Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg
Copyright für diese Ausgabe © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München
Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:
ISBN Printausgabe 978-3-499-55276-2
ISBN E-Book 978-3-688-10960-9
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-688-10960-9
s. unten S. 66ff.
s. oben S. 25.
Zusammengefaßt in ‹Die Leute von Seldwyla›
Zusammengefaßt in ‹Die Leute von Seldwyla›
Zusammengefaßt in ‹Die Leute von Seldwyla›
Zusammengefaßt in ‹Die Leute von Seldwyla›
Zusammengefaßt in ‹Die Leute von Seldwyla›
Zusammengefaßt in ‹Die Leute von Seldwyla›
Zusammengefaßt in ‹Die Leute von Seldwyla›
Die Niederlage der achtundvierziger Revolution beendet alle Anläufe zu einem freien Deutschland, zu einem Abschütteln der deutschen Misere. Die deutsche Bourgeoisie, stets ängstlich, stets zu Kompromissen mit den alten Mächten geneigt, flüchtet sich nach dem Juniaufstand des Pariser Proletariats unter die schützenden Fittiche des österreichischen und des preußischen Adlers und anderer gleich edler Wappentiere. Die demokratischen Kräfte sind viel zu schwach, unreif und unentschieden gewesen, um selbst die Führung an sich zu reißen. Die allgemeine Hoffnungslosigkeit, die nach der Niederlage entstand, trägt zu der ideologischen Kapitulation bei, die sich nun vollzieht. Die Demokraten vor achtundvierzig begriffen noch – mehr oder weniger klar –, daß der richtige Weg zur Herstellung der nationalen Einheit des deutschen Volkes über seine politische Befreiung, über die Demokratisierung Deutschlands geht. Schon im Laufe der Revolution, ganz besonders aber nach ihrer Niederlage, siegte in ihren Seelen das Prinzip der Einheit über das der Freiheit, das heißt: immer mehr unter ihnen wollen ein einheitliches, mächtiges Deutschland, wobei es ihnen immer gleichgültiger wurde, wieweit sich diese Einheit auf einen freiheitlichen Umbau im Innern stützt. ‹Durch Einheit zur Freiheit› verkündet man zwar noch weiterhin, aber die Illusion, der Selbstbetrug, ja die Lüge gewinnen innerhalb der neuen Zielsetzung immer mehr die Oberhand. Der deutsche Liberalismus wird nationalliberal, die Demokratie ‹freisinnig›.
Die Niederlage begräbt alle Hoffnungen auf freiheitliche Erneuerung Deutschlands, und damit hat sich die ganze literarisch-ideologische Vorarbeit als vergeblich erwiesen. Denn diese Niederlage bedeutet in einer ganz anderen Weise eine Wendung der deutschen Geschichte als das politische Mißlingen der Befreiungskriege. Man pflegt zwar in beiden Fällen von Reaktionsperioden zu sprechen, die auf das Scheitern folgten; es handelt sich aber in beiden Fällen um grundlegend Verschiedenes. Jetzt erst beginnt das Hinüberwachsen Preußens und später ganz Deutschlands in eine ‹bonapartistische Monarchie›, um das treffende Wort von Friedrich Engels zu gebrauchen. Nunmehr zeigt sich die ‹nationale Mission› der Hohenzollern in ihrem vollen Glanze. Erst jetzt setzt die wirkliche Verpreußung Deutschlands ein. Außerdem ändert sich die soziale Funktion der Monarchie, indem ihre faktisch absolute Macht nicht mehr das ‹Gleichgewicht› zwischen Adel und Bürgertum herstellt, sondern das zwischen bürgerlich-adligem ‹Oben› und dem ‹Unten› des ‹niederen Volkes›.
Allerdings entsteht in Frankreich aus den Stürmen der achtundvierziger Revolution ebenfalls die Herrschaft des Bonapartismus. Aber erstens hat das französische Volk schon ein halbes Jahrhundert vorher die feudalen Überreste ausgekehrt, während die ‹bonapartistische Monarchie› in Deutschland die Aufgabe übernahm, diese in zeitgemäßer Anpassung an den Kapitalismus enweder einfach zu konservieren oder ohne Schaden für den Adel schmerzlos in modern-bürgerliche Verhältnisse überzuleiten. Zweitens ist der Bonapartismus in der französischen Entwicklung ein klarer Rückschlag, nach dem einige schwere Jahrzehnte später, nach dem Zusammenbruch der napoleonischen Reaktion 1870, die republikanische Linie wiederaufgenommen wurde, während es für Deutschlands unglückseligen Weg bezeichnend ist, daß Friedrich Engels den Übergang des alten preußischen Absolutismus in die ‹bonapartistische Monarchie› als Fortschritt bezeichnen konnte.
Diese paradoxe Lage macht die klare wissenschaftliche Erkenntnis der deutschen Literatur nach 1848 schwierig. Der unzweifelhaft vorhandene wirtschaftliche Fortschritt, die allmähliche wirtschaftliche Einigung des deutschen Volkes durch die Erweiterung des Zollvereins, das ebenfalls allmähliche Werden einer modernen bürgerlichen Gesellschaft führen dazu, der Literatur dieser Zeit eine falsche, übertrieben günstige Bewertung zu geben. Es entsteht die Ideologie von der ‹silbernen Periode› der deutschen Literatur, propagiert von Adolf Bartels, Paul Ernst und später von dem Neuhegelianer Glockner. Es soll damit zwar der Abstand von der ‹goldenen Periode› der Goethezeit betont, zugleich aber auch hervorgehoben werden, daß die deutsche Literatur einen neuen Aufschwung genommen habe, trotz oder unbeschadet oder gar wegen der Niederlage der demokratischen Bestrebungen der vierziger Jahre. In dieser literaturhistorischen Legende entspricht den Tatsachen nur so viel, daß zwischen 1848 und 1870 von den großen Talenten, die schon vor der Revolution hervorgetreten sind oder sich wenigstens damals ideologisch und künstlerisch geformt haben, eine ganze Reihe ihre dichterische Tätigkeit weiterentfaltete. Wieweit kann aber bei ihnen von einem dichterischen Fortschritt und damit in der Gesamtheit von einem Aufschwung der deutschen Literatur gesprochen werden? Die Tatsachen reden hier eine ganz andere Sprache als die Legenden der reaktionären Literaten.
