Paul Senftenberg
Fahren mit wehendem Haar
Paul Senftenberg ist ein niederösterreichischer Autor.
Im Himmelstürmer Verlag erschienen bisher:
Eine ganz andere Liebe, Juli 2013, ISBN print 978-3-86361-316-7
Narben, März 2014, ISBN print 978-3-86361-364-8
Damals ist vorbei, September 2014, ISBN print 978-3-86361-403-4
Ein Lächeln mit Zukunft, Februar 2017, ISBN print 978-3-86361-620-5
Alle Bücher auch als E-book
Autorenhomepage: www.paulsenftenberg.at
Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,
Himmelstürmer is part of Production House GmbH
www.himmelstuermer.de
E-mail: info@himmelstuermer.de
Originalausgabe, April2018
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages
Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage.
Cover painting:
Martin-Jan van Santen: „Spots“ (2013), Öl auf Leinwand, 50x70 cm www.martinjanvansanten.com
Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de
E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH
ISBN print 978-3-86361-675-5
ISBN epub 978-3-86361-676-2
ISBN pdf: 978-3-86361-677-9
„Wenn einer fortgeht, muss er den Hut
mit den Muscheln, die er sommerüber
gesammelt hat, ins Meer werfen
und fahren mit wehendem Haar,
er muss den Tisch, den er seiner Liebe
deckte, ins Meer stürzen,
er muss den Rest des Weins,
der im Glas blieb, ins Meer schütten,
er muss den Fischen sein Brot geben
und einen Tropfen Blut ins Meer mischen,
er muss sein Messer gut in die Wellen treiben
und seinen Schuh versenken,
Herz, Anker und Kreuz,
und fahren mit wehendem Haar!
Dann wird er wiederkommen.
Wann?
Frag nicht.“
(Ingeborg Bachmann, Lieder von einer Insel)
Zeit seines Lebens hatte Hans Bauer das Gefühl, seinen Sohn vor allem denkbaren Unbill in Schutz nehmen zu müssen. Jetzt liegt er nach einem zweiten Schlaganfall in seinem Bett und ist unfähig, aus eigener Kraft auch nur aufs Klo zu gehen. Wenn er spürt, dass er die Bettpfanne braucht, drückt er auf die Schnellruftaste des Telefons. Manchmal ist Markus im Haus, dann ist er gleich bei ihm. Wenn er zu anderen Zeiten bei seinen Verrichtungen draußen auf dem Friedhof ist, dauert es länger, bis er seine Schritte auf der Treppe hört. Ihm ist bewusst, dass er seinen Sohn von der Arbeit abhält, doch er hat keine andere Wahl. Er trägt zwar Windeln, darauf hat Markus bestanden, aber die sind nur für den Notfall. Wenn irgendwie möglich möchte sich Hans die Demütigung ersparen, dass sein Sohn seine volle Windel entfernen muss. Die Bettpfanne ist für ihn das geringere Übel, trotz der Peinlichkeit, wenn ihm Markus die Schüssel unter den Hintern schiebt und zur Seite schaut, während Hans sich erleichtert. Er hört Markus dann auf der Toilette und im Badezimmer hantieren, hört das Wasser rauschen, wenn er die Pfanne auswäscht, und kann ihm erst wieder in die Augen schauen, wenn er damit zurückkommt und sie, sauber und glänzend, neben das Bett stellt.
