. Also wählte ich Letzteres: Ich ließ sie dort auf der Straße liegen. Dachte, eine solche Entscheidung trifft man nur ein Mal und ohne jedes Recht auf Reue. Ich weiß nicht mehr, welche Gedanken mir durch den Kopf gingen, als das Auto wieder anrollte; wahrscheinlich nicht viele. Doch Schuld und Scham saßen mir im Nacken, und es ist seither kein Tag vergangen, an dem ich nicht mit der Erinnerung daran gerungen hätte.

Natürlich haben die Zeitungen darüber berichtet, und insgeheim habe ich verfolgt, wie es der Frau ergangen ist, die ich überfahren hatte. Zu meinem großen Erstaunen überlebte sie nämlich. Mehr oder weniger. Es war allerdings nicht mehr viel von jenem Menschen übrig, der sie einmal gewesen war. Leider tun wir das – retten Menschen um jeden Preis.

Jetzt bist Du wahrscheinlich zutiefst schockiert. Gewiss wirfst Du mir Feigheit vor, fragst Dich, was zum Teufel ich mir dabei gedacht habe.

Ich habe an mich gedacht. So muss die kurze Antwort wohl lauten. Und an Dich und unsere Tochter und später auch an unseren Sohn. Und so blieb es bis vor einigen Monaten. Du weißt schon – bis alles anders wurde. Bis alles zerbrach und ich etwas über meinen Tod erfuhr, was ich nicht hatte ahnen können. Da beschloss ich, dass es an der Zeit war, die Verantwortung dafür zu übernehmen, was damals falsch gelaufen war. Sühne zu tun für mein Verbrechen.

Das habe ich getan. Ich habe versucht, die Folgen des Unglücks geradezurücken. Zumindest soweit das möglich ist. Ich fürchte, dass es in diesem Zuge unvermeidlich war, Spuren zu hinterlassen. Deshalb schreibe ich Dir diesen Brief, denn ich glaube, es besteht die Gefahr, dass die Polizei sich den Unfall, den ich verursacht habe, wieder vornehmen und mich ausfindig machen könnte. Mich finden und feststellen könnte, dass ich tot bin. Und natürlich sollst Du nicht auf diese Weise erfahren, was ich getan habe. Du sollst es von mir erfahren.

Ich habe eine junge Frau überfahren und sie auf der Straße zurückgelassen, ohne ihr zu helfen. Es haben schon mehr Menschen Ähnliches getan, haben sich wie Schweine verhalten und sich davongestohlen, ohne für ihre Taten Verantwortung zu übernehmen. Ich will nicht, dass Du mich so in Erinnerung behältst – als einen, der sich davongestohlen hat. Deshalb will ich Dir sagen, dass ich anders bin als andere. Ich versuche, Verantwortung zu übernehmen, obwohl so viele Jahre vergangen sind … oder wie ein Schriftsteller einmal gesagt hat: Ich mache alles wieder gut.

Ich fürchte allerdings, dass ich es nicht schaffen werde.

Ich liebe Dich über alles.

Der zweite Mann: Das Haus

ZUR SELBEN ZEIT, da der Mann, der wusste, wann er sterben würde, sein Bekenntnis unterschrieb, stand ein anderer Mann vor einem Haus, das nach Geheimnis aussah. Die Luft war kalt und klar und kratzte in der Kehle, wenn er einatmete. Im April war das Wetter unbeständig.

Das hier würde gut werden. Sehr gut sogar. Dieses Haus war von so diskreten Leuten errichtet worden, dass kaum jemand überhaupt von seiner Existenz wusste. Fast niemand. Es war gerade richtig für den Mann, der sich jetzt an die Frau wandte, die neben ihm stand.

»Dürfte ich es auch von innen sehen?«

»Selbstverständlich«, antwortete sie.

Der Mann blickte sich um. Das Gelände um das Haus sah gepflegt aus; das Grundstück grenzte an einen kleineren Acker. Dahinter nur Wald, so weit das Auge reichte.

Perfekt, dachte er.

Die Frau schloss die Haustür auf und ließ ihn eintreten.

»Das Haus ist fünf Jahre alt – und absolut baurechtskonform. Aber es sollte so wenig wie nur möglich über den Bau bekannt werden. Das Haus ist weder an die Wasser- noch die Abwasserleitungen der Gemeinde angeschlossen. Wir haben einen eigenen Brunnen gebohrt und benutzen Chemietoiletten, die wir selbst leeren. Zudem haben wir eine unabhängige Stromversorgung durch ein Dieselaggregat, das den hauseigenen Generator antreibt.«

»Verstehe«, sagte der Mann, obwohl er in Wahrheit kein Wort verstand.

Dass es solche Orte überhaupt geben konnte, machte ihn wirklich sprachlos.

Außerdem kam er sich ziemlich naiv vor. Fühlte sich das so an, wenn einem die Zeit entglitt? Oder war es ganz einfach so, dass dieses Haus Ausdruck einer immer kälter werdenden Gesellschaft war? Er kannte die Bauherren hinter dem Projekt, er wusste, was deren Geschichte war.

Als er das Haus betrat, strich er mit der Hand über die Eingangstür. Sie war dicker als eine gewöhnliche Tür und sah aus, als wöge sie eine Tonne.

Die Frau wirkte hochzufrieden.