Beginnen wir mit dem einfachsten Beispiel. Otto Ludwigs ‹Erbförster› ist unmittelbar nach der Niederlage der Revolution entstanden. Das Drama steht dramatisch wie geistig stark unter dem Einfluß von Hebbels ‹Maria Magdalena›, behandelt ebenso wie diese die Enge des deutschen Kleinbürgerlebens. Geistig bedeutet es jedoch den schärfsten Gegensatz zu Hebbels Tragödie, indem Ludwig hier eine ‹tragische Schuld› zu konstruieren bestrebt ist, die notwendig entstehen müsse, wenn der deutsche Kleinbürger, auf echte oder eingebildete ‹alte Rechte› pochend, gegen seinen Arbeitgeber, gegen die Obrigkeit aufbegehrt. In dieser Ludwigschen Theorie der ‹tragischen Schuld› ist – und zwar unter rein ästhetischer Form in einer knechtisch-servilen Weise – das deutliche Echo der Niederlage der achtundvierziger Revolution in jenen Massen des deutschen Volkes und seiner führenden Intelligenz vernehmbar, die berufen gewesen wären, den demokratischen Umbau der vereinten Nation vorzunehmen. Der Falschheit der Ludwigschen Konzeption des Tragischen entspricht die Willkür der Fabel und des Aufbaus. Hettner nennt den ‹Erbförster› das ‹elendste aller Schicksalsdramen›.
Gestalt und Laufbahn Otto Ludwigs haben einen tragischen Charakter, vor allem wegen seiner bedeutenden schriftstellerischen Begabung, wegen seiner ungewöhnlichen Fähigkeit zur Verlebendigung von Menschen und Situationen, die nur in einigen Erzählungen zu einem relativen Gelingen gedeihen konnte, dazu wegen seines schriftstellerischen Schicksals. Im Suchen nach der ‹tragischen Schuld› als archimedischem Punkt für den dramatischen Aufbau verirrt sich Ludwig in einem Labyrinth von bodenlosem Psychologismus. Seine theoretischen Arbeiten und dramatischen Fragmente enthalten wesentliche technische Einsichten in Epik und Dramatik; die Arbeit an ihnen aber hat seine Gestaltungskraft zersetzt. Ludwig hat sich von der Ästhetik der ‹Kunstperiode› (vor allem von der Schillers) ganz losgelöst; es entsteht bei ihm ein moderner Psychologismus, der in einem unorganischen Gegensatz zu seinen Stoffen steht, die in der dunkelsten deutschen Misere beheimatet sind. Das tragische Schicksal des Schriftstellers Ludwig beweist seine wirkliche schriftstellerische Ehrlichkeit; einen Konjunkturerfolg wie den des ‹Erbförsters› hätte ein weniger gewissenhafter Autor ausnützen können, um zum Beherrscher der Bühne im gegenrevolutionären Deutschland zu werden. Ludwig lag jedoch jedes Konjunkturrittertum fern.
Die Tragik Otto Ludwigs ist keine psychologische, als die sie in deutschen Literaturgeschichten hingestellt wird. Sie hat vor allem eine allgemein-europäische Grundlage. Die fünfziger Jahre sind die Zeit des allgemeinen Übergangs auch der westlichen Literatur zur Moderne im engeren Sinne. Die Jahrhundertmitte ist die Zeit einer allgemein-europäischen Stilkrise (man denke an Flaubert, an die geistige Vorwegnahme der Prinzipien der Krise in Balzacs Künstlernovellen u.a.). Bei der Ungunst des entwickelten Kapitalismus als Stoffes für die Kunst und der auf seinem Boden sprießenden Kunstanschauung für die literarische Formgebung entsteht der Kampf um eine moderne und dennoch echt künstlerische Form für einen modernen Gehalt.
Diese allgemeine Krise wird auch in Frankreich kompliziert durch den ideologischen Tiefstand, den die Herrschaft Napoleons III. verursacht. Besonders verschärft wirken sich alle diese Motive in Deutschland aus. Daß Otto Ludwigs schriftstellerisches Irregehen weder psychologisch zu erklären ist, noch aus dem falschen Ansatzpunkt seiner individuellen künstlerischen Lösungsversuche stammt, zeigt das Schicksal anderer Dramatiker, vor allem Hebbels, die den Ausweg – auf der Oberfläche – in entgegengesetzter Richtung gesucht haben.
Die widerspruchsvollen Grundlagen der Hebbelschen Auffassung der Tragödie haben wir bereits aufgezeigt.[*] Der Widerspruch verschärft sich nach der Niederlage der achtundvierziger Revolution. Ästhetisch und weltanschaulich folgerichtig leugnet der junge Hebbel – wenn auch im Widerspruch zu der politisch-sozialen Mission, die er dem Drama zuschreibt – jede Versöhnung in der Tragödie, und seine Jugendwerke enden auch ausnahmslos mit schrillen Mißklängen. Indem er jetzt mit wachsender künstlerischer Reife die Zerrissenheit zu überwinden trachtet, kommen seinen schriftstellerischen Bestrebungen die politischen Erlebnisse und Erfahrungen der achtundvierziger Revolution entgegen. Die tragische Versöhnung, die jetzt zur ästhetisch-weltanschaulichen Grundlage seines neuerwachten Suchens nach Schönheit wird, ist so eine Versöhnung mit der reaktionären Armseligkeit der Zeit nach 1848, ist ihre ästhetische Bejahung in der Form der Tragödie.
Die hier zugrunde liegende Auffassung des Tragischen hat einige neue Züge im Vergleich mit seiner Erscheinungsweise in der deutschen Klassik. Eine neue tragische Einsicht ist vor allem die, daß der einzelne kein Recht habe, am Bestehenden zu rütteln. Nicht der tragische Ausgang an sich spricht das Verbot aus. Goethe und Hegel wußten recht gut, daß der gegen das Bestehende kämpfende einzelne den Weg zu seinem tragischen Untergang beschreiten kann. Aber sie wußten ebensogut, daß der unaufhaltsame Fortschritt des Menschengeschlechts in der Form einer ununterbrochenen Kette solcher individueller Tragödien einen untragischen Charakter besitzt.
Hebbels ‹Pantragismus›, seine Auffassung des Tragischen als letzten Weltprinzips hebt dieses Eingebettetsein der individuellen Tragik in den menschheitlichen Fortschrittsgedanken auf. Bei Hebbel steht diese Entwicklung im Zusammenhang mit seinem Abrücken von der Hegelschen Philosophie, mit seiner Annäherung an die Schopenhauers. Gleichzeitig, was noch wichtiger ist, zeigt sich hier, daß die entgegengesetzten Auffassungen des Tragischen bei Hebbel und Ludwig in ihren letzten Grundlagen, in ihrer Bestimmung des Verhältnisses von Mensch und Geschichte, menschlicher Aktivität und gesellschaftlichen Einrichtungen auf dasselbe hinauslaufen.
