DER
HEXENSTEIN
Absturz ins Reich der
dämonischen Finsternis
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Die Teufelsbraut
Der Neidberger
Der Hexenstein
Das runde Häusl
Der Mönch
Der Exorzismus
Das Satansgold
Die Wetterfichte
Die schwarze Salbe
Die Denunziation
Der Drache
Die Feuersbrunst
Das Tribunal
Die Hintergründe
Der Scheiterhaufen
Nachwort
»Dämonen haben den
abscheulichen Felsen gepflanzt …
jeder Christenmensch muss
sich hüten vor ihm …
sonst krallen die im alten Grund lauernden
Unholden ihm ihre Fänge ins Fleisch …
und fressen und fetzen ihm
die Seele aus dem Leib …«
Herbst 1681
Widernatürlich früh war die Abenddämmerung hereingebrochen; seitdem fegte die Wilde Jagd durch das abgelegene Tal tief im Herzen des großen bayerisch-böhmischen Waldgebirges. Der seltsam dämpfige Sturm ließ das Wasserrad der Einöd-Mühle grob in seinen Verankerungen knarren, wühlte in den Stroh- und Schindeldächern der umstehenden Gebäude, peitschte unter heulendem Klagen und dann wieder gefährlichem Röhren die Wipfel der Hofbäume gegen die Firste.
Im Stall brachte das Unwetter die Laterne auf gespenstische Weise zum Tanzen. Wie Geisterfinger huschten die irrlichternden Schatten über die Gestalt der Viehmagd hin. Geduckt, ängstlich zusammengekrümmt, kauerte sie im Dung zwischen den Rindern: mühte sich mit zitternden Händen ab, die hölzerne Milchbütte zu füllen. Doch dann, als das Toben der teuflischen Reiter draußen jäh beklemmend nahe kam und direkt über den Stall hereinzubrechen schien, bockte die große rote Kuh in Panik und schleuderte die junge Frau gegen die Wand. Der Kübel kippte um, die fahle Farbe der Milch mischte sich mit dem dunklen Seim der Jauche.
Im selben Moment ließ ein hereinfauchender Luftzug die Stalltür aufschmettern. Die Magd, betäubt vom Sturz, sah das Geschehen wie durch pludernde Schleier – und aus diesem Wabern und Schlieren gebar sich jetzt das Dämonische aus: die luziferische Fratze.
„Nein!“, heulte die Frau auf. „Steht mir bei, ihr guten Geister, ihr Heiligen!“ Sie erinnerte sich der kirchlichen Beschwörungsformel und kreischte verballhornt: „Appacke Sattan!“
Aber die satanische Kreatur wich nicht zurück; der erstickte Schrei ging unter im gierigen Ansprung des Bösen. Wieder bockte die Rote und stampfte wild um sich; gleich darauf hatten die haarigen, grausam zupackenden Klauen des ungleich gefährlicheren Wesens das junge Weib in die Futterraufe gezwungen; mit dem nächsten Herzschlag fiel der Dämon zähnefletschend über die Viehmagd her.
Die Hauer und Krallen missbrauchten ihr Fleisch: ihre Brüste im zerfetzten Mieder und fast unmittelbar darauf ihren zuckenden und sich bäumenden Schoß. Sie schrie schrill auf, als dort unten der reißende Schmerz in sie drang und das Glied, das wie ein eisiges Messer war, sie schändete.
Sie wand sich hektisch, trat verzweifelt um sich, versuchte, das Grauenhafte abzuwerfen – doch der finstere Schatten war unendlich stärker. Sie war vor allem deswegen so hilflos gegen ihn, weil diese lähmenden schwarzen Nebel von ihm ausströmten; diese Pfuhlklebrigkeit, die ihr die Seele gleich einem geschockten Tier bannte. Und deswegen erstarrte sie zuletzt unter dem wilden Ansturm dieses von der Finsternis ausgeborenen Wesens. Ihr Denken und Empfinden verwich, nur die pfuhligen Nebel waren noch existent: die höllengeborene Aura, die jetzt in einem blasphemischen Rhythmus um sie pulste und sie durchströmte wie Schlangen- oder Spinnengift.
Erst als der Luziferische sich – scheinbar nach einer Ewigkeit – keckernd und drohend wieder von ihr löste, zerfaserte auch das über ihr lastende widergöttliche Gespinst. Wie im Tiefsten vernichtet, brach sie aus dem vom Dämon über sie geschlagenen Kokon aus. Sie taumelte hoch; sah die blutenden Male an ihrem Leib, die ihr bewiesen, dass die Heimsuchung kein Wahn, sondern beklemmende Realität gewesen war. Und neuerlich mischte sich ihr schriller, entsetzter Schrei mit dem Toben der Wilden Jagd draußen.
