Buchcover: Das purpurne Tuch

1. Auflage März 2018

© 2018 OCM GmbH, Dortmund

Gestaltung, Satz und Herstellung:
OCM GmbH, Dortmund

Verlag
OCM GmbH, Dortmund, www.ocm-verlag.de

ISBN 978-3-942672-60-3

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I Gen Albion, 9 n. Chr.

Noch perlte der Nieselregen aus ihrem Haar und tropfte über ihre Stirn auf das durchnässte Vlies aus Schafswolle, das ihr Nashtia zum Abschied unter Tränen geschenkt hatte. Sie folgte aufmerksam den Tropfen, wusste sie doch, wie weh sie tun würden, wenn es weiter abkühlte und die Zahl der sonnenlosen Tage zur Verzweiflung stiege und ihre Kleider nicht trockneten. Eis, so hatte ihr der alte Khoman mit gewetzter Zunge erzählt, krieche unter die Haut und färbe das Blut blau, bis es erstarrte. Tot wäre sie dann trotzdem nicht, denn alles Blaue berge das ewige Leben. Sie erinnerte sich an seine kleinen dämonischen Augen und wie er damals sein Haupt der Sonne entgegenreckte und mit den Händen ihre Strahlen auf sich zu fächerte.

Khoman lungerte im Hafen herum, immer auf der Suche nach leichter Arbeit, aber eigentlich lockten ihn die Almosen, die ihm römische Händler und hochgestellte Bürger zusteckten. Manchmal verdiente er einen Tageslohn, wenn mal wieder ein italienischer Siedler in Karthago gelandet war und Hab und Gut mitsamt Familie mitgebracht hatte, um in der Nähe der Thermen und des Odeons eines der stattlichen Häuser zu beziehen. Als ausgedienter Seefahrer kannte Khoman sich im Hafen aus. Schnell organisierte er Eselskarren und eine Schar streunender Halbwüchsiger, um den Transport der Güter und der Gemahlin des römischen Neubürgers in Karthago zu gewährleisten.

Khoman schwärmte für Farben. Purpur sei ihre Königin, philosophierte er. Blau war reserviert für das Dach der Welt und seine Meere. Rot gehörte der Sonne. Alle anderen Farben standen den Menschen zu. Aber – so habe er selbst gesehen – hätten manche von ihnen blaue Augen und rotes Haar. Vor denen müsse man sich in Acht nehmen, weil sie an falsche Götter glaubten. Dann blickte er zum Horizont und ein verschmitztes Lächeln kroch über seine sonnengegerbte Haut, denn er wusste, dass die heimlich geplante Reise nach Britannien, von der sie ihm im Vertrauen erzählt hatte, ohne ihn stattfinden würde.

Ein eisiger Wind zog auf. Sie sah trotzig auf ihre Hände, bevor sie abrupt unter ihrem Umhang verschwanden. Die Vorboten von Khomans Weisheit verschafften sich unmissverständlich Raum, eroberten das Schiff still und ohne Gegenwehr. Immer häufiger versanken die kleinen Tropfen nicht mehr im Stoff ihres Gewandes, sondern klammerten sich aneinander zu einer Schicht aus schillernden Kristallen. Sie richtete ihren Blick auf die Sterne und sah den Mond in voller Blässe, kalt wie der Schiffsboden und ihre Füße. Der Mond war ein mächtiger Verbündeter auf See. Das wusste sie aus eigener Erfahrung und aus Erzählungen der Männer, aber nun klagte sie das bleiche Himmelsauge der Komplizenschaft an. Warum huldigte er dem Eis in dieser sternenklaren Nacht, so dass sie sich mehr vor dem blauen Tod fürchtete als vor dem, der ihr bevorstand? Leider musste sie in den letzten Tagen öfter an Khoman denken, als ihr lieb war. Aber hatte er nicht alle Wetter überlebt? Was war es also, das sie fürchtete? Das Eis war fremd, während sie das Wasser wie eine Heldin durch viele stürmische Manöver zu beherrschen gelernt hatte. Das Fremde war unberechenbar und wenn es stark war, waltete ein Gott darüber. Wie es schien, war dieser Gott ihnen nicht wohlgesinnt und könnte gar die Mission zum Scheitern bringen. Einen Augenblick spürte sie Erleichterung bei dem Gedanken, ihrem Opfertod zu entrinnen, doch welches Schicksal ereilte sie stattdessen?

Sie entstammte dem edlen Blut eines Kriegsfürsten aus Iberien, wurde als Kind von dort verschleppt und diente als Sklavin bei einer römischen Aristokratenfamilie in Karthago. Mit zwölf ließ sie sich die Haare stutzen und heuerte unter dem Namen Carruso als Schiffsjunge an. Seit vier Jahren segelte sie über die Meere. Dem Tod hatte sie mehrfach ins Auge gesehen, sodass er ihr keine Panik mehr einjagte, doch einem eisigen Gott wollte sie nicht in die Hände fallen.

Mit der Kälte hatte auch die Stimmung an Bord einen Tiefpunkt erreicht. Mit jedem Tag, den sie die Küste Galliens entlanggekrochen waren, war es stiller geworden. Selbst Kafur, dessen Mund einen ständigen Singsang oder eine unwahre Geschichte von sich gab, stöhnte, dass ihm die Kehle schmerzte. Mit jedem Wort, so hatte er sich entschuldigt, rieb es wie Feuer in seinem Schlund. Er musste sich schonen, da er am Opfertag zu singen hatte.