Die Rollen haben sich umgekehrt; jetzt ist Hans auf Markus angewiesen. Während der endlosen Stunden, in denen er allein im Bett liegt oder am Fenster und in seinem Rollstuhl auch mal unten vor dem Haus sitzt, beides mit Blick auf den Friedhof, wälzt Hans Gedanken wie diesen. Sein Sohn redet nicht viel mit ihm, er war nie sehr mitteilsam. Er erledigt die Handgriffe, die nötig sind und die ihm die Pflegerin, die einmal täglich vorbeikommt, um nach Hans zu sehen, beigebracht hat. Er wäscht den Vater, kocht Essen für ihn und hilft ihm dabei, kleine Bissen in den Mund zu schieben, sollte Hans’ Hand wieder einmal zu sehr zittern. Er stützt ihn auf dem endlosen Weg zu dem Sessel am Fenster, den Hans unter Anleitung eines Physiotherapeuten zu gehen gelernt hat und den er jetzt selbst an guten Tagen nur mit Markus’ Hilfe, mit großer Anstrengung und mit vorsichtigen, kleinen Schritten zurückzulegen vermag. Zu anderen Gelegenheiten trägt Markus seinen Vater die Treppe hinunter ins Wohnzimmer; mit den Muskeln, die er sich antrainiert hat, ist das keine allzu große Mühe für ihn. Er richtet ihn auf dem Sofa vor dem Fernseher ein oder schiebt den Rollstuhl bei schönem, aber nicht zu heißem Wetter eine Runde auf den Wegen zwischen den Gräbern. Und immer, wenn Hans einen Blick auf sein Gesicht erhascht, trägt sein Sohn dieses schmale Lächeln auf seinen seltsamen Zügen und ist für ihn so undurchschaubar, wie er es schon als Kind war.
Hans hat wenig Ahnung von Markus’ Leben abseits seiner Tätigkeiten auf dem Friedhof. Während der langen einsamen Stunden kriegt Hans die Vorstellung aber nicht aus dem Kopf, dass es da sehr wohl Dinge geben könnte, vor denen er ihn bewahren sollte.
Groß, dunkel und weit aufgerissen starren die Augen aus dem Wasser. Kein Zwinkern oder Zucken im Gesicht, eingerahmt vom dunklen Tang treibender Haare. Auch keine Bewegung des Körpers, nackt und schmal und bleich unter dem grellen Licht der Deckenleuchten in der Wanne. Die Arme dieses Körpers liegen an den Seiten, die Beine sind leicht angewinkelt, sodass die Knie spitz aus dem Wasser ragen und am Ende der Wanne auch die Füße darunter Platz finden. Die Reglosigkeit eines Leichnams. Kein Atmen, nur Stille; die Zeit vergeht ohne merkliche Auswirkungen auf den Jungen in der Wanne.
Auf einmal drängt sich eine kleine Luftblase zwischen den Lippen hervor. Noch bevor sie an der Wasseroberfläche zerplatzt, klappen die Augenlider zu und setzt sich Lukas mit einem Ruck auf. Wasser spritzt hoch und über den Rand der Badewanne und rinnt auch aus Lukas’ Locken. Sein Brustkorb wölbt sich vor, die Haut ist straff über den Rippen gespannt; mit einer Art Röcheln saugt der Junge Luft in seine Lungen. Dann zieht er die Knie hoch und mit den verschränkten Armen bis zur Brust; der Kopf sinkt nach unten und sein Rücken wird krumm. So sitzt er eine Weile da und rührt sich dabei wieder nicht. Die Wellen, die er vorhin in der Wanne erzeugt hat, ebben ab, die Oberfläche des Wassers ist wieder ruhig.
Allein Lukas’ Atmen ist nicht regelmäßig, es ist ein Japsen zwischen ganz stillen Momenten. Doch plötzlich umklammern seine Hände den Rand der Badewanne. Lukas zieht sich hoch und steht im Wasser. Abermals ist keine Kraft in seinem Körper und hält er eine Zeitlang inne. Wie vorhin ist sein Kopf gesenkt, die Lider sind halb geschlossen. Seine Lippen sind fest aufeinandergepresst und halten das Zucken des Mundes in Zaum.
Endlich steigt Lukas aus der Wanne. Er geht zum Waschbecken, dabei kümmert er sich nicht um die nassen Tritte, die er auf den Fliesen hinterlässt. Der Spiegel über dem Becken ist beschlagen. Lukas wischt mit der Hand mehrmals darüber. Er hebt den Kopf und schaut sich selbst in die Augen. Es ist, als stünde sein Spiegelbild im Regen.