• • •
„Still, Mariann! Nicht ankämpfen dagegen! Es hilft dir nichts, wenn du brüllst wie am Spieß! Dir in deiner Angst die Lippen blutig beißt! Ruhig sein, langsam atmen! Hast’s doch oft genug bei den Kühen im Stall gesehen, wie’s geht …“
Mit hornigen Fingern massierte die Waldfrau den schweißgebadeten Leib der Marianne Dickh, die sich nach der Wehe in Panik auf dem Strohsack krümmte. Die flackernden Kienspäne an den Balkenwänden der Gesindekammer malten bizarre Muster über den halbnackten Körper der Stallmagd. „Die Tiere verkrampfen sich auch nicht, wenn ihre Stunde gekommen ist“, setzte die ältere Frau hinzu. „Musst dir’s nicht schwerer machen als sie! Bist ein junges, gesundes Weib! Brauchst dich vor gar nichts zu fürchten …“
Gequält stöhnte die Gebärende auf. Stöhnte, ganz wie vor neun Monaten, verzweifelt an gegen das satanische Gespinst, das ihr auch jetzt wieder die Seele abwürgen wollte. Die Worte der Wehmutter waren lediglich wie weit entferntes Sturmpludern an die Schranken ihres Bewusstseins gedrungen. Viel stärker waren erneut das Grauen und die fürchterliche Erinnerung an die dämonische Fratze; hinzu kam, ebenfalls ganz wie damals, das eisige Messern in ihrem Schoß. Und deswegen brach es jetzt aus ihr heraus: „Sterben werd’ ich … Verrecken, weil ich’s mit dem Teufel getrieben hab’ … Genau vor einem dreiviertel Jahr …“
„Um Gotteswillen, Mariann!“ Die eben noch beherrschte Stimme der Waldfrau klang nun ängstlich zischelnd. „Der Wahn einer Kreißenden ist’s, der dir das eingibt! Bist keine Teufelsbuhlin! Wie kommst du darauf, dass du’s mit dem Satan getrieben hättest?! Höchstens, dass der Leibhaftige dir das jetzt einzureden versucht …“
Sie bekreuzigte sich; raunte, nahe am Ohr der Viehmagd jetzt: „Der Leibhaftige gibt dir’s ein, weil er dich auf den Scheiterhaufen treiben will! Als eine Hexe! Samt deinem unschuldigen Balg! Und schreist du’s weiterhin heraus und hören es die Falschen, der Müller oder sein Weib etwa oder gar der Pfarrer, dann könnte es wahrhaftig noch so weit kommen! Also, sei still, Mariann! Und tu’ einfach das, was dir aufgegeben ist! Bring das Kind zur Welt, auch wenn’s ein lediges Balg ist! Ist trotzdem zu schade für den Scheiterhaufen, und du auch …“
Der Schock und dazu die Furcht in der Stimme der anderen Frau holten die Viehmagd in die Wirklichkeit zurück. Die pfuhlige Umstrickung wich endgültig von ihr. „Ich hab’ nichts gesagt – und du hast nichts gehört, ja?!“, keuchte Marianne Dickh. „Schwör’s mir bei deiner ewigen Seligkeit!“
„Von mir erfährt keiner was … Ich hab’s im Wald gelernt, das Maul zu halten … Wenn man dort als Kräuterweib in der Hütte lebt und nicht vorsichtig ist, kommt man allzu schnell ins Gerede … Kannst dich auf mich verlassen …“, murmelte die Wehmutter.
Sie wandte sich, während die Gebärende mit verkniffenen Lippen nickte, der Fensterluke zwischen den Balken der Kammerwand zu; in dem schwarzen Viereck malte sich die kaum wahrnehmbare Ahnung eines lichteren Scheins. „Der Tag will kommen“, sagte sie. „Und mit dem Tag kommt dein Kind. Glaub mir’s nur. Trotzdem gebe ich dir jetzt noch einmal den Sud, damit du’s leichter hast …“
Weicher Duft von Lavendel und Kamille mischte sich mit dem strengeren von wildem Thymian, Fenchel und Mohn, als die Alte den Pfropfen aus der Tonflasche zog und die Flüssigkeit in die Holzschale gluckern ließ. Mit zittrigen Händen griff die Kreißende zu, die Wehmutter unterstützte sie beim Schlürfen; wenig später entspannte der aufgewölbte Leib der jungen Frau sich.
„Siehst du, die Kräuter helfen immer; darfst dich bloß nicht gegen sie wehren“, mahnte die Alte. „Und jetzt lass ganz einfach die nächste Wehe kommen … Ruhig atmen und Kraft sammeln … Und dann mitgehen mit der Welle in deinem Leib … Mitgehen, statt dass du dich dagegen aufbäumst …“
Nicht aufbäumen …?, dachte die Gebärende benommen. Aber ich hab’ mich doch aufbäumen müssen gegen den Teufel … Hab’ doch mindestens das versuchen müssen … Wenn der Herrgott schon das andere zugelassen hat …
Noch einmal wollte die Erinnerung an das Gotteslästerliche sie übermannen – doch im nächsten Augenblick schwemmte der erneute schmerzliche Ansturm in ihrem Schoß all ihr Denken hinweg. Jetzt – und es war beinahe wie eine Gnade – zählte nur noch das Überwinden der unsäglichen körperlichen Pein. Der einen Pein und dann der nächsten; wieder und wieder in immer schnellerer Folge. Schier endlos, bis der viereckige Rahmen inmitten der Wandbalken scharf gegen das wässrige Rot draußen abstach und das Reißen im Leib der Kreißenden völlig unerträglich wurde. Dermaßen unerträglich, dass sie wie ohnmächtig auf den durchfeuchteten Strohsack zurückfiel, sich dabei in ihrer Qual unbewusst die eigenen Fäuste wund biss. Ehe ihr aber die Sinne völlig schwanden, spürte sie, wie der Schmerz sich urplötzlich teilte; sie ahnte auch, dass die erfahrenen Hände der Waldfrau zugriffen. Gleich darauf ebbte die Pein völlig ab; nur ein tiefes, warmes Gefühl der Erlösung blieb.
Eine Weile später, nach dem dünnen Plärren und dem Wasserplätschern, drang die Stimme der Alten durch die schmelzende Dunkelheit: „Es ist ein Mädchen, Mariann! Ein gesundes Wurm mit geraden Gliedern …“
Ehe die Mutter noch fragen konnte, setzte die Kräuterkundige flüsternd hinzu: „Und keine Spur von einem Teufelsmal …“
„Kein schwarzes Geschwür?! Kein Blutknoten?! Auch sonst kein Malefizzeichen?! Wirklich nichts?!“, brach es aus der jungen Frau heraus
„Kannst es selbst nachprüfen!“, beharrte die andere. „Musst dein Kind nur zu dir nehmen …“
Ihre Schwäche überwindend, griff Marianne Dickh zu und zog den Säugling an ihre Brust. Als sie das verschrumpelte und dennoch so makellose Körperchen küsste, dachte sie nicht mehr an die grauenvolle Finsternis jener Nacht und den Dämon, der aus dem Sturmbrausen heraus über sie hergefallen war. Denn jetzt zählte allein noch das unschuldige Bündel Leben in ihren Armen.