Carruso kauerte sich nieder und lehnte sich neben Kafur an die Planken des Schiffs. Es wäre nur zu natürlich gewesen, sich gegenseitig zu wärmen, besonders, da sich zwischen ihnen eine Freundschaft angebahnt hatte. Der zuletzt verstrichene Sommer war der sechzehnte in Carrusos Leben und ihre weibliche Anmut war, trotz ihrer Mannsgewänder und ihrer Bemühungen sich maskulin zu geben, kaum mehr zu verbergen. Manchmal, in unbeobachteten Momenten, und nur wenn es dunkel war und der Mond zur Sichel schrumpfte, fasste sie an ihre Brüste und gestand sich ein, dass auch die Lust in Anwesenheit so vieler Männer nicht immer leicht zu kontrollieren war. Seit Monaten spürte sie, wie sich den Blicken mancher Seefahrer Verlockung beimischte. Zwischen Verlegenheit und Unwissenheit versuchte sie, ihr männliches Auftreten nicht zu verletzen.

Kafur neigte sich ihr zu, aber nur durch eine leichte Drehung seines Kopfes, der bis auf einen Schlitz zum Atmen vollständig von einer Fellmaske verhüllt war. In gewisser Weise teilte er Carrusos Schicksal. Als keltischer Stammesführer wurde er von den Römern nach verlorener Schlacht nordöstlich der Alpen gefangen genommen und sollte wegen seines barbarischen Aussehens und seiner hünenhaften Statur zum Gladiator ausgebildet werden, konnte aber vorher fliehen. Seitdem verdiente er sich seinen Sold als kundiger Navigator auf Schiffen, die vor allem zwischen Karthago und Iberien kreuzten. Oft hatte er Flottenverbände der Römer zu aufständischen Regionen entlang der iberischen Mittelmeerküste geführt, aber auch das kalte Meer an der Westküste bis hoch nach Britannien war ihm vertraut.

Fünfundzwanzig Goldstücke hatte ihm Assuman, das Oberhaupt der Reisenden, in einem Ledersäckchen in die Hände gedrückt. Das reichte für den Rest seines Lebens, ohne je wieder schwankende Planken betreten zu müssen. Als er eingewilligt hatte, wusste er allerdings nicht, dass sie ihn auch ausgewählt hatten, weil er Kelte war. Als sie bereits Tage auf See waren, wies Assuman ihn in die Mission der Reise ein:

„Drei Punische Kriege sind verloren. Augustus hat das zerstörte Karthago neu aufgebaut, aber das stolze Volk der Phönizier wurde zerschlagen. Sieh mich an, Kafur! Vor dir steht der letzte Nachfahre der Barkas. Von Generation zu Generation haben wir das Erbe Hannibals verehrt und überliefert. Sein Heldentum und sein Ruhm im Kampf um das phönizische Reich sollen für die Nachwelt erhalten bleiben. Dafür stehe ich mit meinem Leben. Das römische Imperium verschlingt alles in seinem gierigen Rachen und wird der Geschichtsschreibung seinen Stempel aufdrücken. Hannibal starb vor 190 Jahren. Sein Angedenken schwindet unter der fremden Kultur. Mischehen, Besetzung, Vertreibung und Sklaverei haben unser Volk unkenntlich gemacht und nun bin ich es, der kinderlos vor einer unlösbaren Aufgabe steht. Sieh mich an, Kafur! Ich habe bemerkt, dass deine Augen Carruso öfter suchen, als es nötig wäre. Beschäme dich nicht und wisse, dass du sie am Ziel unserer Reise den Göttern opfern wirst. Bedauere sie nicht, denn sie kennt ihr Schicksal. Sie ist meine letzte Hoffnung darauf, Hannibals Vermächtnis durch einen lebenden Nachfolger im Blute in die Zukunft zu führen. Sie wird mit ihrer Jugend die Götter betören, dass sie mir als Lohn Frauen schicken, die mir Söhne gebären.“

Kafur hatte nicht widersprochen und somit sein Einverständnis erklärt, Carruso von seiner männlichen Begierde zu verschonen und sie am Ziel ihrer Reise zu töten. Würde er Carruso nicht töten, stünden zwanzig Krieger bereit, um Assumans Befehl auszuführen, oder sie würden ihm mit dem Tod drohen, wenn er sich widersetzte. Ein Kelte sollte den Opfertod vollstrecken und Stonehenge in Albion war das Ziel ihrer Reise.

Kafur schaute an den Haaren seiner Fellmaske vorbei und sah Carrusos Atem im Nebel. Er erinnerte sich daran, was Assuman ihm unter vier Augen gesagt hatte und schaute auf das anmutige Gesicht des vermeintlichen Jünglings neben ihm. Er würde Carruso töten, wie es geplant war. Ob ihr Tod einen Sinn machte, lag nicht in seiner Hand, aber er würde seine Rolle ehrenvoll und den Regeln entsprechend ausüben. Nur einen Wunsch hatte er. Sie sollte keine Schmerzen erdulden.

„Hier! Nimm!“, hörte Carruso ihn sagen. Sein krächzender Bass war für die Mitreisenden nicht zu überhören, zumal der aufkommende Nebel alle Sinne der Seefahrer anspannte. Kafur schob ihr zwei graue Fellstücke über den Schiffsboden zu.

„Kaninchen, vom Koch. Wickel es um deine Waden, dann kann die Kälte nicht hoch.“

Carruso nahm das Geschenk, krempelte ihr Gewand bis zu den Knien hoch und befestigte die Felle mit Lederriemen um ihre Waden. Als sie das Gewand wieder über ihre Beine stülpen wollte, griff Kafur ihre Hand und legte etwas hinein.

„Klemm es zwischen deine Beine, jede Nacht.“

Carruso war zu neugierig, als nur seinem Rat zu folgen. Sie schaute sich die kleine Figur an und sah eine Frau mit ausladenden Brüsten. Auch das Hinterteil prahlte mit üppigen Kurven. Nun wusste sie, was Kafur in den letzten Tagen so ausdauernd geschnitzt hatte, wenn er gelangweilt am Mast stehend darauf gewartet hatte, dass der schlafende Wind von kräftigen Böen vertrieben wurde. Er flüsterte:

„Assuman will Kinder. Wenn du vor die Götter trittst, sei bereit, denn sie werden dich schwängern. Dein Kind bekommt Assuman durch den Leib einer anderen Frau. Du huldigst den Göttern, wenn sie sehen, dass du gut vorbereitet bist. Nichts schätzen sie so sehr, als dass man an sie denkt. Dein Opfertod bedeutet ihnen nichts. Sie werden sich über dich hermachen und dich mit Kindern überschütten, Kinder, die ganz Rom verändern werden.“

Kafurs Worte munterten sie auf. Sie würde bei den Göttern wohnen und ihre Kinder würden ihr irdisches Leben vollenden. Sie stülpte das Gewand über die Knie und steckte die Figur in ihre Gürteltasche.