Aber auch in seiner besonderen Auffassung des Tragischen ist Hebbel weit weniger Einzelgänger, als allgemein angenommen wird. Schon während der Revolution, im Verlauf der Polendebatte in der Paulskirche, traten der zeitweise mit Hebbel befreundete Hegelianer Arnold Ruge und der Dichter Wilhelm Jordan mit der geschichtsphilosophischen Theorie auf, daß das Schicksal Polens eine Tragödie vorstelle. Daher sei es auch eine Flachheit, eine Sünde gegen den tragischen Geist der Weltgeschichte, seine Wiederherstellung anzustreben. Der Ästhetiker F. Th. Vischer, der Hebbel ebenfalls nahestand, gibt in seinem Uhland-Aufsatz eine ähnliche tragische Auslegung für das Auseinanderjagen des Stuttgarter Rumpfparlaments von 1849. Er sieht hier eine tragische Lage sowohl für die Parlamentarier wie für die gegenrevolutionäre Regierung: ‹… befanden sich die Minister in einem tragischen Konflikte, so war die Sachlage nicht minder tragisch für den anderen Teil: die Mitglieder des Parlaments konnten, wenn sie nicht als feige dastehen wollten, so wenig rückwärts, als die Minister unschlüssig und untätig bleiben durften. Ich meines Teiles verstehe, daß ich, wenn ich mich in zwei Personen hätte trennen können, wenn ich im Zuge gegangen und zugleich Minister gewesen wäre, gegen mich selbst, als im Zuge Befindlichen, das Militär aufgeboten hätte …› In dieser ‹erhaben objektiven›, in Wirklichkeit miserablen, feig liberalen Auffassung der Ereignisse von achtundvierzig können wir unschwer den Schlüssel zur tragischen Konzeption von Hebbels ‹Agnes Bernauer›, zur berühmten Rede seines Königs Kandaules über den ‹Schlaf der Welt› in ‹Gyges und sein Ring› finden.
Freilich ist Hebbel nie in dem Ausmaße Schopenhauerianer geworden wie der frühere revolutionäre Feuerbachanhänger Richard Wagner. Dessen antikapitalistisch-rebellisch angelegter ‹Ring des Nibelungen› wurde nach der Niederlage von achtundvierzig, nach Wagners Bekehrung zu Schopenhauer, in eine zeitlose Weltuntergangsstimmung umgegossen, in welcher die metaphysische Atmosphäre der absoluten Lebensverneinung das Scheitern einer jeden menschlichen Bestrebung zur tragischen Selbstverständlichkeit macht. Nietzsche, in Dingen der Dekadenz ein Experte ersten Ranges, beschreibt diesen Vorgang nach seiner Enttäuschung an Wagner mit bitterer und treffender Ironie: ‹Endlich dämmerte ihm ein Ausweg: das Riff, an dem er scheiterte, wie? wenn er es als Ziel, als Hinterabsicht, als eigentlichen Sinn seiner Reise interpretierte? Hier zu scheitern – das war auch ein Ziel. Bene navigavi, cum naufragium feci … Und er übersetzte den ‚Ring‘ ins Schopenhauerische. Alles läuft schief, alles geht zugrunde, die neue Welt ist so schlimm wie die alte: – das Nichts, die indische Circe winkt …›
Diese Umarbeitung ist tief bezeichnend für die Zeit und bedeutet zugleich die Erfüllung der romantischen Bestrebungen. Die Vorliebe der Romantik für Nacht und Tod, für Krankheit und Verwesung, ihre Entwertung des Gesunden, im hellen Tag aktiv Wirkenden feiert hier höchste Triumphe. Was Novalis geträumt, was Görres und Creuzer dunkel verkündet haben, wurde erst in Wagners ‹Götterdämmerung›, in seinem ‹Tristan› und – schließlich kirchlich geworden – in seinem ‹Parsifal› zu einem suggestiven Mythos, zu einer gesellschaftlichen Macht, die alle Schichten des deutschen Volkes erfaßte, die den ordinärsten Spießbürger ebenso packte wie den jungen Thomas Mann. Das ist die Erfüllung der romantischen Absichten auch im ästhetischen Sinne; denn das Wagnersche ‹Gesamtkunstwerk› ist die praktische Verwirklichung der romantischen Gattungsvermischung, der ‹progressiven Universalpoesie› des ‹Athenäums›.
Hebbel ist in allen diesen Richtungen nie so weit gegangen wie Wagner. Aber eben darum ist sein Werk weniger wirksam geworden. Bei ihm bleiben die großen welthistorischen Zusammenhänge bestehen, nur sind sie jetzt ausschließlich von metaphysisch-geschichtsphilosophischer Art; sie schweben völlig oberhalb der dramatischen Handlung und können aus ihr nicht organisch entwickelt werden. Und die Mittel, mit denen Hebbel die Verbindung zwischen tragischem Individuum und Weltgeschichte herstellt, zerreißen noch mehr den wirklichen Zusammenhang. Denn alle hier angedeuteten Motive (die bei verschiedenen Schriftstellern verschiedene Inhalte erlangen) drängen dazu, dem Helden ein volles Bewußtsein seiner tragischen Lage, eine volle Einsicht in die Notwendigkeit seines tragischen Untergangs zu geben, ja, sein Einverständnis mit diesem zu betonen. Dem metaphysischen (politisch-reaktionären) falschen Objektivismus in der Auffassung des Tragischen entspricht ein krankhaft überspannter, das Drama lyrisch-psychologisch sprengender falscher Subjektivismus.
Mit alledem sind Wagner und Hebbel noch immer Gestalten der Weltliteratur. Die philosophische und psychologische, die moralische Problematik, die in ihren Werken, wenn auch auf einem ins Mythische verzerrten Hintergrund, lebendig ist, ist die der bedeutendsten ihrer europäischen Zeitgenossen. Wagner berührt sich ebenso nahe mit Flaubert wie Hebbel mit Ibsen und Dostojewskij. Während aber diese um einen großen modern-realistischen Stil rangen, blieben Wagner und Hebbel deutsche Übergangsgestalten, da ihr neuzeitlicher Gehalt in mystifizierend vertieften alten Formtraditionen steckenblieb. (Der Wert der musikalischen Neuerungen Wagners kann in diesem Zusammenhange nicht behandelt werden.) Daraus entsteht ein Abstand zwischen Gehalt und Form, der weder eine organisch künstlerische Harmonie im Sinne der ‹Kunstperiode› noch eine Entdeckung der grandiosen Disharmonie und Häßlichkeit des modernen Lebens für sie ermöglichte.