»Sowohl Fenster als auch Türen sind schusssicher«, erklärte sie. »Das Glas ist eigens bei einem deutschen Lieferanten bestellt worden und hat eine Festigkeit, die Hammerschlägen und anderen Arten von Gewalteinwirkung mühelos standhält.«

»Klingt wie die Fenster im Oval Office«, scherzte der Mann.

Seine Begleiterin lachte. »Wir haben tatsächlich an das Weiße Haus gedacht, als wir diesen Bunker entworfen haben. Und ich finde, es ist uns sogar einigermaßen gut gelungen.«

Der Mann zog eine Augenbraue hoch. »Den Bunker?«

»Nur damit niemand vergisst, dass dies kein gewöhnliches Haus ist.«

Wortlos ging er von Zimmer zu Zimmer. Sein Puls beschleunigte sich; nicht mal in seinen wildesten Fantasien hätte er sich vorstellen können, dass es eine so einfache Lösung für sein Problem gäbe. Das Haus war schlichtweg perfekt.

»Für wie lange kann ich es mieten?« Seine Stimme klang heiser.

»Es steht jetzt mindestens für ein halbes Jahr leer. Was meinen Sie, genügt das?«

Er zögerte kurz. »Ich weiß nicht … Sie müssen wissen … Ich benötige das Haus nicht sofort, sondern erst später im Frühjahr. Wenn meine Tochter aus dem Ausland zurückkommt.«

Die Frau legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich hab gehört, was Ihnen zugestoßen ist. Schreckliche Geschichte.«

Die Sonne schien durchs Fenster. Man konnte sogar mit bloßem Auge erkennen, wie das dicke Glas das Licht filterte.

»Ja«, sagte der Mann, der das Haus anmieten würde. »Schreckliche Geschichte. Weniger für mich als für meine Tochter und ihre Familie. Es wäre fantastisch, wenn sie endlich einen sicheren Zufluchtsort finden könnten. Ich meine, sie können sich ja nicht auf ewig im Ausland verstecken.«

Die Frau richtete sich gerade auf.

»Eine Zuflucht ist das hier garantiert«, sagte sie. »Hier findet sie niemand. Wenn sich ihre Situation also nicht verändert, bis sie wieder nach Hause kommen …«

»Das wird wohl kaum der Fall sein.«

»… dann sind sie hier willkommen.«

Der Mann, der das Haus anmieten würde, leistete sich ein Lächeln.

»Ausgezeichnet«, sagte er. »Ausgezeichnet.«

Der dritte Mann: Die Leere

UND DANN GAB es noch den dritten Mann. Der weder das Bedürfnis verspürte, seine Sünden zu bekennen noch eine Zuflucht für jemanden zu suchen, der ihm nahestand. Der Mann, der so viel verloren hatte, dass er nicht mal mehr er selbst war.

Er saß in seinem Arbeitszimmer, starrte die Wand an und zuckte nicht mal mit der Wimper, als sein Chef an der Tür vorbeikam und stehen blieb.

»Hier sitzt du. Ich dachte, du hättest frei.«

Es war nicht zu überhören, dass ihm nicht gefiel, was er vor sich sah. Und »freihaben« war in diesem Zusammenhang auch nicht die passende Formulierung.

»Es gab ein paar Dinge, die ich noch erledigen musste.«

Sein Chef stand immer noch an der Tür.

»Weißt du, ich merke doch, dass es dir nicht gut geht«, sagte er nach einer Weile.

Seine Stimme war sanft, sein Wohlwollen groß.

»Schon in Ordnung. Ich kann einfach nicht die ganze Zeit über zu Hause herumsitzen.«

Sein Chef räusperte sich verlegen. »Du brauchst eine Pause. Im Moment funktionierst du hier nicht.«

»Wie bitte?«

Der Chef sah bedrückt aus. Mehr als bedrückt.

»So geht das nicht mehr – dass du bei allem und jedem sofort in die Luft gehst«, fuhr er leise fort. »Deine gesamte Einstellung, diese Unausgeglichenheit … Das geht so nicht mehr. Deshalb haben wir ja auch diese Sache mit der Krankschreibung vereinbart.«

Es wurde still.

Jetzt stand es also ausgesprochen im Raum. Worauf er schon so lange gewartet hatte. Er war nicht mehr willkommen, er durfte nicht länger bleiben.

»Hau ab«, sagte er. »Hau bloß ab. Ich will diese verdammte Krankschreibung nicht.«

Sein Chef wich einen Schritt zurück.

»Ich möchte, dass du jetzt sofort gehst«, sagte er. »Ich habe dir mehr Chancen gegeben, als du verdient gehabt hättest.«

Dann wandte der Chef sich zögerlichen Schrittes ab.

Endlich würde er in Ruhe gelassen. Kein Mensch würde sich noch in seine Nähe wagen, in die Nähe eines trauernden Mannes – und erst recht nicht in die eines Mannes, der gekränkt war. Keiner seiner Freunde, keiner seiner Kollegen. Denn sie hätten gar nicht gewusst, was sie zu ihm hätten sagen sollen. Er machte ihnen deswegen keinen Vorwurf, es fiel ihm ja selbst schwer, Worte dafür zu finden, was er gerade durchmachte. Wie schwer musste das also erst jemand anders fallen?

Die Stunden krochen langsam dahin. Er blieb sitzen. Starrte die Wand an. So sah es aus, wenn er dachte. Der Chef hatte ihn gebeten, von hier zu verschwinden, aber keine Uhrzeit genannt. In seinem Kopf nahm eine Idee Gestalt an, die er erst in aller Ruhe weiterentwickeln wollte. Er hatte in vielem geschlampt, doch das hier würde gut werden müssen. Nicht nur um seinetwillen, sondern auch für so viele andere. Für all diejenigen, die für sich selbst keine Gerechtigkeit wiederherstellen konnten, all diejenigen, die alleingelassen worden waren.