„Du glaubst, dass mich die Götter schwängern? Und ich werde viele Kinder haben?“

„Assuman hat dich auserwählt. Was glaubst du, warum? Er hat es mit vielen Frauen getrieben, aber keine wurde schwanger. Er trägt die Bürde der Vererbung. Seine Sippe stirbt aus, Rom regiert. Mit Assuman würden die Phönizier ihren letzten Stammesfürsten und Erben des großen Hannibal verlieren. Er muss nach einer anderen Lösung suchen. Du bist jung, schön und hast Mut bewiesen. Du bist anders. Jetzt erbittet er göttlichen Beistand, schickt dich zu ihnen, damit sie ihn mit Nachkommen belohnen.“

„Aber warum fahren wir nach Stonehenge?“

„Die Götter der Karthager haben versagt. Assuman hat sich von ihnen abgewandt. Er hat in Griechenland studiert, soviel ich weiß. Pytheas von Massilia sprach vor bereits 300 Jahren über die Insel Albion. Himilkon, ein berühmter Seefahrer aus Karthago, hat es angeblich lange vor uns dorthin geschafft. Im Landesinnern befindet sich ein Zirkel aus Felsen. Es heißt, dass mächtige Götter diesen Zirkel als Tor in unsere Welt benutzen. Wir fahren mit dem Schiff über einen Fluss bis hinauf nach Stonehenge. Dort soll es passieren.“

„Wirst du es sein?“

„Mein Schwert wird dich töten.“

Carruso nahm die hölzerne Figur aus ihrer Tasche, umschloss sie mit beiden Händen und presste sie so fest, dass es schmerzte. Dann hielt sie die Figur hoch und schaute Kafur an.

„Ich werde tun, wie du mir geheißen hast. Niemand anderen als dich wünsche ich mir als letzten Begleiter für den Abschied.“

Kafur richtete sich auf, blickte kontrollierend in alle Richtungen und setzte sich wieder.

„Wir nähern uns dem Land. Der Nebel wird dichter. Der Boden auf dem Festland ist kalt und nass. Das nährt den Nebel. Die Nacht werden wir ruhig segeln.“

Carruso befühlte ihre Oberschenkel und legte die Figur dazwischen. Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. Kam die Wärme, die sich in ihrem Körper ausbreitete, von ihm, dem kühnsten Mann an Bord, der mit seiner Fellmaske nicht unbedingt heldenhaft aussah? Sie folgte ihrem Gefühl, nahm seine breite raue Pranke und schob sie behutsam unter ihr Gewand. Nichts sonst in seinem Gesicht regte sich, als sie seine Hand an ihre Brüste legte, aber seine Augen sprachen Feuer.

II Das Gesuch

Sie segelten geräuschlos durch dichten Nebel, am Kiel ein Späher, um das Schlimmste zu verhindern. Es war nicht ausgeschlossen, einen Felsen zu rammen oder an steilen Klippen zu zerschellen. Sie kreuzten in unbekannten Gewässern. Es herrschte wachsames Abwarten. Alle an Bord waren sensibilisiert, denn in der windstillen Nacht war das Schiff plötzlich von unerwartet hohen Wellen erfasst worden. Doch bevor die Wellen an den Rumpf des Schiffes geprallt waren und es seitwärts schaukelten, ertönten monströse Laute, die nur von Seeungeheuern stammen konnten. Kafur hatte die Besatzung und die Reisenden beruhigt, bestätigte allerdings die Befürchtung, dass es Seeungeheuer waren. Gigantische Fische, die Wasserfontänen spuckten und keine Scheu kannten. Im Morgengrauen wagten dann einige über Bord aufs Wasser zu schauen, aber der Nebel vereitelte die Suche nach Ungeheuern.

Kafur hatte sich nach dem nächtlichen Schrecken wieder neben Carruso gesetzt. Sie hatte ihn gefragt, ob er sich nicht vor Assuman fürchte, denn er wisse ja, dass sie als Jungfrau zu den Göttern gehen müsse und sein Schicksal auch davon abhänge, wie gut er seinen Auftrag erfüllte. Kafur hatte nur gelächelt und seine Hand wieder unter ihr Gewand geschoben.

Als es hell wurde, legte sich der Nebel und ein Schwarm Stare kündete Land an. Wind kam auf und straffte die Segel. Kafur ging zum Steuermann und gab ihm Instruktionen. Sie suchten Land, flache Ufer und eine Flussmündung. Assuman sprach mit Kandahar, dem Kommandanten seiner Soldaten.

„Du hast gehört, was Kafur gesagt hat. Albion ist nicht mehr fern. Wir gehen bald an Land. Bisher gab es keine Möglichkeit zur Flucht, doch Kafur und Carruso haben sich angefreundet und könnten versuchen, sich der Mission zu entziehen. Ich kann Kafur nicht gefangen nehmen, muss ihm offiziell vertrauen, sonst bringt der Kelte es fertig, unser Vorhaben im Alleingang zu durchkreuzen. Ich brauche ihn lebend und gefügig, bis er seinen Dienst erfüllt hat. Über sein weiteres Schicksal werde ich zu gegebener Zeit mit dir reden.“

„Mein Herr, du wirst mir zustimmen, dass manche der von dir auserwählten Männer alt und unerfahren im Umgang mit der Waffe sind.“

„Meine Begleiter sind Freunde, die sich dem Erbe Hannibals verpflichtet fühlen. Kafur kennt sie nicht, aber sie wissen über ihn Bescheid. Das macht sie stark und er zollt ihnen Respekt, jedenfalls bis jetzt.“

„Unterschätz das Mädchen nicht. Sie wird ihn bezirzen.“

„Ich wache Tag und Nacht über sie. Überlass das mir.“

Der Mann am Kiel drehte sich zu den Reisenden um und rief: „Land in Sicht!“

Kafur riss die Fellmaske vom Kopf, ging ans Heck und übernahm das Ruder. Carruso sah ihm voller Stolz nach und freute sich, einen Freund zu haben, der einen Kopf größer war als alle anderen.