Selbst nach drei Operationen kann sich Markus nicht in einem Spiegel sehen, ohne dass sich ihm der Magen umdreht. Er ist sich bewusst, dass von der Verunstaltung von früher nur noch eine feine Narbe zu erkennen ist, eine blasse, leicht geschwungene Linie zwischen der Oberlippe und der Nase, die Markus immer schon als zu groß erschienen ist. Er trägt seit ein paar Jahren einen Bart. Auf der Narbe selbst wachsen keine Haare, doch die daneben verdecken sie zumindest zum Teil. Trotzdem gelingt es Markus nicht, sie als jenen Bestandteil seines Gesichts anzunehmen, der es in positiver Weise aus der Durchschnittlichkeit hebt. Für ihn ist sie weiterhin der Riss, der, weit über die tatsächlichen Ränder hinaus, seinen Kopf in zwei Hälften spaltet. Der Anblick der Hasenscharte als klaffende Wunde in seinen Zügen hat sich sosehr in sein Bild von sich selbst eingebrannt, dass er nach wie vor die alte, vielfach erprobte Taktik anwendet: ein halbblindes verschleiertes Streifen des Kopfes, und erst unterhalb des Halses wird der Blick klar. Er erfreut sich dann immer an seinem trainierten Körper und denkt sich das Gesicht eines jungen Mannes dazu, so ebenmäßig und schön wie die der Darsteller, zu deren Filmen er jeden Abend masturbiert, wenn sein Vater endlich eingeschlafen ist.
In der Fitnesskammer, die sich Markus in einem der Kellerräume eingerichtet hat, ist diese Taktik gar nicht nötig. Dort hat er die Spiegel rundum in einer Höhe angebracht, dass, wenn er davorsteht, nur sein Körper bis zum Hals zu sehen ist. Der Kopf ist abgeschnitten. Nur beim Sitzen, etwa für Bizeps-Curls oder wenn er von der Langbank aufsteht, muss er den Blick gesenkt halten. Aber auch das ist längst kein Problem mehr. Er hat die gebeugte Haltung seines Kopfes sosehr verinnerlicht, dass seine Augen nie Gefahr laufen, das Spiegelbild des Bereiches seiner Körpermitte zu verlassen. Die nahezu perfekte Definition von Brust und Bizeps und die klar sichtbaren Bauchmuskeln, herausgemeißelt wie bei einer Statue, spornen ihn zu immer härterem Training an. Die Bank, ein paar Hanteln, eine Stange und Gewichte, mehr braucht Markus nicht. Übungen von Muskelpartien, für die er hier nicht ausgerüstet ist, absolviert er einmal pro Woche im Fitnessstudio der nahen Stadt. Markus geht nicht gern dorthin, so wie er sich überhaupt nicht gern in der Öffentlichkeit zeigt. Es würde ihm nicht einfallen, sich einfach in ein Kaffeehaus zu setzen oder mit einem Eis in der Stadt spazieren zu gehen. Er würde die ganze Zeit die Blicke der Menschen auf sich fühlen, auch wenn ihm sein Kopf sagt, dass ihm seine Einbildung hier einen Streich spielen würde. Doch sein Körper ist ihm sehr wichtig, deshalb überwindet er sich zur Fahrt in die Stadt; und wenn er in aller Früh trainiert, begegnet er meist keinem. Er kommt bereits im Trainingsanzug, sodass er sich nicht im Studio umziehen muss, und erledigt das Duschen zu Hause. Auf diese Weise gelingt es ihm, in Grenzen zu halten, was ihm unangenehm ist.
Wenn er allein in seinem Reich ist, dem kleinen Kellerraum unter der Erde und fernab von all dem Spott, den sein Gesicht im Laufe seines Lebens bereits auf sich gezogen hat, kommt er auf keine Gedanken, die ihn zu Boden drücken. Er befindet sich in einer Wolke, die ihn trägt, umgeben von den Abbildern eines Körpers wie aus dem Katalog von Modellen und der treibenden Musik, in der er sich bewegt wie eine Mischung aus Tänzer und Boxer, wie ein Filmstar, wie ein Held.