Die Zeit war zu etwas geworden, wovon er zu viel und gleichzeitig zu wenig hatte. Heute hatte er eindeutig zu viel davon. Doch irgendwann würde der Abend kommen, und er müsste nach Hause gehen. Nach Hause zu alledem, was für gewöhnlich Leben genannt wurde, nach Hause zu allem, was sich einfach nur leer anfühlte, trostlos.

So etwas kann man nicht wiedergutmachen, dachte er. Aber zumindest kann ich es besser machen.

Mit diesem Gedanken stand er auf und verließ sein Arbeitszimmer.

Vernehmung des Zeugen ALEX RECHT,

06.09.2016

Anwesend: Vernehmungsleiter 1 (V1), Vernehmungsleiter 2 (V2), Kriminalkommissar Alex Recht (Recht)

V1: Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben herzukommen. Wie wir gehört haben, gehen Sie morgen auf die Beerdigung?

Recht: Ja, das stimmt.

V2: Das muss schwer für Sie sein.

Recht: Ehrlich gesagt ist es verdammt beschissen.

V2: Vermissen Sie sie?

(Schweigen)

V1: Wir wissen, dass Sie und Fredrika … Also, wenn Sie jetzt nicht über sie sprechen wollen, dann müssen wir versuchen, es irgendwie zu umschiffen. Uns ist klar, dass Sie unter Druck stehen, trotz allem müssen wir dieses Gespräch führen. Eine Person aus Ihrem engsten Kollegenkreis wird eines Verbrechens beschuldigt, und wir müssen uns mit jemandem unterhalten, der von Anfang an mit der Sache betraut war.

Recht: Reden Sie mit jemand anderem. Ich war nämlich nicht von Anfang an mit dabei. Keiner von uns war das.

V2: Wie meinen Sie das?

Recht: Ich meine, dass wir anfangs gar nicht mitbekommen haben, worum es in Wahrheit bei dieser Geschichte ging. Ich meine, es hätte die Sache wesentlich leichter gemacht, wenn wir gewisse zugrunde liegende Umstände direkt begriffen hätten … zum Beispiel, wie viele Opfer es noch werden würden – und in welcher Reihenfolge diese Menschen ums Leben kommen sollten.

(Schweigen)

V1: Okay, aber dann lassen Sie uns doch damit anfangen. Wer war das erste Mordopfer?

(Schweigen)

Recht: Ein Mann wie wir anderen.

V2: Wie bitte?

Recht: Ich sagte, ein Mann wie wir anderen. Ein Mann, der nicht mehr war als ein Mensch.

Samstag

MITTEN IM SOMMER, der zum längsten Sommer überhaupt werden sollte, wurde der erste schreckliche Mord begangen. Es begann an einem Samstag, einem merkwürdigen Wochenendtag, der wie jeder andere Tag ganz einfach hätte vorübergehen können, am Ende aber ein Tag werden würde, der das Leben einer ganzen Reihe Menschen von Grund auf veränderte.

Einer dieser Menschen war Henry Lindgren. Doch noch hatte er davon keine Ahnung.

Es war Viertel vor neun am Abend, als Henry die Wohnung verließ, um sich eine Zeitschrift zu kaufen. So eine mit Kreuzworträtseln drin. Im Fernsehen kam nichts Vernünftiges, außerdem konnte er besser schlafen, wenn er zuvor ein Kreuzworträtsel gelöst hatte und dann erst die Nachttischlampe ausschaltete. Wenn er gewusst hätte, was ihm bei seinem kurzen Abendausflug widerfahren würde, hätte er liebend gern auf die Zeitschrift verzichtet.

Es regnete und war zudem ein wenig kühl. Also zog Henry seine Herbstjacke an, die seit fast einem Jahr an der Garderobe gehangen hatte (der Winter war mild gewesen, das Frühjahr kalt und der Sommer anfänglich kühl), und nahm außerdem noch einen Regenschirm zur Hand. Er wollte zum Tabakgeschäft an der Ecke gehen, bis dorthin wäre es nicht allzu weit durch dieses Unwetter. Was für ein Glück.

Der Wind riss an seinem Schirm, als er hinaus auf die Straße trat, und im Nu hatte er nasse Hosenbeine. Als er die Tür des Tabakgeschäfts aufschob, klingelte darüber ein Glöckchen.

»Elender Sommer, den wir da haben«, sagte der Ladenbesitzer, ein Mann namens Amir.

»Könnte schlimmer sein«, erwiderte Henry, dem es gefiel, wenn der Sommer sowohl mit Sonne als auch mit Regen aufwartete.

Er bezahlte seine Zeitschrift und ging wieder.

Der Schatten kam aus dem Nichts. Nicht sonderlich groß, nicht lang, aber doch ganz deutlich in seinem Weg. Henry blieb stehen und versuchte zu erkennen, wer ihn da nicht durchlassen wollte.

»Ich bräuchte Hilfe mit meinem Hund«, sagte der Mann.

Henry sah sich um. Da war kein Hund in der Nähe. »Aha …«

Der Mann kam einen Schritt näher auf ihn zu.

