Jens Förster
WARUM WIR TUN,
WAS WIR TUN
Wie die Psychologie unseren Alltag bestimmt
Knaur e-books
Jens Förster, 1965 geboren, lehrte über 16 Jahre lang als Professor der Psychologie an der Jacobs University Bremen sowie an den Universitäten Amsterdam und Bochum. 2017 hat er das Systemische Institut für Positive Psychologie mitgegründet, wo er neben seiner Lehr- und Forschungstätigkeit als Systemischer Berater und Therapeut arbeitet. Jens Förster wurde für seine Arbeit mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Kurt-Lewin-Award der European Association of Social Psychology. Er ist Autor mehrerer Bücher, u.a. Was das Haben mit dem Sein macht undDer kleine Krisenkiller.
© 2018 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Sabine Wünsch, München
Covergestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg
ISBN 978-3-426-45059-8
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Wenn ich Beispiele aus dem Alltag gebe oder Dialoge meiner Therapiesitzungen mit Ihnen teile und dabei über bestimmte Personen spreche, so ändere ich zum Schutz der Privatsphäre der Beteiligten Namen, Orte und andere Details, sodass kein Rückschluss auf die Personen möglich ist.
Mir wurde manchmal vorgeworfen, dass ich Menschen abwerte, indem ich sie als Tiere bezeichne. Das Gegenteil ist der Fall. Ich liebe Menschen – und ich liebe Tiere. In diesem Zusammenhang beschreibt das Wort »Rudeltier« für mich eine wichtige biologische Unterscheidung, die alle Spezies betrifft, nämlich, ob sie in Gruppenverbänden leben oder weitgehend solitär.
Er erhielt den Wirtschaftsnobelpreis, einen Nobelpreis in Psychologie gibt es nicht.
Die Frage ist ja sowieso, wer eigentlich entscheidet, ob manche Menschen betreut werden müssen. Getrieben vom positiven Denken der letzten Jahrzehnte, machen sich auch Klinische Psychologen viele Gedanken über die Vorteile bestimmter chronischer Störungen. Besonders populär wurden die vielen neu entdeckten Fähigkeiten von Menschen mit Autismusstörungen, die ihnen erlauben, in bestimmten Branchen »wie normale Menschen« zu arbeiten – oder sogar besser. Auch dies weicht die Grenzen zwischen normal und pathologisch auf – man könnte ja fast sagen, wie gut, dass sie nicht normal sind.
… die man im Englischen übrigens treffend und nicht übersetzbar nature-nurture-debate nennt.
Lewin beobachtete als Soldat im Ersten Weltkrieg, wie eine eigentlich schöne Landschaft durch die Umstände zu einem grausigen Schlachtfeld wurde. Als er in Friedenszeiten in die Gegend zurückkam, erkannte er kaum etwas wieder. Sein Blick war durch die Umstände »Krieg« oder »Frieden« gelenkt worden. Das Feld, womit nicht nur die Natur um ihn herum zu verstehen ist, sondern alles um ihn herum, also auch die damalige Politik und die Konstruktion »Jetzt ist Krieg«, hatte seine Wahrnehmung verändert.
Aus der psychologischen Forschung sind mir keine erhöhten Angstwerte bei Deutschen bekannt. Vielleicht handelt es sich also um ein Vorurteil.
In der letzten Zeit gab es eine große Diskussion, ob sich Ergebnisse in der Psychologie gut replizieren lassen, das heißt, ob jemand in einem anderen Labor dieselben Ergebnisse erzielt, wenn er sich an die Beschreibung des Experiments hält – was, für manche ernüchternd, nicht immer der Fall ist. Dies ist sicherlich teils auf kulturelle und generationale Unterschiede zurückzuführen. Oftmals, so scheint mir, sind die Replikationen aber auch nicht genau genug. Auch zum Replizieren braucht man eine Expertise. Und ich sehe das so: Wenn ich eine Theorie belegen will, brauche ich eigentlich nur ein paar Studien, die zeigen, dass die Vorhersagen zutreffen, und nehme in Kauf, dass sich die Ergebnisse vielleicht nicht in jedem Labor nachstellen lassen. Und gehe dann auf die spannende Suche nach dem Warum: Was ist denn am anderen Labor psychologisch so anders, dass etwas Unterschiedliches herauskommt? Hier wird es für mich als Sozialpsychologen interessant.
Wenn Sie an diesen abstrakten Themen weniger interessiert sind, können Sie Teil II auch überschlagen. Das Buch ist sowohl als Zusammenfassung der Psychologie des Alltagslebens gedacht als auch als Nachschlagewerk zu bestimmten Themen, über die man sich einen Überblick verschaffen will.
Es ist noch unbekannt, ob überhaupt etwas je vergessen werden kann, aber die aktuelle Forschung geht davon aus, dass unser Gedächtnis sehr weit zurückreicht, sodass einmal gelernte Prozesse mehr oder weniger immer im Langzeitgedächtnis vorhanden sind. Das wäre auch bei »Demenzkranken« so, und sie hätten damit ein Problem, Vorhandenes abzurufen.
Für viele ist der Begriff »negative Verstärkung« verwirrend, weil er nach »Bestrafung« klingt. Gemeint ist jedoch, dass bei Auftreten eines Verhaltens ein negativer Verstärker entfällt.
Die Kontrollgruppe in Experimenten ist normalerweise diejenige, in der nichts manipuliert wird. Sie soll ein Verhalten widerspiegeln, das »normalerweise« – ohne Einfluss von außen – gezeigt würde.