Seit dem zweiten Schlaganfall seines Vaters hat Markus sich angewöhnt, die Lautstärke der Musik soweit hinunter zu drehen, dass das Training dazu gerade noch möglich ist. Er möchte das Klingeln des Handys nicht überhören, wenn der Vater Hilfe braucht. Der Vater trägt Windeln, darauf hat Markus bestanden, nachdem er es zweimal nicht rechtzeitig die zwei Stockwerke hinauf geschafft hat. Er versorgt den Vater den ganzen Tag lang und tut alles für ihn, was nötig ist; doch abgesehen davon, dass es unausweichlich ist, ihm den Hintern abzuwischen, kann er darauf verzichten, die Scheiße von seinem Körper zu waschen.
Dennoch versetzt ihn der Klingelton, der ihm den Vater anzeigt, jedes Mal in Unruhe. Beim ersten Anfall kippte der Vater am Küchentisch einfach nach vorn; die Hände umklammerten weiterhin Messer und Gabel samt aufgespießtem Stück Knödel, doch der Oberkörper schlug gegen die Tischkante und der Kopf auf dem Teller auf. Der zweite Schlaganfall kam zu einem Zeitpunkt kurz nach dem Aufenthalt in einer Rehaklinik, als Markus eigentlich den Eindruck hatte, es würde mit dem Vater wieder bergauf gehen. Hans stand ihm im Vorzimmer gegenüber und kündigte ihm einen kurzen Spaziergang durch den Friedhof an, dessen Areal an ihr Haus grenzt. Der Vater hatte ohne Hilfe den Mantel angezogen, da sackte sein linker Mundwinkel ab. Der Arm fiel nach unten und die Mütze zu Boden. Markus gelang es gerade noch, den Körper des Vaters abzustützen und ihn auf die Schuhbank zu hieven. Dort saß er halb, lag er halb, bis der Notarzt eintraf.
Immer noch setzt der Klingelton des Vaters die Abfolge dieser Bilder in Gang und lässt Markus die Hanteln fast fallen. Immer noch läuft er die Treppe hoch, so schnell er kann. Immer noch steht er mit Herzklopfen vor dem Bett.
„Was ist, Papa?“
„Markus …“
„Brauchst du etwas?“
„Dich brauche ich.“
„Mich? Ich bin grade am Trainieren. Ich habe grade erst angefangen. Es gab heute viel Arbeit. Morgen ist ein Begräbnis.“
„Du kannst noch so viel trainieren, wenn ich nicht mehr da bin.“
„Du gehst noch nicht so bald. Sicher nicht!“
„Bleib trotzdem bei mir. Der Tag ist so lang.“
Wenn es sich Markus auch nicht eingestehen will, schafft die Krankheit seines Vaters so etwas wie Sinn in seinem Tagesablauf, der ihm vorher unbekannt war, gibt ihm die Pflege des bettlägerigen Mannes, so anstrengend sie ihm zuweilen erscheinen mag, eine straffe Struktur, die ihn davon abhält, endlos Gedanken zu wälzen, die zu nichts führen. Der Vater hat recht: Trainieren kann Markus sein ganzes Leben immer noch. Die Abendstunden mit ihm zu verbringen, wird aber vielleicht bald nicht mehr möglich sein. So setzt sich Markus aufs Bett. Er nimmt die Hand, die dort auf der Decke liegt, und hält sie in der seinen. Sie ist so anders als die Hand des Vaters von früher, so leicht, fast gewichtslos. Die faltige Haut, die dicken blauen Adern; die Kraftlosigkeit.
„Ich bleibe bei dir“, sagt Markus leise, „bis du eingeschlafen bist.“
Die Kaffeetasse in der Hand, starrt Lukas am Geländer der Terrasse ins Leere. Er blickt über die Dächer der Stadt, ohne Konkretes wahrzunehmen. Er ist nackt. Seine Haare trocknen im warmen Wind. Schräg über ihm zerfasern die Kondensstreifen eines Flugzeugs am blassblauen Himmel. Lukas nimmt einen Schluck aus der Tasse, es dauert aber geraume Zeit, bis er ihn hinunterschluckt. Lukas gibt den Anschein von großer Gelassenheit, doch im Grunde genommen kann er für nichts Interesse aufbringen. Eher früher als später ist er ohnehin wieder bei seinen Eltern und der Tatsache angelangt, dass sie nicht mehr bei ihm sind und dass diese krasse Änderung in seinem Leben ohne Ankündigung, ohne Vorwarnung und somit ohne die Gelegenheit vonstatten ging, sich der Idee zu nähern, von nun an allein zu sein. Genau aus diesem Grund kann Lukas sie nicht aus seinem Denken ziehen lassen; sie haben sich darin festgesetzt wie eine Krankheit, die seine gesamte Existenz metastasenartig in Besitz genommen hat. Der Gedanke, sie loswerden zu wollen, ist, was Lukas am meisten erschreckt.