»Mein Hund«, wiederholte er. »Dem geht es nicht gut. Könnten Sie mir helfen, ihn die Rolltreppe hochzutragen?«

Bereits hier hätten die Alarmglocken in Henrys Kopf losschrillen müssen, aber das taten sie nicht. Er dachte noch, womöglich stand der Mann unter Drogen und halluzinierte – sowohl was den Hund als auch die Rolltreppe anging.

»Tut mir leid, aber ich fürchte, ich kann nichts für Sie tun«, sagte er und versuchte, an dem Mann vorbeizugehen.

Das durfte er auch. Er eilte auf seinen Hauseingang zu und tippte den vierstelligen Türcode ein. Dann schüttelte er seinen Regenschirm aus und klappte ihn zusammen. Zu spät bemerkte er, dass der Mann ihm ins Haus gefolgt war. Die Tür schlug hinter ihnen beiden zu.

Teufel auch, das hier fühlte sich nicht gut an. Henry Lindgren ermahnte sich zur Ruhe. Das Wichtigste war doch immer, nicht in Panik zu geraten. Das hatte er schon öfter gelesen, als er zählen konnte. Man durfte einfach nur nicht panisch werden, wenn man sich irgendwelchen unberechenbaren Leuten gegenübersah.

Er traute sich nicht, auf den Fahrstuhl zu warten, und nahm stattdessen die Treppe. Henry wohnte im obersten Stock. Die Knie begannen schon im zweiten Stock zu protestieren. Der Mann schien unten geblieben zu sein, zumindest konnte Henry keine Schritte hinter sich hören. Als er das dritte Stockwerk erreicht hatte, atmete er schwer. Das Treppensteigen und das Lauschen strengten ihn an. Er zwang sich weiterzugehen und vergewisserte sich zugleich, dass der Mann noch immer nicht hinter ihm herkam. Damit war er derart beschäftigt, dass er nicht mal bemerkte, wie sich der Fahrstuhl in Bewegung setzte und nach oben fuhr.

Als er seine Wohnungstür erreicht hatte, hätte er heulen können. Eilig schloss er die Tür auf und wollte sie gerade aufschieben, als im selben Moment der Fahrstuhl auf seiner Etage anhielt. Dann geschah alles so unglaublich schnell, dass man einem älteren Menschen wie Henry wohl nachsehen muss, dass er es nicht schaffte, angemessen zu reagieren. Es war, als flöge der Mann regelrecht in Henrys Wohnung. Mit einem Knall zog er die Tür zu und schloss ab. Und Henry stand mit seinem tropfenden Regenschirm still in seiner Diele.

Im nächsten Moment sagte der Mann etwas, was alles verändern und möglicherweise auch erklären sollte: »Der Hund ist egal. Aber ich habe eine Tochter, auf die Sie aufpassen müssen. Ich habe einen schrecklichen Fehler begangen, müssen Sie wissen – ich habe sie in einem Zug zurückgelassen. Sie hat geschlafen, als ich gegangen bin – nur für ein paar Minuten, aber das reichte. Jetzt sitzt das Mädchen allein im Zug, und ich stehe auf dem Bahnsteig. Könnten Sie auf sie aufpassen?«

Henry schüttelte langsam den Kopf und spürte, wie sein Sichtfeld immer kleiner wurde.

Der Schock lähmte ihn, hatte ihm die Sprache verschlagen. Er brachte kein Wort heraus. Er wollte im Grunde lediglich wissen, warum dieser Mann hier aufgetaucht war und ihn ausgerechnet an sein größtes Versagen erinnern zu wollen schien.

Könnten Sie auf sie aufpassen?

Ich dachte es. Ich dachte, ich könnte es.

»Was wollen Sie?«, flüsterte Henry.

Seine Stimme klang heiser und angespannt. Henry hatte Angst.

Er war außer sich vor Angst.

Der Mann antwortete nicht. Stattdessen schlug er Henry so hart über den Hals, dass ihm schwarz vor Augen wurde und die Beine unter ihm wegsackten. Noch auf dem Boden liegend, unfähig zu sprechen oder auch nur Spucke hinunterzuschlucken, bekam Henry nur mehr vage mit, was um ihn herum passierte. Wirre Gedanken rollten über ihn hinweg – so viele, dass er sie unmöglich einzeln zu fassen bekommen konnte. Sie bildeten einen warmen Strom aus Energie, der durch seinen Körper wallte, während er gleichzeitig spürte, wie der Mann ihn ihm Nacken packte und den Kopf nach vorn drückte. Einige wenige Gedanken blitzten noch auf – sich losmachen, auf sich aufmerksam machen. Erstaunlicherweise dachte er nicht für eine Sekunde: Warum ich? Nein, die Frage hatte sein Mörder längst für ihn beantwortet, und dafür empfand Henry Dankbarkeit. Was er hingegen nicht verstand, war das Bedürfnis des Mannes, Vergeltung zu üben. Kein Tag war vergangen, an dem Henry seine Untätigkeit und deren Konsequenzen nicht verflucht hätte.

Henry Lindgren war letztlich nicht mehr als ein Mensch. Aber das genügte offenbar nicht.

DAS FEUER IM Kachelofen brannte zu heftig. Malin sah das sehr wohl, unternahm aber nichts dagegen. Zumindest fürs Erste nicht. Sie war erschöpft, übersensibel, ihre Nerven lagen blank, während ihr Vermögen, mit dieser Krise umzugehen, zusehends schwand. Panik zerstörte den Körper auf so viele Arten. Am schlimmsten war das Gehirn betroffen – die Fähigkeit, klar zu denken. Und es ging immer weiter, stellte Malin fest, die Panik hörte nie auf, sie war mittlerweile alltäglich geworden.