• • •
„Und du willst den Kindsvater nicht angeben?! Auch wenn ich dich in meiner Eigenschaft als Priester der heiligen katholischen Kirche ausdrücklich dazu ermahne?!“ Missbilligung und Verachtung schwangen allzu deutlich in der Stimme des Dorfpfarrers mit.
Marianne Dickh, die ihre mittlerweile vier Wochen alte Tochter ganz allein den weiten Weg von der Einöde zur Kirche geschleppt hatte, schüttelte trotzig den Kopf. „Ich hab’s Euch vorhin schon gesagt, Hochwürden! Es geht keinen was an! Ich will nicht ins Gerede kommen dadurch, dass ich den … Vater benenne!“
„Dann eben nicht!“, raunzte der Pfarrer. „Dann treib’ die Hurerei halt weiter und rede dir ein, dass der Herrgott es dir und deinen Böcken einfach so durchgehen lässt! Wirst deine Strafe schon noch bekommen; wenn nicht im Diesseits, dann in der Ewigkeit …“
Er wandte sich schroff ab, schlug das Kirchenbuch auf, saugte am Gänsekiel, tunkte die Feder ins Tintenfass und schrieb, die einzelnen Satzfetzen schmallippig mitmurmelnd: „Anno Domini 1680, den 29. Novembrii … Allhier in der Kirche zu Ringolay, Fürstbischöfliches Pflegamt Perlesreuth, Kurfürstentum Bayern … Wird vom Kuraten getauft das Kind der ledigen Viehmagd Maria-Anna Dickhin … Von der Haindlmühle in der Einöd … Auf den Namen Afram … Wird genannt Afra Dickhin, gleich der Mutter … Indem die Maria-Anna Dickhin sich weigert, den Namen des Kindsvaters anzugeben …“
Der Sand rieselte aufs Pergament; mit wütender Gebärde fegte die Hand des Priesters darüber hin. Das Wickelkind in Mariannes Armen zuckte bei dem harsch kratzenden Geräusch zusammen und begann zu greinen. Es plärrte noch lauter, als der Dorfpfarrer das Sakrament vollzog: hastig und lieblos.
Sofort danach verlangte der Priester von Ringolay seinen weltlichen Lohn: einen vollen Gulden Taufgeld. Die Viehmagd, die im ganzen Jahr mit nicht mehr als der vierfachen Summe abgespeist wurde, schien dennoch erleichtert, als sie die abgegriffenen Münzen neben das Taufbuch auf dem Betpult klirren ließ. Den wimmernden Säugling wieder im Umschlagtuch, verließ sie die Kirche sodann wie auf der Flucht; warf lediglich noch ein klägliches „Vergelt’s Gott, Hochwürden!“ über die Schulter zurück.
„Sich mit den Knechten oder gar den Bauern im Stroh wälzen und dann mit der Sündenfrucht zu uns geschlichen kommen, damit wir wenigstens das Wurm wieder christlich machen – pfui Teufel!“, raunzte der Pfarrherr hinter ihr her und bekreuzigte sich.
Dann erinnerte er sich an das Taufgeld, sackte es ein und setzte, während die Gestalt draußen vom Nebel verschluckt wurde, murmelnd hinzu: „Als ob die eigentliche Sünde damit aus der Welt geschafft wäre! Außer wenn die göttliche Gerechtigkeit letztlich dafür sorgt. Weil sie ihre Leibesfrucht verkommen lassen, die Teufelsbräute. Und weil deswegen sowieso höchstens eins von drei solchen Hurenbälgern das erste Jahr überlebt …“
• • •
Afra, die unehelich geborene Tochter der Viehmagd Marianne Dickh, erlebte nicht nur ihr erstes Jahr, sondern auch die folgenden. Verbissen kämpfte die Mutter für das Daseinsrecht des mageren Mädchens mit den seltsam fahlen graugrünen Augen und dem dazu kontrastierenden rabenschwarzen Haar. Vor allem diese ungebändigte, ebenholzfarbene Mähne des Bankerts ließ bei so manchem Hämischen im Waldtal zwischen Ringolay und Perlesreuth den Verdacht aufkommen, der Vater des Kindes müsse ein Welscher gewesen sein: ein Italiener oder Spanier.
Der eine oder andere besonders Misstrauische wollte sogar noch Schlimmeres wissen; immer wieder, diese ersten Lebensjahre der Afra Dickh hindurch, wurde in den Spinnstuben oder den Wirtshäusern abergläubisch gemunkelt. Es sei schließlich bekannt, so hieß es, dass es auf den Mühlen nicht mit rechten Dingen zugehe; die bösen Geister würden in solchen Anwesen nächtens durch die Türlöcher hinein- und durch den Rauchfang wieder ausfahren. Der Leibhaftige selbst mache sich oft genug einen bösen Scherz daraus, das von den Bauern mühsam geerntete Korn unterm Mahlstein belialisch hinschwinden zu lassen, so dass von drei Sack Hafer dank des Finsteren zuletzt kaum ein einziger Sack Mehl bleibe. Und, so die Kleinbauern und Hörigen weiter, wenn der Teufel schon nicht vor dem Getreide zurückscheue, dann desto weniger vor den Röcken der leichtsinnigen Dirnen; an der Mariann und ihrem Wechselbalg könne man’s zweifellos sehen: das höllenschwarze Haar und dazu die fahlen Augen des Bankerts seien doch ohne Frage die gotteslästerlichen Zeichen dafür.