Inzwischen wissen wir, dass Multitasking eigentlich gar nicht möglich ist. Wir können tatsächlich nicht zwei Dinge parallel denken; Multitasking erleben wir, weil wir mithilfe des Kurzzeitgedächtnisses sehr schnell zwischen zwei Themen wechseln, das erscheint uns dann wie »zwei Dinge auf einmal tun«.
Das Zungenspitzen- oder TOT-Phänomen (TOT steht für »tip of the tongue«).
Noch stärker wird der Effekt, wenn man beim Lernen und Abrufen etwas tut, was man sonst nie tut, etwa einen Mangokaugummi kauen. Die spezielle Verknüpfung ist eine super Gedächtnishilfe. Beim Lernen zu rauchen ist dagegen eine schlechte Idee, weil man selten in Prüfungsräumen rauchen darf …
Diese und viele andere Gedächtnistipps habe ich von meiner Mitarbeiterin Olga Skrebec, die als Studentin versucht, diese Forschung bewusst umzusetzen.
Wen dies interessiert, der sollte nach konnektionistischen Gedächtnismodellen suchen, die zum Beispiel von McClelland vertreten werden.
Damit allein heilen Sie natürlich kein Trauma. Wer an der recht komplexen Aufgabe der Traumabewältigung interessiert ist, sei auf die gut lesbaren Bücher von Alexander Korritko verwiesen.
Allein in Ostwestfalen-Lippe, wo ich herkomme, bezeichnet man Leute, die viel lächeln, als »überfreundlich« und traut ihnen zu, ihre Schwiegermutter zu verkaufen.
Das DSM-3 aus dem Jahr 1980 hatte für Trauer noch ein ganzes Jahr zugestanden, das DSM-4 (2000) schon nur noch zwei Monate.
Unter anderem auch deswegen, weil mit einer solchen Diagnose bereits nach zwei Wochen Trauer Antidepressiva verschrieben werden dürfen.
Diese Unterscheidung stammt von Geert Hofstede, einem Kulturwissenschaftler und wird noch für andere Phänomene relevant werden.
Positronen-Emissions-Tomografie (PET).
Julius Caesar war sich bewusst, dass es nach einer Überschreitung des Flusses Rubikon, was einer Kriegserklärung an Rom gleichkäme, kein Zurück mehr gäbe. Bei der Überquerung soll er die berühmten Worte »Alea iacta est« (»Der Würfel ist geworfen«) gesagt haben. Im Deutschen beschreiben wir einen solchen Prozess auch häufig als »Stein, der ins Rollen kam« und nicht mehr aufzuhalten ist.
Nira Liberman und ich haben diese Effekte in mehreren Arbeiten zusammengefasst und das Konzept des Zielprimings genau spezifiziert – Interessierte seien auf den Literaturanhang unter https://www.systemisch-positive-praxis-koeln.de/veroeffentlichungen/buecher/ verwiesen.
Diese Ausführungen sollen keinesfalls eine Rechtfertigung für die vielen Fälle sein, in denen Schwarze in den USA erschossen werden, selbst wenn sie keine Waffe bei sich tragen. Im Gegenteil. Aufgrund unserer Analyse kann man sagen, dass Polizisten, die weglaufende Schwarze erschießen, die offensichtlich unbewaffnet sind, dies nicht im Affekt getan haben können. Genauso wenig aber kann man behaupten, dass ein Polizist, der einen Schwarzen innerhalb von wenigen Sekunden erschossen hat, weil der gerade in seine Hosentasche gegriffen hat, eine bewusste Tötungsabsicht gehabt hat. Hier kann die Assoziation »Schwarzer = gefährlich«, die auch viele Nichtrassisten gespeichert haben, automatisch zu einer Reaktion geführt haben, mit der sich der Polizist schützen wollte.
Falls Sie Raucher in unseren Zeiten beobachtet haben, entdecken Sie viele schicke Plastikschachteln zur Aufbewahrung, die man früher seltener sah – da zeigte man, ob man ein Camel- oder ein Marlboro-Typ war. Auch diese Schachteln zeigen eine Möglichkeit der Dissonanzreduktion: Verhindert man damit doch das ständige Priming durch die Ekelbildchen und Warnungen auf den Packungen. Auch die Industrie kennt das Phänomen und wurde erfinderisch.
Natürlich funktioniert das auch in die andere Richtung: Was, wenn der freundliche Zeitschriftenverkäufer an der Tür nicht so nett ist, wie ich immer dachte?
In den 70ern, in denen die Studie in den USA durchgeführt wurde, war das ein gewöhnlicher Name und weckte keine Assoziationen an Comicfiguren oder fragwürdige Präsidenten.
Denjenigen, die tiefer in das Thema einsteigen wollen, empfehle ich mein Buch Kleine Einführung in das Schubladendenken.
Ja, es hat tatsächlich Untersuchungen gegeben, die das getestet haben, weil auch Wissenschaftler am Anfang bis weit über die Mitte des letzten Jahrhunderts hinaus im Zuge bestimmter Rassenideologien Weiße für die überlegene Rasse hielten.
http://www.presserat.de/presserat/.
Wagner, U. (2016). Sozialpolitische Empfehlungen an Gesellschaft und Politik zum Umgang mit Geflüchteten in Deutschland. In: systhema 30 (3): 223–232.