So bewahrheitet sich am Schicksal der bedeutendsten deutschen Schriftsteller, die die Krise von achtundvierzig durchlebten, daß sie alle Nachteile der modernen bürgerlichen Entwicklung durchmachen müssen, ohne ihre Vorteile nutzen zu können. Vielleicht noch krasser, weil seinen Gestaltungen die Größe Hebbels und Wagners fehlt, zeigt sich dieses Schicksal beim nachrevolutionären Gutzkow. Gutzkow strebt einem modernen, alle Probleme der neuen Gesellschaft umfassenden Roman zu. Im Suchen nach der dieser Prosa entsprechenden Form entdeckt er den ‹Roman des Nebeneinander› – eine Formbestrebung, die in ihren letzten Absichten mit dem französischen Naturalismus, mit seinen breiten Milieuschilderungen, mit der Auflösung der ‹veralteten› Handlung in solche Beschreibungen verwandt ist und in der Tat alle künstlerisch-problematischen Züge dieser Richtung konzentriert in sich birgt. Jedoch das, wodurch Zola zur Weltliteratur gehört, war dem Deutschen Gutzkow nicht erreichbar. Sozial fehlt die objektiv-wirtschaftliche Einheit einer durchkapitalisierten Gesellschaft; das noch immer kleinliche, geographisch zerrissene, gesellschaftlich unorganisch-heterogene deutsche Leben ließ noch nicht wirklich neue Kunstmittel für seine Wiedergabe aus sich entstehen. Was Gutzkow vor allem überwinden wollte, die falsche Romantik der deutschen Erzählungskunst, überwuchert auch seine Träume von einer neuen sozialen Epik. Dazu kommt die künstlerische Rückständigkeit des deutschen Schriftstellers; hier ist das Anachronistische in der deutschen Entwicklung klar zu sehen. Balzac war damals schon tot und doch bereits überall in der ganzen Welt wirksam und fruchtbar, als in Deutschland noch Eugène Sue als Muster oder abschreckendes Beispiel des allerneuesten französischen Realismus wirkte. Dieser echte deutsche Anachronismus ist einer der wesentlichen Gründe, weshalb die Gutzkowschen Pläne eines großen deutschen Gesellschaftsromans zum Scheitern verurteilt waren.
Diese Romane sind längst und mit Recht vergessen. Aber man muß ihre – wenn auch noch so problematische – Bedeutung als Anlauf in dieser Zeit sehen, wenn man sie historisch gerecht beurteilen will. Den-Maßstab gibt einerseits der zeitgenössische französische Realismus, andererseits die Hauptlinie der herrschenden bürgerlichen Literatur des damaligen Deutschland, die wir ausgedrückt finden bei dem einflußreichsten Kritiker und Literaturhistoriker der fünfziger Jahre, bei Julian Schmidt, dessen Unwissenheit und Geschmacklosigkeit zwei sonst so entgegengesetzte Schriftsteller wie Hebbel und Lassalle entlarvt haben. Schmidt erklärt in seiner Kritik der Gutzkowschen Romane: ‹Die Zeit ist besser als ihr Ruf›. Worin besteht nun nach Schmidt das Gute der Gegenwart? ‹Die demokratische Tendenz, die Entscheidung der politischen Angelegenheiten in die Hand der Masse zu legen, wird immer mehr in den Hintergrund treten …› Dieser in damaligen liberalen Kreisen populären Auffassung entspricht ein überlegenes Herabblicken auf die Zeit der Klassiker: ‹Den Dichtern der klassischen Zeit konnte man es nicht verargen, wenn sie mit gänzlicher Nichtachtung der sogenannten Philister, das heißt des wirklichen Lebens, die Kunst in das Reich der Schatten flüchteten.› Erst von hier aus ist zu verstehen, warum für Schmidt Gustav Freytag der repräsentative Dichter der Zeit wurde, was seine berühmte Parole bedeutet, daß der deutsche Schriftsteller das Volk bei der Arbeit aufzusuchen habe.
Die Schmidtschen Forderungen an eine moderne deutsche Literatur finden ihre Erfüllung in Freytags ‹Soll und Haben›. Freytag ist freilich bei allen seinen Schwächen etwas ganz anderes als sein Kritiker. Er gehört durchaus zu den charaktervollsten Erscheinungen, die im damaligen deutschen Liberalismus möglich waren. Er ist nicht ohne literarische Kultur. Die Verbindung mit den alten Zeiten ist in ihm weitaus lebendiger, er ist ein gründlicher Kenner der deutschen Geschichte; er ist sogar fähig, bedeutende Zeitgenossen wie Dickens auf sich wirken zu lassen. Trotzdem ist seine Zusammengehörigkeit mit Julian Schmidt nicht zufällig. Bei Schmidt sinken die deutsche Kritik und Literaturgeschichte in einen unwahrscheinlichen Tiefstand; sie werden kulturlos, was sie selbst bei den ärgsten romantischen Reaktionären nicht waren. Und obwohl Freytag nicht ohne historische und literarische Kultur ist, ist der Bruch mit der großen Entwicklung der deutschen Literatur gerade bei ihm am deutlichsten. Er stellt am wirksamsten den deutschen Philister in den Mittelpunkt einer verklärenden Darstellung, und zwar nicht den ins Spießertum herabgesunkenen Romantiker, sondern den wirklichen, massenhaften, ordinären, fleißigen, unterwürfigen, bei aller liberalen Gesinnung vor dem Adel katzbuckelnden deutschen Philister. Was für Goethe ein ‹hohler Darm› war, ist für Freytag die Goldgrube der Poesie geworden.
Mit Freytag lenkt das Gutzkowsche Mißlingen in volkstümlich deutsche Bahnen. Es lohnt sich nicht, hier Namen und Richtungen aufzuzählen. Spielhagen steht dem universalistisch modernen Streben Gutzkows näher als die meisten seiner Zeitgenossen, ist als gesellschaftskritischer Realist radikaler als Freytag; aber weder sozial noch ästhetisch ist die Grundlage seines Realismus stark genug, um ein immer stärkeres Sinken, parallel mit der ‹Erfüllung› der Zeit, um 1870 und nachher zu verhindern. Und das, was dem deutschen Bürger nach den Siegen des Reiches angemessen war, ist schlechteste Unterhaltungsliteratur oder uninteressanter Sensationsroman à la Paul Lindau.
Bei Gutzkow und Freytag ist der Bruch mit den klassischen Überlieferungen unterstrichen. Das ist ein Zeichen der Zeit. Freilich ist dies keineswegs allgemein bewußt; im Gegenteil: erst in diesen Jahrzehnten setzt der eigentliche Kultus der deutschen Klassiker, vor allem Goethes, ein. Jedoch gerade diese Begeisterung offenbart den trennenden Abgrund, denn sie ist rein akademisch. Wenn Friedrich Schlegel, Wolfgang Menzel, Börne und andere Goethe von den verschiedensten Seiten und zumeist gleich unvernünftig bekämpften, kam in alledem doch zum Ausdruck, daß es sich um eine lebendige literarische Macht handelt, während die begeistertsten Lobeserhebungen dieser Zeit immer unverbindlich für die Gegenwart bleiben. Jetzt erst ist die deutsche Klassik Vergangenheit geworden, und zwar eine, die bereits aufgehört hat, eine wirkende Kraft des Tages zu sein. Thomas Mann hat eine Rundfrage darüber, ob Schiller noch lebendig sei, richtig als echt deutsch bezeichnet, denn ‹kein Franzose würde darauf kommen, sich und andere zu fragen, ob Racine und Corneille ‚noch lebendig‘ seien›.