Auch in der Einöde selbst wurden die Lästerzungen gewetzt; die Müllerin war hier die treibende Kraft. Wieder und wieder, wenn das ewige Knarren und Poltern des Wasserrades ihr einmal mehr zur Tortur wurde, brach der Hass gegen die Viehmagd aus ihr heraus: „Satanshur’, du! Gleich hätten wir’s erkennen müssen, dass dir der Leibhaftige im Genick hockt, wie du damals aufgetaucht bist. Aus dem Wald heraus, abgerissen wie eine wildernde Katz’. Und hast nichts über dich sagen wollen. Bloß dass du irgendwo aus dem Böhmischen kommst, das haben wir rausgekriegt aus dir. Aus dem Böhmischen, wo die hussitischen Ketzer daheim sind: die Teufelsanbeter und Mordbrenner! Von dort drüben hast du uns den Schwarzen hergelockt in den Schmalztobel, in unser gottesfürchtiges Tal. Nachgefahren ist er dir, ist mit der Wilden Jagd über die Mühl’ gekommen. Und dann hast du’s getrieben mit ihm, hast ihn bocken lassen auf dir: den Gehörnten! Dass er dir den Wechselbalg macht, den unheiligen! Todsünderin, du!“
Immer die gleiche Tirade; jahrelang, nachdem das angebliche Teufelskind getauft worden war. Und fast nach jedem dieser Ausbrüche der unfruchtbaren und reizbaren Müllerin stießen noch am gleichen Abend in der Gesindestube auch die anderen nach: die beiden Mahlknechte und die Küchendirn; unbeweibt und unbemannt alle drei. Die triezten die Dickhin und stichelten so lange gegen sie, bis sie die steile Stiege zur Kammer unmittelbar unter dem Schindeldach hinaufhastete, wo auf dem Strohsack Afra lag: im Schlaf vor Hunger seibernd und mager wie ein kleines, ausgestoßenes Tier. Wie so oft schon schwor die Viehmagd sich und ihrem Kind dann, dass sie trotz allem beide überleben würden; sie, die Mutter, zumindest so lange, wie ihr Bankert sie brauchte.
Aus diesem Grund schlich Marianne häufig während der dunkelsten Nachtstunde gleich einer Diebin über den Hof und in den Stall; sie tat es, obwohl die Furcht und die Erinnerung an das Grauenhafte sie dabei manchmal wie Espenlaub zittern ließen. In der Dunkelheit drängte sie sich zwischen die dampfenden Leiber der Rinder, suchte ein Euter und molk in jagender Hast. War die Hornflasche gefüllt, huschte sie geduckt zurück ins Haus und brachte ihrem Kind die zusätzliche Nahrung. Gewissensbisse machte sie sich deswegen nicht; hatte freilich am nächsten Tag, wenn die betreffende Kuh weniger Milch als üblich gab, erneut die abergläubischen Anwürfe der Müllerin zu ertragen.
Böse Geister machte die Geizige dann dafür verantwortlich; keifte von unholden Weibern und Besenreiterinnen, welche in den Stall eingefahren seien: dort die Tiere verzaubert und die Euter verhext hätten. Und selbstverständlich jedes Mal wieder die infamen Anschuldigungen gegenüber der Viehmagd: „Du hast uns die Satansbuhlen ans Anwesen gebannt! Todsünderin, du! Teufelsbraut!“
Marianne Dickh, wie üblich, schwieg dazu; nahm das Schimpfen und die Gemeinheiten hin, schüttelte die Erniedrigung so gut wie möglich wieder ab. Manchmal auch, freilich nur selten, stellte sich der Müller zwischen die ledige Mutter und sein Weib. Er wies die Keifende zurecht und hielt ihr vor, dass ihr hemmungsloses Gerede am Ende noch ungleich größeres Unglück als ein paar verlorene Rahmbatzen über die Einöde bringen könne. Wenn etwa der Pfarrer von Ringolay auf das Gerede aufmerksam werde und durch den Priester die Obrigkeit ins Spiel käme: die fürstbischöflichen Schergen gar.
Erschrocken verstummte die Müllerin dann; ihr Gatte wiederum, dieser sonst meist so verschlossene, vierschrötige Klotz, konnte bei solchen Gelegenheiten unter Umständen sogar ein gutes Wort für die Viehmagd finden: ein paar Sätze über den Bankert mit ihr wechseln und nachdenklich nicken, wenn Marianne ihm versicherte, das Kind gedeihe, trotz allem.
Einmal geschah zwischen dem Hofherrn und der Stalldirne sogar etwas, was besser nicht ans Licht des Tages gekommen wäre. Wieder hatte die Dickhin heimlich die Hornflasche gefüllt und wollte durch die mitternächtlichen Schatten soeben zurück zu ihrer Kammer huschen, als der Müller plötzlich wie aus dem Boden gewachsen vor ihr stand und dabei jäh sein Windlicht aufblendete. Mit einem erstickten Schrei fuhr Marianne zurück, spürte mit dem nächsten Herzschlag die schwere, behaarte Hand des Mannes auf ihrem Mund, wollte in Panik zubeißen – und tat es letztlich dennoch nicht. Denn in sehr seltsamem, beinahe beschwörendem Tonfall flüsterte der Grobschlächtige ihr zu: „Musst nicht schreien, weil … ich sag’ nichts von dem, was du im Stall getrieben hast! Das … was geschehen ist, bleibt unter uns, gell?!“ Und dann, während er die Zitternde nun unbeholfen in seinen Armen hielt: „Bring die Milch nur dem … Mädel. Das Balg kann’s brauchen, und der Mühl’ tut’s nicht weh …“
Mit einem rauhen Laut brach der Satz ab; im nächsten Moment erlosch die Laterne, war die finstere Gestalt wie weggewischt. Und die Viehmagd, ohne dass sie das stoßende Schluchzen hätte unterdrücken können, rannte davon: zwischen die rauschenden Bäume, hinunter zum Bach. Erst dort fand sie ihre Beherrschung wieder, schlich mit nassen Augen zurück ins Haus. Doch das Gefühl der Dankbarkeit, gegen das sie sich, im Hinblick auf die Notdurft Afras, nicht wehren konnte, quälte sie noch lange; quälte sie bis zum Morgengrauen.