Schon eine durchschnittlich gute Matheschülerin in Shanghai erreicht mittlerweile auf der PISA-Skala 610 Punkte. Das ist mehr als der durchschnittliche Junge in allen anderen Ländern und genauso viel wie der durchschnittliche Junge in Shanghai. Früher schnitten die Mädchen viel schlechter ab, wie heute noch in vielen Ländern.
Die Website https://implicit.harvard.edu/implicit/takeatest.html bietet IATs zu unterschiedlichsten Themen.
Da Diskriminierung in einigen Organisationen und Ländern inzwischen hart bestraft wird und Rassismus und Sexismus im Arbeitsalltag stören, würden gern immer mehr Firmen wissen, wie sie schon bei den Bewerbungen Rassisten und Sexisten aussortieren können. Die Verwendung des IAT in diesem Zusammenhang ist jedoch aus ethischen Gründen nicht erlaubt, unter anderem auch deshalb, weil er im Einzelfall nicht treffsicher oder valide genug ist.
Eine Freundin, die gern die Serie The Walking Dead (eine Zombie-Apokalypse) schaut, meinte: »Wenn ein neuer schwarzer Charakter eingeführt wird, sagen wir meist schon: ›Den sollte man nicht zu sehr mögen, er stirbt eh bald.‹«
Zum Schrecken der deutschen Autoindustrie ist das Auto für die Generation der 20- bis 30-Jährigen kein Statussymbol mehr wie in all den Jahrzehnten davor.
In der systemischen Theorie nennt man so etwas Erwartungs-Erwartungen. Also: Wenn ich denke, mein Partner erwartet, dass ich ihm zum Geburtstag etwas schenke, obwohl ich ihn gar nicht gefragt habe, ob er das tatsächlich von mir erwartet.
Um dem Leser, der diese Art Serien nicht kennt, einen Einblick zu geben: In einer Folge von The Walking Dead wurde die Ermordung eines Menschen mithilfe eines mit Stacheldraht umwickelten Baseballschlägers gezeigt. Die Tötung dauerte Minuten an, und man konnte dabei zusehen, wie sich das Fleisch vom Knochen löste und der Mensch qualvoll starb.
Ich höre Proteste. Ja, sicher gibt es auch FC-Bayern-Fans in Kiel, und meine Brüder waren im schönen Ostwestfalen damals Schalke-Fans. Solche Zugehörigkeiten richten sich häufig nach der Prominenz oder dem Erfolg einzelner Vereine aus. Zudem findet man »externe« Fans eher in Gegenden mit schwachen oder gar keinen Vereinen.
Von ähnlichen Attributionsprozessen war schon einmal in Kapitel 11 die Rede, wo Versuchspersonen von der Anstrengung, die sie in eine Aufgabe investierten, ableiteten: »Das muss mir wohl besonders gut gefallen.« Hier beobachten wir nun einen ähnlichen Prozess: Wir sehen, dass jemand etwas tut, ohne dafür belohnt zu werden, und dass er nicht aufgibt, und wir schließen daraus: »Da muss ja was dran sein.« Es wird die meisten Leserinnen und Leser nicht stören, dass wir heutzutage weniger Plastiktüten kaufen, jedoch sind solche Entwicklungen nicht für die Grünen reserviert. Ähnliche Prozesse könnten dazu führen, dass uns in ein paar Jahren die Forderungen rechtspopulistischer Parteien weniger ungewöhnlich vorkommen als heute.
In diesem Kapitel fasse ich in Teilen meine Analyse des Selbst zusammen, die man en détail in meinem Buch Unser Autopilot nachlesen kann. Ich bin aber nicht der Einzige, der eine solche konstruktivistische Sicht vertritt. Prominente Wissenschaftler der Szene sind Erving Goffman mit seinem Buch Wir alle spielen Theater oder Heinz von Foerster.
Auf solche Kontexteffekte haben auch Fritz Strack und Norbert Schwarz immer wieder im Hinblick auf Meinungsumfragen hingewiesen. Es macht einen Unterschied, ob ich die Frage »Wie häufig fahren Sie schwarz?« in einer Kirche, einer Bank oder an einer Bushaltestelle stelle. Und es macht auch einen Unterschied, ob ich vorher die Frage gestellt habe: »Wie ehrlich sind Sie im Allgemeinen?«, oder: »Wie abenteuerlustig sind Sie im Allgemeinen?«
Zu der Frage, ob Geld glücklich macht, komme ich später zurück. Hier beziehe ich mich auf Studien wie die von Worcester, der zeigt, dass Menschen im armen Bangladesh glücklicher sind als Menschen in vielen reichen Nationen.
Für diese Forschung zu selbstdienlichen Verzerrungen (self serving biases) sind Dale Miller und Michael Ross bekannt geworden.
Als systemischer Therapeut muss ich mich immer wieder überwinden, von »Depressiven« zu schreiben. Tatsächlich ist jeder Mensch anders, und tatsächlich sind Menschen, die häufig grübeln oder melancholisch sind, für mich nicht krank, sondern haben ihr Augenmerk auf andere Dinge gelegt. Wir sehen ja, dass es für bestimmte Aufgaben durchaus funktional sein kann, weniger »gut drauf« zu sein. Man wird dann häufig genauer, kritischer und hinterfragt das Verhalten anderer. Nur wenn Menschen an dieser schlechten Stimmung arbeiten möchten, arbeite ich mit ihnen daran, und ich würde diese »gute« Seite der Selbstverifikation niemals »wegtherapieren«. Ich würde eher versuchen, zusammen mit dem Klienten, diesen Anteil zu verkleinern und auf bestimmte Situationen zu begrenzen, damit zwischendurch mehr Licht in die Psyche gelangen kann.