Dem Akademismus in der Wissenschaft entspricht das Epigonentum in der Poesie. Das antike Schönheitsideal der deutschen Klassik litt von vornherein an der Schwäche, daß in ihr der Polisbürger weniger zu Worte kam, weniger nicht nur als in der Antike, sondern weniger auch als in ihren romanischen oder slawischen Renaissancen. Platen ist hier eine einsame Ausnahme, und es ist eine Tragikomödie der Literaturgeschichte, daß Geibel, das Haupt des lyrischen Epigonentums, in allen formalen Fragen sich unmittelbar an ihn anschließt. Man pflegt Geibel und seinen Münchener Kreis mit dem französischen ‹Parnasse› zu vergleichen. Mit Unrecht, denn man übersieht dabei, eine wie leidenschaftliche, wenn auch nicht politische, so doch kulturelle Opposition, die zuweilen ins Gesellschaftliche umschlug, hinter der ‹impassibilité› ihrer besten Vertreter steckte. Das deutsche Epigonentum der Klassik hat ebenso die angeblich fehlende Teilnahme ihrer Vorbilder an den großen Fragen des Tages parodiert, wie der akademische Goethe-Kultus die historische Wahrheit in dieser Richtung verfälscht hat. Eine bescheidene subjektive Echtheit der besten unter den poetischen Akademikern kommt dann und wann in elegischen Selbsterkenntnissen zum Ausdruck, so in Geibels ‹Bildhauer des Hadrian›:
Wohl bänd’gen wir den Stein und küren,
Bewußt berechnend, jede Zier –
Doch, wie wir glatt den Meißel führen,
Nur vom Vergangnen zehren wir.
O trostlos kluges Auserlesen,
Dabei kein Blitz die Brust durchzückt!
Was schön wird, ist schon dagewesen,
Und nachgeahmt ist, was uns glückt.
Gibt es in dieser deutschen Literatur von 1850 bis 1890 keine wirkliche Opposition? So merkwürdig es klingt – eine ausgesprochene Oppositionsliteratur, die schriftstellerisch ernst zu nehmen wäre, gibt es kaum. Die nie allzu starke demokratische Strömung der Vorrevolutionszeit hat keinen Nachwuchs an echten Begabungen hervorgebracht, und selbst die noch keineswegs alten Vertreter der vorrevolutionären Periode sind ganz oder fast verstummt, so Freiligrath und Herwegh. Nur Heines Gedichte aus der ‹Matratzengruft› lassen eine mächtige, freilich tief verzweifelte Oppositionsstimme hören. Wie politisch das kleine Häuflein von Demokraten um Johann Jacoby immer kleiner und einflußloser wurde, so auf allen Gebieten der Literatur.
Es wäre jedoch falsch, wenn man das Fehlen der Opposition so deuten würde, als herrsche überall die größte Zufriedenheit mit der Entwicklung Deutschlands. Ganz im Gegenteil: sehr weite Kreise der deutschen Bevölkerung erlebten nach der Niederlage der achtundvierziger Revolution eine tiefe Depression. Ihre politisch-soziale Hoffnungslosigkeit drückte sich geradezu weltanschaulich aus. Die breite Massenwirkung der Philosophie Schopenhauers ist ebenso ein Ausdruck dieser Bewegung, wie der Einfluß des vulgären Materialismus auf gleichfalls weite Kreise des Bürgertums dessen wirtschaftlichen Aufschwung ideologisch spiegelte.
Beide Bewegungen, wie auch der in der zweiten Hälfte unserer Periode aufkommende (zumeist neukantianische) Positivismus bedeuten dem Wesen nach einen Bruch mit der weltanschaulichen Entwicklung der Zeit vor achtundvierzig. Wohl ist die klassische deutsche Philosophie schon unmittelbar nach der Julirevolution zusammengebrochen. Aber die Auflösung des Hegelianismus bedeutete in dieser Hinsicht doch keinen völligen Bruch der historischen Folge. Der Auflösungsvorgang ging ursprünglich darauf aus, die vom Hegelschen System unterdrückte und entstellte Fortschrittlichkeit der dialektischen Methode freizustellen. Die aus dem Auflösungsprozeß herauswachsende materialistische Weltanschauung brach zwar in den entscheidenden philosophischen Fragen schroff mit dem Hegelschen System, in den großen Weltanschauungproblemen wurde jedoch dabei alles wirklich Wertvolle der klassischen deutschen Philosophie auf eine höhere Stufe des Fortschritts erhoben.
Ganz anders steht es mit dem Bruch nach 1848. Er bezieht sich vor allem auf das fortschrittliche Element der klassischen Philosophie, auf die Dialektik, die von allen diesen sonst so verschiedenen und einander bekämpfenden Richtungen einmütig zum alten Eisen geworfen wurde. Im deutschen Materialismus und Positivismus herrschte ein so vulgärer Fortschrittsbegriff, daß mit seiner Hilfe die Konservierung der deutschen Misere im verpreußten Reich durchweg optimistisch aufgefaßt werden konnte. Schopenhauer seinerseits reinigte den romantischen Obskurantismus von allen seinen philosophischen Beziehungen zur Nachfolge Kants, bekämpfte jede Konzeption von Fortschritt und Geschichtlichkeit, führte in modernisierter Form die romantische Vorliebe für Krankheit, Tod und Verwesung zum Siege, gab der deutsch-spießbürgerlichen Abkehr vom öffentlichen Leben die hochmütige Allüre eines Über-den-Dingen-Stehens. Da der Marxismus – meistens in einer mehr als vereinfachten, oft geradezu entstellten Form – erst in den sechziger bis siebziger Jahren eine verhältnismäßig kleine Vorhut der Arbeiterklasse zu erfassen begann, da Feuerbach vollkommen verschollen war und Hegel als ‹toter Hund› behandelt wurde, fehlte für die vorhandenen Strömungen des Unbehagens, der geistigen Auflehnung jede weltanschauliche Stütze. Die noch vorhandenen Reste der demokratischen Opposition waren demgemäß auch weltanschaulich isoliert.