Sie saß in der Wärme und sah zu, wie die Flammen ihr entgegenschlugen. Gelbrote Monster, die über die weißen Außenkacheln leckten, nur um sich dann schnell wieder ins Innere zurückzuziehen. Erst als sie die Stimme ihres Sohnes hinter sich hörte, reagierte sie.

»Mama, es brennt ja! So richtig!«

Malin stürzte auf den Ofen zu und schlug die Klappe zu. Bald wäre das Feuer erstickt. Genau wie alles andere.

Der Sohn klammerte sich mit beiden Armen um ihre Hüften.

»Mama, mir ist laaangweilig.«

Malin schleifte ihren Sohn hinter sich her durchs Zimmer. Eigentlich war er zu groß für so etwas, aber dieses Spielchen hatte er schon als kleines Kind geliebt. An ihrem Bein zu hängen, während sie irgendwohin ging.

»Hast du Hedvig schon gefragt, was sie vorhat?«, wollte sie wissen. »Vielleicht würde sie gern etwas Lustiges machen.«

Sie wusste nicht, wie spät es war, womöglich müssten die Kinder auch schon bald ins Bett. Aber dies alles – selbst eine geregelte Schlafenszeit – war inzwischen unendlich schwer aufrechtzuerhalten. Regeln, an denen sie jahrelang konsequent festgehalten hatten, gerieten hier in Vergessenheit. Oder besser gesagt: Sie wurden aufgehoben. Vieles aus ihrem alten Leben spielte im neuen ganz einfach keine Rolle mehr.

Nicht, während sie ununterbrochen in Angst lebten.

Der Sohn ließ los und sank zu Boden.

»Hedvig will nicht spielen«, sagte er mit einem verzweifelten Unterton. »Hedvig will lesen.«

Wenn nur die Bücher nie ausgingen! Denn dann wüsste Malin nicht, was ihre Tochter sonst tun würde. Nur mittels der Bücher hatte Hedvig ihr Gleichgewicht bewahrt. Ohne sie würde ein Wrack aus ihr werden. Genau wie aus ihrer Mutter.

»Ich wollte was backen«, sagte sie zu ihrem Sohn. »Magst du mir helfen?«

Eigentlich wollte sie seine Hilfe nicht. Sie wollte einfach nur allein sein, eine Stunde, eine Viertelstunde oder eine Minute. Aber das ging nicht. Eins der Kinder war immer in ihrer Nähe, um sie herum, hing an ihr dran. Rund um die Uhr.

Die Miene ihres Sohnes hellte sich auf. Er wollte nur zu gern backen.

»Zimtschnecken«, sagte er.

»Heute nicht, Max«, sagte Malin, »heute backen wir Teekuchen.«

Wann hatten sie eigentlich zuletzt Zimtschnecken gebacken? Vorige Woche? Oder vorvorige? Sie wusste es nicht mehr, aber es war wohl rund um die letzte Lebensmittellieferung gewesen. Die Tage flossen ineinander, sie konnte werktags nicht mehr vom Wochenende unterscheiden. Zu Anfang hatte sie es versucht, aber es war ihr zusehends schwergefallen. Der Vater der Kinder weigerte sich, ihr zu helfen. Es sah fast so aus, als fragte er sich, was sie da eigentlich machte, warum sie sich überhaupt noch Mühe gab. Dabei hatte sie es ihm wieder und immer wieder erklärt – und doch sah sie, wie er immer weiter von ihr und den Kindern wegtrieb.

Routinen.

Brauchten sie die nicht am allerdringendsten?

Routinen.

Das A und O in der Krisenbewältigung jener Art.

War das so schwer zu begreifen?

Sie liefen in die Küche. Malin holte Hefe, Milch und Butter aus dem Kühlschrank, während der Sohn mit dem Mehlpaket kämpfte.

»Sei vorsichtig, wenn es so voll ist«, ermahnte ihn Malin.

»Weiß ich«, gab er zurück.

Malin ließ die Butter schmelzen und goss Milch dazu, wärmte alles handwarm auf. Max krümelte die Hefe in die Teigschüssel.

»Darf ich gießen?«, fragte er.

Malin nickte, und der Sohn ließ die Milch über die Hefe perlen. Malin griff zum Handquirl, die Hefe löste sich in der Flüssigkeit auf und färbte sie beige.

»Jetzt noch ein bisschen Salz«, sagte sie.

Max lief und holte das Salzfass. Malin hob den Blick von der Teigschüssel und sah aus dem Küchenfenster. Es regnete mittlerweile so heftig, dass es draußen nach Nebel aussah. Trotzdem konnte sie – leider – erkennen, dass die Bäume immer noch grün und die Beerensträucher vor dem Fenster voller Beeren waren. Der Rasen wirkte leicht ungepflegt. Der Zaun stand schief. Unwillkürlich verspürte sie Trauer, und sie musste tief Luft holen und schluchzte, als sie ausatmete.

»Was ist denn, Mama?«

Das blasse Gesicht ihres Sohnes sah angespannt und ängstlich aus. Manchmal fragte sie sich, wie viel er wohl begriff, wie sehr er selbst litt.