Sander Koole und Brett Pelham haben Maße des impliziten Selbstwerts zusammengefasst.
Eine Studie zur Berufswahl von Frederik Ansel und Wouter Duyck kann über 500 000 Versuchspersonen aufweisen, sodass der Effekt wohl nicht einfach zufällig zustande gekommen ist.
Manche, wie der Intelligenztest HPI-K, fügen noch Risiko- und Kampfbereitschaft hinzu: abenteuerlustig, erfolgsorientiert, zupackend, wagemutig sein und eine kämpferische Lebenseinstellung sprächen für eine hohe Risiko- und Kampfbereitschaft, schwache Willensausprägung, mangelnde Härte, wenig mutig und vorsichtig sein für eine geringe.
Oben habe ich den Fachbegriff kontrafaktisches Denken dafür eingeführt, wenn jemand denkt: »Ach, hätte ich doch.« Grübeln bedeutet darüber hinausgehend, dass man lange nicht zu einem Schluss kommt und einen die Gedanken quälen.
In der Klinischen Psychologie gibt es Studien, die einen Zusammenhang zwischen Perfektionismus und Depression finden – allerdings handelt es sich hierbei wohl um einen allgemeineren Mechanismus: Wenn man hohe Ansprüche hat und einem Aufgaben wichtig sind, will man sie auch besonders gut erledigen – klar, dass man enttäuscht ist, wenn einem das nicht gelingt. Zudem kann es sein, dass man sich bei bestimmten Aufgaben unrealistisch hohe Standards setzt; auch in diesem Fall ist Enttäuschung vorprogrammiert.
Walter Mischel fasste vor Kurzem seine Ergebnisse in dem populärwissenschaftlichen Buch Der Marshmallow-Test zusammen.
Es gibt natürlich recht viele Fragebögen und auch umfangreichere mit den unterschiedlichsten Fragen, aber dieser hier von Abdel-Khalek ist recht gebräuchlich.
Natürlich ist das verkürzt dargestellt, und natürlich wird es treue Frommianer verrückt machen, dass ich dieses bedeutende Werk so kurz streife, aber es ist nun einmal so, dass die Theorie im Kern nicht besonders komplex und dies auch ihr Problem ist. Fromm war, und das ist ihm nicht vorzuwerfen, nicht besonders an empirischen Studien interessiert, jedenfalls kann man nicht erkennen, dass er sich viel darum bemüht oder besonders eifrig in wissenschaftlichen sozialpsychologischen Journals veröffentlicht hätte. Ihm ging es um die Veränderung menschlichen Verhaltens, darum, diese Welt zu retten, und das macht ihn meiner Meinung nach zu einem exzellenten Autor und Moralisten, dessen Werk jeder kennen sollte. In diesem Sinne war er unglaublich erfolgreich, denn es gibt wohl kaum einen Abiturienten, der Haben oder Sein nicht wenigstens in der Hand gehabt hätte. Auf wissenschaftlichen Tagungen habe ich – in 25 Jahren lebhafter Konferenztätigkeit – seinen Namen allerdings niemals gehört. Ich widme diesem großartigen Menschen aber gerade ein eigenes Buch und hoffe, mit einer umfangreicheren Analyse und Würdigung die Kritiker zu besänftigen.
Für die Wissenschaftler: Ich nenne sie allein zur besseren Kommunikation »Typen«, aber eigentlich sind es »states«, also psychische Zustände, die sowohl in der Persönlichkeit begründet sein als auch in der Situation entstehen können.
Ja, ich glaube, auf sie trifft dieses Wort tatsächlich zu.
Prinzipiell kann man sich natürlich auch auf ein einziges Seinsziel fokussieren. Der Computernerd mag hier als Beispiel ebenso dienen wie eine Meditationsschülerin, die wochenlang nichts anderes tut, als für sich zu meditieren. Generell sind Seinsziele aber komplexer als Habenziele.
Mancher mag sich fragen, ob nicht so etwas wie ein Instrument oder Farben eher Ziele sind, in dem Sinne, dass jemand spart oder Geld besorgt, um sich so etwas leisten zu können. Das ist nicht falsch, denn Ziele können als Subziele wiederum Mittel für höhere Ziele sein. Man muss einen Hammer kaufen (Habenziel), um damit (Habenmittel) ein Bild aufzuhängen. Ziele und Mittel sind im Gedächtnis in Hierarchien angelegt, wo bestimmte Ziele schnell als Subziele beziehungsweise Mittel für weitere Ziele dienen können.
Die Noten in der Bücherei waren geklaut worden. Es passiert nicht selten, dass Studierende aus Verzweiflung die Leistung anderer Mitstreiter durch Stehlen von Material sabotieren. Auch sie wissen, wie wichtig Habenmittel zur Erreichung von Seinszielen sein können …
Ein Sozialhilfeempfänger, der in den 90er-Jahren in manchen Zeitschriften als Sozialschmarotzer beschrieben wurde, weil er angeblich in Florida seine Sozialhilfe in Saus und Braus verprasste.