So nimmt das Unbehagen der Schriftsteller meist den Charakter einer Flucht aus der Wirklichkeit an, einer Flucht in die Vergangenheit oder einer Flucht ins individualistische Sonderlingstum. Es ist sicher kein Zufall, daß die Realisten der Zeit von wirklicher Begabung und Gewicht auch geographisch abseitige Gestalten waren, so der Holsteiner Theodor Storm, der Schweizer Conrad Ferdinand Meyer. Wenn man in Deutschland von einer Parallele zu den bedeutenden l’art-pour-l’art-Bewegungen des Westens sprechen kann, so nur bei diesen Schriftstellern, deren künstlerische Formgebung einerseits ein echtes, starkes und originelles ästhetisches Pathos hat, die andererseits aus tiefer Unzufriedenheit mit der kleinlichen Häßlichkeit der Gegenwart sich ein ‹Reich der Schatten› errichten, welches eben deshalb geistig und formell nicht nur epigonenhafte Züge trägt, sondern auch solche, die in die literarische Zukunft weisen.
In Meyers Entwicklung ist die Enttäuschung deutlich sichtbar. Sein Hutten-Gedichtzyklus (1871), sein erster großer historischer Roman ‹Jürg Jenatsch› (1876) sind geistig wie thematisch mit der aktuellen deutschen Entwicklung eng verknüpft, behandeln in historischer Form moralische Probleme der Gegenwart. Später wendet sich Meyer von der Gegenwart immer schroffer ab. Eine neue, von vielen reaktionär-romantischen Motiven durchsetzte Auffassung der Renaissance, eine romantisch-mystische Konzeption des in der historischen Welt notwendig einsam und unverstanden wandelnden echten und großen Menschen bilden die Grundlage zu einer Gestaltung der geschichtlichen Wirklichkeit, die bei aller malerischen Lebensfülle einzelner Szenen, bei aller Tiefe der individuellen Psychologie gerade das Geschichtliche an der Geschichte vernichtet.
Theodor Storms Flucht in die Vergangenheit ist weicher, lyrischer, stimmungshafter. In seiner Lyrik und Novellistik ist die Zwiespältigkeit der deutschen Entwicklung der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts aufs deutlichste erkennbar. Im individuellen Gemütsleben die Gestaltung durchaus moderner Menschen, eine Stimmungskunst, die manches von den Werken der späteren Skandinavier vorwegnimmt; im Gehalt erscheint dagegen der Provinzmensch aus einem politisch und sozial zurückgebliebenen Lande. Storm hat selbst diese seine dichterische Eigenheit und seine Stellung in der Literatur klar erkannt. Er schreibt über sich selbst: ‹Zur Klassizität (gehört) doch wohl, daß in den Werken eines Dichters der wesentliche geistige Gehalt seiner Zeit in künstlerisch vollendeter Form abgespiegelt ist … und ich werde mich jedenfalls mit einer Seitenloge begnügen müssen.› Die Erinnerungslyrik seiner Novellen ist die Rettung des nackten Lebens aus einem Schiffbruch.
Mit solchen Stimmungen hängt auch das Wiederaufkommen des Humors in der deutschen Literatur zusammen. Sozial bewegt sich der deutsche Humor dieser Zeit zwischen den Polen einer tief verzweifelten Lebensstimmung und einer angeblich reifen und verklärten Abfindung mit der Armseligkeit der deutschen Entwicklung. Gottfried Keller hat die hier entstehende Gefahr für die deutsche Literatur schon nach der Niederlage der Revolution gesehen. Er meint, ein Volksschriftsteller dürfe nicht im Stile von Sterne oder Jean Paul schreiben, und fügt hinzu: ‹es war eine unglückselige und trübe Zeit, wo man bei ihr Trost holen mußte, und verhüten die Götter, daß sie … noch einmal aufblühe›. Den Pol ehrlicher Verzweiflung trifft Wilhelm Busch mit folgenden Versen:
Es sitzt ein Vogel auf dem Leim,
Er flattert sehr und kann nicht heim.
Ein schwarzer Kater schleicht herzu,
Die Krallen scharf, die Augen gluh.
Am Baum hinauf und immer höher
Kommt er dem armen Vogel näher.
Der Vogel denkt: Weil das so ist
Und weil mich doch der Kater frißt,
So will ich keine Zeit verlieren,
Will noch ein wenig quinquilieren
Und lustig pfeifen wie zuvor.
Der Vogel, scheint mir, hat Humor.
Auch hier ist, so allgemein menschlich der Ton gehalten ist, das Deutsch-Spießbürgerliche stark fühlbar. Aber Wilhelm Busch ist ein leidenschaftlicher Gegner des Spießertums, während der Humor des anderen Pols gerade dessen humoristische Verklärung betreibt. Der berühmte Ästhetiker F. Th. Vischer hat mit seinem Roman ‹Auch einer› und dessen theoretischer Verteidigung am klarsten diese Absicht verfolgt. Die allen offenkundigen, die Besten niederdrückenden Widersprüche des deutschen Lebens erhalten in dieser ästhetischen Metaphysik des Humors folgende Gestalt: ‹Ich führe die sogenannten kleinen Übel des Lebens auf, um die Pein halb komisch, halb tragisch, halb in Gelächter, halb in Mitleid mit Menschenschicksal aufzulösen … Ich behaupte: die Plackerei mit dem Kleinen, das uns sehr in den Weg fährt, ist ein allgemein menschliches Leiden, das schnurgerade auf die furchtbare Wahrheit führt, daß der Geist, der Sohn des Himmels, in den Staubleib, in das rohe Gepuff der Körperwelt gebannt ist!› Die konkrete, historisch-politisch-soziale Armseligkeit Deutschlands wird damit humoristisch zum ‹ewigen› Gegensatz von Ideal und Wirklichkeit, von Geist und Leib sublimiert. Wie Vischers Theorie von der ‹Tragik› der Gegenrevolution die historische Notwendigkeit des Fortschritts ersticken mußte, so predigt auch seine Theorie des Humors eine Versöhnung mit dem Spießertum im deutschen Elend.
Fritz Reuter, vielleicht das größte, jedenfalls das urwüchsigste humoristische Talent Deutschlands in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, bewegt sich zwischen beiden Polen, nur daß bei ihm die Versöhnung gemütlicher, spontaner, nicht ins Weltanschauliche vertieft, also ungefährlicher, vorhanden ist. Sie ist aber da. Man mag es menschlich schön finden, daß Reuter, an dem bei den Demagogenverfolgungen ein schändliches Justizverbrechen verübt wurde, in seiner ‹Festungstid› fast nur gemütlich-humoristische Farben zur Schilderung dieser schauerlichen Zeit grausamster Seelenschinderei findet; er vernichtet aber damit in sich den großen weltanschaulichen Hintergrund, der den Werken der alten Humoristen ihre Tiefe gab. In seinem bedeutendsten Werk (‹Ut mine Stromtid›) verdeckt die hinreißend sinnliche Lebensechtheit der Hauptfiguren und der komischen Situationen diesen Mangel. Er ist aber auch in diesem Werke da und bewirkt, daß manches, was der Anlage nach bedeutend humoristisch sein könnte, ins bloß Ulkig-Lächerliche oder Sentimentale hinabgleitet. Die beispiellose Volkstümlichkeit des Werkes, durch die es wirklich zu einem deutschen Volksbuch wurde, ist also – vom Standpunkt der ideologischen Entwicklung aus gesehen – eine zweiseitige und recht zwiespältige Tatsache.