Einen Augenblick verharrte die Freude in ihr, verwandelte sich dann aber nicht in Trübsal über die bevorstehende Trennung, sondern in Mut. Sie entfernte die hölzerne Fruchtbarkeitsgöttin zwischen ihren Schenkeln und steckte sie in ihren Umhang. Dann stand sie auf und sah an sich herab. Die beiden Kaninchenfelle waren von ihren Waden hinuntergerutscht und stülpten sich über ihre Schuhe. Assuman beobachtete ihren schlurfenden Gang. Als sie vor ihm stand, band sie die Felle fest und zupfte ihr Gewand in Position.

„Wirst du mir einen letzten Wunsch gewähren?“, fragte sie ergeben.

„Gerne. Doch dazu müsste ich ihn kennen.“

„Schenke ihm sein Leben.“

Assuman reagierte nicht. Lag darin bereits die Antwort? Sie sah ihn an, als wollte sie nur eine Bestätigung, dass ihre Frage einen wahren Kern getroffen hatte.

„Du sprichst von Kafur? Warum sollte ich nach seinem Leben trachten? Wir befinden uns auf einer Reise, die das Leben zu neuer Kraft erweckt. Du bist unsere Botin an die Götter, die deinem Charme und deiner Tugend nicht widerstehen werden.“

Carruso drehte sich zum Heck des Schiffes und blickte auf Kafur, dann wieder in Assumans angespanntes Gesicht.

„Dein Ziel ist Stonehenge. Dort rufst du andere Götter als die deinen an und hoffst, dass Kafur mich nach meinem Tod zu ihnen geleitet. Du unterwirfst dich den Göttern als Fremder und bist klug genug, ihnen treffliche Geschenke zu machen. Du opferst einen Kelten, damit du als der Überlegene dastehst. Gleichzeitig huldigst du den Göttern, indem du mir einen Begleiter zur Seite stellst, der mich auch im Tode sicher zu ihnen führt, hat er doch uns alle bis nach Stonehenge gebracht. So zeigst du, wie sehr du an die Mission und die Götter glaubst. Aber deine Rechnung geht nicht auf. Die Götter wollen, dass Kafur lebt. Er ist ein mächtiger Kriegsfürst.“

Assumans Stirnfalten glätteten sich und ein großzügiges Lächeln machte sich breit.

„Du bist eine kluge Frau, aber dein junges Temperament ist noch ungestüm. Darum will ich dir nachsehen, dass du die Fantasie der Wahrheit vorziehst. Ich habe dich lange vor unserer Fahrt beobachten lassen. Wir wussten schon vor vielen Monden, dass du eine Frau bist und kennen deinen mutigen und tadellosen Werdegang. Niemand anderes wäre geeigneter für unsere Mission gewesen. Deine Familie in Andalusien wurde von uns reich beschenkt. Dieses Abkommen zwischen dir und mir wurde erfüllt. Wisse, mein Kind, ich habe dich in mein Herz geschlossen und sehe dich hier vor mir, als wärest du meine eigene Tochter.“

„Dann hast du alles, was du wolltest. Lass Kafur am Leben und mich allein das Tor zu den Göttern durchschreiten.“

„Dich krönt edler Mut, aber hüte dich davor, in überhitzter Eile Kafur deine Reinheit zu schenken. Das wird er nicht überleben und deine Sippe in Andalusien auch nicht.“

Carruso wandte sich ab. Assuman hatte versucht sie einzuschüchtern, drohte mit Vergeltung, heuchelte ihr den bewundernden Vater vor und schmeichelte ihr, damit sie sich der Mission nicht vorzeitig entzog. Es war aussichtslos für sie, das Ritual ihrer Opferung mitbestimmen zu wollen. Wenn Assuman vorgesehen hatte, Kafur auch zu opfern, dann würde es geschehen. Blieb Assuman eine Wahl? Er musste das Beste tun, für ihn ging es um alles oder nichts. Aber nicht nur für ihn. Auch sie wollte ihre Sache gut machen. Und eigentlich war auch alles gut gewesen, aber seit der letzten Nacht hatte sich ein Gefühl gemeldet, das Kafur wichtiger machte als die Mission.

III Die Sage

Kafur hatte das Schiff sicher zur Mündung des Avon geführt. Sie waren flussaufwärts gefahren und seit drei Tagen gingen sie zu Fuß Richtung Stonehenge. Kafur hatte Carruso gestanden, noch nie dort gewesen zu sein. Er habe aber ein fabelhaftes Gedächtnis und könne sich die Erzählungen anderer Seefahrer gut merken, sodass sie den Weg nicht verfehlen würden.

Sie kamen nur langsam voran, denn der alte Handelsweg, auf dem sie sich befanden, musste erst von heruntergefallenen Ästen und Strauchwerk befreit werden. Als Packtiere hatten sie nur zwei Esel mitgenommen. Kafur hatte empfohlen, ein kleines Schiff zu wählen, da er wusste, dass sie auf ihrer Reise einen Fluss befahren würden. Auch Pferde waren nicht erlaubt.

Kafur und Carruso gingen voraus, allerdings hatte Assuman auf Sichtweite bestanden. Kafur nutzte die Gelegenheit, ungestört mit Carruso sprechen zu können.