Es ist schade, dass es in Deutschland selten möglich ist, über das gesetzliche Rentenalter hinaus zu arbeiten. So musste ein international berühmter Kollege gegen seinen Willen in den Ruhestand gehen – mit 65 und topfit! In den USA hätte er sicherlich noch jahrelang in Teilzeit an seiner Universität arbeiten dürfen. Um dem Abstellgleis zu entgehen, hat er sich selbstständig gemacht und eine zweite Karriere begonnen …
Eine auch bei mir beliebte Intervention bei unzufriedenen Klienten, die immerzu jammern, ist, sie mit folgenden Sätzen zu provozieren: »Was steht Ihnen denn zu? Und was steht mir denn zu? Gar nichts!«
Interessierten Lesern empfehle ich Andrea Führers Doktorarbeit.
Dabei ist das Pro-Kopf-Spendenaufkommen ziemlich mau. So war selbst 2004, im Jahr des grauenhaften Tsunamis, der auf die eigentlich gefühlsduseligen Weihnachtstage fiel, das Spendenverhalten der Deutschen eher beschämend: 670 Euro pro Kopf (dw, 16. 11. 2013) – in anderen, teils ärmeren Ländern spendeten die Menschen um ein Dreifaches mehr.
Was das Haben mit dem Sein macht, bei Droemer Knaur, München 2015.
Roth und andere finden in einer Meta-Analyse von 2015 mit über 100 000 Versuchspersonen einen bemerkenswert hohen Zusammenhang.
Gottfredson, L. S. (1997): »Mainstream science on intelligence: An editorial with 52 signatories, history, and bibliography«, in: Intelligence, 24(1), S. 13–23. S. 13.
Zur Erinnerung: Extravertiert sind Sie, wenn Sie gesprächig, energiegeladen, bestimmt, gesellig und entscheidungsfreudig sind und Interesse an engen Bindungen haben.
Diese Ansicht wird auch von anderen, wie etwa Theresa Amabile, vertreten, die betonte, dass, psychologisch betrachtet, allein der kreative Prozess wichtig ist, nicht das Produkt. Wenn jemand, ohne jemals ein Rad gesehen zu haben, das Rad erfände, wäre er kreativ – obwohl es das Rad schon gibt.
Natürlich gibt es genügend Ausnahmen von der Regel. So ist der Erfolg von Karl Ove Knausgård darauf zurückzuführen, dass er das »normale Leben« in beklemmender Aufrichtigkeit beschreibt. Schaut man sich die Bestsellerlisten an, findet man dort jedoch eher Thriller, Krimis und andere Bücher, in denen es um dramatische, tragische oder besondere Ereignisse geht.
Ich erlebe das gerade live, während ich dieses Buch schreibe. Hunderte Manuskriptseiten im Kopf zu haben, während man sie in mehreren Durchgängen gegen Ende hin immer wieder poliert, ist kognitiv eine Herausforderung. Habe ich das, was ich nun sagen will, nicht vielleicht schon auf Seite 20 gesagt? Funktioniert die Entwicklung der Gedanken von Kapitel 1 über 4 und 8 auch so? Allein diese Gedächtnisleistungen könnte ich, so befürchte ich, mit einer starken kognitiven Beeinträchtigung nicht erbringen. Beim Schreiben von Romanen sind solche kognitiven Erfordernisse sicherlich noch um einiges komplexer.
Selten finde ich so viele offen rassistische Bemerkungen wie auf Dating-Portalen. »No Asians please« oder »I prefer White« scheinen sich selbst Menschen zu erlauben, die Ähnliches in einem anderen Zusammenhang niemals sagen würden. Ich habe einige User angeschrieben und auf ihre Erklärungen gewartet. Oft setzte es Beleidigungen, häufiger wurde mein Profil geblockt, und selten kam eine gute Antwort. Jemand schrieb mir einmal: »Weißt du, Sex ist immer ungerecht, und warum sollte ich eine Asiatin treffen, wenn ich doch sowieso nicht mit ihr schlafen will.« Dieser Pragmatismus könnte ein Grund für das Verhalten sein. Allerdings bleibt das Verhalten Diskriminierung, die wehtun kann.
Sprachlich interessant ist, dass der Sexualtrieb von Frauen häufig mit Schimpfwörtern wie diesem hier bewertet wird, während es kaum Entsprechungen für Männer gibt. Im Gegenteil: Bezeichnungen wie »Schwerenöter«, »Casanova«, »Playboy«, »Herzensbrecher« oder »Schürzenjäger« klingen harmlos bis wohlwollend. Dies spiegelt auf Sprachebene gesellschaftliche Normen für ein und dieselbe Sache, Sex, wider.
Ich erlebe es immer wieder, dass Menschen erstaunt über die hohe Zahl bindungssicherer Partner sind. Viele erinnern sich an Zeiten, in denen sie wenig Kontakt mit den Eltern hatten, zum Beispiel in der Pubertät, die oft von Ablösungsprozessen und Konflikten begleitet wird. Nach Bowlby sind es aber vor allem die ersten Jahre, die entscheidend sind, und da sind Eltern meist erfolgreicher darin, eine Bindung zu ihrem Kind herzustellen, als in späteren Phasen der Kindheit.
Der vermeidende Bindungsstil wurde später noch einmal in »ängstlich« und »abweisend« unterteilt, wobei Ängstlich-Vermeidende sich ihrer Bindungsbedürfnisse bewusst sind, diese aber aus Angst vor einer Abweisung nicht zeigen, während Abweisend-Vermeidende das Bedürfnis nach Bindung verdrängen.
www.youtube.com/watch?v=O9x2oDFrzbM.