Auch in den folgenden Jahren brach diese seelische Wunde immer wieder auf. Manchmal sagte sich Marianne Dickh insgeheim, dass die Müllerin wohl recht haben könne, wenn sie von dem bösen Bann keife, der über dem Haindl-Anwesen laste. Doch im Gegensatz zur Meinung der anderen Frau war vor allem sie selbst, die verachtete Magd, hilflos in dieses finstere Netz verstrickt. Weil sie für ihr Kind verantwortlich war und sie mit dem Bankert überall sonst von den Höfen gejagt worden wäre, blieb sie an die Einöd-Mühle gefesselt. Nur hier war ihr ein Quäntchen stets fragwürdigen Schutzes vergönnt, auch wenn die nun trotz ihrer Jugend rasch alternde Stalldirne lieber heute als morgen von hier geflohen wäre: weit weg aus der Gegend um Ringolay, wo die Menschen sie gebrandmarkt hatten und weiter brandmarken würden.
Manchmal träumte Marianne davon, den Ausbruch dennoch zu versuchen: nach Norden, wo hinter dem Grenzkamm des Waldgebirges die fruchtbaren böhmischen Herrschaften lagen. Vielleicht, so dachte sie in solch verzweifelten Stunden, gäbe es dort drüben ein anderes Tal; eines, in dem man nichts von meiner Vergangenheit wüsste. Einen Ort, wo man mich nicht länger leiden ließe für das, was ich in der Dunkelheit tat und nie wirklich begriffen habe …
Aber es blieb bei diesem ärmlichen Traum; um Afras willen verweigerte ihre Mutter sich selbst den Versuch einer Erfüllung. Zumindest jedoch durfte sich Marianne Dickh, als ihre fahläugige und schwarzhaarige Tochter den sechsten und siebten Winter überstanden hatte, sagen, dass sie nun auch weiterhin gedeihen würde. Dies war für die Viehmagd ein Trost, der sie letztlich für alles andere entschädigte – auch dafür, dass sie selbst nun immer erschreckender spürte, wie sehr die ewigen Sorgen und Erniedrigungen sie mit ihren kaum dreißig Jahren tief drinnen ausgezehrt hatten.
Spätwinter bis Frühjahr 1699
Ganz allein hatte Marianne Dickh ihr Balg einst von der Einöde zur Kirche in Ringolay getragen. Jetzt, etwas mehr als siebzehn Jahre später, spielte sich ein völlig anderer sakraler Akt unter ganz ähnlich ärmlichen Umständen ab. Allein und frierend stand Afra vor der offenen Grube, auf deren Grund in der lieblos gehobelten Bretterkiste der Leichnam ihrer erschreckend früh verstorbenen Mutter lag.
Die Schwarzhaarige, immer noch mager, doch körperlich mittlerweile fast ausgereift, schien von den wenigen anderen Begräbnisgehern absichtlich gemieden zu werden. Das halbe Dutzend der Zaungäste – Betschwestern vor allem, dazu der Totengräber sowie ein Angetrunkener, den die Neugierde vom nahen Wirtshaus hergelockt hatte – hielt sich deutlich abseits der Trauernden: ballte sich zwischen Grube und Friedhofskapelle zusammen. Der Pfarrer wiederum, greisenhaft inzwischen, hatte sich seinen Platz wie verängstigt am jenseitigen Rand der Armengrabstätte nahe der Kirchhofsmauer gesucht; gleichsam als wolle er das dürftige Holzkreuz, das vorerst im Erdhügel gleich neben ihm steckte, als Schutz vor der Fahläugigen nutzen.
Jetzt, als der Priester krächzend das Seelengebet anstimmte, zuckte Afra Dickh zusammen. Ihr Körper krümmte sich jäh ein unterm dünnen Heranflirren der vom bitterkalten Wind getriebenen Schneekristalle. Doch nicht nur der beißende Januarfrost, sondern auch die verzerrten, vom fauchenden Luftzug zerriebenen lateinischen Satzfetzen schockten sichtlich die Tochter der Toten. Schockten sie offenbar dermaßen, dass ihr Leib im abgetragenen Umhang beinahe widernatürlich angespannt blieb bis zum Schluss; dass ihre Augen auf ebenso unnatürliche Weise trocken blieben, bis der Pfarrer sein Gebet mit einem hastigen „Requiescat in pace!“ schloss.
„In Ewigkeit Amen“, klang von der Kapellenseite her das halbdutzendfache Echo herüber.
Gleichzeitig fiel, ebenso unvermittelt wie sie eingetreten war, die Erstarrung vom Körper der jungen Frau ab. Afra tat einen stolpernden Schritt auf die Grube zu, griff nach der hölzernen Schaufel, mühte sich mit der halbgefrorenen Erde, schleuderte die Brocken beinahe wütend in die Tiefe. Ebenfalls fast wie wegwerfend ließ sie den dreifachen Guss des geweihten Wassers vom Rutenwedel sprühen, zerknirschte dabei ein Wort oder einen Namen zwischen den Zähnen, stand im nächsten Augenblick auf Tuchfühlung zum Priester: beinahe so, als hätte etwas sie hingehext. Einen wehen, abwehrenden Laut ausstoßend, wollte der Kleriker ausweichen, doch schon spürte er den Druck des eiskalten Gegenstandes auf seiner Haut und fühlte sich mit dem gleichen Lidschlag wie auf der storren Erde festgebannt.
„Euer Lohn dafür, Hochwürden, dass Ihr Euch nicht einmal in ihrem Leben um sie gekümmert habt!“, vernahm er die zischelnde Stimme der Schwarzhaarigen. „Und auch dafür“, das scharfe Flüstern schlug in ein kurzes, krampfhaftes Aufschluchzen um, „dass es Euch gleichgültig war, wer sie ins Unglück gebracht hat! Sie samt ihrem vaterlosen Balg …“
Das Eiskalte schien ihm mitten ins Herz zu nadeln und mit dem gleichen jagenden Pulsschlag sein Denken zu lähmen – als er aus der Beklemmung, die wie ein Vorbote von etwas Endgültigem war, wieder zu sich kam, wurde ihm bewusst, dass die Fahläugige, die ihm den Gulden in die Hand gedrückt hatte, ihn offenbar schon vor einer ganzen Weile wieder von ihrer Gegenwart befreit hatte. Denn er sah den ärmlichen Umhang nun bereits über die Karrenfurchen draußen auf dem Dorfweg flattern, während die Leichengänger und der Totengräber verstört auf ihn starrten.