Seine Finger lösen sich aus dem Griff um die Tasse und lassen sie in die Tiefe fallen. Lukas schaut oder horcht ihr nicht nach. Er wendet sich um und betritt die kühle Wohnung mit den weißen Wänden und den überwiegend weißen Möbeln. Er schließt die fast raumhohe Glastür hinter sich. Jetzt ist er noch mehr für sich als auf der Terrasse. Er kauert sich aufs Sofa; das dunkle Leder fühlt sich an seiner Haut weich an. Er zappt durch die Sender, eine Abfolge sinnloser Szenen auf dem riesigen Flachbildschirm. Lukas kneift die Augen zusammen, trotzdem gelangen noch zu viele der flackernden Bilder in seinen Kopf. Er schaltet den Fernseher wieder ab. Für einen Moment ist er ganz still, dann schleudert er unvermittelt die Fernbedienung von sich.
Er springt auf die Beine und läuft in sein Schlafzimmer. Um ein Haar stolpert er über die Kleidungsstücke auf dem Boden. Er flucht leise vor sich hin. Er hat die Putzfrau seit dem Tod der Eltern trotz ihrer wiederholten Nachrichten auf seinem Telefon nicht mehr in die Wohnung gelassen. Er reißt eine der Schiebetüren der Schrankwand so heftig zur Seite, dass sie gegen die Wand daneben kracht und plötzlich ein gezackter Sprung das milchige Glas zerteilt. Er kümmert sich nicht darum. Er holt eine Short hervor und schlüpft hinein, dann ein T-Shirt, ohne auf die Farbe und das Logo zu achten.
Die Flip-Flops sind im Vorzimmer, die Schlüssel liegen auf der Ablage neben der Wohnungstür, die hinter Lukas ins Schloss fällt. Er hat keine Geduld, um auf den Lift zu warten. Stattdessen rennt er die acht Stockwerke hinunter, als würde er gejagt. Er streunt durch die Stadt und nimmt dabei Teile seiner Umgebung wahr, sieht sich aber außerstande, sie zu einem Ganzen zusammenzufügen. Er geht durch die Gassen und quer über den Hauptplatz, er gelangt an die Brücke über den Fluss, an dessen Ufern er immer mit seinen Freunden herumhing; früher, als er gern unter Leuten war. Doch jetzt nerven sie ihn wie vorhin die Fernsehbilder. Die Eiligen, die Paare, die Stimmen, das Lachen: Eindringlinge, zu grell und zu laut. Lukas steht eine Zeitlang auf der Brücke herum, er steigt von einem Fuß auf den anderen, er hat keinen Plan oder sträubt sich noch gegen den, der sich in seinem Kopf breitzumachen beginnt. Schließlich gibt er ihm nach. Er läuft die Stufen zum Fluss hinunter. Er schlägt ein rasches Tempo ein. In dieser Geschwindigkeit, weiß er, wird er knappe zwei Stunden bis zu dem Ort brauchen, zu dem es ihn zieht.
Etwas mehr als eine Woche vor Beginn der Sommerferien bricht unter Nepomuk in der Schule der Stuhl zusammen. Nepomuk sitzt an seinem Platz, der Geografielehrer erklärt gerade die Ursachen der jüngsten Hungerkatastrophe im Sudan. Da kracht – abgesehen von einem leisen Knarren – ohne die geringste Vorwarnung der Stuhl in sich zusammen. Nepomuk kann gar nicht so schnell reagieren. Plötzlich liegt er inmitten der zersplitterten Bestandteile seines Stuhls auf dem Boden und weiß im ersten Moment nicht, was geschehen ist. Er schaut sich um, zuerst verwirrt, dann immer verzweifelter, als seine Mitschüler anfangen, ihn mit Schimpfwörtern zu attackieren. Wie immer halten sie damit nicht hinter dem Berg und verwenden dabei sehr anschauliche Formulierungen. „Fettarsch! Fettarsch!“ rufen sie jetzt und klatschen dazu im Takt. Nepomuk ist so nervös, so zittrig und fahrig, dass er Mühe hat, seine Bewegungen zu koordinieren und wieder auf die Beine zu kommen. Dabei rutscht seine schweißnasse Hand von der Tischkante ab, an der er sich abzustützen versucht, und er sackt wieder zurück auf den Boden.