Interessant übrigens, dass er mein »Du warst aber still« gleich als Kritik wahrgenommen hat. Ich hätte ja auch einfach nur besorgt sein können, dass ihm unwohl war. Seine Entscheidung aber, es als Kritik zu verstehen, lenkte das Gespräch in diese Bahn. So würde ich das zumindest sehen. Er dagegen würde sagen: »Du willst, dass ich mich aktiv an Small Talk beteilige, daher ist das Kritik an mir.«
Der aufmerksame Leser wird festgestellt haben, dass ich seine Nachricht auf dem Beziehungsohr gehört habe. Hier wird aber auch die Grenze des Vier-Ohren-Ansatzes deutlich. Brauchte ich nicht noch ein fünftes Ohr, das besonders empfindlich für negative Nachrichten ist? Kritiker bemängeln manchmal die willkürliche Wahl der »Ohren«. Für mich persönlich handelt es sich bei dem Modell aber nicht um eine Theorie, sondern eher um eine Checkliste, die in der therapeutischen Praxis manchmal durchaus hilfreich sein kann.
Zugegeben, bei Frau Brökenkämpers Beziehung mit ihrer Tochter könnte auch diese Frage als Angriff verstanden werden (»Ja, Mutter, wenn ich jemanden einlade, meine ich damit immer ›Scher dich zum Teufel‹. Ich bin halt deine Tochter!«). Hier reicht eine Frage vermutlich nicht aus. Ins Gespräch über die Art des Umgangs miteinander zu kommen ist aber auch in diesem Fall nützlich.
Es mag etwas altmodisch erscheinen, aber ich empfehle bei wichtigen Bewertungssituationen wie Mitarbeitergesprächen und Festreden eine schriftliche Vorbereitung. Viel zu schnell vergisst man wichtige Aspekte, wenn man das spontan und in freier Rede erledigen will.
Wobei man hier anmerken muss, dass einige Dienstleister und Hersteller auch schon früher Bewertungsorganisationen kritisiert haben. Gerüchte von Schmiergeldern und persönlichen Geschmacksverzerrungen hat es zum Beispiel während der gesamten Geschichte der Restaurantkritiker gegeben.
Gewitzt war auch die Idee der Industrie, auf die Kritik der Magenübersäuerung mit einer neuen Produktlinie, den »sanften Säften«, zu reagieren.
»Eine Orgie von dummen Redensarten, dazwischen Fassbinders Schmuddel-Sex«, eine »Orgie von Gewalt, Perversion und Blasphemie«, »entnervende Pissoir-Atmosphäre«, »Bettszenen mit sado-masochistischem Einschlag«, kurz: »die teuerste und verheerendste Pleite« des deutschen Fernsehens, so schrieb damals die Bild (www.spiegel.de/spiegel/print/d-14325448.html).
Materialdiebstahl gilt als »Rache des kleinen Mannes« und wird häufig als Kavaliersdelikt gesehen. Allerdings verursacht der Radiergummi- und Klopapierklau in der Wirtschaft Millionenschaden. Und übrigens klauen auch Aufsichtsräte Toilettenpapier, wenn sie richtig sauer sind …
Luhmann-Fans mögen mir meine kühne Übersetzung verzeihen und dies gnädig als Kommunikationsversuch werten. Menschen neugierig zu machen ist der Zweck dieser Textpassage. Und des ganzen Buches.
Zur Vervollständigung: Manchmal festigt man auch das Flüssige, zum Beispiel, wenn ein Klient zwischen den Themen so hin- und herschwimmt, dass man kein Land mehr sieht.
Deutsche scheinen übrigens besonders an diesen Themen interessiert, denn nirgendwo sonst werden so viele Krimis gelesen und geschaut wie in Deutschland.
Und Angst führt zu unvernünftigen Entscheidungen: Statistisch gesehen, ist es viel sicherer, in der Nähe eines Gefängnisses zu wohnen, da Kriminelle in der Regel keine Verbrechen in unmittelbarer Nähe einer Vollzugsanstalt begehen (sie wollen lieber weit davon weg sein). Nichtsdestotrotz gibt es heftige Protestaktionen bei jedem Maßregelbau, und die Anwohner fühlen sich sehr unsicher, wenn sie solch eine Institution in der Nähe wissen.
Ich könnte jetzt hier noch weitermachen und beklagen, dass in den Definitionen kein Platz ist für meiner Meinung nach hoch aggressives Verhalten wie das Abholzen der Regenwälder, das Abstreiten des Klimawandels, die Massentierhaltung, falsche Kundenberatungen der Banken, Fälschereien, Kungeleien und Preisabsprachen in der Pharmaindustrie, Priorisierung von reichen Leuten im Gesundheitswesen etc. Diese Phänomene werden in anderen Zusammenhängen als Formen »unethischen« oder »egoistischen« Verhaltens untersucht, selten aber als aggressiv bewertet.
Dass geholfen wird, ist auch nicht bei jeder Spendengala der Fall. Ein Freund von mir hat jüngst in Luxemburg zu einer Spendengala eingeladen. Das geschätzte Kapital der internationalen Gäste lag bei mehreren Milliarden Euro. Vier Wochen nach dem rauschenden Fest befanden sich gerade mal 75 Euro auf dem Spendenkonto.