»Nichts«, sagte sie. »Ich bin nur ein bisschen müde.«

Der Sohn folgte ihrem Blick und sah, was auch sie gesehen hatte. Den Garten, den vernachlässigten Acker. Die Obstbäume. Die Stille. Die Einsamkeit. Und in einiger Entfernung den Wald, der sie unsichtbar machte.

»Ich will raus«, flüsterte er.

»Ich weiß, mein Lieber«, sagte Malin. »Das möchte ich auch.«

Montag

DIE ERDE UM Malcolm Benkes große Villa war vom vielen Regen komplett aufgeweicht. Das Gras gab unter den beschuhten Füßen nach, die kreuz und quer über das Grundstück liefen. Am Zaun hatten sich bereits Gaffer versammelt, die sich streckten, um etwas erkennen zu können, was das plötzliche Interesse der Polizei an der Villa erklärte.

»Ist etwas passiert? Ist er tot?«, fragte ein jüngerer Typ mit einem Skateboard unter dem Arm.

Kriminalkommissar Torbjörn Ross musterte ihn schweigend und überlegte, was er darauf wohl antworten sollte. Er hatte ewig kein Skateboard mehr gesehen. Gab es wirklich immer noch Leute, die so etwas benutzten?

»Sorg dafür, dass die sich fernhalten«, sagte er zu einem Kollegen und deutete auf ihre ungebetenen Zuschauer.

Mit schweren Schritten marschierte er auf das Haus zu. Die letzten Jahre hatten an Torbjörn Ross gezehrt. Er hatte sogar erwogen, frühzeitig in Rente zu gehen. Das Problem war nur, dass sich zu viele seiner Kollegen darüber gefreut hätten – diejenigen nämlich, die es gar nicht erwarten konnten, ihn loszuwerden. Die ihn für unzurechnungsfähig hielten. Ross schüttelte den Kopf. Es gab doch immer Leute, die einen ganz gewöhnlichen Ordnungssinn und Durchhaltevermögen mit Geisteskrankheit verwechselten.

»Torbjörn!«

Die Stimme erreichte ihn, als er gerade auf der Schwelle zu Benkes Haus stand. Er musste sich nicht einmal umdrehen, um zu wissen, wer nach ihm rief. Margareta Berlin.

»Was machen Sie hier?«, fragte sie.

»Das könnte ich Sie genauso gut fragen«, entgegnete er.

Berlin seufzte. »Den Fall übernimmt Recht.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob das Ihre Anwesenheit hier erklärt«, entgegnete Torbjörn Ross ruhig.

»Ich wollte mal wieder Tatortluft schnuppern«, konterte Berlin.

Jetzt war es an Ross zu seufzen. Dass ausgerechnet Berlin eine dieser Chefinnen sein musste, die dem Fußvolk beweisen wollte, dass sie eine aus der Truppe war, dass auch die Chefin mal Dreck unter den Nägeln haben konnte … Zum Teufel mit dieser Pseudohaltung. Ross stand nicht auf Fake. Und Wahrhaftigkeit war so selten, dass er gelernt hatte, schon aus Prinzip nicht mehr damit zu rechnen.

»Ich dachte, Rechts Team gibt es nicht mehr«, brummte er. »Und ich dachte, solche Sonderlösungen sind nicht länger erwünscht in unserer neuen Organisation.«

Die letzten drei Wörter spie er regelrecht aus. Unsere neue Organisation. Von allen zutiefst verabscheut. Die größte Umstrukturierungsaktion bei der schwedischen Polizei seit Menschengedenken. Und so miserabel umgesetzt, dass sie in der Truppe keinerlei Rückhalt hatte. Zumindest nach Ross’ Ansicht.

»Alex’ Team erweist sich seit geraumer Zeit als Erfolgskonzept«, gab Berlin zurück, die nun offenbar Recht nicht länger Recht, sondern Alex nennen wollte. »Deshalb bleibt es erhalten.«

Ross schüttelte den Kopf. Er würde keine Öre auf dieses sogenannte Erfolgskonzept setzen. Wie war das gleich wieder gewesen, als Recht die Ermittlungen im Mordfall eines jungen Mädchens geleitet hatte, das tot aufgefunden worden war, nachdem es zuvor über Jahre verschwunden gewesen war? Den Fall hätte er ohne Ross niemals gelöst. Wenn einer es verdiente, in der neuen Organisation gefördert zu werden, dann war er es, nicht Recht.

»Mal im Ernst«, sagte Berlin und nahm Ross beim Arm. »Fahren Sie zurück ins Haus. Ich weiß nicht, wie es hierzu kommen konnte, und es tut mir natürlich leid, dass Sie jetzt unnötigerweise hier rausgefahren sind.«

Er sah ihr direkt in die Augen und musste sich zusammenreißen, um nicht zu lächeln, als er sah, was man aus ihrem Blick herauslesen konnte. Seine Chefin hatte Angst vor ihm. Wenn er sich jetzt weigerte zu gehen, dann würde ihr nichts mehr einfallen.

Ross fixierte einen Punkt hinter Berlin und dachte kurz nach. Seine Chefin hatte keine Ahnung, warum er nach Nacka gefahren war. So richtig viel bekam sie nicht mit. Und das durfte auch gern so bleiben.

»Torbjörn?«, hakte Berlin nach.

»Ich hau ja schon ab«, sagte er.