Abermals lachen alle. Nepomuk ist hochrot im Gesicht. Wie schon so oft wünscht er sich, es machen zu können wie die Bezaubernde Jeannie aus der alten Fernsehserie, auf die Nepomuk im Internet gestoßen ist: die Arme verschränken, die Augen zu und mit dem Kopf nicken – und schon wäre er ganz woanders. An einem Ort, wo ihm keiner jeden Morgen höhnisch zuruft, ob er schon einen Schweinsbraten verdrückt hätte und wann denn das erste Schnitzel dran käme.
Wenn er mit sich selbst ehrlich ist, muss Nepomuk aber zugeben, dass er mit dem zierlichen Flaschengeist nicht die geringste Ähnlichkeit besitzt. Ganz im Gegenteil könnte er eher die Rolle eines gemästeten Haremswärters ausfüllen. Nicht einmal in seinen kühnsten Träumen schafft er es, sich schlank und schön vorzustellen. Denn Nepomuks Körperumfang ist wirklich enorm. Es ist ihm klar, wie er aussieht, wenn er in der Schule an seinem Platz sitzt und sein Shirt oder der Pullover hochgerutscht sind. Nepomuks Schwimmreifen wölbt sich um seinen Rumpf, der obere Teil des Hinterns mit der teigigen, weißen Haut, den roten Pickeln und den vereinzelten gekrausten Haaren darauf drängt aus der Hose. Wenn er es zulässt, dass seine Gedanken in diese Richtung drängen, kann Nepomuk die Blicke aller, die hinter ihm sitzen, auf seinem Hintern fühlen. Er weiß genau, wie er so aussieht, er hat das einmal mit einer raffinierten Anordnung von Spiegeln zuhause für sich sichtbar gemacht. Da hat ihm vor sich selbst gegraust.
Nepomuks Bild von sich selbst ist realistisch. Er ist sich bewusst, dass seine Maße so gewaltig sind, dass in den meisten seiner Körperglieder bequem zwei normal gebaute Burschen Platz hätten. Er hat die Proportionen einer Seekuh, das sieht er selbst so; nur dass er sich in seinem Element nicht so schwerelos und elegant bewegt wie diese Meeressäugetiere sich in dem ihren. Er hat die fleischigen Arme eines Sumoringers, aber er ist nicht stark genug, um sich gegen die anderen Jungen in der Schule zur Wehr setzen zu können. Beim Gehen scheint jeder Körperteil ständig in eine andere Richtung weghüpfen zu wollen. Beim Sitzen quellen seine Schenkel wie Brei auseinander und sein dreifaches Kinn ist ein glänzender Wackelpudding. Nepomuk ist so dick, seit er denken kann; es war wohl wegen der in seinem Mondgesicht zu Schlitzen verengten Augen, dass vor einigen Jahren einmal jemand auf der Straße seine Mutter fragte, ob er denn ein Chinesenkind sei.