Bei Wilhelm Raabe fehlt das Kompromiß, sowohl das gemütliche wie das grundsätzlich weltanschauliche. Sein Humor erwächst aus einer tiefen politischsozialen Verzweiflung. Er sieht das unaufhaltsame Emporkommen des neuen Deutschland, sowohl des kapitalistischen wie des hohenzollerisch verpreußten; er sieht klarer als viele seiner Zeitgenossen, daß dabei alle seelischen, geistigen und moralischen Werte des alten Deutschland zwangsläufig zugrunde gehen. Raabe will sich nicht blind und stur der Entwicklung entgegenwerfen; er ist kein romantischer Reaktionär, hat aber, trotz urwüchsig demokratischer Gefühle, keine Ahnung, wie man dem deutschen Schicksalsweg eine neue Wendung geben könnte. Auf dem Boden dieser Ratlosigkeit entsteht sein Humor. Er ist die traurig-ergreifende, lyrisch-groteske Komik der Don Quijotes der alten deutschen Humanität im Kampfe mit den alles niedertrampelnden Herden des neupreußisch-kapitalistischen, selbstzufrieden aufgedunsenen Spießertums. Echte Menschlichkeit findet hier ebensowenig Luft zum Atmen wie früher im kleinlich zerstückelten Deutschland. Raabes Helden sind daher ausnahmslos äußerlich oder innerlich Deklassierte: Soldaten der Befreiungskriege, die, über ihre Folgen verzweifelt, internationale Kämpfer für die Freiheit in Polenaufständen, in Südamerika werden, oder Sonderlinge, die in irgendeine Sonderlichkeit geflüchtet sind, um das neue Leben überhaupt ertragen zu können. Indem Raabe nicht nur das Lächerliche am selbstgefälligen Spießertum des kleinen und des vergrößerten Deutschland sieht, sondern zugleich das Komische – spießerhaft Komische – der Flucht seiner geliebtesten Gestalten ins Sonderlingstum, wird er zu einem echten Humoristen.
Der Roman ist die Gattung, die der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft am meisten entspricht; seine Originalität, Gestaltungshöhe und Gehaltstiefe sind der beste Gradmesser für die moderne literarische Entwicklung. Nun haben wir im neuen Deutschland zwei Linien gesehen. Die eine will, wie der französische Roman, vom gesellschaftlich-geistigen Mittelpunkt aus die soziale Ganzheit gestalten. Sie sinkt in Deutschland von der nicht allzu beträchtlichen und durchaus fragwürdigen Höhe der Gutzkowschen Versuche bis zum schlechten Unterhaltungsroman der Berliner Literaten in den achtziger Jahren herab. Die andere zeigt das Bestreben, aus der deutschen provinziellen Enge einen Weg zur Universalität zu bahnen. An ihrem Anfang steht die tiefe Problematik Immermanns, an ihrem Ende die nicht minder tiefe Problematik Raabes. Wenn man ergänzend hinzufügt, daß es seit Hebbels und Wagners Tod kein deutsches Drama von künstlerischer Bedeutung gibt (denn das sogenannte deutsche Gesellschaftsstück oder die historische Dramatik von Wildenbruch kommen literarisch nicht in Frage) und daß die deutsche Lyrik, wenn man von Abseitsstehenden, wie Meyer und Storm, absieht, rein epigonenhaft geworden ist, so vollendet sich das Bild des Niedergangs, der nach 1848 begann und nach der Reichsgründung ganz große Ausmaße annahm.
In dieser Zeit lebt nur ein Schriftsteller deutscher Zunge, an dessen Werk keine der vielgestaltigen Widerwärtigkeiten der deutschen Entwicklung seit 1848 auch nur heranreichen kann, ein volkstümlicher Klassiker der demokratischen Weltanschauung, in dem die besten Überlieferungen des Goetheschen Realismus zu neuem, zeitgemäßen Leben erwacht sind, dessen Gehalt und Formgebung auf der Höhe der besten zeitgenössischen Weltliteratur steht: Gottfried Keller.
Seit langer Zeit sieht die deutsche Literaturgeschichte in Keller die dichterische Hauptstadt der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Sie übersieht oder verschweigt aber, daß diese Feststellung kein Gegengewicht gegen den literarischen Niedergang seit 1848 bildet, sondern dessen Tiefenbewegung nur noch klarer aufweist. Kellers Größe ist der brennendste Vorwurf, den die entwürdigte Literatur gegen den Entwicklungsweg der deutschen Nation erheben kann.
Denn – trotz seiner wichtigen schweizerischen Wurzeln – ist der Werdegang des Schriftstellers Keller bis 1848 typisch deutsch. Er geht den Weg von Jean Paul zu Goethe, er wetteifert mit der deutschen politischen Lyrik der vierziger Jahre und bildet sich an ihr; vor allem aber bestimmt die letzte Gipfelgestalt der bürgerlichen Philosophie in Deutschland, Ludwig Feuerbach, seine Weltanschauung. Wenn er aber unmittelbar nach der Niederlage der Revolution in Berlin lebt, so ist sein Aufenthalt bereits ein Emigrantendasein. Seine Rückkehr nach Zürich ist keine Flucht in eine provinziell-idyllische Enge (wie bei Storm oder Raabe), sondern der antäushafte Kraftaufschwung durch die Berührung mit der Schweizer Demokratie, die ihm nicht nur die Stoffe gibt, sondern auch die seelische Möglichkeit zum Citoyen-Pathos, zur plebejisch-demokratischen Weiterführung der dichterischen Probleme des klassischen deutschen Humanismus. Ist also hier in deutscher Sprache etwas entstanden, was man an Flaubert oder Dickens, an Turgenjew oder Tolstoi messen kann, so muß man sich stets dessen bewußt sein, daß Keller, um seine schriftstellerischen Möglichkeiten zu entfalten, nicht nur geographisch-politisch außerhalb Deutschlands leben mußte, sondern auch mit dessen ganzer weltanschaulicher und literarischer Entwicklung seit 1848 brechen mußte. Sein – schweizerisches – Werk zeigt, was aus der deutschen Literatur hätte werden können, wenn 1848 die demokratische Revolution gesiegt hätte; sie hätte auch den Sieg über die ideologischen Krankheiten des deutschen Geistes und damit der deutschen Literatur bedeutet. Freilich hätte dieser Sieg weite Verbreitung jener Erkenntnisse über die deutsche Misere vorausgesetzt, die vor der Revolution nur in einigen Spitzengestalten und nach ihr nur in Gottfried Keller literarisch lebendig waren. Thomas Mann hat den bei Keller wirksam und fruchtbar gewordenen Gegensatz zwischen deutscher und Schweizer Entwicklung klar gesehen:
‹Vor unseren Augen lebt eine Spielart deutschen Volkstums, die, vom Hauptstamm politisch frühzeitig getrennt, seine geistigen, sittlichen Schicksale nur bis zu einem gewissen Grade geteilt, die Fühlung mit westeuropäischem Denken niemals verloren und die Entartung des Romantismus, die uns zu Einsamen und outlaws machte, nicht miterlebt hat … Das ist eine Krankheit, die sie nicht gehabt haben … Eines aber jedenfalls kann der Anblick des Schweizer Wesens uns lehren: Eine Stufe des deutschen Schicksalsganges, die irrend zu überschreiten war, nicht mit dem Deutschtum selbst … zu verwechseln.›
Nur in einem solchen Zusammenhang darf Keller als Gipfelgestalt der deutschen Literatur gefaßt werden: als Mahnung und Vorwurf – als lockendes Ziel im Falle einer völligen Umkehr des deutschen Volkes.
Keller gehört, als einer der größten Epiker des 19. Jahrhunderts, der Weltliteratur an. Daß er internationale Geltung noch nicht oder höchstens teilweise besitzt, ändert am objektiven Tatbestand nichts. Es scheint aber heute an der Zeit zu sein, Kellers Lebenswerk von diesem Gesichtspunkt aus zu betrachten und den ihm zukommenden historischen Platz inmitten der wirklichen Größen der Weltliteratur zu bestimmen. Das Ziel dieser Betrachtungen steht im bewußten Gegensatz zu den meistens lokal deutschen oder schweizerischen Würdigungen Kellers.
Die gedankliche Auseinandersetzung mit dem Klassiker der Demokratie hat aber heute noch eine besondere Aktualität. Der Mißbrauch aller einst revolutionären demokratischen Ideale für die Interessen des Imperialismus rückte zwangsläufig alle Schranken der bürgerlichen Demokratie in eine besonders grelle Beleuchtung. Es ist jedoch gerade in dieser Lage lehrreich und nützlich, sich mit den ehrlichen und bedeutenden Vertretern der Demokratie vergangener Perioden eingehend zu beschäftigen. Ihr Beispiel, ihre gedankliche, sittliche und künstlerische Kultur ist eine offenkundige Entlarvung der Verkommenheit und Barbarei der gegenwärtigen niedrig-selbstsüchtigen Imperialisten, bei denen das Wort Demokratie zur heuchlerischen und hohlen Phrase wurde. Derartige Untersuchungen führen zugleich das Erbe unserer Klassiker an seine eigentliche Heimstätte zurück; zum befreiten Volk von heute, das jeden echten Freiheitskämpfer als seinen eigenen Ahnen liebt und ehrt.
Die Niederlage der bürgerlich-demokratischen Revolution im Jahre 1848 bedeutet eine große Wendung in der deutschen Literatur. Wir heben hier nur zwei Momente hervor: erstens den Abbruch jener revolutionär-demokratischen Entwicklungslinie, die in der Vorbereitungszeit der Großen Französischen Revolution ihren Anfang hat und in den vierziger Jahren ihren Gipfelpunkt erreichte. Politisch läßt sich diese Wendung dadurch am kürzesten charakterisieren, daß, während die Demokratie vor 1848 durch Erringen der Freiheit die nationale Einheit Deutschlands herstellen wollte, nunmehr die geistigen Führer des sich immer stärker zum Nationalliberalismus entwickelnden Bürgertums der ‹Einheit› den unbedingten Vorrang vor der ‹Freiheit› auch in der zeitlichen Aufeinanderfolge geben. Das heißt, sie bereiten die Kapitulation des deutschen Bürgertums vor dem Bismarck-Hohenzollernschen Preußen vor.
Diese Entwicklung kulminiert im patriotischen Jubel der Siege über Frankreich. Wenn man aber die geistige Entwicklung dieser Zeit näher untersucht, so sieht man, daß dieser Jubel zwar insofern objektiv berechtigt war, als die militärischen Siege der Hohenzollern tatsächlich die Erfüllung der zentralen Zielsetzung der bürgerlichen Revolution in Deutschland, nämlich die Herstellung der nationalen Einheit, bringen, die Art, wie diese Sehnsucht erfüllt wird, jedoch zugleich einen Bruch mit den besten sozialen und ideologischen, politischen und künstlerischen Traditionen Deutschlands bedeutet. Darum werden diese Siege geistig-seelisch vorbereitet teils durch eine prinzipienlose Anpassung an das Hohenzollern-Preußen, teils – bei den ehrlichsten und besten der damaligen geistigen Wortführer – durch eine tiefe Depression, eine von Erbitterung erfüllte Resignation. Nicht zufällig sind die Jahrzehnte nach der Niederlage der Revolution die Zeit der philosophischen Herrschaft Schopenhauers.
Zweitens bringt diese Periode den ersten großen Aufschwung des deutschen Kapitalismus. Aber die im Vergleich zu den westlichen Ländern verspätete Entwicklung in Deutschland nimmt diesem Aufschwung jene düster vorschreitende Großartigkeit, die sie in England und Frankreich hatte. Hier wie dort bringt die Verwandlung halbpatriarchalischer Verhältnisse in kapitalistische eine ungeheure Verelendung breiter werktätiger Massen mit sich. Während aber die Entstehungsgeschichte des Kapitalismus in England und Frankreich ein Gewitter ist, das die morschen Überreste des Mittelalters wegfegt, werden im Deutschland der Reaktion auch die elendesten und beengendsten Überbleibsel der vorkapitalistischen Zeit erhalten; nur das verschwindet allmählich, was unmittelbar ökonomisch mit der Entwicklung des Kapitalismus unvereinbar ist. Der deutsche Kapitalismus zersetzt jene primitiveren gesellschaftlichen Verhältnisse, die im 17. Jahrhundert in England, im 18. in Frankreich den Schwung der demokratischen Revolution sozial ermöglicht haben und die in Deutschland die gesellschaftliche Grundlage der Entwicklung der Philosophie von Leibniz bis Hegel, der Literatur von Lessing bis Heine gebildet haben.
Die wirtschaftliche und politische Rückständigkeit Deutschlands hat die Entwicklung der Literatur bestimmt. Bei der sozialen Rückständigkeit und nationalen Zerrissenheit konnten im Leben keine Handlungen entstehen, in welchen große nationale und soziale Probleme sich unmittelbar