„Sündig …“, stammelte er. „Vor Gott ist sündig …“
„Jawohl! Mit dem Teufel hat’s die Tote gehabt, und die Ausgeburt der Hur’ ist keinen Deut besser!“, räsonierte, die tönerne Branntweinflasche in der Hand, der Angetrunkene.
Nein, das habe ich nicht sagen wollen!, dachte der Priester. Denn vielleicht war es so, dass wir selbst … wir alle … durch unsere Herzlosigkeit an ihr und ihrer Tochter gesündigt haben …
Doch er sprach es nicht aus; etwas in seinem Inneren, das wie ein nicht greifbarer Zwang war, wehrte sich trotz seiner besseren Einsicht dagegen. Deswegen ließ er die Hetzrede des Säufers unbeantwortet, griff jedoch, zum ungläubigen Erstaunen der anderen, zur Schaufel und begann, eigenhändig das Grab aufzufüllen; nahm sich dabei vor: Auch den Gulden werde ich der Verwaisten zurückgeben. Morgen geht’s nicht, da ist Sonntag, aber gleich in der kommenden Woche trage ich ihn hinüber zur Haindlmühle. Weil die alleingelassene Seele das Geld nötiger hat als ich; weil ich als Pfarrer in der Pfründe sitze und sie nicht …
• • •
Als der Priester von Ringolay jedoch fünf Tage später auf dem Anwesen in der Einöde nach Afra fragte, erfuhr er, dass sie noch am Abend des Begräbnisses die wenigen Habseligkeiten ihrer Mutter zusammen mit ihren eigenen ins Bündel geschnürt hatte und mit unbekanntem Ziel verschwunden war.
„Eine Frechheit ist’s, so kurz vor dem Lichtmesstag!“, keifte die inzwischen ebenfalls ergraute Müllerin. „Hätt’ sie’s nicht machen können wie all die anderen Knechte und Mägde auch, so wie’s der Brauch ist: am bevorstehenden Kirchenfest den alten Dienst aufkündigen und anderswo neu einstehen?! Aber nein, sang- und klanglos ist sie ausgerückt, die Hur’, die verworfene …“
„Wird schon gewusst haben, warum“, mischte sich mit kläglichem Grinsen ihr Gatte ein. „Hast ihr und ihrer Mutter das Leben siebzehn Jahre zur Hölle gemacht; was hätt’ sie da jetzt noch bei uns halten sollen?“
„Dann können wir nur hoffen, dass sie anderswo ein Dach über dem Kopf findet“, murmelte der Pfarrer.
„So ist’s“, schnauzte der Haindlmüller; fluchte gleich darauf grässlich auf den beißenden Rauch des Kienspanlichtes, der ihm plötzlich in die Augen geraten war. Und fluchte noch lauter, als sein Weib das letzte Wort haben musste: „Der Teufel wird das Seine schon tun für sie; da brauchen wir anständigen Christenleut’ uns keine Sorgen zu machen …“
• • •
Besorgt äugte Afra Dickh in die eisige Dunkelheit jenseits des meterhoch klaffenden Höhlenmundes hinaus. Zwar bot die mächtige Granitplatte, die, wie von einer Riesenfaust dort festgeklemmt, über der steinernen Kluft lastete, sicheren Wetterschutz nach oben. Falls der Wind sich jedoch während der Nacht drehte und erneut Schneefall aufkam, konnte der Frost sie trotz des kleinen Reisigfeuers, das sie mühsam entfacht hatte, lähmen. Als der Siebzehnjährigen zudem bewusst wurde, dass mit dem Verlöschen der Flammen durchaus auch die Wölfe oder anderes Raubzeug kommen konnten, vermochte sie ihre Furcht kaum noch zu beherrschen. Und dieses Gefühl steigerte sich zur nackten Panik, als sie plötzlich das Knirschen des Firns und gleich darauf die schweren Schritte vernahm, die sich der Grotte über den unterhalb befindlichen Steilhang näherten.
Mit angehaltenem Atem wich Afra zur rückwärtigen Höhlenwand zurück, presste sich dort gegen den Stein. Über dem Kopf der Kauernden saugte die Felsspalte, die wie ein Kamin wirkte, das Funkensprühen und den Rauch des sprotzelnden Feuers in ihren kantigen Schlund. Alle guten Geister!, dachte die Schwarzhaarige, während in der Schlucht jetzt ein Ast brach und klackend Steine wegrollten. Ihr Heiligen und Nothelfer! Warum hab’ ich nicht daran gedacht, die Flammen noch rechtzeitig zu ersticken?! Jetzt verraten sie mich! Das Nachtwesen, das sich dort unten herumtreibt, hat sie gewiss längst gesehen oder gewittert!
Im selben Moment kam es ihr in den Sinn, dass das Feuer sie aber auch schützen könnte; zumindest für eine kurze Frist noch, wenn es sich statt eines menschlichen oder anderen Unholdes um ein Raubtier handelte. Die Hand, mit der sie eben noch klamme Erde und verrottetes Laub über die Flammen hatte scharren wollen, erstarrte mitten in der Bewegung. Wiederum einen gehetzten Herzschlag später, weil ihr panisch arbeitendes Gehirn ihr sagte, dass ein metallisches Klirren dort draußen nicht von Wolf oder Bär stammen konnte, krallten sich ihre Finger dennoch hektisch in den Höhlenboden – doch kaum flog die erste Handvoll Schmutz in die Glut, schob sich bereits der riesenhafte Schatten vor das ausgezackte Oval des Höhlenmundes.
