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IMPRESSUM

HISTORICAL GOLD EXTRA erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

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© 2016 by Laura Lee Guhrke
Originaltitel: „No Mistress of Mine“
erschienen bei: Avon Books, an imprint of HarperCollins Publishers LLC, New York, U.S.A.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL GOLD EXTRA
Band 103 - 2018 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Übersetzung: Nina Hawranke

Abbildungen: RomanceNovelCovers.com, Queensbury, Poike / Getty Images, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 04/2018 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733779801

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, MYSTERY, TIFFANY

 

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Für Mom, weil ich sie liebe.
Für immer und ewig.

1. KAPITEL

April 1892

Grundgütiger!“

Ein derart leidenschaftlicher Fluch vonseiten des Earl of Conyers war so außergewöhnlich, dass es seine gesamte Familie in Bann schlug. Der Earl, das wussten sie alle nur zu gut, neigte nicht zu Gotteslästerung, schon gar nicht so früh am Tage.

Alle verharrten, Messer und Gabel in der Luft, doch die allgemeine Aufmerksamkeit entging Conyers. Unverwandt starrte er auf den Brief in seiner Hand, ohne zu erläutern, welche darin enthaltenen Neuigkeiten ihn so unverhofft zu einem Fluch an der Frühstückstafel verleitet hatten.

Sein Sohn Denys brach das Schweigen schließlich. „Vater, was gibt es? Was ist geschehen?“

Sein Vater schaute auf, und seine Miene sagte Denys, dass die Neuigkeiten in der Tat so entsetzlich waren, wie es der Ausbruch angedeutet hatte.

Er wartete, aber sein Vater faltete den Brief zusammen, steckte ihn zurück in den Umschlag und ließ ihn mit einem Blick auf die Damen in seiner Rocktasche verschwinden. Daraus schloss Denys, dass es Anlass zu Diskretion gab, und widmete sich wieder seinem Frühstück.

„Hast du dein Mittagessen schon verplant?“, fragte seine Mutter ihn, und als Denys aufsah, bemerkte er, dass sie ihn mit der ihm inzwischen wohlvertrauten Miene musterte. „Ich treffe mich mit Georgiana und ihrer Mutter, um über die Blumenschau zu reden. Wir werden bei Rules essen, ganz in der Nähe deines Büros. Möchtest du uns Gesellschaft leisten?“

Er verzog die Lippen zu einem spöttischen Lächeln. „Du willst mich verkuppeln, Mutter.“

„Nun, ich bin deine Mutter.“ Sie schniefte. „Mütter dürfen so etwas.“

„Wo steht diese Regel geschrieben? Ich würde sie gern nachschlagen.“

„Sei nicht unverschämt, Denys. Und wenn schon, es wäre keineswegs abwegig. Ich habe dich auf dem Montcrieffe-Ball mit Georgiana tanzen sehen. Zwei Walzer“, fügte sie sichtlich genüsslich an.

„Zugegeben.“ Er seufzte gespielt leidgeprüft. „Vor dem Hintergrund dieser Tatsache darf ich mich wohl kaum beschweren.“

„Wenn du nicht möchtest, Denys …“ Sie ließ den Satz unvollendet, wobei sie Denys so forschend wie hoffnungsvoll ansah.

Er dachte an Georgiana, und Zuneigung überkam ihn, ein angenehmes Gefühl. „Im Gegenteil. Es wäre mir ein Vergnügen.“

„Oh, ich bin ja so froh!“ Kaum waren die Worte heraus, biss sie sich auf die Unterlippe und wandte den Blick ab, als fürchtete sie, ihr Überschwang gehe dann doch zu weit. „Georgiana ist ein liebes Kind.“

Seine Schwester Susan, die neben der Mutter saß, seufzte gereizt. „Also wirklich, Mutter! Georgiana Prescott ist schwerlich ein Kind. Sie ist achtundzwanzig, so wie ich. Wenngleich ich sagen muss, dass sie älter wirkt.“

„Reifer ist sie auf jeden Fall“, warf Denys ein und bedachte seine unbeherrschte Schwester mit einem bedeutungsschwangeren Blick.

„Wie dem auch sei, für mich ist sie ein liebes Kind.“ Seine Mutter neigte sich Susan zu. „So wie du, mein Liebling.“

Susan stöhnte, aber Denys’ Vater machte den Effekt ihrer Geste zunichte, indem er Messer und Gabel niederlegte. „Vergebt mir, meine Damen, aber ich muss los. Denys, wärst du so gut, mich in mein Arbeitszimmer zu begleiten, um etwas Geschäftliches zu besprechen, bevor ich gehe?“

„Natürlich.“ Er stand auf, doch Susans Stimme hielt sie zurück.

„Ist das, was in dem Brief steht, sehr schlimm, Papa?“

„Nein.“ Die Antwort klang kurz angebunden, und das musste ihm aufgefallen sein, denn seine Miene wurde weicher, als er Susan ansah.

„Es ist nichts, was dich bekümmern müsste“, ergänzte er. Noch ehe Susan das Wort ergriff, hätte Denys ihm sagen können, dass diese Art Beschwichtigung bei ihr niemals fruchtete.

„Willst du mir nicht auch noch den Kopf tätscheln, bevor du gehst?“, rief sie ihm prompt nach, als er die Tür ansteuerte.

„Er tätschelt dir gern das Köpfchen“, beschied Denys ihr und umrundete den Tisch. „Lass ihn doch.“

„Das ist albern“, murrte sie und legte den Kopf schräg, damit Denys sie auf die Wange küssen konnte. „Wieso fühlen sich Männer immerzu bemüßigt, Frauen gegen jeden Hauch von Realität abzuschotten?“

„Weil wir euch lieben, deshalb.“ Denys wandte sich ab, um auch seine Mutter auf die Wange zu küssen. „Es ist unsere Pflicht, euch zu schützen.“

„Unsinn“, meinte Susan, als er sich aufrichtete und zur Tür strebte. „In Wahrheit gefällt es euch Männern einfach, alle wichtigen Informationen für euch zu behalten. Dadurch fühlt ihr euch uns überlegen.“

Er erwiderte nichts, doch Susan war nicht zu bremsen. „Wir werden dieses Geheimnis schon ergründen“, rief sie ihm nach. „Das tun wir immer.“

Denys wie auch sein Vater gingen auf diese recht ärgerliche Tatsache des Lebens nicht weiter ein und begaben sich wortlos über den Korridor zum Studierzimmer seines Vaters. Sobald sie es betreten hatten und die geschlossene Tür eine sichere Barriere bildete, kam Denys auf das Thema zurück. „Und nun sag mir, was passiert ist.“

Sein Vater trat hinter seinen Schreibtisch und holte den Briefumschlag aus seiner Rocktasche. Er schickte sich an, ihn Denys über den Tisch hinweg zu reichen, zog die Hand jedoch aus unerfindlichen Gründen wieder zurück.

„Vater, was zum Teufel ist los?“, fragte Denys ungeduldig und setzte sich. „Allmählich beunruhigt mich deine Geheimniskrämerei.“

„Es geht um Henry Latham.“

So ungebeten wie ungelegen tauchten jäh Bilder von Lola Valentine vor Denys’ innerem Auge auf – Lola auf der Bühne, in ihrer Garderobe, in ihrem Bett. Lola in ihrem blütenweißen Morgenrock, Henry an ihrer Seite. Er atmete tief durch und zwang sich zu sprechen. „Was ist mit ihm?“

„Er ist tot.“

Die Mitteilung traf Denys mit der Wucht eines Steins, der gegen einen Spiegel geschleudert wird. Die Bilder von Lola zerbarsten zu glitzernden Scherben aus Wut und rissen eine Wunde auf, die er lange verheilt geglaubt hatte. Sechs Jahre waren vergangen, seit Lola ihn verlassen hatte, doch mit einem Mal fühlte er sich so wund, als wäre das alles erst gestern geschehen.

„Scheußliche Neuigkeiten, nicht wahr?“

Die nüchterne Stimme seines Vaters brachte Denys zurück in die Gegenwart. Als er merkte, dass sein Vater ihn besorgt musterte, rang er Zorn und Schmerz nieder. „Äußerst scheußlich“, pflichtete er ihm bei. „Wann ist er gestorben?“

„Vor einem Monat.“

„Vor einem Monat? Warum sind wir nicht umgehend verständigt worden?“

Sein Vater zuckte mit den Schultern. „Laut Datum ist der Brief drei Wochen alt. Vermutlich war er so lange mit der Post unterwegs.“

„Darf ich?“ Denys streckte eine Hand aus, und nach kurzem Zögern beugte sich sein Vater über den Schreibtisch und legte ihm den Brief in die offene Hand.

„Steht darin, wie er gestorben ist?“, fragte Denys, während er das Schreiben aus dem Umschlag zog.

„Herzinfarkt, Forbes zufolge. Offenbar hatte Henry ein schwaches Herz.“

„Das Herz?“ Denys, der gerade den Brief auseinanderfaltete, hielt bestürzt inne. Henry war ein ausnehmend vitaler, tatkräftiger Mensch gewesen. Die Vorstellung, er habe ein schwaches Herz gehabt, mutete befremdlich an.

Er blickte auf den Brief hinab und starrte die maschinengeschriebenen Zeilen an, ohne sie zu lesen. Ob sie die ganze Zeit über bei ihm gewesen war? Bis zum Ende?

Die Wunde riss ein Stückchen weiter auf, und Denys hielt sich vor Augen, dass Henry und Lola Vergangenheit waren, eine unerquickliche Angelegenheit, die ewig zurücklag und abgeschlossen war. Er faltete den Brief ungelesen wieder zusammen, schob ihn zurück in den Umschlag und warf ihn auf den Schreibtisch.

„Die Frage lautet“, sagte er, wobei er sich in seinem Sessel zurücklehnte und dankbar feststellte, dass seine Stimme wie immer klang, „was geschieht nun?“

„Mit dem Imperial, meinst du?“ Sein Vater wirkte erleichtert und verfiel augenblicklich in dieselbe forsche, pragmatische Art, die Denys an den Tag legte. „Was sollte deiner Ansicht nach damit geschehen?“

Denys schwieg kurz, um nachzudenken, ehe er sprach. Er wollte sichergehen, dass seine Meinung eine durch und durch objektive war. „Wir sollten anbieten, Henrys Anteil aufzukaufen“, sagte er schließlich.

„Dem stimme ich zu. Aber würde sie auf ein solches Angebot eingehen?“

Denys sah keinen Grund, weshalb Henrys Witwe ein angemessenes Angebot ausschlagen sollte. „Ihr Leben spielt sich in New York ab. Gewiss würde sie sich nicht an der Leitung beteiligen wollen.“

„Das vielleicht nicht, aber dank dir hat sich das Imperial zu einem profitablen Unternehmen gemausert. Womöglich möchte sie ihre Hälfte als Kapitalanlage behalten.“

Denys bezweifelte, dass Gladys Latham heute mehr Begeisterung für Henrys abenteuerliche Unterfangen aufbrachte, als sie es zu seinen Lebzeiten getan hatte. „Oder sie ergreift frohgemut die Chance, ihren Anteil abzustoßen.“

„Möglich. Aber wenn sie nicht offen dafür ist, diesen zu veräußern, sollten wir erwägen, ihr den unseren anzubieten.“

Denys starrte seinen Vater an, entsetzt über die bloße Vorstellung. „Unsere Hälfte des Imperial verkaufen? Warum um alles in der Welt sollten wir das tun?“

Sein Vater rückte sich in seinem Schreibtischsessel zurecht. „Vielleicht wäre es das Beste.“

„Das sehe ich anders.“

Sein Vater bedachte ihn mit einem prüfenden Blick. „Es ist eine heikle Situation. Für sie. Für dich. Für jeden.“

Denys schluckte. Ihm war klar, dass die eigentlichen Beweggründe seines Vaters nicht mit Gladys Latham in Verbindung standen. „Henrys Tod ändert nichts, soweit ich das beurteilen kann. Mein unglückseliges Techtelmechtel mit Lola Valentine ist eine Ewigkeit her, Vater, und hat nichts mit dieser Sache zu tun. Ich gehe davon aus, dass alle Beteiligten rational damit umzugehen verstehen. Das Imperial ist eine unserer lukrativsten Investitionen. Es zu behalten wäre weit vernünftiger, meinst du nicht auch?“

„Nein, tue ich nicht. Sofern wir ihren Anteil nicht aufkaufen können, trete ich den unseren an sie ab. Soll sie ruhig den ganzen verdammten Kasten haben.“

Der knappe, gebieterische Tonfall seines Vaters überraschte ihn. Seit Denys vor drei Jahren die Leitung der Familienbesitzungen übertragen worden war, hatte sein Vater keine seiner Entscheidungen je infrage gestellt.

„Du scheinst da … recht entschlossen zu sein, Vater.“

„Ist das falsch?“

„In meinen Augen besteht dazu kein Anlass. Ich dachte, du würdest mir vertrauen. Habe ich dir einen Grund gegeben, mir dein Vertrauen zu entziehen?“

Sein Vater ließ kaum merklich die Schultern sacken. „Nein, natürlich nicht.“ Seufzend lehnte er sich in seinem Sessel zurück. „Das war unüberlegt gesprochen. Wie immer du diese Situation zu handhaben gedenkst, liegt ganz bei dir. Ich …“ Er brach ab und atmete tief durch. „Ich vertraue dir.“

Diese Worte erleichterten und ermutigten Denys. „Das hast du nicht immer getan.“

„Nein, aber zu meiner Verteidigung sei angemerkt, dass es Zeiten gab, da du es mir schwer gemacht hast, dir zu vertrauen. In deiner Jugend warst du nämlich ein rechter Heißsporn.“

Daran erinnert zu werden schmerzte, denn Denys war sich nur allzu bewusst, dass er als Heranwachsender aufmüpfig und als junger Mann ausschweifend und leichtfertig gewesen war. Jene weniger reizvollen seiner Eigenschaften hatten sich im Rahmen einer Sommerreise nach Paris mit vierundzwanzig Jahren zu voller Blüte entfaltet.

Er hatte lediglich vorgehabt, Freunde zu besuchen und sich ein wenig zu amüsieren. Sich derart gehen zu lassen, das hatte er nicht beabsichtigt.

Nicholas, der Marquess of Trubridge, und Jack, der Earl of Featherstone, hatten sich in Paris ein Haus geteilt und um die Aufmerksamkeit der namhaftesten Varietétänzerin auf dem Montmartre gebuhlt. Fasziniert, wie sie von ihr gewesen waren, hatten sie Denys direkt an seinem ersten Abend in der Stadt ins Théâtre latin mitgenommen, um sich Lolas Show anzusehen. Gleich auf den ersten Blick hatte Denys sein Herz an Lola Valentine verloren, woraufhin sein Leben in Chaos versunken war.

Er sah Lola in Paris vor sich, wie sie Männern mit den Zehen den Hut vom Kopf angelte, wie sie, ihm zuzwinkernd, an seinem Tisch vorbeiging und ihm den Drink stibitzte. Er sah Lola in dem Londoner Haus, das er ihr gemietet hatte, sah sie am oberen Treppenabsatz stehen und ihm jenes strahlende Lächeln schenken, das ihr Markenzeichen war. Lola, wie sie sich im Bett unter ihm regte, ihr dunkelrotes Haar über das Kissen fließend und ihre langen, wohlgeformten Beine um seinen Leib geschlungen.

Es hatte ihn viel Zeit und Mühe gekostet, sein Leben wieder ins Lot zu bringen, nachdem sie ihn für Henry Latham und eine Karriere in New York sitzen gelassen hatte. Doch es war ihm gelungen, und die leichtsinnigen, dummen Fehltritte seiner Jugend lagen lange hinter ihm. Daran gemahnte er sich jetzt und konzentrierte sich wieder auf das, was sein Vater sagte.

„… dir die Hörner abgestoßen, ohne daran zu denken, sesshaft zu werden und Verantwortung zu übernehmen. Beinahe wäre ich an dir verzweifelt. Aber du hast dich gefangen, Denys. Du hast deine Schulden beglichen, dich den Pflichten deiner Position gestellt und auf mustergültige Weise alle Aufgaben erfüllt, mit denen ich dich betraut habe. Ich bin stolz auf dich, mein Sohn.“

Diese Worte vertrieben auch die letzten Erinnerungen an Lola. Denys wurde eng ums Herz, als er den Blick seines Vaters erwiderte. Er war unfähig zu sagen, wie viel ihm das Gesagte bedeutete, aber glücklicherweise musste er das auch gar nicht. Sein Vater wandte den Blick als Erster ab, hüstelte und ergriff erneut das Wort.

„Wie immer du dich entscheidest, es ist deine Sache. Du hast nun das Sagen. Ich bin lediglich ein vornehmer Müßiggänger.“

„Und du genießt es“, entgegnete Denys lächelnd.

„In der Tat. Die mühselige Aufgabe, unser Vermögen beisammenzuhalten, überlasse ich liebend gern dir.“

„Apropos …“ Nach einem flüchtigen Blick auf die Wanduhr stand Denys auf, und sein Vater tat es ihm gleich. „Ich sollte mich auf den Weg machen. Um halb zehn treffe ich mich mit Calvin und Bosch, um einige Verträge zu unterzeichnen, aber vorher muss ich noch im Büro vorbei. Sämtliche Vertragsunterlagen von unseren Anwälten müssten gestern im Laufe des späten Nachmittags eingetroffen sein …“

„Habe ich dir nicht soeben gesagt, dass derlei Angelegenheiten nunmehr deine Sorge seien?“, unterbrach sein Vater ihn, beide Hände gehoben, um Denys’ Redefluss Einhalt zu gebieten. „Ich gedenke heute nichts anderes zu tun, als in meinen Club zu gehen und mir vielleicht ein, zwei Pferderennen anzuschauen.“

Sie verließen das Studierzimmer, und jeder ging seiner Wege. Als Denys eine Stunde später in seiner Kutsche den Trafalgar Square umrundete und in die Straße namens „Strand“ einbog, in der sein Büro lag, rief er sich die letzten Worte seines Vaters ins Gedächtnis und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Geschäftliche Angelegenheiten langweilten seinen Vater schier zu Tode, wohingegen Denys regelrecht darin aufging.

Wobei das nicht immer so gewesen war. Noch vor einigen Jahren hatte er zu der Sorte Mann gezählt, die den ihm vierteljährlich zugestandenen Betrag ausgibt, ohne einen Gedanken an dessen Herkunft zu verschwenden, und den Reizen einer schönen Varietétänzerin nichts entgegenzusetzen hat.

Aber die Tage, an denen er vor Bühneneingängen herumgelungert war, um Tänzerinnen nachzustellen, waren vorüber. Vor drei Jahren war er von Nick überredet worden, in eine Brauerei zu investieren, und hatte Geschmack am Geschäftsleben gefunden. Sein Vater, froh über Denys’ neu erwachtes Verantwortungsgefühl, hatte ihm die Oberaufsicht sämtlicher Kapitalanlagen der Familie übertragen.

Denys’ Kutsche bog in die Bedford Street ein und hielt vor seinem Büro. Sein Kutscher öffnete ihm den Schlag. Nachdem Denys ausgestiegen war, blieb er auf dem Bürgersteig stehen, um das Gebäude auf der anderen Straßenseite zu betrachten. Glühender Stolz erfüllte ihn beim Anblick der grauen Granitfassade und der Marmorsäulen des Imperial.

Als sein Vater und Henry Latham sich vor fünfzehn Jahren zusammengeschlossen hatten, um das Imperial zu erwerben, war es ein heruntergekommenes Varietétheater gewesen. Henry, in New York bereits ein erfolgreicher Impresario, hatte versucht, in der Theaterszene Londons Fuß zu fassen. Mit Denys’ Vater als Partner hatte er es geschafft, die erforderlichen Genehmigungen einzuholen, Geldgeber zu finden und zu einigem Ruhm zu gelangen. Aber die Londoner Theaterlandschaft war ein heikles Terrain voller Konkurrenz und Widrigkeiten, und schlussendlich hatte der Amerikaner das Unterfangen sattgehabt und war mitsamt Lola in die Staaten zurückgekehrt, um die Leitung des Imperial seinem Teilhaber zu überlassen.

Denys’ Vater hatte die Verantwortung für das Etablissement – und sämtliche anderen Conyers-Bestände – mit Freuden an Denys abgetreten. Und Denys war stolz darauf, dass dem Imperial inzwischen nichts Anrüchiges mehr anhaftete. Heute galt das Haus gemeinhin als der Ort in London, an dem die besten Shakespeare-Inszenierungen geboten wurden, und das Lob der Kritiker hatte Höhen erreicht, von denen Henry nur hatte träumen können.

Der Gedanke an Henry beschwor unweigerlich Gedanken an Lola herauf, und ehe Denys sich wappnen konnte, sah er sie im Geiste vor sich – rostrotes Haar, seegrüne Augen und ein Körper wie geschaffen für die Sünde.

Weitere Erinnerungen stürmten auf ihn ein, Erinnerungen daran, wie alles zu Ende gegangen war. An das Stück, das er ihr finanziert hatte und das ein Fiasko geworden war. An das Haus in St. John’s Wood, leer bis auf die Geschenke, die er ihr gemacht hatte, und die Nachricht, sie sei nach Paris zurückgekehrt. An seine Weigerung, sich damit abzufinden, dass sie fort war, und seine Reise zu dem Varieté, in dem sie gearbeitet und in dessen Garderobe er sie mit Henry ertappt hatte. Und an ihre Worte, die ihn bei alledem am meisten niedergeschmettert hatten.

Henry hat mir ein besseres Angebot gemacht.

Denys schüttelte den Kopf. Wie er je ein solcher Narr hatte sein können, war ihm schleierhaft. Allerdings, gestand er sich ein und verzog das Gesicht, war er in seiner Sturm- und Drangzeit in vielerlei Hinsicht ein Narr gewesen. Gottlob war er inzwischen nicht nur älter, sondern auch klüger. Schöne, ehrgeizige Revuetänzerinnen lockten ihn nicht länger.

Er wandte sich vom Imperial ab, um das Gebäude diesem gegenüber zu mustern. Mit seinen fünf Stockwerken sowie den weiß getünchten Backsteinmauern, den Marmorgiebeln und den verglasten Rundbogenfenstern verströmte der Sitz der Conyers Investment Group Wohlstand.

Die Botschaft, die das Innere vermittelte, war gleichfalls unmissverständlich. Schon auf den ersten Blick wurde deutlich, dass es sich um ein solides, florierendes Unternehmen handelte. Von dem elektrisch betriebenen Aufzug, den Telefonen und den Schreibmaschinen ging eine Atmosphäre von Moderne und Zukunft aus, während die ausladende zentrale Treppe, die leicht abgenutzten Teppiche und das komfortable Ledermobiliar von Seriosität und Beständigkeit kündeten, zwei für eine Investmentfirma unerlässliche Eigenschaften.

Denys erklomm die Stufen und nickte im Vorbeigehen dem Angestellten zu, der auf dem geräumigen Treppenabsatz an einem Schreibtisch saß. Im Zwischengeschoss passierte er den Empfangsbereich und schritt eine weitere Treppe hinauf. Kaum hatte er seine Büroräume in der obersten Etage betreten, als er überrascht innehielt.

Sein Sekretär saß nicht an seinem Schreibtisch. „Dawson?“, rief Denys durch die offene Tür seines dahinter befindlichen Büros, aber sein rotblonder junger Sekretär erwiderte nichts und ließ sich auch nicht blicken.

Die Stirn verwirrt gerunzelt, zückte Denys seine Taschenuhr. „Zehn nach neun“, murmelte er, klappte die Uhr zu und schob sie zurück in seine Westentasche. Dawson war fanatisch pünktlich und stets vor Denys im Büro, ein Umstand, der es umso ungewöhnlicher machte, dass er sich nicht auf seinem Posten befand.

Eine Rolle spielte das nicht. Sollte Dawson von seinem Platz fortgerufen worden sein, hatte er die Verträge zweifellos bereitgelegt, bevor er gegangen war. Denys nahm den Schreibtisch seines Sekretärs in Augenschein, doch von den Dokumenten war keine Spur zu sehen.

Er seufzte ungehalten. „Wo steckt der Bursche?“

„Falls du deinen Sekretär suchst“, antwortete eine weibliche Stimme mit amerikanischem Akzent auf seine gemurmelte Frage hin gedehnt, „der holt mir eine Tasse Tee.“

Fassungslos erstarrte Denys. Die Stimme war dunkel und rau, sprach die Vokale besonders tief und schaffte es, dem ansonsten schmucklosen amerikanischen Mittelwest-Akzent eine erotische Note zu verleihen. Diese Stimme konnte nur einer bestimmten Frau gehören.

Er atmete tief durch und sagte sich, dass er sich täuschen musste, doch als er sich umdrehte, bewies die hochgewachsene, sinnliche Rothaarige in der Tür zu seinem Büro, dass dem nicht so war.

Ihr Haar war noch von demselben intensiven flammenden Rot wie früher. Es war ein Rotton, den die meisten Frauen nur durch das Färben mit Henna erreichten. Auf diesen leuchtenden Locken thronte in einem Winkel, der sämtlichen Gesetzen der Schwerkraft trotzte, ein ausladendes Machwerk aus rosaroten Federn, purpurnen Bändern und cremefarbenem Stroh. Darunter erkannte er das atemberaubende Gesicht, von dem er gehofft hatte, es nie wiederzusehen. Ihre Augen waren so strahlend grün, wie er sie in Erinnerung hatte, und auch ihre vollen Lippen waren von demselben kräftigen Rosa wie damals. In der biederen, spartanischen Atmosphäre seines Büros wirkte sie wie das blühende Leben, wie eine exotische Kaktusblüte inmitten einer versandeten, verdorrten Wüste.

Er trat einen Schritt auf sie zu und musterte ihr Gesicht. Der Puder, den sie aufgetragen hatte, überdeckte die Sommersprossen auf Nase und Wangen. Das machte jedoch nichts, denn er wusste, dass sie da waren. Er musste es wissen. Er hatte jede einzelne geküsst.

Wie viele Male hatte er, körperlich befriedigt und geistig träge, in ihrem Bett in jenem Häuschen in St. John’s Wood gelegen und zugeschaut, wie sie sich das Gesicht gepudert hatte in dem Bemühen, die von ihr gehassten Sommersprossen zu kaschieren? Wie viele Male hatte er zugesehen, wie sie sich hauchzarte Strümpfe über die wohlgeformten Beine gestreift und sich Jasminparfüm in die Kniekehlen getupft hatte? Dutzende Male, mutmaßte er. Vielleicht Hunderte Male. Er hatte geglaubt, jene glücklichen Tage würden niemals enden, doch das hatten sie, und dieses Ende hatte ihn bis ins Mark getroffen.

Bei ihrem Anblick kam ihm ihr letztes Wiedersehen in den Sinn, in Lolas Pariser Garderobe. Alles war wieder da, als wäre es erst gestern geschehen – der duftige weiße Morgenmantel, den sie getragen hatte, der geöffnete Champagner auf dem Tisch, ihr Gesicht, das weiß wie Milch geworden war, als sie ihn erspäht hatte. Und Henry auf dem Sofa, triumphierend lächelnd.

Die Wut von vorhin glomm erneut auf und brannte in ihm, als hätte er soeben ein Glas billigen Whiskys hinuntergekippt. Wobei dieser Vergleich hinkte, denn Lola war niemals billig gewesen. Im Gegenteil, sie war der kostspieligste Fehler, den er je begangen hatte. Und der berauschendste.

Unwillkürlich ließ er den Blick tiefer wandern. Ihre Kurven waren nach wie vor so üppig wie einst, geformt vom jahrelangen Tanzen. Kurven, so vermutete er, die kaum eines Korsetts bedurften und gänzlich ohne Unterstützung durch Brustverbesserer, Polster oder Tournüren auskamen.

Sie trug ein Kleid aus blassrosa Seide. Ihm blieb nicht verborgen, dass der Farbton nahtlos in den Teint ihrer Haut an Hals und Kieferpartie überging. Jede andere Frau, dachte er verdrossen, sähe in einer solchen Farbe jungfräulich, ja gar unschuldig aus. Nicht so Lola. Blassrosa ließ sie allenfalls … nackt erscheinen.

Gemeinhin neigte Denys wie sein Vater nicht zum Fluchen, doch auf gewisse Lebenslagen konnte ein geistig gesunder Mensch nicht anders als mit einer Verwünschung reagieren.

„Zur Hölle“, murmelte er, aber das schien seinen Gefühlen nicht angemessen zu sein. „Verdammt“, fügte er an und war noch immer nicht zufrieden. „Verdammt, verflucht und heiliges Kanonenrohr!“

Sie lächelte verhalten. „Ich freue mich auch, dich zu sehen, Denys.“

Seinen Namen von ihren Lippen zu hören war wie Paraffin auf heiße Kohlen. All sein unterdrückter Zorn flammte auf und drohte, außer Kontrolle zu geraten. Er presste sich eine Faust gegen den Mund, bemüht, seine Rage zu bezähmen.

„Willst du gar nichts sagen?“, fragte sie, nachdem einige Augenblicke verstrichen waren. „Abgesehen von dem einen oder anderen Fluch, meine ich?“

Er ließ die Hand sinken und atmete tief durch. „Merkwürdig“, sagte er leise, wobei er seiner Stimme eine kühle Reserviertheit verlieh, die er nicht im Mindesten empfand, „aber mir fällt nichts ein, das ich dir darüber hinaus zu sagen wünsche.“

„Ein ‚Hallo‘ wäre vielleicht ein guter Anfang“, schlug sie vor. „Oder du könntest fragen, wie es mir ergangen ist.“

Er biss die Zähne zusammen und ließ seine Wut zu stählerner Entschlossenheit werden. „Diese Frage setzt ein Maß an Interesse voraus, das ich nicht aufbringe.“

Die kalte Entgegnung ließ das Lächeln in ihrer Miene erstarren. Er wusste, er benahm sich ungehobelt, ein Gebaren, das weder seiner Position noch seiner Erziehung entsprach. Aber was hatte sie erwartet? Einen herzlichen Empfang? Einen nostalgischen Rückblick auf alte Zeiten?

Sie räusperte sich und brach damit das Schweigen, das sich zwischen ihnen breitgemacht hatte. „Denys, bestimmt überrascht es dich, dass ich heute hier aufkreuze, aber …“

„Ganz im Gegenteil. Überraschen wirst du mich erst an dem Tag, da du nicht länger unvorhersehbar bist. Immerhin gehört Sprunghaftigkeit zum Handwerkszeug einer Mätresse, habe ich recht?“

Das hatte gesessen, sah er. Ärger blitzte in ihren außergewöhnlichen Augen auf und gemahnte ihn daran, dass Lola nicht nur ein Rotschopf war, sondern auch das mit dieser Haarfarbe assoziierte stürmische Temperament besaß. „Woher soll ich das wissen?“, gab sie barsch zurück. „Schließlich war ich nie deine Mätresse. Ich war deine Geliebte.“

Er machte eine wegwerfende Geste. Ihm war nicht danach, die recht vagen Konturen ihrer vergangenen Beziehung zu erörtern. „Und was warst du für Henry? Geliebte oder Mätresse? Oder seid ihr beide nur gute Freunde gewesen?“

Sie zuckte zusammen, doch wenn er geglaubt hatte, sie mit seinen bissigen Fragen verscheuchen zu können, hatte er sich getäuscht. Stattdessen reckte sie das Kinn und bot ihm die Stirn.

„Bringt es etwas, die Vergangenheit noch einmal durchzukauen?“, fragte sie. „Die Zukunft ist es, über die wir dringend sprechen müssen, nicht wahr?“

„Die Zukunft?“, echote er verblüfft. „Wie meinst du das?“

Die Frage schien sie ihrerseits zu verblüffen, wenngleich ihm ein Rätsel war, wieso. „Aber gewiss weißt du doch …“ Sie verstummte und nahm ihre dralle Unterlippe zwischen die Zähne. Einen Moment lang sah sie ihn an, ehe sie erneut sprach. „Du hast es noch nicht gehört.“

Er runzelte die Stirn. Mit einem Mal war ihm unbehaglich zumute. „Gehört habe ich, dass Henry von uns gegangen ist, falls du das meinst.“

„Das ist nicht … alles.“

„Bist du deswegen hier? Willst du nun, da Henry tot ist, da weitermachen, wo wir aufgehört haben?“ Noch während er das sagte, war ihm klar, wie absurd es war. Doch ein anderer Grund für ihre Anwesenheit oder ihre Worte über die Zukunft mochte ihm nicht einfallen. „Willst du, dass ich dich protegiere?“

„Ich brauche niemanden, der mich protegiert“, konterte sie scharf und erinnerte ihn damit an das burschikose, kecke Mädchen, als das er sie vor vielen Jahren kennengelernt hatte; das Mädchen, das ihn über ein Jahr lang auf Abstand gehalten und damit beinahe in den Wahnsinn getrieben hatte, ehe sie die Seine geworden war. „Ich kann selbst auf mich aufpassen. Ich dachte, das hätte ich vor sechs Jahren bewiesen.“

„Das hast du in der Tat, und doch scheint Henry sich gut um dich gekümmert zu haben. Nach allem, was mir zu Ohren gekommen ist, steht die Bühnenshow, die er dir in New York finanziert hat, hoch im Kurs. Seine Mätresse zu werden hat sich für dich rentiert.“

Sie setzte zu einer Erwiderung an, biss sich jedoch auf die Unterlippe. „Bitte brich keinen Streit vom Zaun, Denys. Ich habe den langen Weg nicht auf mich genommen, um mich zu zanken, und auch nicht, um zu ergründen, ob wir Vergangenes fortsetzen können.“

Ihre Worte dämpften seinen Argwohn keineswegs, denn wenn sie nicht hier war, um sich zu versöhnen, lag etwas anderes in der Luft. „Und doch sprichst du von unserer Zukunft. Was um alles in der Welt könnte dich zu dem Glauben verleiten, es würde eine solche geben?“

Sie seufzte. „Henrys Testament.“

„Sein Testament?“ Denys starrte sie an. Jäh war ihm, als täte sich die Erde unter ihm auf und risse ihn hinab in einen dunklen Abgrund.

„Ja.“ Sie öffnete ihre Handtasche aus purpurroter Seide und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus, das sie mit ihren weiß behandschuhten Fingern hochhielt. „Er hat mich zu deiner neuen Teilhaberin ernannt.“

2. KAPITEL

Lola hatte gewusst, dass Denys mit Entsetzen auf ihr unangemeldetes Erscheinen reagieren würde. Dennoch hatte sie diese Vorgehensweise für klüger befunden, als ihn vorab anzuschreiben und um einen Termin zu bitten. So hatte er keine Gelegenheit, sie abzuweisen.

Allerdings konnte er sie immer noch aus dem Fenster werfen. Seine grimmige Miene sagte ihr, dass ihr dies durchaus drohen mochte.

„Zu meiner Teilhaberin?“, wiederholte er ihre Erklärung durch zusammengebissene Zähne. „Teilhaberin woran?“

„Am Imperial. Nun, genau genommen bin ich die Teilhaberin deines Vaters, aber da du die Leitung all seiner Beteiligungen übernommen hast …“

„Du bist von Sinnen.“

Lola raschelte mit dem Papier in ihren Fingern. „In diesem Brief wird Henrys Nachlass detailliert erläutert. In der Woche vor meiner Abreise aus New York hat mir Mr. Forbes versichert, er werde deinem Vater ein ähnliches Schreiben zusenden, zusammen mit der Nachricht von Henrys Ableben. Von letzterem Brief hat Conyers dich offenbar in Kenntnis gesetzt, aber hat er dir nichts von ersterem erzählt?“

Denys erwiderte nichts. Unverwandt und mit steinerner Miene starrte er sie schweigend an. Während Lola ihn betrachtete, ging ihr auf, dass all die Reden, die sie auf der Überfahrt in Vorbereitung auf dieses Treffen einstudiert hatte, ihr nicht das Geringste nützten.

Zum einen hatte er augenscheinlich keine Ahnung von den Konditionen des Testaments. Sie hatte sich für dieses Wiedersehen in dem Glauben gewappnet, dass auch er gewappnet sein würde. Das war offenbar nicht der Fall.

Schlimmer noch war, dass dieser Mann kein bisschen dem Denys glich, den sie einst gekannt hatte. Jener Denys war lässig und unbekümmert gewesen. Er hatte einen unwiderstehlichen jungenhaften Charme besessen, war auf hingebungsvolle, leidenschaftliche Weise zärtlich gewesen. In dem Mann vor ihr erkannte Lola keine Spur dieser Eigenschaften.

Dieser Mann besaß zwar Denys’ schmale Wangen und markante Kieferpartie, aber nichts Jungenhaftes oder Unbekümmertes zeichnete seine Züge weicher. Dieser Mann hatte Denys’ braune Augen, doch als ihre Blicke sich trafen, sah sie keinerlei Zärtlichkeit in deren dunklen Tiefen. Sie hatte gehört, er sei ein findiger Geschäftsmann geworden, und nun, da sie ihn vor sich hatte, fiel es ihr nicht schwer, dies zu glauben.

Die Veränderungen hatten ihren Tribut gefordert. In seinen Augenwinkeln und auf seiner Stirn zeigten sich feine Fältchen, die früher nicht da gewesen waren und von Verantwortungen kündeten, die der alte Denys niemals auf sich genommen hätte. Sein Mund, der sich früher so oft zu einem Lachen verzogen hatte, war nunmehr ein harter Strich – wenngleich Denys’ momentaner Mangel an Humor ihrem Auftauchen geschuldet sein mochte und nicht der Bürde seiner Pflichten.

Sie hatte ihm wehgetan, das war ihr bewusst. Sie hatte die Zuneigung, die er für sie empfunden hatte, mit Füßen getreten. Aber wie sonst hätte sie ihm begreiflich machen sollen, dass ein Mädchen wie sie einen Mann wie ihn niemals würde glücklich machen können – ein Mädchen, zur Welt gekommen neben den Viehpferchen und Schlachthöfen von Kansas City und aufgewachsen inmitten des Gestanks von Dung, Blut und Fusel-Whiskey; ein Mädchen, das sich schon mit knapp sechzehn vor Männern bis auf die Unterwäsche ausgezogen hatte?

Vor Schmerz wurde ihr die Brust eng. Sie konnte seine harte Miene nicht länger ertragen – denn sie wusste, dass diese Härte ihr anzulasten war. Sie riss sich vom Anblick seines Gesichts los.

Sein Körper, bemerkte sie, als sie den Blick senkte, hatte sich weniger verändert als sein Gesicht. Noch immer hatte er die breiten, kräftigen Schultern und die schmalen Hüften des Athleten, der er gewesen war, und soweit sie das beurteilen konnte, hatte er in den vergangenen sechs Jahren keinerlei Fett angesetzt. Im Gegenteil, mit zweiunddreißig wirkte er stärker und kraftvoller als damals mit vierundzwanzig.

Sie hatte gehofft, seine Verbitterung hätte im Laufe der Zeit abgenommen, doch nun fürchtete sie, dass diese Hoffnung vergebens gewesen war.

Nun aber gab es kein Zurück mehr, und so zwang sie sich, abermals das Wort zu ergreifen. „Ich bin heute hergekommen in der Annahme, Conyers hätte von Mr. Forbes sämtliche Informationen erhalten und an dich weitergegeben. Wie ich sehe, habe ich mich geirrt.“

„Bei Gott, du bist unverfroren, Lola“, murmelte er, wobei er sie wütend anstarrte. „Das muss man dir lassen. Du bist wirklich ungeheuerlich.“

Groll sprach aus seinen Zügen, seiner abweisenden Haltung, ja lag in der Luft selbst. Aber Lola hatte nicht die Absicht, im Angesicht seines Zorns dahinzuwelken wie eine zarte, kleine Treibhausblume. Also begegnete sie seinem Blick gleichmütig. „Hier geht es um etwas Geschäftliches“, sagte sie ruhig. „Nicht um etwas Persönliches, Denys.“

„Nun, da bin ich aber erleichtert“, entgegnete er, und obwohl sie sich vorgenommen hatte, standhaft zu bleiben, ließ sein Sarkasmus sie leicht zusammenfahren.

Er trat vor, zog ihr den Brief aus den Fingern und faltete ihn auseinander, um die maschinengeschriebenen Zeilen zu überfliegen. Als er aufschaute, war seine Miene unverändert feindselig.

„Nicht nur das Imperial, sondern auch eine Zuwendung in Höhe von fünfzigtausend Dollar“, stellte er fest, während er das Schreiben zusammenfaltete. „Von der Mätresse zur Erbin in einem simplen Schritt.“

Sie öffnete den Mund, um gegen seine Behauptung zu protestieren, schloss ihn jedoch wieder. Was brächte es, alles abzustreiten? Sie in der Rolle von Henrys Liebchen zu sehen war seit Langem sein Hirngespinst, seit jener verhängnisvollen Nacht vor sechs Jahren in ihrer Pariser Garderobe. Es war ein Hirngespinst, das Henry und ihr entgegengekommen war und das sie daher nie versucht hatten, aus der Welt zu schaffen. Denys jetzt die Wahrheit zu eröffnen wäre sinnlos gewesen, denn er hätte ihr niemals geglaubt. Besser keine schlafenden Hunde wecken. „Henry war ein gütiger und großzügiger Mensch“, sagte sie stattdessen.

„Zweifellos. Aber ich bin neugierig. Was hält seine Familie von diesem Beweis seiner Herzensgüte und Großzügigkeit?“

„Henry hat seine Frau und seine Kinder gut versorgt zurückgelassen. Das Imperial hat nur einen Bruchteil seines Besitzes ausgemacht.“

„Nur einen Bruchteil?“ Er streckte ihr den Brief entgegen. „Wenn das so ist, fühlen sich die arme Gladys und die Kinder sicherlich kein bisschen hintergangen.“

Gereizt riss sie ihm den Brief aus der Hand. „Seine Kinder – die übrigens schon dreiundzwanzig und vierundzwanzig sind – haben sich zu Henrys Lebzeiten keinen Deut um ihn geschert, ebenso wenig wie Gladys. Sie alle haben ihn links liegen lassen, außer natürlich, sie wollten mehr Geld.“

Denys lächelte zynisch und ließ den Blick tiefer wandern. „Du hingegen warst ihm gewiss ergebener.“

Heiß schoss ihr das Blut in die Wangen. In New York war es ein Leichtes gewesen, Henrys Mätresse zu spielen. Dies nun vor Denys zu tun war alles andere als einfach. Aber man musste mit den Folgen der eigenen Entscheidungen leben. Daher atmete sie tief durch und brachte das Gespräch zurück auf die Gegenwart. „Sollten wir nicht lieber darüber sprechen, was als Nächstes geschehen soll, statt über Henry?“

„Als Nächstes?“ Er runzelte die Stirn. „Ich bin nicht sicher, ob ich mich rühmen darf zu wissen, was du meinst.“

„Ich besitze die Hälfte des Imperial. Zwar gehört die andere Hälfte deinem Vater, aber du bist derjenige, der sie verwaltet. Das bedeutet, dass du und ich zusammenarbeiten werden …“

„Das werden wir ganz sicher nicht.“

Einen Augenblick lang musterte sie ihn, ehe sie auf die Tür hinter sich wies. „Da wir die Situation unterschiedlich bewerten, sollten wir uns vielleicht setzen und darüber reden? Eventuell gelangen wir zu einer Übereinkunft.“

Sie wollte ihm keine Chance geben abzulehnen und wartete daher seine Antwort nicht ab. Sie drehte sich um, ging zurück in sein Büro, nahm in dem Ledersessel gegenüber seinem Schreibtisch Platz, in dem sie auf ihn gewartet hatte, und hoffte inbrünstig, er möge ihr folgen. Einen Moment später tat er das, doch seine nächsten Worte ließen nicht eben auf einen gütlichen Verlauf der Unterhaltung hoffen.

„Es entzieht sich mir, aus welchem Grund wir einen Konsens finden sollten“, sagte er, während er seinen Schreibtisch umrundete und sich ihr zuwandte.

Die Tür des Vorzimmers wurde geöffnet, und das ersparte Lola eine Erwiderung. Mr. Dawson kam mit einem voll beladenen Tablett in Denys’ Büro geeilt.

„Hier ist Ihr Tee, Miss Valentine. Ich hoffe, Sie mögen Earl Grey. Oh, guten Morgen, