Buch
In den Hochmooren Nordenglands wird die Leiche der ein Jahr zuvor verschwundenen 14-jährigen Saskia Morris gefunden. Kurze Zeit später wird ein weiteres junges Mädchen vermisst, die ebenfalls 14-jährige Amelie Goldsby. Die Polizei in Scarborough ist alarmiert. Treibt ein Serientäter sein Unwesen? In den Medien ist schnell vom Hochmoor-Killer die Rede, was den Druck auf Detective Chief Inspector Caleb Hale erhöht.
Auch Detective Sergeant Kate Linville von Scotland Yard ist in der Gegend, um ihr ehemaliges Elternhaus zu verkaufen. Durch Zufall macht sie die Bekanntschaft von Amelies völlig verzweifelter Familie, wird zur unfreiwilligen Ermittlerin in einem Drama, das weder Anfang noch Ende zu haben scheint. Und dann fehlt plötzlich erneut von einem Mädchen jede Spur …
Autorin
Charlotte Link, geboren in Frankfurt/Main, ist die erfolgreichste deutsche Autorin der Gegenwart. Ihre Kriminalromane sind internationale Bestseller, auch Die Betrogene und zuletzt Die Entscheidung eroberten wieder auf Anhieb die SPIEGEL-Bestsellerliste. Allein in Deutschland wurden bislang 28,5 Millionen Bücher von Charlotte Link verkauft; ihre Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. Charlotte Link lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt/Main.
Von Charlotte Link bereits erschienen
Die Entscheidung · Die Betrogene · Im Tal des Fuches · Der Beobachter · Das andere Kind · Die letzte Spur · Das Echo der Schuld · Der fremde Gast · Am Ende des Schweigens · Die Täuschung · Die Rosenzüchterin · Das Haus der Schwestern · Der Verehrer · Die Sünde der Engel · Schattenspiel
Die Sturmzeit-Trilogie
Sturmzeit · Wilde Lupinen · Die Stunde der Erben
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Copyright © 2018 by Blanvalet
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Lektorat: Nicola Bartels
Covergestaltung: www.buerosued.de
Covermotiv: plainpicture/BY
NB · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-23205-4
V005
www.blanvalet.de
NOVEMBER 2013
1
Es war dunkel. Es war kalt. Und der Zug nach Scarborough war ihr direkt vor der Nase weggefahren. Der Zug, den sie mit ihrem Vater vereinbart hatte. Hannah hatte geschworen, dass sie ihn erreichen würde.
»Das wäre ja das erste Mal, dass du pünktlich bist«, hatte Ryan, ihr Vater, gesagt. »Ich bin nicht sicher, ob es eine gute Idee ist, dich alleine nach Hull fahren zu lassen.«
»Aber Granny wünscht es sich. Es ist ihr Geburtstag!«
»Du und Granny! Ich verstehe wirklich nicht, was du …« Den Rest des Satzes hatte Ryan verschluckt. Granny war seine Mutter, und er hatte noch nie ein gutes Verhältnis zu ihr gehabt. Hannah wusste nicht, woran das lag, aber da eigentlich niemand wirklich gut mit ihrem Vater auskam, dachte sie, dass es vor allem mit seinem Verhalten zusammenhing. Ryan war meistens schlecht gelaunt und behandelte andere Menschen unwirsch und kurz angebunden. Auch seine Frau hatte es mit ihm nicht ausgehalten: Als Hannah vier Jahre alt gewesen war, hatte sich ihre Mutter aus dem Staub gemacht.
Ryan hatte sich breitschlagen lassen, seine vierzehnjährige Tochter alleine mit dem Zug nach Kingston-upon-Hull fahren zu lassen, um die Großmutter an diesem verregneten Novembertag, einem Samstag, zu deren Geburtstag zu besuchen, aber er hatte sehr deutlich gemacht, dass ihm die ganze Aktion eigentlich gegen den Strich ging.
»Du bist ständig verträumt. Du bist immer unpünktlich. Du bringst nichts auf die Reihe. Ich frage mich wirklich, ob das gut gehen kann.«
Hannah wusste, dass ihr Vater ihr nichts zutraute, aber diesmal hatte sie sich nicht einschüchtern lassen. Hatte gebettelt und gequengelt und schließlich die Erlaubnis bekommen. Gemeinsam hatten sie die Züge von Scarborough nach Hull und zurück ausgesucht. In Scarborough wollte Ryan sie dann mit dem Auto abholen und mit ihr nach Staintondale fahren, wo sie wohnten, einem sehr kleinen Ort, zu dem es nichts als eine schlechte Busverbindung gab.
Der Zug war weg, daran war nicht zu rütteln. Hannah stand auf dem Bahnsteig und kämpfte mit den Tränen. Wie hatte das passieren können? Sie hatte sich so fest vorgenommen, ihren Vater nicht zu enttäuschen, sondern ihm zu beweisen, dass sie zuverlässig und selbstständig und schon ziemlich erwachsen war. Stattdessen bestätigte sie nun genau seine Vorurteile.
Sie wischte sich über die Augen. Heulen brachte jetzt nichts. Sie sprach einen Schaffner an und erfuhr, dass der nächste Zug nach Scarborough fast zwei Stunden später gehen würde. Es half nichts. Sie kramte ihr Handy aus der Tasche und rief ihren Vater an, der für eine Gebäudereinigungsfirma arbeitete und sich absichtlich für den Dienst an diesem Samstag hatte einteilen lassen. Wie zu erwarten gewesen war, reagierte er äußerst verärgert.