Nur ein Körperteil kann mit diesen Maßen nicht mithalten; zu Nepomuks Leidwesen ist das sein Penis. Er erscheint ihm wie der eines kleinen Kindes. Wenn sich Nepomuk daheim in seinem Zimmer auszieht und sich dazu auf den Rand des Bettes setzt, hängt sein Bauch in einer schweren Falte bis zwischen die Beine. Seinen winzigen Penis muss er erst mühsam unter diesem Fettwulst hervorsuchen. In solchen Momenten kommt sich Nepomuk wie das Mitglied einer Freak-Show vor, eine der Jahrmarktsattraktionen aus dem vorigen Jahrhundert, von denen er in einem Buch über den Elefantenmenschen gelesen hat. Vielleicht, denkt er manchmal, hätte er sich auf einem solchen Rummelplatz sogar besser aufgehoben gefühlt als in seiner realen Lebenswelt. Dort wäre er unter Seinesgleichen gewesen und die Leute hätten Eintrittsgeld bezahlt, um ihn begaffen zu dürfen. Wenn er aber früher in der kleinen Stadt, in der er lebt, im Sommer ins Freibad ging, war er der einzige, der wie eine Kreatur aussah, die es im Grunde genommen gar nicht geben dürfte. Dann zeigten Kinder mit Fingern auf ihn und seine Mitschüler taten so, als würden sie ihn nicht kennen – damit er sich nur ja nicht zu ihnen legte und dadurch die Mädchen abschreckte. Nepomuk geht deshalb schon lang nicht mehr ins Freibad, auch wenn es noch so heiß ist und er sich langweilt und allein fühlt. Er verlässt das Haus überhaupt so selten wie möglich. Nur vor der Schule kann er sich nicht drücken, und das ist jeden Tag aufs Neue ein beschämendes Erlebnis.
Zumindest die Lehrer versuchen, Nepomuk ganz normal zu behandeln. Trotzdem merkt der Junge, dass sie es tunlichst vermeiden, in der Klasse über Themen wie die Ernährungsgewohnheiten von Jugendlichen und Schönheitsideale in der Werbung zu sprechen, die, wie Nepomuk nicht verborgen bleibt, in der Parallelklasse durchaus durchgenommen werden. Nur einer der Sportlehrer drang einmal auf ihn ein, er müsse unbedingt abnehmen. Und dann machte er ihn – vielleicht, um ihn zur Reduktion seines Gewichts zu motivieren – in der Turnstunde zum allgemeinen Gespött, indem er ihm vor allen anderen auftrug, am Seil hochzuklettern. Ein Bild des Jammers: Nepomuk, das Seil in den Händen, den Blick in die Höhe gerichtet, die er nie im Leben zu erklimmen imstande sein würde. Die Knie zitterten ihm, ohne dass er seine Bewegungen kontrollieren konnte, und statt Tränen aus den Augen lief ihm Rotz aus der Nase. Nepomuks Mutter beschwerte sich damals beim Direktor und auch beim Landesschulrat über die pädagogische Unfähigkeit des Lehrers und ließ ihren Sohn vom Sportunterricht befreien – wegen Herzbeschwerden, wie der Hausarzt in seinem Attest schrieb. Nepomuk konnte sich vorstellen, dass alle Beteiligten in der Schule darüber genauso erleichtert waren wie er selbst.
Als der Geografielehrer Nepomuk nun auf die Beine hilft und die anderen Schüler zum Schweigen bringt, ist ihm das schlechte Gewissen geradezu ins Gesicht geschrieben. Nepomuk ist, als könnte er die Gedanken des Lehrers lesen. Dieser schilt sich zweifellos im Stillen, das Problem der afrikanischen Hungerkatastrophen überhaupt angeschnitten zu haben. Vielleicht, so grübelt er wohl, hat das Thema den dicken Nepomuk so unruhig gemacht, dass der Stuhl, der durch den langjährigen Gebrauch vielleicht schon nicht mehr allzu stabil war, schlussendlich durch sein allzu heftiges Herumwetzen zusammenbrach. Dem Lehrer ist wohl auch klar, dass er schon in Nepomuks Sinne die Sache mit dem Stuhl nicht einfach ignorieren kann. Lässt er die Angelegenheit auf sich beruhen und Nepomuk in der Klasse, dann würden ihn die Mitschüler in der Pause zweifellos aufs Ärgste bedrängen. Schon während des Rests der Stunde hat der Geografielehrer große Mühe, die Schüler ruhig zu halten. Als es zur Pause läutet, bedeutet er Nepomuk deshalb, seine Schulsachen zusammenzupacken und mit ihm mit zur Direktion zu kommen.