„Assuman glaubt, dass er dich den Göttern der Kelten opfert. Ich weiß hingegen eine andere Geschichte. Wir Kelten herrschten über viele große Gebiete, vielleicht so groß wie das einstige Reich der Karthager, bevor die Römer kamen. Dann, vor etwa einhundert Sommern, brachen immer mehr Stämme auf, um neues Land zu suchen. Wir hinterließen große Städte und wanderten an die Küsten der Meere. Dabei kamen wir auch nach Stonehenge, blieben aber nicht dort, sondern zogen noch weiter, bis das unendliche kalte Meer uns stoppte.“

„Aber dann hat Stonehenge keine Bedeutung mehr und die Mission ist gescheitert. Kafur, was willst du mir sagen? Ich verliere meinen Glauben. Das tut weh. Er ist alles, was ich noch habe.“

Kafur sah sie tröstend an.

„Der Sage nach traten die Götter in dem Zirkel von Stonehenge in Erscheinung und nahmen die Toten mit in ihr Reich. Viele Stammesfürsten ließen sich nach ihrem Tod dort hinbringen, aber nicht immer kamen die Götter und holten sie ab, sodass dort ihr Leichnam beerdigt wurde, damit die Götter ihn zu anderer Zeit mitnehmen konnten. Stonehenge war eine Gottesstätte, ein Tor zu den Freuden eines Lebens, ein Leben ohne Schmerzen, ein Leben voller Wein und Liebe.“

„Und die Kelten? Warum sind sie nicht geblieben?“

„Wir haben ein Gespür für das Göttliche wie kein anderes Volk und lassen uns deswegen zu sehr von unserem Glauben leiten, statt nachzudenken. Und da wir gerne unter uns bleiben, lassen wir uns sogar vertreiben, so von den Germanen und den Römern. Stonehenge wäre unser Zentrum geworden, aber wir waren auf der Flucht und sind dann weiter an die Küsten von Albion und Hibernia gezogen“

„Werde ich den Göttern begegnen?“

„Sie werden dort sein!“

„Du verlierst nicht viele Worte.“

„Und du willst Dinge wissen, die niemand wissen kann.“

„Dann sag mir, was du weißt!“

Kafur blickte sich um. Die Männer, die ihnen folgten, waren weit genug entfernt. Flüstern fiel ihm schwer, denn er konnte seine Stimme nur zu einem Grad reduzieren, der für andere immer noch verständlich war.

„Tu genau, wie dir befohlen. Denn alles, was im Zirkel der Steine gesprochen wird, dringt durch das Tor bis zu den Göttern vor und Ungehorsam wäre kein gutes Omen für dein Schicksal. Also folge jeder Anordnung und du wirst den Tod nicht spüren.“

IV Purpurne Lippen

Sie erreichten Stonehenge, ohne auf feindliche Stämme zu stoßen. Assuman hatte befohlen, Händlern ihr Gut abzukaufen, statt es gewaltsam zu nehmen. Einige Säcke mit Getreide hatten sie erworben, Lachse aus dem Avon gefischt und einen Hirsch erlegt. Sie schlugen ihr Lager außerhalb der mächtigen Steinformation auf. Die Stätte wirkte verlassen, besonders jetzt im Winter. Spärlicher Graswuchs umsäumte die Steine. Moos kroch hoch bis in die Spitzen der mächtigen Felsen.

Carruso nahm Abschied von Kafur. Assuman hatte angeordnet, Kafur und Carruso in der Nacht vor der Opferung zu trennen und von jeweils zwei Männern bewachen zu lassen. Die Nacht verlief ohne Zwischenfälle, aber die meisten taten kein Auge zu, denn Kafur hatte mit seinem Gesang begonnen. Die ganze Nacht hindurch sang er für die Karthager fremde Laute, Worte erklangen, die sie nie zuvor gehört hatten, und der harte abgehackte Rhythmus der Verse trat ihre Nerven mit Füßen. Wäre da nicht das Heulen der umherstreunenden Wölfe gewesen, hätte man glauben können, Kafur sei ein wildes unbezähmbares Wesen aus den finsteren Gefilden der Verdammnis und beschwöre den Niedergang der Welt. Nach acht Stunden, als der Morgen graute, beendete Kafur seinen Gesang. Ermattet rührten sich die Ersten, erlöst von der musikalischen Tortur, und sahen sich nach Essbarem um.

Assuman blickte hinauf zu einem blauen Himmel. Die Sonne war aufgegangen und kratzte mit ihren morgenroten Strahlen über die kargen Wipfel des fernen Laubwaldes. Beim Höchststand der Sonne sollte die Opferung vollzogen werden.

Carruso wachte wie benommen auf. Kafurs Gesang hatte sie in Trance versetzt und ihre wilden Träume verfolgten sie bis zu diesem Moment, in dem sie ihre Augen öffnete und nach ihm suchte. Er war nicht zu sehen. Einen Augenblick dachte sie, Assuman hätte ihn umbringen lassen, aber wie hätte Kafur bis eben singen können? Ihre Wachen wurden abberufen. Zwei Männer kamen auf sie zu, verneigten sich zu ihrem Erstaunen und gaben ihr prächtiges Geschmeide und kunstvoll bestickte Gewänder.

„Unser Herr Assuman möchte, dass du diesen Schmuck und diese Kleider anlegst. Pflege dein Haar und lass deine Haut scheinen, dass sie einem Gott würdig ist. Komm dann zu Assuman und empfange deine Botschaft.“

Die Männer überließen ihr das Gepäck. Carruso hielt Ausschau nach Kafur. Er würde bei Assuman sein, um von ihm Instruktionen über die Art und Weise ihrer Tötung zu empfangen, doch sie sah ihn nicht und ging zu Assuman.

„Wo ist Kafur?“

„Ich gewährte ihm die Bitte, in Abgeschiedenheit sein Schwert schärfen zu dürfen.“

Carruso sah in Assumans Augen, dass er sie auf ihre Gefühle testen wollte. Sie war klug genug, den Spieß umzudrehen.