Für die Jüngeren, die die Kindersendungen nicht kennen: Flipper war ein Delfin, der gern Ertrinkende rettete, und Lassie ein Collie, der in fast jeder Folge sein Herrchen aus Erdlöchern, Fallen etc. retten musste, weil Timmy süß, aber grenzwertig schusselig war.
In meinem Buch Was das Haben mit dem Sein macht berichtete ich darüber, wie wenig die Deutschen im Gegensatz zu anderen Nationalitäten spenden. Ich erhielt einige E-Mails von Menschen, die mir berichteten, dass sie daraufhin gespendet hätten – aus lauter schlechtem Gewissen.
Interessanterweise wurde zufällig eine deutsche Versuchsperson mitgetestet. Diese soll jedoch zu einem sehr frühen Zeitpunkt ihre Teilnahme beendet haben, weil sie sich an das Dritte Reich erinnert fühlte. Leider hält sich immer noch das Stereotyp, dass wir Deutschen gern buckeln und gehorchen. Nicht nur einmal habe ich in Amsterdam mitbekommen, wie sich Kollegen darüber lustig machten, dass wir Deutschen bei Grün an der Ampel stehen bleiben. Umgekehrt kamen mir natürlich die Holländer viel angepasster und unfreier vor. Aber wie wir ja wissen, ist es »einfacher, ein Atom zu spalten, als ein Vorurteil zu zerstören«.
Wenn auch vereinzelt Politiker dies wünschen, wie etwa Beatrix von Storch. Ein Facebook-Nutzer fragte: »Wollt Ihr etwa Frauen mit Kindern an der grünen Wiese den Zutritt mit Waffengewalt verhindern?« Von Storch antwortete: »Ja.« (http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/beatrix-von-storch-afd-vizechefin-will-polizei-sogar- auf-kinder-schiessen-lassen-14044186.html) – was sie hinterher mit Bedauern zurücknahm (http://www.spiegel.de/politik/deutschland/afd-beatrix-von-storch-schliesst-waffeneinsatz-gegen-kinder-nicht-aus-a-1074933.html).
Für Manfred
Weil Du tust, was Du tust
Alles ist Psychologie. Jede Minute unseres Alltags, selbst wenn sie unspektakulär verläuft, wimmelt von psychologischen Prozessen, die beim näheren Hinschauen plötzlich rätselhaft, irritierend, spannend und rührend erscheinen.
»Jaja«, werden Sie sagen, »was soll er denn schon anderes sagen, der Herr Psychologe?«
Stimmt, ich liebe meinen Beruf. Meinen Beruf als Therapeut genauso wie den als Wissenschaftler. Ich kann gar nicht genug davon haben und bin ständig auf der Suche nach Hypothesen, Erklärungen und Theorien, warum Menschen so oder so handeln, warum sie sich gut oder schlecht fühlen und warum sie in einer bestimmten Weise denken oder entscheiden. Jeder Händedruck, jede Kaufentscheidung, jede noch so langweilige Politikdebatte wird zum Labor, ebenso wie ein Theaterstück, ein Blumenstrauß, ein Zoobesuch oder ein Puzzlespiel, sobald man es psychologisch betrachtet.
Vielleicht gelingt es mir ja, Ihnen diesen psychologischen Blick auf das Alltagsleben an einem Beispiel zu verdeutlichen.
Jeden Tag pendle ich zwischen meinem Wohnort Köln und meinem Arbeitsplatz in Bochum. Ich stehe zwischen vier und fünf Uhr auf, damit ich pünktlich um acht in Bochum sein kann. Manchmal wundert es mich, wie ich das schaffe – wurde ich doch in meiner Familie der »Langschläfer« genannt. Doch ich liebe den Wind, der mir vom Rhein her um die Nase weht, und genieße die Bewegung, wenn ich mit dem Fahrrad zum Bahnhof fahre. Ich bin gut drauf.
Der Zug fährt leicht verspätet gerade ein, als ich, die Haare nass vom Nieselregen, mit einem Coffee to go in der Hand die Rolltreppe hochhaste. Mit mir hasten andere. Ich erkenne die professionellen Pendler, die wissen, wo die Türen sein werden, wenn der Zug zum Stehen kommt, und an diesen Stellen Trauben bilden. Der Zug ist voll, spuckt gefühlt Hunderte von Fahrgästen aus. Einer tritt mir auf den Fuß und murmelt: »Erst mal aussteigen lassen, was?«[1]Ich rolle die Augen, remple mich an ihm vorbei und setze mich in einer Vierersitzgruppe ans Fenster. Nur da gibt es Abstellflächen für Kaffeebecher und genügend Armfreiheit für meine Arbeit am Laptop. Sobald ich sitze, schreibe ich.
Der Zug füllt sich, in Köln Messe/Deutz steigen Massen dazu und quetschen sich in die Gänge. Mir fällt eine ältere Dame auf. Ich biete ihr meinen Platz an, worauf sie mich anfährt: »Junger Mann, also so alt bin ich nun auch wieder nicht. Machen Sie mal schön Ihre Schularbeiten!« Ich ärgere mich zunächst über sie, schließlich wollte ich nur nett sein und Benehmen zeigen. Auf der anderen Seite frage ich mich gerade, wie ich reagiere, wenn mir das erste Mal ein Platz angeboten würde. Passiert Männern sicher seltener, oder? Einem älteren Mann hätte ich vermutlich nicht meinen Platz angeboten. Ist das schon sexistisch?