„Nein!“, schrie Afra; gleichzeitig mit dem gellenden Angstlaut traf ein dünner Funken- und Ascheregen das Wesen. Für einen winzigen Augenblick wurden die Konturen von etwas ruppig Behaartem sichtbar; im selben Moment, da das wüste Bild sich ihr in die Netzhaut brannte, war die junge Frau nur noch ein zuckend eingekrümmtes Bündel Furcht. Zusammengekauert wie ein Ungeborenes im Mutterleib zitterte sie jetzt zwischen Fels und Feuer: war wie gebannt und konnte sich nicht mehr dagegen wehren, als die pelzige Pranke sich in ihre Schulter krallte.
Erst als sie die Laute hörte, löste sich ihre Lähmung in einem zweiten panischen Schrei: „Lass mich! Geh weg von mir!“
Aber die Pratze hielt sie weiter fest, schüttelte sie nun – und dann verwandelten sich die Laute in etwas, das sie zu fassen vermochte: in eine rauhe, aber immerhin menschliche Stimme, welche jetzt wiederholte: „Was du hier mitten im Wald und im Bärenloch treibst, hab’ ich dich gefragt! Los, mach den Mund auf, Dirn’! Hab’ dich doch nicht so, als ob ich der Leibhaftige wär’ …“
„Du bist nicht …?! Nein, jetzt seh’ ich’s auch …“, keuchte die Siebzehnjährige und gab es endlich auf, sich gegen die Hand im Wollfäustling zu wehren.
„Schaue ich etwa so aus, als sei ich dem Höllenfeuer entsprungen – so vom Eiswind zerzaust, wie ich bin?“, erwiderte mit seltsam gepresstem Lachen der knapp dreißigjährige Mann. „Nein, glaub mir’s nur, da hat’s noch eine Weile hin, ehe der Teufel mich holt …“
„Aber wer … bist du dann?“, fragte, immer noch nach Atem ringend, Afra.
„Das sag’ ich dir – vielleicht – ein bisschen später“, kam die Antwort. „Jetzt red’ du erst einmal! Was du mitten in der Nacht im Bärenloch suchst, will ich endlich wissen!“
„Weggelaufen bin ich …“, setzte die Schwarzhaarige an. „Was hätt’ mich noch halten sollen auf der Haindlmühl’, ohne die Mutter, wo sie doch …?“
Ein dünner, scharfer Pfiff des Kerls im ruppigen Pelz unterbrach sie. „So?! Von der Haindlmühl’ kommst du! Bist wohl gar die Afra? Die Tochter der … Verrufenen dort, die sie letzte Woche eingegraben haben?“
„Ich wüsst’ nicht, dass sie je etwas Böses getan hätte! Sollst sie nicht so verleumden! Bist auch nicht besser als all die anderen Lügenbeutel!“, fuhr die Verwaiste auf.
„Kann sein! Aber einer von diesen frommen Betbrüdern bin ich trotzdem nicht!“ Das Lachen, das unmittelbar darauf folgte, klang auf einmal nicht mehr gepresst; klang vielmehr wie befreit. „Deswegen ist’s mir auch egal, was die Leut’ über deine Mutter tratschen. Viel wichtiger ist’s mir, dass ich dir trauen kann. Bist von deinem Dienstplatz weggelaufen, gegen Recht und Brauch; wirst deswegen auch mich nicht verraten …“
„Verraten?!“, schnappte Afra. „Ich versteh’ dich nicht …“
Der Mann grinste, nahm die Fellmütze ab, schüttelte sich das dunkelblonde Haar aus der Stirn, fixierte die junge Frau aus hellen, jetzt verwegen schimmernden Augen. „Hilf mir halt, dann wirst du’s gleich begreifen“, sagte er dann – und zog Afra zum Höhlenmund.
Kaum hatten sie ein paar Dutzend Schritte hinaus ins Dunkel der Nacht getan, witterte die Schwarzhaarige den Blutgeruch. Gleich darauf schleppten sie den gehörnten Kadaver und dazu den eiskalten metallischen Gegenstand mit vereinten Kräften in die Grotte.
„So ist’s und nicht anders“, feixte der Blonde, als sie wieder im Schein des Feuers kauerten. „Mit der Büchse da, die der Großvater selig einem Panduren im Dreißigjährigen Krieg abgenommen hat, hab’ ich heute Nacht den Hirsch erlegt. Hab’ ihn natürlich sofort draußen versteckt, wie ich auf das Feuer hier im Bärenloch aufmerksam geworden bin. Weil ich keine Erlaubnis zum Schießen von den fürstbischöflichen Jägern eingeholt hab’. Deshalb wollte ich den Kadaver auch heimlich hier drinnen auf brechen. Und jetzt frag’ ich dich, ob du mir noch einmal helfen willst? Weil das Wildpret so schnell wie möglich zu meinem Anwesen gebracht werden muss, nachdem es ausgeweidet ist. Sonst könnten mich die Büttel des Bischofs doch noch beim Wickel kriegen …“
„Einen Hof hast du?! Wo?!“ Nur das allein schien für Afra zu zählen.
„Das Prämbl-Anwesen ist’s“, erwiderte der Wilderer stolz. „Drüben in Neidberg. Also, was ist jetzt?“
Die Siebzehnjährige besann sich nicht lange. „Gibt sonst eh keinen Platz, wohin ich gehen könnte“, murmelte sie. „Kann dir den Gefallen deshalb gern tun. Ist allemal besser, als wenn ich noch länger hier im Wald bleib’ …“
Der Neidberger musterte sie von oben bis unten, sehr aufmerksam jetzt. Es schien ihm noch etwas auf der Zunge zu liegen. Doch dann, während er das Messer zog, sagte er nur: „Schnell! Viel Zeit haben wir nicht …“
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Nicht ohne Grund hatte der Stolz in den Augen des Gregory Prämbl aufgeleuchtet, als er von seinem Besitz gesprochen hatte. Das Gehöft war, obwohl wie überall im Schmalztobel die feudalen Abgaben an den Fürstbischof auf ihm lasteten, besser instand gehalten als die umliegenden Anwesen: etwa ein halbes Dutzend an der Zahl.