Sie war sichtlich erleichtert. Sie hatte ganz offenbar nicht den Hauch einer Ahnung, dass er sie bestrafte, indem er jetzt ging. Er und niemand anders kannte die Wahrheit hinter jenem Verbrechen, das Recht jetzt würde aufklären müssen. Das geschah ihnen recht. Diesmal würden sie ohne seine Unterstützung zurechtkommen müssen. Zumindest bis sie so schlau wären, von selbst zu ihm zu kommen und ihn um Rat anzubetteln.

Torbjörn Ross kehrte zu seinem Auto zurück. Er hatte sich nicht mal die Zeit genommen, einen Dienstwagen zu holen, sondern war mit seinem privaten Saab gefahren. Als er den Zündschlüssel herumdrehte, schielte er hinüber zu seiner Chefin.

Über Berlin hing der Himmel voller dunkler Wolken.

EIN WENIGER ROUTINIERTER Autofahrer wäre bei der Begegnung mit dem Saab wahrscheinlich von der Fahrbahn abgekommen. Der braun lackierte Wagen kam wie eine Kanonenkugel über die Straße geschossen, weit jenseits der zulässigen Höchstgeschwindigkeit und viel zu nah an der Mittellinie.

Als Kriminalkommissar Alex Recht und der Saab einander in der Kurve begegneten, hätte Alex um Haaresbreite dem Impuls nachgegeben auszuweichen – und wäre im Graben gelandet.

»Verdammter Idiot«, murmelte er.

Doch er hatte jetzt keine Zeit, um dem Verkehrssünder hinterherzujagen. Berlin hatte angespannt geklungen, als sie angerufen hatte.

»Ich will, dass Sie und Fredrika sich des Falles annehmen«, hatte sie gesagt und dann hinzugefügt: »Und – Alex: Augenblicklich!«

Selbstverständlich. Alex war niemand, der Nein sagte. Allerdings nicht aus Loyalität gegenüber seiner Chefin, sondern weil er zu seinem Dienstauftrag stand. Das sollte sie sich besser mal klarmachen, verdammt. Berlin kam einer Kernschmelze vom Typ Tschernobyl gleich – eine schlimme Frau. Das hatte er damals schon gedacht, als sie nach Lenas Tod und hinter seinem Rücken seine Kompetenzen infrage gestellt hatte. Als Personalchefin hatte sie sich Mal ums Mal Übergriffigkeiten und Anmaßungen erlaubt und nur mehr als der Elefant im Porzellanladen gegolten.

Deshalb war das Erstaunen auch groß gewesen, als sie sich vor ungefähr einem Jahr um eine operative Führungsposition beworben und diese dann auch noch bekommen hatte. Alex war davon ausgegangen, dass sie am Ende sei und in der Organisation nicht höher aufsteigen werde.

Wie naiv von ihm.

Doch all das musste zurückstehen, sobald die Pflicht rief. Keine Stunde nach Berlins Anruf war er vor Ort.

Vor ihm tauchte die große Villa auf. Teure Autos in der Auffahrt. Er lief auf das Haus zu, zog sich im Gehen die erforderliche Schutzkleidung über und trat ein.

Der Tote, ein Mann namens Malcolm Benke, saß in einem gepolsterten Ledersessel und starrte mit leerem Blick in ein Kaminfeuer, das schon vor Stunden erloschen war. Er war am Morgen von der Putzfrau tot aufgefunden worden, die immer montags ins Haus kam. Die Frau war bereits befragt worden, doch Alex glaubte nicht, dass sie für die Ermittlung sonderlich interessant wäre.

Um ihn herum waren die Spurentechniker bereits bei ihrer stillen Arbeit. Das komplette Zuhause des Mannes – eine riesige Villa, wunderschön am Meer gelegen – war voller Menschen, die Benke nie kennengelernt hatte und die nur aus einem einzigen Grund hier waren: nämlich um das Verbrechen aufzuklären, dem er zum Opfer gefallen war.

Alex ging vor dem Verstorbenen in die Hocke und betrachtete die Blutflecken auf dessen Hemd. Malcolm Benke war in die Brust geschossen worden. Die Kugel war durch den Körper hindurchgeschlagen, dann durch die Sessellehne, ehe sie schließlich in der Wand stecken geblieben war.

Wer, dachte Alex, wer wird denn bitte in seinem gemütlichen Sessel vor einem Feuer sitzend erschossen?

Nirgends rundherum konnte er Hinweise auf einen vorausgegangenen Streit erkennen. Hätte es die gegeben, hätte man leicht den Schluss ziehen können, dass Opfer und Täter einander gekannt hatten. Benke und sein Mörder. Vielleicht war Benke von ihm überrascht worden, hatte ihn nicht einmal kommen hören. Es war dieses Zögern zwischen den verschiedenen Möglichkeiten, das man lieben musste, um als Polizist arbeiten zu können. Man durfte keine vorschnellen Schlüsse ziehen, und es durfte einen nicht frustrieren, was man zunächst alles nicht wusste.

»Die Kugel hat da ein anständiges Loch gerissen«, stellte Rechtsmedizinerin Renata Rashid fest, die neben dem Toten stand.

Sie zeigte es ihm, indem sie vorsichtig an dem Hemd zupfte, sodass die Wunde sichtbar wurde.

Alex verzog das Gesicht.

»Auch eine üble Art zu sterben«, sagte er.