Die Zugverspätung nimmt von Bahnhof zu Bahnhof zu, und zwei Passagiere meckern über die Deutsche Bahn. »Erst Menschen im Gleis, dann Stellwerkschaden und jetzt Weichenstörung, dass ich nicht lache.« Sie nicken mir beim Jammern zu, aber ich ignoriere sie. Ja, die Züge sind häufig zu spät, aber darüber zu meckern erscheint mir so unvernünftig, wie sich über das Wetter zu beschweren. Ist eben nun mal so. Ja, haltet mich für arrogant, aber lasst mir meine Ruhe und starrt auf eure Schuhe.
Von wegen Ruhe. In Düsseldorf steigt eine Frau mit zwei Kindern ein, und die drei setzen sich zu mir in den Vierer. Die Kinder sind süß, denke ich für eine Minute, bis das eine, geschätzte sechs Jahre alt, nach meinem Laptop grapscht und fragt: »Was machst du da?« Die Mutter ignoriert das Kind vollkommen, das Kind wiederholt die Frage roboterartig. Ich sage: »Arbeiten. Könntest du bitte die Finger da wegnehmen?« In dem Moment springt die Mutter auf und brüllt: »Jacqueline, wie blöd bist du denn? Lass den Mann zufrieden, sonst gibt es heute keine Pommes.« Sie fasst das Kind am Arm, wohl etwas grob, denn es schreit ohrenbetäubend los und wirft sich zu Boden. Die Mutter ist überfordert und lässt es einfach toben. Jacqueline haut ihren Kopf immer wieder auf den Boden, bis die drei dann Gott sei Dank in Duisburg aussteigen. Ich erwäge mehrere Male, der Mutter ins Gewissen zu reden (erziehen wir denn Kinder heute noch so?), entscheide mich dann aber, Zeitung im Internet zu lesen. Arbeiten kann ich bei dem Geschrei eh nicht – meine Kopfhörer habe ich blöderweise am Kaffeestand liegen gelassen. Gut, dass die freundliche junge Frau dort sie für mich aufheben wird – ist nicht das erste Mal, dass mir das passiert. Sei gnädig mit dir, denke ich, es ist ja noch früh, und du bist auch nur ein Mensch.
Was meine schlechte Konzentration nicht schafft, schafft die Zeitung. Donald Trump verkündet, von einem Plüschsessel aus, der auch in einem Puff stehen könnte, sein Vorhaben, einen Kohlemagnaten zum Umweltminister zu machen. Ich könnte kotzen! Da haben mein Mann und ich unser Leben umgestellt, essen nur noch biologisch, haben ein winziges Auto und eine kleine Wohnung. Da hat Barack Obama ein Umdenken in den USA erreicht und sich dem Klimavertrag angeschlossen, und nun reißt so ein Horrorclown alles wieder ein. Ich habe jetzt richtig schlechte Laune und lenke meine Aufmerksamkeit zurück zu meiner Arbeit.
Ich setze mich an den Vorschlag eines Studenten für ein Experiment. Mann, ist der gut. Ich denke mich in die Studie hinein. Es geht darum, wie sich materialistische Ziele wie ein Auto oder einen Computer kaufen wollen auf die Kreativität auswirken. Ich vergesse die Zeit. Der Zug hält in Essen, wo zwei Studentinnen einsteigen und mir kurz zulächeln – vermutlich sind sie in meiner Vorlesung, aber ich erkenne sie nicht, der Hörsaal ist riesig, und es kommen jedes Jahr etwa 200 neue Leute. Als sie wegschauen, werfe ich verstohlen meinen Kaffeebecher in den Abfalleimer. Das passt absolut nicht zu meinem Öko-Ich, denke ich, und in den letzten Vorlesungen habe ich ausführlich über ethisches Verhalten doziert. Ich fühle mich irgendwie blöd und schuldig.
Nun spricht mich die eine Studentin an und bedankt sich für die Vorlesungen. Sie strahlt mich dabei an, und ich werde wohl etwas rot. Mein Gegenüber, ein in Mülheim an der Ruhr zugestiegener Herr mittleren Alters, lacht: »Na, das passiert einem doch nicht alle Tage, und vor allem nicht in Deutschland – positives Feedback von Studenten! Gratuliere! Ich bin Juraprofessor, und so etwas hat mir noch niemand gesagt.« Wir reden über Universitäten, Karrieren, Work-Family-Konflikte … Irgendwie neugierig geworden, fragt er mich dann noch: »Und was unterrichten Sie? Lassen Sie mich raten: Design? Irgendwas mit Medien? Und wer ist denn Ihr Chef?« Ich kläre ihn auf, dass ich seit siebzehn Jahren Psychologieprofessor bin. Er entschuldigt sich lachend. »Na, nehmen Sie es als Kompliment, Sie sehen so jung aus und überhaupt nicht wie ein Psychologe.« Ich schaue an mir runter. Stimmt, ich habe einen leuchtend blauen Anzug im skinny look an, dazu bunte Sneakers und eine pinkfarbene Krawatte über dem Hemd. Alles ist ökologisch, aus Fair Trade und mit Freunden geteilt. Und schick. Nach einem 53-Jährigen sieht das nicht aus. Der Kollege hat wohl einiges überhört, was ihm hätte sagen müssen, dass ich älter bin und Professor. Vorlesungen zum Beispiel geben nur Professoren, und ich meine sogar, ich hätte von »meinem Lehrstuhl« gesprochen.