Im diesigen Morgengrauen, als Afra das Dorf am Berghang und dann den fremden Hofplatz betreten hatte, war sie dennoch unsicher und erneut ziemlich verstört gewesen. Erst in dieser fahlen Stunde, nachdem die Gefahren des Winterwaldes endgültig hinter ihr lagen, war ihr wirklich bewusst geworden, dass sie sich durch ihre Komplizenschaft mit dem Wilderer gegen die Obrigkeit und die bedrohliche Macht der Kirche gestellt hatte. Doch dann, als die Sonne höhergeklettert war und die solide aus Bruchsteinen und Balkenwerk errichteten Mauern des Wohnhauses und der Wirtschaftsgebäude sich im klaren Licht zu baden begonnen hatten, war ein anderes Gefühl in ihr bestimmend geworden. Hier, so hatte sie gedacht, könnte ich mich heimisch fühlen! Könnte, wenn der Bauer es tatsächlich gut mit mir meint, ein ganz neues Leben anfangen …
Vorerst freilich war sie Gregory Prämbl behilflich, das mittlerweile zerlegte Wildpret einzusalzen und zum Suren vorzubereiten. Die beiden arbeiteten, während die übrigen Bewohner der Hube ihrem gewöhnlichen Tagewerk nachgingen, in einem Winkel der Scheune: gleich oberhalb der Tenne, von wo aus sie jeden Fremden sofort hätten ausmachen können. Der junge Bauer löste die Knochen aus, warf das Fleisch in die Bütte mit den schmutzig weißen, groben Kristallen; Afra rieb jedes Stück dick damit ein, schichtete es danach zu den anderen in einem zweiten, größeren Zuber und achtete darauf, dass das Wildpret so dicht wie möglich gepackt wurde.
„Stellst dich gar nicht dumm an“, sagte der Neidberger zuletzt und schenkte der Siebzehnjährigen ein Lächeln. „Auch heut’ Nacht, auf dem wilden Weg hierher, hast du kräftig mit zugepackt …“
„Das hab’ ich gelernt auf der Haindlmühl’, auch wenn ich dort bloß gut genug für die Drecksarbeit gewesen bin“, murmelte die Schwarzhaarige.
„Bei mir“, einmal mehr musterte Gregory Prämbl sie von oben bis unten, „könntest du auf der Stelle als Mitterdirn einstehen! Der Platz wär’ frei; die andere hat mir zu Lichtmess den Dienst aufgesagt. Bis dahin sind’s nur noch ein paar Tage.“ Er streckte die Hand aus, an der das geronnene Blut klebte: „Also, überleg’ nicht lange und schlag ein …“
Afra sah den großen, starken Schattenriss des Mannes im Rahmen des Tennentors; dahinter den ordentlichen Hofplatz mit den fest gefügten Gebäuden im blendenden Licht. Ohne nachzudenken, ergriff sie die Rechte des Gregory Prämbl und drückte sie kräftig; das Schmerzen der groben Salzkristalle auf ihrer Haut nahm sie in ihrer Dankbarkeit hin.
„Ich seh’, du machst keine Umstände; nimmst eine Sache genau so hin, wie sie gemeint ist“, lachte der Bauer. „Bleib so, dann werden wir zwei gut miteinander auskommen; sehr gut …“ Seine Augen verengten sich fast unmerklich. „Und wenn dich die anderen vom Gesinde … oder auch die Bäuerin etwa dumm anreden, weil du von der Haindlmühl’ kommst, dann sag’s mir; dann werde ich dich schützen …“
„Vergelt’s Gott!“ Ein tiefer, wie erlöster Atemzug begleitete die Worte.
„Brauchst dich nicht bedanken, wir zwei sind doch Verschworene – oder nicht?“, grinste Gregory Prämbl. „Und jetzt komm! Das Surfleisch muss in den Keller; da gibt’s ein geheimes Gewölbe, das die Büttel des Bischofs nie im Leben entdecken könnten. Aber dir zeig ich’s, weil du den Mund halten kannst, gell!“
„Kannst dich felsenfest auf mich verlassen!“, nickte Afra. Und wäre in diesem Moment für ihren neuen Dienstherrn durch die Hölle gegangen.
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Das Lichtmessfest am zweiten Februar war vorüber, auch der letzte harte Wintermonat selbst war überstanden; jetzt, in der Märzmitte dieses Jahres 1699, schmolzen bereits die Schneefelder höher oben im Waldgebirge; fraßen die gurgelnden Fluten der angeschwollenen Bäche zusehends die Eisränder an den Ufern weg.
Im selben Maße, in dem die Tage wieder länger wurden, hatte sich auch die neue Mitterdirn auf dem Prämbl-Hof eingelebt. Ihr früheres Dasein, das verachtete Vegetieren als Tochter der Teufelsbraut in der Einöde mit der ewig keifenden Herrin und dem oft so arg verschlossenen Müller, schien nun allmählich in immer weitere Ferne zu rücken; zunehmend verflachten die harschen Erinnerungen.
An die Stelle der beklemmenden Lebenserfahrung ihrer Kindheits- und Jugendjahre war nun etwas ganz Neues und bislang Unbekanntes getreten. Die Schwarzhaarige hatte Heimat, wenn auch eine bescheidene, im Geviert des freier liegenden Bauernanwesens gefunden; sah sich im Neidberger Dorf zwar gelegentlich immer noch als Fremde, die sich nicht so recht einordnen ließ, behandelt; hatte jedoch auch gelernt, dass dieses vorsichtige Misstrauen nicht unbedingt verletzen wollte: dass es sich überwinden ließ, wenn man nur selbst den ersten Schritt tat und ein freundliches Wort wagte.