Obwohl er das eigentlich gar nicht so meinte. Im Gegenteil – er hatte nur wenige Einwände gegen die Art, wie dieser Mann ums Leben gekommen war. Ein Schuss in Nacken oder Brust war im Grunde ein Traum verglichen mit der Art und Weise, wie viele andere ihr Leben beenden mussten. Allerdings widerstrebte Alex der Ort, an dem der Mann hatte sterben müssen. Er fand es immer besonders übel, wenn Menschen in ihren eigenen vier Wänden Opfer eines Verbrechens wurden – an dem Ort, an dem sie sich mit Fug und Recht sicher fühlen sollten.

»Soweit ich sehen kann, hat er keine weiteren äußerlichen Verletzungen«, sagte Renata. »Aber das können wir natürlich erst bei der Obduktion verifizieren.«

Alex betrachtete das Gesicht des Mannes. Es wirkte so friedlich. Oder vielleicht resigniert? Alex hatte schon Gesichter gesehen, die im Augenblick des Todes in Entsetzen erstarrt waren. Das war kein schöner Anblick.

Malcolm Benke trug Hemd, Hose und Hausschuhe. Über der Rückenlehne des Sessels hing sein Jackett. Laut Einwohnermelderegister war er zweiundsiebzig Jahre alt gewesen und hatte allein gelebt. Er und seine Frau hatten sich zehn Jahre zuvor getrennt. Sie hatten zwei gemeinsame Kinder gehabt, von denen nur mehr eins lebte. Die Tochter war mit dreißig gestorben, ein halbes Jahr vor der Trennung der Eltern. Eine erste oberflächliche Suche im Netz hatte ergeben, dass Malcolm Benke erfolgreicher Bauunternehmer und an mehreren viel beachteten Bauprojekten in Stockholm beteiligt gewesen war.

Ein junger Kollege gesellte sich zu ihm. Alex Recht war es ein wenig peinlich, dass er sich nicht an den Namen erinnerte. Er gehörte nicht zu Alex’ Team, sondern war lediglich als Verstärkung geschickt worden. Man spürte den Eifer, der in ihm pulsierte, das Adrenalin, das kochte.

Vor langer Zeit war ich auch mal wie du, dachte Alex. Da dachte ich auch, es sei spannend, wenn Menschen sterben.

»Was meinen Sie?«, fragte der Jüngere.

»Nichts«, sagte Alex.

»Vielleicht ein unzufriedener Kunde?«

Alex starrte den Kollegen an. »Mischt man so die Bauleute auf, die man engagiert? Indem man sie erschießt?«

Der Junge wurde rot.

»Man wird doch wohl ein bisschen herumspinnen dürfen«, murmelte er. Dann nickte er zu dem Toten. »War der vom anderen Ufer?«

Alex war fassungslos. Vom anderen Ufer? Sollte er sich jetzt allen Ernstes die Mühe machen, den Jungen darauf hinzuweisen, dass man sich so nicht ausdrückte? Sollte er sich wirklich die Mühe machen, den Dienstälteren raushängen zu lassen und in der Truppe eine gewisse Anständigkeit einzufordern? Wer wusste schon, was aus dem Kollegen als Nächstes herausplatzen würde – vielleicht eine rassistische Äußerung, bei der Renata Rashid an die Decke gehen würde? Sie, die mit einem Iraner verheiratet war, wusste genau, wie es sich anfühlte, als anders wahrgenommen zu werden.

Alex unterdrückte einen Seufzer. Es gab Tage, da glaubte er nicht mehr an die Macht der Rüge oder daran, die Welt verändern zu können. Und heute war wohl ein solcher Tag.

»Wie kommen Sie darauf, dass er homosexuell gewesen sein könnte?«, fragte er und hoffte insgeheim, dass seine Wortwahl und sein Tonfall den Kollegen dazu inspirierten, sich selbst ein wenig zusammenzureißen.

»Die Hände«, erwiderte der Junge.

»Die Hände?«

»Die Ringe. Ungewöhnlich viel Schmuck für jemanden, der hetero ist. Und das da ist doch ein Damenring, oder?«

Alex runzelte die Stirn. Er zählte drei Ringe: einen normalen Siegelring, einen Freimaurerring und dann denjenigen, den sein Kollege als Damenring bezeichnet hatte. Er steckte an Benkes linkem kleinem Finger. Ein Goldring, in den ein Stein eingelassen war – womöglich ein Diamant. Widerwillig musste er sich eingestehen, dass der Ring tatsächlich eher so aussah, als sei er für eine Frau entworfen worden. Was allerdings nicht bedeutete, dass nicht auch ein Mann ihn gern tragen wollte.

Aber doch nicht dieser Mann, dachte Alex finster.

Malcolm Benke und sein Haus hatten etwas zutiefst Maskulines. Und selbst für den kleinen Finger des Hausherrn war der Ring zu klein.

»Können wir uns den mal genauer ansehen?«, wandte sich Alex an Renata und zeigte auf den Diamantring.

Das war leicht zu bewerkstelligen.

Alex hielt sich den Ring vors Gesicht und betrachtete ihn im Licht des Kronleuchters. Die verdammten Latexhandschuhe, die er tragen musste, juckten.

»Da steht was drin«, stellte der Kollege fest, der jetzt so nah neben Alex stand, dass er fast auf dessen Schulter lag.

Wir auf ewig. Beata und Richard.

»Beata«, murmelte Alex.

»Hieß seine Tochter nicht Beata?«, fragte der Kollege.

»Doch …«

Er ließ den Ring in einen Asservatenbeutel fallen und drückte ihn dem Kollegen in die Hand.

Wenn dies hier der Ehering von Malcolm Benkes Tochter war, warum trug er ihn dann an seinem kleinen Finger?