Nepomuk wartet vor der Tür, während der Lehrer den Direktor informiert. Dann wird der Junge ins Zimmer gerufen.
„Mach dir nur keine Gedanken“, beginnt der Direktor.
Nepomuk erkennt diesen gekünstelt liebenswerten Tonfall, den Erwachsene ihm gegenüber immer dann einsetzen, wenn sie von der Situation überfordert sind.
„Mache ich mir eh nicht“, erwidert er trotzig.
„Deine Eltern müssen den Stuhl nicht bezahlen“, fährt der Direktor unbeirrt fort. „Er war wahrscheinlich schon alt und kaputt. Wir … hätten ihn schon längst aus der Klasse entfernen müssen. Du darfst dir also auf keinen Fall Vorwürfe machen und ...“
„Ich mache mir keine Vorwürfe“, schneidet ihm Nepomuk das Wort ab. „Das brauchen Sie mir nicht zu sagen.“
Darauf weiß der Direktor nicht weiter. Die Maske seines Gesichts verrutscht für einen Moment. Doch er kriegt sich rasch wieder in den Griff. Nepomuks Mutter sei bereits verständigt worden, gibt der Direktor kund, sie würde ihn bald abholen. „Du gehst heute besser nicht mehr in die Klasse zurück.“ Und dann noch der Zusatz, der für Nepomuk nichts Neues ist, weil er, wenn Erwachsene nicht wissen, was sie sagen sollen, oftmals als Erklärung herhalten muss: „Einige deiner Mitschüler sind ja noch so unreif.“
Der Direktor komplimentiert Nepomuk aus der Direktion und weist ihm einen Stuhl vor dem Lehrerzimmer zu, das sich gleich daneben befindet. Die Mutter lässt aber auf sich warten. Immer, wenn jemand an Nepomuk vorbeigeht, hat der Junge das Gefühl, sein neuestes Missgeschick hätte sich bereits in der ganzen Schule herumgesprochen. Sicherlich lachen sich in den Klassen alle über Nepomuk krumm und nennen ihn eine „fette Sau“. Als es zur Großen Pause läutet, fallen Nepomuk einige jüngere Schüler auf, die sich an der nächsten Ecke herumdrücken, miteinander flüstern und ihm dabei neugierige Blicke zuwerfen. Die Geschichte hat also tatsächlich schon die Runde gemacht.
Mittlerweile hat Nepomuk Überlebensstrategien entwickelt, um niemandem ins Revier zu kommen, der ihm gefährlich werden kann. Das ist gar nicht so einfach; man muss ganz schön clever sein, um das Verhalten der anderen stets vorauszuberechnen. In der Großen Pause unter keinen Umständen aufs Klo zu gehen, ist nur eine der offensichtlichsten Regeln, die Nepomuk für sich aufgestellt hat und die ihm in der Zwischenzeit in Fleisch und Blut übergegangen sind. Indem er sich immer dann, wenn über ihn gespottet wird, in eine Ecke verdrückt und so unbeteiligt tut, als gehe ihn das alles nichts an, schafft er es, den meisten Demütigungen zu entgehen. Denn die ärgste Schmach ist es für Nepomuk, wenn die anderen mitkriegen, wie blendend es ihnen gelingt, ihm wehzutun, wie zutiefst sie ihn verletzen und wie sehr er unter ihrem Spott leidet.
Auch diesmal kommt sie auf Nepomuk – man kann es nicht anders bezeichnen – zugesegelt; ganz Schlachtschiff auf Angriffsfahrt. Dabei füllt sie den Schulkorridor allein mit ihren breiten Hüften, ihrem wogenden Busen und den dicken, wild rudernden Armen aus. Die Schüler, an denen sie vorbeirauscht, drücken sich an die Wand, ein Lehrer flüchtet im letzten Moment, bevor er von ihr gerammt wird, in eine offene Klassentür.
Nepomuk hält den Atem an und kneift die Augen zusammen. Wieder einmal sehnt er sich voller Inbrunst den Trick der Bezaubernden Jeannie herbei, die Rettung aus dieser ungeheuerlichen Lage. Er wünscht sich so weit weg wie nur irgend möglich, am besten auf den Mond.