»Ich wollte dich um Viertel nach sieben abholen! Was soll ich denn jetzt zwei Stunden länger machen? Wir sind um sieben mit allem fertig! Herrgott, Hannah, warum ist es immer dasselbe mit dir? Was ist so schwer daran, einmal pünktlich loszugehen?«
Hannah schluckte. Was sollte sie dazu sagen? Granny hatte sie im letzten Moment noch gebeten, ihr die Wäsche aus der Waschmaschine zu holen und in den Korb zu legen, und vielleicht waren das die zuletzt fehlenden, entscheidenden zwei Minuten gewesen. Blieb die Tatsache, dass sie insgesamt zu knapp kalkuliert hatte. Wie immer.
»Wie immer!«, beendete ihr Vater gerade seine letzten Vorhaltungen, deren Inhalt an Hannahs Ohren vorbeigerauscht war. »Und weißt du was, jetzt sieh zu, wie du heimkommst! Ich habe ziemlich wenig Lust, immer bereitzustehen, wenn du wie üblich alles vermasselst!« Mit diesen Worten unterbrach er wütend die Verbindung.
Hannah überlegte, was sie nun tun sollte. Sie verließ mit langsamen Schritten den Bahnsteig, durchquerte das Bahnhofsgebäude, zögerte, als sie an einem Pumpkin-Café vorbeikam. Sie hatte ein bisschen Geld dabei, vielleicht könnte sie sich in das Café setzen, sich eine Cola und ein Muffin bestellen und einfach warten … Das wäre ungemein erwachsen. Aber dann dachte sie an die harte Stimme ihres Vaters, und wieder traten ihr die Tränen in die Augen. Sie würde zu ihrer Großmutter zurückgehen. Sie wollte von ihr in die Arme genommen und getröstet werden.
Hannah trat auf den Bahnhofsvorplatz hinaus. Vor ihr rauschte dichter Verkehr über den vierspurigen Ferensway – an diesem frühen Samstagabend nicht viel weniger als an normalen Werktagen. Die Dunkelheit war hereingebrochen, ein feiner Nieselregen hing in der kalten Luft. Sie zog schaudernd die Schultern zusammen.
Die Tragik der Situation bestand darin, dass dieses ganze Missgeschick Wasser auf den Mühlen ihres Vaters war. Es war furchtbar, aber Hannah schaffte es einfach nicht, Ryan davon zu überzeugen, dass sie kein kleines, dummes Mädchen mehr war. Ständig hatte er etwas an ihr auszusetzen, nörgelte, machte ihr Vorwürfe. Hannah fragte sich oft, wie ihr Leben wohl aussehen würde, wenn ihre Mutter noch da wäre. Sie hatte keine klare Erinnerung an sie, aber auf Fotos sah ihre Mutter jung und sehr hübsch aus, und sie hatte so ein schönes Lächeln. Irgendwie konnte Hannah nachvollziehen, weshalb sie sich von einem Mann wie Ryan getrennt hatte, aber sie fragte sich, weshalb sie gleich so weit fort hatte gehen müssen.
»Australien vermutlich«, hatte ihr Vater geknurrt, als Hannah ihn vor Jahren schüchtern gefragt hatte, wohin ihre Mutter denn gegangen sei. »Sie hat Verwandte dort.«
Es hatte nie wieder einen Kontakt gegeben.
Hannah steckte die Kopfhörer ihres Smartphones in die Ohren. Die hämmernden Bässe der Musik übertönten alles, den Verkehr, die Stimmen der Menschen. Sogar Ryans wütende Stimme, die noch immer in Hannahs Kopf herumgeisterte. Hannah hatte fast ständig die Kopfhörer im Ohr, auch wenn ihr Vater daran natürlich auch etwas auszusetzen hatte. Aber mit der Musik konnte sie abtauchen, all die Schwierigkeiten und Probleme ihres Lebens vergessen. Eine Zeitlang jedenfalls. Leider lösten sie sich ja nicht einfach in Luft auf. Sie kehrten zuverlässig immer wieder zurück.
Sie schrak heftig zusammen, als ihr jemand nachdrücklich auf die Schulter tippte, fuhr herum und nahm die Stöpsel aus den Ohren.
Sie blickte in die dunklen Augen eines jungen Mannes.
»Hannah?«, fragte der Mann. »Hannah Caswell?«
»Ja?« Wegen der Kapuze über seinem Kopf und den nassen Haarsträhnen, die ihm in die Augen fielen, erkannte sie ihn nicht sofort.
»Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte er. »Ich habe dich ein paar Mal angesprochen, aber du hast mich nicht gehört.«
Jetzt wusste sie, wer er war. Kevin Bent. Er wohnte auf einer stillgelegten Farm in Staintondale, nur ein paar Meilen von Hannah entfernt, zusammen mit seiner Mutter und einem älteren Bruder. Einen Vater gab es in der Familie nicht mehr, aber niemand wusste genau, was aus ihm geworden war. Ryan sprach über die Bents nur im Ton tiefster Verachtung und hatte Hannah den Umgang mit beiden Söhnen strikt verboten. Hannah begriff diese ablehnende Haltung nicht. Mrs. Bent war ganz nett, und dafür, dass sie an multipler Sklerose litt, sich nur noch im Rollstuhl bewegte und den Farmbetrieb völlig hatte einstellen müssen, konnte sie nichts. Die Bents lebten von der Sozialhilfe, aber dafür durfte man weder der Mutter noch den beiden Jungen die Schuld geben.
»Hallo, Kevin«, sagte sie. Sie hoffte, dass er die Tränenspuren auf ihren Wangen nicht sehen konnte. Er war immerhin schon neunzehn Jahre alt. Sie mochte nicht wie ein kleines, verheultes Mädchen vor ihm stehen.
»Bist du ganz alleine hier?«, fragte er.
Sie nickte. »Ja. Und gerade eben habe ich meinen Zug verpasst.«
Er schwenkte seinen Autoschlüssel. »Du könntest mitfahren. Jedenfalls bis nach Scarborough. Ich muss dann rüber nach Cropton zu Freunden, aber vielleicht könnte dich dein Vater in Scarborough abholen.«
Hannah überlegte. Wenn sie jetzt bei Kevin mitfuhr, würde sie fast zum ursprünglich vereinbarten Zeitpunkt in Scarborough ankommen. Ihrem Vater durfte sie natürlich nicht sagen, dass sie ausgerechnet bei Kevin Bent mitgefahren war, aber vielleicht fiel ihr noch irgendetwas ein, was sie stattdessen anbringen konnte. Vielleicht wäre Ryan sogar beeindruckt, wenn Hannah es trotz allem schaffte, nahezu pünktlich zu sein.
»Das ist aber ein ziemlicher Umweg für dich«, gab sie zu bedenken. »Du wärst von hier viel schneller in Cropton, wenn du nicht über Scarborough fährst.«
Er zuckte mit den Schultern. »Eine Viertelstunde. Mehr ist es nicht.«
Hannah vermutete, dass es mehr als eine Viertelstunde war, aber sie korrigierte ihn nicht. Sie fühlte sich ein wenig geschmeichelt. Der gutaussehende Kevin Bent würde ihretwegen Zeit verlieren, aber das schien ihn nicht zu stören. Ob ihm an ihrer Gesellschaft gelegen war? Sie konnte sich das kaum vorstellen. Wer war sie schon? Eine kleine graue Maus, an der noch nie ein Junge Interesse gezeigt hatte.
»Also, willst du oder nicht?«, fragte er.
Hannah gab sich einen Ruck. Sie fühlte sich vollkommen verunsichert, aber wenn sie jetzt ablehnte, würde sie sich später ärgern, das wusste sie genau.
»Ja. Das ist total nett von dir«, sagte sie.
Sie liefen nebeneinander her, überquerten eine Straße und erreichten einen großen Parkplatz, der voller Autos war. Kevin kramte ein Ticket hervor und bezahlte am Automaten, dann gingen sie über den Platz, bis Kevin vor einem kleinen, etwas zerbeulten, aber blitzsauberen Fiat stehen blieb. Er öffnete die Tür, und Hannah glitt auf den Beifahrersitz, erleichtert, der Situation zu entkommen. Sie wusste, dass ihr Vater nie erfahren durfte, dass sie sich von Kevin Bent hatte mitnehmen lassen. Aus irgendeinem Grund hegte er die feste Überzeugung, dass sämtliche Bents gefährliche Kriminelle waren, Taugenichtse und arbeitsscheues Gesindel sowieso, darüber hinaus aber auch Diebe und Betrüger und vielleicht Schlimmeres. Tatsächlich war Kevins Bruder acht Jahre zuvor ins Visier der Polizei geraten, als diese im Fall einer vergewaltigten Fünfzehnjährigen ermittelte, die auf dem Schulweg von mehreren Jugendlichen zum Mitgehen überredet und dann über Stunden in einer stillgelegten Fabrikhalle misshandelt und mehrfach sexuell missbraucht worden war. Kevins damals sechzehnjähriger Bruder hatte seine Beteiligung an der Tat stets abgestritten, und tatsächlich war ihm am Ende nichts nachzuweisen gewesen. Was Ryan natürlich nicht beeindruckt hatte. »Klar war er dabei«, hatte er gesagt, »grundlos hat sich die Polizei bestimmt nicht für ihn interessiert. Sie konnten ihm leider nichts nachweisen. Diese Typen gehören alle hinter Gitter.«
Kevin ließ den Motor an, sie fuhren vom Parkplatz und fädelten sich in den dichten Verkehr auf dem Ferensway ein.
»Ich hätte dich fast nicht erkannt«, sagte Kevin. »Du bist ganz schön gewachsen.«
Hannah errötete vor Freude. »Na ja, ich …« Oh Gott, wie konnte man so unbeholfen klingen wie sie? »Ich werde fünfzehn im nächsten April.«
»Donnerwetter!«, sagte Kevin. Sie warf ihm einen schnellen Seitenblick zu. Er grinste. Klar. Sie hörte sich an wie ein blödes kleines Schulmädchen, das die Tage bis zu seinem nächsten Geburtstag zählt.
Vergiss es, Hannah, sagte sie zu sich selbst, vergiss es, ihn beeindrucken zu wollen. Er ist einfach freundlich, und deshalb nimmt er dich mit, aber er findet absolut nichts an dir, und das wird er auch in Zukunft nicht, so wie du dich anstellst!
Sie sprachen nichts, bis sie den Stadtrand erreichten und auf die A165 bogen, die Straße, die von Hull nach Scarborough führte, streckenweise nahe am Meer, oft gesäumt von flachen, windzerzausten Hecken, die man aber jetzt im Dunkeln nicht sehen konnte. Es herrschte noch immer reger Verkehr, sie fuhren in einer Kolonne von Autos, und auch auf der anderen Seite reihte sich ein Fahrzeug an das andere. Sie würden fast eineinhalb Stunden unterwegs sein. Es war warm und gemütlich im Auto, aber Hannah fühlte sich so angespannt, dass sie inzwischen wünschte, sie hätte doch auf den nächsten Zug gewartet. Sie saß hier auf engstem Raum mit einem der attraktivsten jungen Männer in Scarborough zusammen – und sie wusste, dass es nicht nur sie war, die ihn so gut aussehend fand. Über Kevin wurde viel geredet, in der Schule und in den sozialen Netzwerken, über die sich die Mädchen aus Hannahs Umgebung austauschten. Jede hätte alles gegeben für ein Date mit ihm. Er wechselte seine Freundinnen ziemlich schnell und häufig. Zurzeit galt er als Single, was nicht hieß, dass er nicht irgendwelche Affären nebenher laufen hatte.
Hannah wusste, dass jede sie um diese Situation beneidet hätte, glühend, aber genauso wusste sie, dass sie es vermasseln würde. Sie war nicht wirklich attraktiv, fand sie, nicht so wie die anderen Mädchen. Etliche Pfund zu viel auf den Hüften, ein Gesicht mit kindlichen Pausbacken, unmögliche Klamotten. Ihr Vater bestimmte, was sie anzog, und er kaufte ihr die Sachen auch. Da es den Caswells ständig an Geld mangelte, war der möglichst niedrige Kaufpreis das einzige Kriterium, das seine Auswahl bestimmte. Und genauso waren die Sachen. Billig und formlos, nach wenigen Wäschen bereits ausgeblichen. Und immer mindestens eine Nummer zu groß, damit sie hineinwachsen konnte und man nicht so schnell etwas Neues kaufen musste.
Sie seufzte.
»Was hattest du in Hull zu tun?«, fragte Kevin unvermittelt. »So weit weg von zu Hause?«
»Ich habe meine Großmutter besucht. Sie wohnt dort.«
»Und dein Vater hat dich da ganz alleine hinfahren lassen?« Es war in Staintondale bekannt, dass Ryan Caswell sehr streng war und seine Tochter kaum einen unbewachten Schritt tun ließ. Als könnte sie bei der ersten Gelegenheit ebenfalls nach Australien durchbrennen, so wie Mrs. Caswell zehn Jahre zuvor. Die arme Hannah durfte praktisch keinen unkontrollierten Atemzug holen.
»Es war nicht leicht«, räumte Hannah ein. »Er wollte nicht, dass ich fahre. Er meinte, dass ich das am Ende wieder nicht hinkriegen würde. Das Schlimme ist …«
»Dass du jetzt wirklich den Zug verpasst hast«, vollendete Kevin ihren Satz, als sie stockte.
Sie nickte. »Ja. Mein Vater weiß jetzt wieder, dass er recht hat.«
»Ich glaube, du machst solche Fehler nur, weil er dir lange genug einredet, dass du sie machen wirst«, meinte Kevin. »Man kann Menschen jegliches Selbstvertrauen nehmen, und dann klappen die Dinge bei ihnen tatsächlich nicht mehr. Du solltest an dich glauben, Hannah. Dann würde alles gut werden.«
Sie dachte nach. »Es ist schwierig, an sich zu glauben«, sagte sie dann, »wenn …«
»Wenn man einen Vater wie deinen hat?«
»Es ist nicht nur mein Vater. Es ist auch … Ich meine, ich bin nun mal …«
Sie redete nicht weiter, spürte, dass er sie ansah. »Was bist du?«
Es war verkehrt, das zu sagen, aber es kam im Grunde auch nicht mehr darauf an. »Ich bin nicht wie die anderen Mädchen. Nicht so … cool.« Hübsch hatte sie eigentlich sagen wollen, aber das Wort hatte sie zum Glück noch verschluckt. Nicht, dass er das nicht von selbst feststellen konnte, aber direkt mit der Nase musste sie ihn trotzdem nicht darauf stoßen.
»Warum müssen alle cool sein?«, fragte Kevin. »Du hast irgendwie etwas Besonderes, Hannah. Du bist nicht wie alle anderen. Das finde ich viel interessanter!«
Sie schluckte. Meinte er das ernst?
Was sagte man jetzt in einer solchen Situation?
Die anderen wüssten es, dachte sie verzweifelt, sie wüssten es!
Wieder schwiegen sie beide. Inzwischen hatten sie zahlreiche Ortschaften passiert, und viele Autos waren bereits abgebogen. Die Straße wurde leerer. Wenn sie aus dem Fenster blickte, konnte Hannah die Wiesen ahnen, die sich am Horizont verloren. Irgendwo dahinter war das Meer.
So fühlt sich Freiheit an, dachte sie unvermittelt. Die Nacht. Kevin. Mein Vater, der keine Ahnung hat, wo ich bin.
Um irgendetwas zu sagen, fragte sie: »Was hast du in Hull getan?«
»Ein Kumpel von mir eröffnet dort ein Pub. Ich habe ihm heute beim Zusammenbauen und Aufstellen der Möbel geholfen. Morgen muss ich wieder hin.«
»Ah. Wie … nett von dir!«
»Ich kenne ihn schon ewig. Anfang Dezember ist die Eröffnung. Wenn du willst, bekommst du auch eine Einladung.«
Großer Gott. »Ich … na ja …«
»Eine Cola darfst du schon trinken, schätze ich.«
»Klar. Gerne. Danke.« Ihr Vater würde das nie im Leben erlauben. Ein Pub in Hull. Das von einem Freund Kevin Bents geführt wurde. Aussichtslos. Es sei denn, sie ließe sich eine Ausrede einfallen. Sie hatte eine Freundin, Sheila. Manchmal, manchmal erlaubte ihr Vater, dass sie bei ihr übernachtete. Wenn sie behauptete, bei Sheila zu schlafen, und stattdessen nach Hull fuhr?
»Könntest du mich mitnehmen?«, fragte sie. »Zu der Eröffnung, meine ich?«
»Natürlich. Meinst du, dein Vater erlaubt es?«
»Nein. Aber er muss es nicht erfahren.« Das klang jetzt definitiv cool, fand Hannah.
Kevin grinste wieder. »Okay. Wenn du das hinbekommst.«
Außer ihnen waren nur noch wenige Autos unterwegs. Kevin drehte das Autoradio an. Ariana Grande.
»Magst du diese Musik?«, fragte Kevin.
»Ja. Total gerne.«
Sie schwiegen beide. Die Musik war laut. Sie erfüllte den ganzen Wagen. Draußen glitt die Dunkelheit vorbei.
Vielleicht, dachte Hannah, fängt jetzt ein neues Leben für mich an. Irgendwie.
2
Es war kurz nach sieben, als sie in Scarborough ankamen. Kevin fuhr sie zum Bahnhof. Er hatte sie gefragt, ob sie nicht ihren Vater anrufen und von ihrer früheren Rückkehr unterrichten wollte, aber Hannah hatte, möglichst leichthin klingend, geantwortet, er sei noch in den Büroräumen der Reinigungsfirma, und dort werde sie nun ebenfalls hingehen. Es war natürlich völlig undenkbar, ihn aus dem Auto anzurufen. Er hätte sofort wissen wollen, wer sie da mitnahm, und selbst wenn sie ihm nicht Kevin Bents Namen genannt hätte, wäre er wütend geworden. Er hatte ihr eingeschärft, niemals, niemals zu jemandem ins Auto zu steigen, es sei denn, sie kannte die betreffende Person sehr gut. Einen guten Bekannten konnte sie jedoch nicht vorgeben, weil das Risiko bestand, dass ihr Vater sich bei diesem vergewissert hätte. Ryan Caswell misstraute Gott und der Welt.
Die große Frage war überhaupt, was sie nun sagen sollte. Hannah hatte sich den Kopf zerbrochen, aber nun stellte sich das Schicksal überraschend auf ihre Seite: Sie erreichten den Bahnhof nahezu zeitgleich mit der Ankunft des Zuges, den sie ursprünglich hatte nehmen wollen. Sie konnte behaupten, ihn in letzter Sekunde doch noch erwischt zu haben. Ihr Vater würde mosern, weil sie ihn deswegen nicht angerufen hatte, aber den Vorwurf konnte sie wegstecken. Besser als alles andere.
»Wo ist denn diese Firma?«, fragte Kevin. »Ich könnte dich direkt dort absetzen.«
»Nein, der Bahnhof ist schon gut. Ich sage meinem Vater, ich bin doch mit dem Zug gekommen.«
»Okay.« Er hielt an. »Und du gehst wirklich dorthin?«, vergewisserte er sich. »Zu deinem Vater?«
»Ja, natürlich.« Ihr Vater war vermutlich heimgefahren, aber das brauchte Kevin nicht zu wissen. Sie würde ihn anrufen, er würde sich aufregen, dass er nun wieder zurückfahren musste, er würde sie fragen, ob sie eigentlich ihren Kopf gelegentlich noch einschaltete, aber er würde sie letzten Endes abholen.
Sie stieg aus, schauderte. Die feuchtkalte Luft war doppelt unangenehm nach der Fahrt in dem warmen Auto. Kevin neigte sich über ihren Sitz. »Wir sprechen noch wegen der Eröffnung, okay?«
»Ja, unbedingt!«
»Du trampst nicht nach Staintondale, versprochen? Das ist gefährlich!«
»Bestimmt nicht.«
»Gut. Bis bald, Hannah. Schönen Abend noch.«
Sie schloss die Tür, sah seinem Auto nach.
Liebe Güte, war das wirklich passiert? Sie hatte in gewisser Weise ein Date mit Kevin Bent. Nicht gerade ein romantisches nur zu zweit, weil sie ja zu einem Fest gehen würden, aber immerhin. Sie würde mit ihm zusammen ausgehen. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass ein Junge sie gefragt hatte, ob sie irgendwohin mit ihm gehen wollte. Und dann auch noch Kevin! Aufgeregt kramte sie ihr Smartphone aus der Jeanstasche. Sie würde platzen, wenn sie das nicht auf der Stelle Sheila erzählte.
Sheila, die man von ihrem Handy nur durch eine Amputation hätte trennen können, meldete sich sofort.
»Hi! Was gibt’s?«
»Ich bin am Bahnhof in Scarborough. Ich war in Hull. Rate, wie ich hierhergekommen bin.«
»Mit dem Zug, schätze ich«, entgegnete Sheila etwas gelangweilt.
»Nein. Ich habe in Hull jemanden getroffen, der mich mit dem Auto mitgenommen hat.«
»Wen denn?« Sheila klang genervt.
Hannah genoss den Moment. »Kevin.«
Sheila schwieg einen Augenblick. Dann fragte sie völlig perplex: »Bent? Kevin Bent?«
»Ja. Genau den.«
»Das ist ja ein Ding. Kevin Bent hat dich im Auto mitgenommen? Wie hast du denn das geschafft?«
»Ich musste gar nichts schaffen. Wir sind uns begegnet, und er hat mich gefragt, ob ich mitfahren möchte.«
»Du hast ja vielleicht Glück!« Es gelang Sheila kaum, ihren Neid zu verbergen. »Und wie war er? Wie warst du? Hoffentlich nicht wieder zu schüchtern, um den Mund aufzumachen.«
Das war genau die Befürchtung, die Hannah hegte.
»Nun, ich …«
»Nicht, dass er sich mit dir vielleicht gelangweilt hat?«, fragte Sheila.
Für eine beste Freundin verhielt sie sich nicht gerade ausgesprochen nett, fand Hannah. Es mochte der Neid sein, der aus ihr sprach, aber unglücklicherweise kannte sie Hannahs wunde Punkte nur zu gut und traf sie zielsicher.
Hannah beschloss, ihren nächsten Trumpf auszuspielen. »Ich glaube eigentlich nicht, dass er sich mit mir gelangweilt hat. Er hat sich mit mir verabredet. Für Anfang Dezember.«
»Was?«
»Eine Party.« Das klang, fand Hannah, besser als eine Puberöffnung. »Er hat mich gefragt, ob ich mit ihm dorthin gehe.«
»Kevin Bent will mit dir zu einer Party gehen?«, fragte Sheila so ungläubig, dass Hannah es erneut als verletzend empfand.
»Ja.«
»Ich fasse es nicht. Echt! Kevin und du …«
»Das Problem ist mein Vater«, sagte Hannah. »Er wird es nicht erlauben.«
»Das wird er garantiert nicht«, stimmte Sheila fast erleichtert zu.
»Deshalb dachte ich, ich sage ihm, dass ich bei dir übernachte. Was meinst du? Würdest du mitmachen?«
»Hm.« Sheila war anzumerken, wie sehr ihr ihre Rolle bei diesem Spiel missfiel. Hannah begleitete Kevin Bent – den attraktivsten jungen Mann der ganzen Region – zu einer Party, und sie, Sheila, saß zu Hause und gab lediglich das Alibi ab. Sie fand sich hübscher und cooler als Hannah, tougher und schlagfertiger, und sie hatte viel bessere Klamotten. Wo, zum Teufel, hatte Kevin denn seine Augen?
Als könnte sie Gedanken lesen, fragte Hannah: »Und kannst du mir auch etwas zum Anziehen leihen? Du weißt ja, meine Sachen …«
»In denen kannst du nicht gehen, die sind völlig unmöglich. Mich wundert, dass Kevin das offenbar heute gar nicht gestört hat. Ich meine, seine letzte Freundin sah echt gut aus und war super angezogen …«
Hannah empfand jedes einzelne Wort wie eine Ohrfeige, aber sie bemühte sich, es Sheila nicht merken zu lassen. »Hilfst du mir nun oder nicht?«
Sheila schien zu begreifen, dass ihr nichts anderes übrig blieb, wollte sie sich nicht als schlechte Freundin erweisen. Zudem sicherte sie sich Informationen aus erster Hand, wenn sie als Unterstützerin fungierte.
»Okay«, meinte sie gedehnt.
»Danke. Du bist ein Schatz!«
»Wieso hat er dich eigentlich nicht mit nach Staintondale genommen? Er wohnt doch auch dort draußen.«
»Er musste weiter nach Cropton. Zu Freunden. Außerdem – wie hätte ich das meinem Vater erklären sollen? So kann ich behaupten, dass ich mit dem Zug gekommen bin.«
Das sah Sheila ein. Sie redeten noch ein paar Minuten, Sheila wollte jedes Detail der Fahrt und der Unterhaltung wissen, dann verabschiedeten sie sich voneinander, und Hannah wählte die Nummer ihres Vaters. Zuerst seine Handynummer, und als sich dort niemand meldete, versuchte sie es zu Hause. Auch nichts. Bei beiden Anschlüssen landete sie auf der Mailbox, hinterließ jedoch keine Nachricht.
Auch bei ihren zweiten, dritten, vierten Versuchen hatte sie kein Glück. Ihr Vater meldete sich nicht.
Hannah überlegte, was sie tun sollte. War ihr Vater so wütend, dass er absichtlich nicht reagierte? Oder war er unterwegs und steckte in einem Funkloch?
Sie stand vor dem backsteinernen Bahnhofsgebäude mit dem hohen Turm, den eine große Uhr und eine imposante Kuppel zierten, und merkte, wie sie in dieser ungemütlichen Mischung aus Nebel und feinstem Nieselregen immer mehr fror. Es waren wenig Menschen an diesem Samstagabend um diese Uhrzeit am Bahnhof, kaum jemand auf dem Platz davor. Wer konnte, blieb daheim und machte es sich vor dem Kamin gemütlich. Bei all der freudigen Aufregung der letzten beiden Stunden merkte Hannah, wie Müdigkeit und Ängstlichkeit in ihr aufstiegen. Ihr Vater rechnete viel später mit ihr; was, wenn er bis dahin unerreichbar blieb?
Sie konnte in das Innere des Bahnhofs gehen und dort warten; immerhin würde sie dort Schutz vor der Kälte und der Nässe finden. Auch hier gab es ein Pumpkin Café. Aber die Vorstellung, dort bis fast neun Uhr alleine zu sitzen, war wenig verlockend.
Sie versuchte es noch einmal bei ihrem Vater, erneut ohne Erfolg.
Unschlüssig tat sie ein paar Schritte die Straße entlang, da hielt ein Auto neben ihr. Die Scheibe wurde hinuntergelassen.
»Hannah!«
Sie blieb stehen.
3
Dustin Walker hatte den Zug von London King’s Cross nach Scarborough als Schaffner begleitet und war froh, pünktlich um halb zehn angekommen zu sein. Mit schnellen Schritten ging er den Bahnsteig entlang. Er wollte so rasch wie möglich nach Hause. Der Tag war lang gewesen, jeder zweite Mitreisende im Zug hatte eine Erkältung gehabt. Dustin war von Husten und Triefnasen umgeben gewesen. Daheim musste er schnell ein paar Vitamine einwerfen. Er hoffte, dass er sich nicht bereits angesteckt hatte.
Ein Mann trat ihm in den Weg, er wollte ausweichen, aber der Mann machte ebenfalls einen Schritt zur Seite. Dustin blieb genervt stehen.
»Ja?«, fragte er.
»Der Zug aus Hull ist längst angekommen«, sagte der Mann. Er sah sehr blass aus. Die Augen waren weit aufgerissen und verstört. »Pünktlich. Vor einer Dreiviertelstunde.«
»Das kann sein. Ich komme gerade aus London«, sagte Dustin.
»Meine Tochter hätte in dem Zug sein müssen. Sie ist nicht angekommen!«
»Ich kann Ihnen da nicht helfen. Wie gesagt, ich bin eben aus London …«
»Niemand kann mir helfen!«, rief der Mann. Er schien dicht vor einem Panikanfall zu stehen. »Im Reisecenter ist niemand mehr. Ich habe die Notfalltaste am Help Point gedrückt, aber dort wusste man auch nichts. Niemand ist zuständig!«
Dustin war auch nicht zuständig, aber der Mann tat ihm leid.
»Ihre Tochter wollte aus Hull kommen?«, fragte er.
»Ja. Sie ist vierzehn Jahre alt. Sie wollte eigentlich einen Zug früher kommen, aber den hat sie versäumt. Sie hat mich angerufen, wir haben vereinbart, dass sie den nächsten nimmt. Aber da war sie nicht.«
»Waren Sie rechtzeitig am Gleis? Vielleicht ist sie irgendwohin gegangen, um …«
»Ich war pünktlich! Ich war sogar zehn Minuten zu früh da. Ich stand am richtigen Gleis. Der Zug kam. Aber sie ist nicht ausgestiegen!«
»Vielleicht haben Sie einander einfach im Gedränge verfehlt. Das kommt doch vor.«
»Aber dann müsste sie ja irgendwo sein. Ich habe inzwischen den ganzen Bahnhof abgesucht. Ich war sogar in den Damentoiletten. Sie ist nirgends. Ich war auch draußen vor dem Bahnhof, ich habe überall nachgeschaut, sie ist nicht hier.«
»Hat Ihre Tochter ein Handy?«
»Ja. Ich habe sie immer wieder angerufen. Aber es meldet sich nur die Mailbox.«
Dustin seufzte. Er nahm an, dass sich dieser Vater zu Unrecht Sorgen machte. Dem Mädchen war vermutlich nichts passiert, aber die heutigen Vierzehnjährigen … Wahrscheinlich hatte sie einen Freund, mit dem sie gerade irgendwo die Zeit vergaß.
»Was hat sie denn in Hull gemacht?«, fragte er.
»Sie hat ihre Großmutter besucht. Bei ihr habe ich natürlich inzwischen auch schon angerufen, aber da ist sie nicht. Ich habe zum letzten Mal mit ihr gesprochen, als sie mir sagte, dass sie den Zug verpasst hat.«
»Danach hat sie sich nicht mehr gemeldet?«
»Sie hat mich mehrfach versucht anzurufen. Zwischen zehn nach sieben und zwanzig nach sieben. Ich saß in meinem Auto, unten am Meer, unterhalb der Burg. Offensichtlich hatte ich dort keinen Empfang, deshalb habe ich viel zu spät gesehen, dass sie es versucht hat … Aber sie hat keine Nachricht hinterlassen. Ich weiß nicht, von wo sie angerufen hat und worum es ging.«
Dustin seufzte erneut. Wäre er bloß nicht stehen geblieben. Jetzt hatte er diesen Mann am Hals.
»Hören Sie, Mr. …?«
»Caswell. Ryan Caswell. Ich wohne draußen in Staintondale, zusammen mit Hannah. Meiner Tochter. Ich bin alleinerziehend. Ich arbeite für eine Gebäudereinigungsfirma. Ich habe heute bis kurz vor sieben gearbeitet, dann wollte ich Hannah eigentlich hier abholen. Aber dann … musste ich warten. Auf den nächsten Zug.«
Bisschen komischer Typ, dachte Dustin, wartet bei dieser Kälte fast zwei Stunden lang in seinem Auto irgendwo unten am Meer, anstatt sich in ein Pub zu setzen und wenigstens einen heißen Tee zu trinken. Geizig bis zum Anschlag wahrscheinlich … Wundert mich nicht, dass das Mädchen nicht allzu viel Lust verspürt, nach Hause zu kommen …
»Ich war ziemlich verärgert, als sie mir sagte, dass es später wird«, sagte Ryan Caswell leise. »Ich habe gedroht, sie nun gar nicht abzuholen. Ich war wütend, weil sie immer … Sie ist so verträumt. Ständig vergisst sie irgendetwas, verliert etwas … Es war so typisch, dass das mit dem Zug jetzt auch wieder schiefging. So dermaßen typisch!«
»Armes Ding«, murmelte Dustin lautlos.
»Aber deswegen würde sie nicht weglaufen«, fuhr Caswell fort. »Sie ist … wirklich noch ein Kind. Ich weiß, wie frühreif heutzutage viele Vierzehnjährige sind, aber meine Hannah ist ganz anders. Verspielt, kindlich …«
Manchmal täuschen sich Eltern, was das betrifft, dachte Dustin, aber laut sagte er: »Hat Hannah Freunde? Oder eine beste Freundin? Jemand, zu dem sie gegangen sein könnte?«
»Sie kann doch hier zu niemandem gegangen sein«, sagte Caswell, »dann hätte sie doch mit diesem Zug kommen müssen.«
»Keine Ahnung. Zumindest hat sie einer Freundin vielleicht Bescheid gesagt, wo sie ist. Nachdem sie Sie ja nicht erreichen konnte.«
Hoffnung glomm in Ryan Caswells Augen. »Sheila«, sagte er. »Sheila Lewis. Das ist ihre beste Freundin hier in Scarborough.« Schon tippte er auf seinem Handy herum. Dustin überlegte, dass er nun eigentlich weitergehen könnte, aber irgendetwas – seine idiotische Gutmütigkeit, wie er fand – hinderte ihn daran, diesen aufgelösten Mann einfach sich selbst zu überlassen. Irgendwie hatte er sich in ein Gefühl von Verantwortung manövrieren lassen.
»Sheila, hier ist Ryan. Ryan Caswell!«, rief Caswell in sein Telefon. Er schrie es fast. »Weißt du, wo Hannah ist? Ich bin am Bahnhof. Sie hätte im Zug von Hull vor fünfundvierzig Minuten sein müssen, aber … Ja. Nein, sie ist nicht hier. Wieso?«
Er lauschte. »Ich verstehe nicht … Kannst du bitte aufhören, herumzustottern? Weißt du, wo sie ist, oder nicht? Hör mal zu, Sheila, wenn Hannah etwas passiert ist und du hältst jetzt aus falsch verstandener Freundschaft den Mund, dann wirst du Schwierigkeiten bekommen. Richtig schlimme Schwierigkeiten, das kann ich dir versprechen!«
Der Kerl war echt unangenehm, fand Dustin. Ganz offensichtlich wusste diese Sheila irgendetwas und stammelte herum, und es brachte doch nichts, sie dermaßen unter Druck zu setzen. Aber das war die Art von diesem Caswell. Das drückte sich schon in seinen Gesichtszügen aus. Verbittert. Chronisch schlecht gelaunt. Mit sich und der Welt im Unreinen.
Caswell lauschte wieder. Dann schnappte er nach Luft. »Was? Was sagst du da?«
Oh je, oh je, dachte Dustin.
»Sie ist bei wem mitgefahren?«, schrie Caswell. Die wenigen Reisenden, die noch auf den Bahnsteigen unterwegs waren, drehten sich um.
»Das kann nicht wahr sein! Das kann nicht wahr sein! Und jetzt ist sie weg! Verschwunden!« Caswell beendete abrupt das Gespräch und wandte sich Dustin zu. Er sah aus, als wäre er dem Teufel persönlich begegnet.
»Sie ist bei Kevin Bent mitgefahren! Im Auto!«
Dustin wusste nicht, wer Kevin Bent war, aber allem Anschein nach stellte die Tatsache, dass seine Tochter zu diesem Mann ins Auto gestiegen war, eine Art Super-GAU für Ryan Caswell dar.
»Ein gefährlicher Krimineller. Sein Bruder war wegen Vergewaltigung angeklagt.« Caswell tippte erneut eine Nummer in sein Handy. »Ich rufe jetzt sofort die Polizei an!«
TEIL 1