„So wird er auch sein Herz in Einklang bringen müssen mit der Tat, die dir, Assuman, Kinder schenken wird, Kinder, die selbst Rom ins Staunen versetzen werden.“

Carruso schöpfte Kraft aus der Vision des Mutterglücks, das Kafur ihr versprochen hatte. Durch ihren Tod sollte eine andere Frau Kinder gebären, und diese Kinder sollten Kafurs Verheißung zufolge Rom und damit die Welt beeindrucken. Assuman stand erhabenen Hauptes vor ihr. Sie wollte sehen, ob in seinem Gesicht ein Zweifel an der Mission herauszulesen war. Absichtlich hatte sie Bedenken an Kafurs bedingungsloser Loyalität ins Spiel gebracht, indem sie angedeutet hatte, dass er auch sein Herz auf die Opferung einzustimmen habe.

Assuman lächelte selbstzufrieden.

„Du hast weise gesprochen. Kinder, vor denen Rom Respekt hat, können nur Kinder Hannibals sein, denn er war der einzige Feldherr, der es geschafft hat, Rom in Angst und Schrecken zu versetzen.“

Assuman umarmte Carruso.

„Ich habe eine so gescheite Frau erwählt. Das werden die Götter mir lohnen. Gewiss ist ihnen deine Ankunft bereits bekannt. So gehe nun und kehre zurück im Liebreiz deiner Schönheit.“

Carruso nahm ihre Kleider, ließ sich einen Eimer mit Wasser bringen und zog sich hinter nahegelegene Sträucher zurück. Dort wusch sie sich am ganzen Körper und bekleidete sich mit erlesenen Gewändern, legte den Schmuck an und trug rosenrotes Puder auf ihre Wangen auf. Ihr Haar formte sie zu Locken und ihre Hände rieb sie mit Kokosnussöl ein. Zuletzt bestrich sie ihre Lippen mit purpurnem Balsam. Als sie fertig war und sich im Spiegel des verbleibenden Wassers ansah, flossen Tränen, die ihr Spiegelbild verzerrten. Sie sah auf, wischte sich die Wangen trocken und kaschierte die Stellen mit einer neuen Lage Puder. Ein tiefer Schrecken durchfuhr sie, als sie plötzlich sah, dass Kafur, der nicht weit von ihr hinter einem Baum stand, sie anscheinend die ganze Zeit beobachtet hatte. Sofort schoss ihr das Blut in die Wangen und ihr Herz überschlug sich vor Scham und Wonne. Unweigerlich wandte sie sich ab, damit er ihre Rührung nicht lesen konnte, aber als sie sich wieder zu ihm drehte, war er es, der sich entfernte und ihrem Blick entschwand. In diesem Moment brach es ihr das Herz, denn sie hatte noch erkennen können, dass das Leuchtende in seinen Augen erlosch und dunkle Schatten sich über ihn neigten. So würde nun doch der Tod mit ihm kommen und die Mission sollte sich erfüllen. Sie sah hin zur fernen Sonne. Eine kurze Weile noch und Assumans Männer würden sie holen.

V Siobhan

Assuman hat alles gut vorbereitet. Das war ihr erster Gedanke, als sie den Ort ihrer Tötung betrat. Ein Orientteppich lag ausgerollt in der Mitte des steinernen Zirkels auf einem verzierten Podest. Vier Vasen mit brennenden Fackeln darin standen an den Ecken. Zwischen den senkrechten Felskolossen hatte Assuman Wachen postiert. Ihre Blicke waren starr und unantastbar auf das Zentrum gerichtet. Assumans Begleiter, Verwandte und Freunde seiner Sippe, Kandahar, der ranghöchste Kommandant, und alle Soldaten trugen ihre volle Ausrüstung mit Helmen und Schwertern. Assuman hatte bestickte Tücher und Decken der Reihe nach auf den Boden legen lassen, vom Eingang bis zur Mitte, sodass sie einen Weg aus edlen Stoffen bildeten. Carruso sollte rein und makellos vor die Götter treten. Sie und Assuman, der nun ihre Hand nahm, standen unter einem gewaltigen Fels, der links und rechts von zwei säulenförmigen Trägern gehalten wurde. Eine Harfe erklang, dann hörte Carruso Kafurs heisere Stimme. Ihr Blick schweifte umher, aber er war nicht zu sehen. Wieder schlug ihr Herz, wie sie es nicht kannte, aber diesmal lag Trauer in seiner Stimme und die legte sich auch auf ihr Herz, dass es ihr schwer wurde.

Assuman ließ ihre Hand los und deutete auf die ledernen Schuhe, die vor ihr standen.

„Diese Schuhe wurden für dich und diesen Tag vom besten Meister in Karthago gemacht. Zieh sie an.“

Carruso tat, wie ihr befohlen. Dann legte Assuman noch ein purpurnes Tuch über ihre Schulter und reichte ihr die Zipfel nach vorne, sodass nun jeder sehen konnte, dass dort eine anmutig schöne Frau neben Assuman unter dem Torbogen stand. Kafurs Stimme verstummte. Er trat hinter einem Felsen hervor und verneigte sich vor allen. Assuman bat ihn mit einer Handbewegung zu sich. Kafur trug sein Schwert, sein Gewand wurde von einer großen Schnalle aus verzierter Bronze gehalten. Sein Haar hatte er gewaschen und nach hinten gebunden. Als er vor ihnen stand, sah sie in seinen Augen das gleiche Feuer wie in jener Nacht, als er ihr die Kaninchenfelle geschenkt hatte. Diese Augen verrieten ihr seinen Glauben an alles, was zwischen ihnen war. Sie erinnerten sie auch an das Versprechen eines schmerzlosen Todes, und dass sie dafür seinen Anordnungen zu folgen hatte. Kafur kniete sich vor sie und küsste ihr Gewand. Dann stand er auf und Assuman nickte ihm zu. Kafur führte Carruso ein paar Schritte aus dem Torbogen heraus, drehte sie mit dem Gesicht zur Sonne und sprach:

„Vollkommen sollst du sein, wenn sie dich aufnehmen in ihr Reich. Deiuos, deiuos. Ihr Name ist Siobhan. Ihr keltischen Götter und vor allem ihr, Matres, Matres, Siobhan kommt zu euch, um Fruchtbarkeit für Assuman, ihren Herrn, zu erbitten. Siobhan, verneige dich vor der Sonne.“

Sie tat, wie ihr geheißen. Kafur hatte einen keltischen Mädchennamen für sie ausgesucht. „Siobhan“, sagte sie leise und schloss die Augen vor der Sonne. Wenn er sie nun zum Zentrum geleiten würde, wären das ihre letzten Schritte in diesem Leben. Doch es war Assuman, der sie berührte, und als sie die Augen öffnete, stand Kafur bereits in der Mitte. Assuman rief einen Begleiter herbei, der zwei Kästchen auf einem Tablett vor sie abstellte. Assuman öffnete die Kästchen und entnahm dem ersten einen Ring aus Elfenbein.

„Nimm diesen Ring, den Hannibal trug, als er die Alpen gen Rom überquerte.“ Ein anderer Begleiter kam herbei und band ein dünnes Flachsband, getränkt mit Pinienharz, um ihren zierlichen Ringfinger. Das Band klebte fest. Dann streifte Assuman den Ring über ihren Finger, sodass auch er fest haftete. In dem zweiten Kästchen lag ein ledernes Säckchen. Assuman nahm es und reichte es ihr.

„Darin befindet sich ein wertvolles Geschenk für die Götter. Nimm es mit auf deinem Weg zu ihnen.“

Siobhan wog das Säckchen in ihrer Hand. Es fühlte sich weich an, vielleicht ein Gewürz, Salz oder edle Kräuter. Einen Augenblick war sie fasziniert davon, Geschenke zu bekommen. Aber nun sah sie Kafur, der seine rechte Hand neben sein Schwert hielt und erhobenen Hauptes auf sie blickte. Sie steckte das Säckchen in ihr Gewand, wo es neben der geschnitzten Figur zu liegen kam. Assuman geleitete sie zu Kafur. Eine Enthauptung kam nicht infrage. Ein Stich ins Herz. Das war mit Assuman abgesprochen. Siobhan küsste den Ring Hannibals und stellte sich in die Mitte des Teppichs. Kafur trat zu ihr, nahm sie bei der Schulter und drehte sie so, dass ihr Gesicht zur Sonne wies. Er wartete, dass Assuman sich wieder zu seinen Begleitern zurückzog, was er aber nicht tat. Zu verlockend war es, den Göttern so nah zu kommen, schließlich sollten sie sehen, wer das Opfer brachte und wer den Lohn verdiente. Kafur begann zu singen und sprach dabei: „Matronae Aufaniae, Badb tuath, Goll mac Duilb, Dian Cecht, Morrigan und Andraste, ich rufe euch.“ Mehrfach wiederholte er die Namen und jedes Mal klangen sie bedrohlicher. Alles deutete darauf hin, dass es nun zum Höhepunkt kommen sollte. Kafur stimmte erneut an, aber nun rief er nur einen Namen: „Scáthach, Scáthach, Scáthach ...“ Er wurde lauter und lauter. Der Name dröhnte wie Trommelschläge. Siobhan erzitterte. Kafur griff zum Schwert. Siobhan riss die Augen weit auf und hielt den Atem an. Da schlug er Assuman den Kopf ab und schrie sie an: „Lauf zur Sonne! Lauf! Lauf!“ Dann stürmte auch er in die gleiche Richtung und erschlug jeden, der sich ihnen in den Weg stellte. Siobhan war leichtfüßig, während die Soldaten ihre volle Montur und Schwerter trugen. Sie sah sich um, als sie durch den Torbogen floh. Kafur wurde von zwei Soldaten attackiert. Er ging zu Boden. Sie schlugen auf ihn ein, bis ihm das Schwert aus der Hand fiel und sie ihn wehrlos erstachen. Siobhan rannte. Ihre Gazellenbeine trugen sie schnell außer Sichtweite. „Kafur, Kafur, Kafur ...!“ rief sie, weinte und hörte nicht auf zu rennen. Als sie die Trauer um ihn in die Knie zwang, gab sie auf, aber Assumans Tod hatte seinen Begleitern die Kraft genommen. Es machte keinen Sinn mehr, sie zu verfolgen. Und so entkam sie.

VI Der Schwur

Erschöpft torkelte sie durch einen lichten Wald, setzte sich für eine Pause ins Laub und wünschte sich für die Nacht einen sternenklaren Himmel. Auf See wäre sie nicht so hilflos wie in diesem fremden Land. Sie musste einen Handelsweg finden, der ihr Orientierung gab und sie letztlich an die Küste führen würde, dorthin, wo das Meer ihr eines Tages ein Schiff schicken würde, um zurück in ihre Heimat kehren zu können.

Ihr gefiel der Gedanke, von nun an Siobhan zu heißen. Den Namen hatte Kafur ausgesucht. Ein gälischer Name machte sie zu seiner Braut, zu seiner Schwester, seiner Stammesfürstin. Ein Blick auf ihre von Schlamm und Lehm verdreckten Schuhe veranlasste sie, sich zu fragen, warum sie sich immer noch auf der Flucht glaubte. Dann brach ihre ganze verhängnisvolle Lage über ihr zusammen. Sie war seit Stunden unterwegs. Niemand verfolgte sie. Nein, in Wirklichkeit war sie weggelaufen von den Blicken Kafurs, der ihr die Freiheit erkämpfte und ihr glückerfüllt nachsah, als sie den Wachen entkam. Sie erkannte nun unter Tränen, dass sie den Mann verloren hatte, den sie liebte, als Schwester, als Braut, als ewige treue Hälfte seines Lebens. Er war tot und sie lebte und das bedeutete von nun an auch sein Leben weiterzuführen. Vor allem seine Tugenden: die Kunst der Diplomatie und eine Kraft, die so neu und stark für sie war, dass es nur die Liebe sein konnte.

Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, wobei ihr Haar an den klebrigen Stellen des Harzes haften blieb, mit dem der Ring des legendären Hannibal an ihrem Finger befestigt worden war. Die filigranen Schnitzereien zeigten den Kopf des einstigen Feldherrn, der sich im zweiten Punischen Krieg gegen die Römer geschlagen geben musste. Das karthagische Reich zerfiel, aber nicht der Ruhm des größten Feldherrn seiner Zeit. Sicher hatte Assuman das wertvollste Erbstück Hannibals ausgesucht, um den Göttern zu huldigen. Doch Kafur hatte mit List und Todesmut das Schicksal zu ihren Gunsten entschieden. War er ein Gott, einer in Menschengestalt? Er hatte es gewagt, sich vor die Götter von Stonehenge zu stellen, hatte ihnen das Opfer streitig gemacht und gesiegt. Sie lebte und trug das Abbild Hannibals an ihrem Finger. Wenn Kafur ein Gott in Menschengestalt war, sollte ihr Schicksal von nun an besiegelt sein. Nicht Assuman hatte sie erwählt, sondern Kafur, ein Gott, der sie liebte. Sie fasste sein Geschenk – die geschnitzte Holzfigur – umschloss sie mit beiden Händen und tat einen Schwur: „Ich werde die Gesandte Kafurs sein. Seine Liebe soll mich leiten, dass ich der Welt Kinder schenke, Kinder von einem Manne, der Kafurs Erbe würdig ist.“

Sie zitterte am ganzen Leibe, als sie diese Worte sprach. Beseelt von einem unsterblichen Geist setzte sie ihren Weg fort. Navigieren war nicht ihre Stärke, aber ihre Kenntnisse reichten, um die Richtung zu bestimmen, die zur Küste führte. Sie ging still vor sich hin auf der Suche nach einem Handelsweg, auf dem Pferdekarren fuhren oder Packtiere Zinn oder Wolle transportierten. Sie hoffte, mitgenommen zu werden, um so schneller an einen Hafen zu gelangen. Kafur hatte ihr erzählt, dass die Römer Teile des Landes besetzt hatten. Es wäre für sie von Vorteil, den Römern in die Hände zu fallen. Sie würde sich als römische Aristokratentochter ausgeben. Die Sprache beherrschte sie und ihre edlen Gewänder machten ihre Geschichte glaubhaft. Von einem Überfall würde sie berichten. Einheimische Horden hätten sie von ihren Eltern getrennt. Alle außer sie wären hingerafft worden.

Sie sah an sich hinunter, folgte dem Schwung ihres Kleides und betrachtete ihre bestickten Ärmel. Tatsächlich, zum ersten Mal trug sie Frauenkleider. Zum ersten Mal in ihrem Leben durfte sie sich ganz wie eine Frau fühlen. Sie war so gefangen von ihren Gefühlen, dass sie nicht bemerkte, dass sich zwei Männer von hinten näherten und letzte Schritte zielstrebig auf sie zu machten. Diesmal gab es kein Entkommen. Einer der abgedroschenen Kerle warf sie zu Boden. Sie schrie, aber die Männer lachten grunzend und rissen ihr das Gewand vom Leibe. Es waren keine Römer, so viel stand fest. Ein feister, nach ranzigem Fett stinkender Langbart sah sich kurz den Ring an, ließ ihn aber verächtlich stecken, nahm die Figur aus dem Gewand, drehte sie in seinen Händen und warf sie ins nahe Gras. Der Dicke, dessen fauler Geruch mit jedem seiner Atemzüge zu ihr vordrang, hatte sein Knie in ihren Magen gedrückt, sodass ihr Gesicht vor Luftnot bläulich anlief und sie nun heftig nach Erlösung rang. Der Bärtige schob den Dicken beiseite und zog ihr die Schuhe aus und auch ihr Untergewand. Nur ein schlichtes Hemd bekleidete sie noch. Die Männer kramten ihr Diebesgut zusammen, wobei ihnen das lederne Säckchen in die Hände rutschte. Sie öffneten es. Als sie aber nur rötliches Pulver darin entdeckten, warfen sie es achtlos weg und zogen gelassen davon.

VII Die Idee

Siobhan hatte ihre erste böse Lektion als Frau gelernt. Andererseits, einen Jungen hätten sie vielleicht getötet. Sie kauerte auf den Knien und sah sich nach der Figur um, kroch durchs Gras und fand sie nach einer Weile. Ihr Hemd war verdreckt und nass. Ihre Füße schmerzten vor Kälte. Frierend beugte sie sich nieder, um das Säckchen vom Wegrand aufzuheben. Etwas Pulver fiel auf ihr nasses Hemd und färbte es rötlich. Erst erschrak sie, glaubte es sei ihr Blut, doch dann wusste sie gleich, dass Assuman ihr kostbares Purpur mit auf den Weg zu den Göttern gegeben hatte. Schnell verschloss sie das Säckchen in dem Wissen, dass Purpur wertvoll war und sehr begehrt. Wer diesen Farbstoff besaß, stieß bei den Römern auf reichlich Interesse.

Von Weitem sah sie jemanden auf sich zukommen. Der Schreck steckte ihr noch im Blut, sodass sie weglaufen wollte, aber ihre Knie waren vom Kriechen auf dem eisigen Boden so steif geworden, dass sie ihr nicht gehorchten. Wie gelähmt ließ sie Freund oder Feind näher kommen, bis sie erkannte, dass es eine Frau in Lumpen war. Ihre Haare fielen ihr wild durchs Gesicht, sodass sie ihre Augen nicht sehen konnte.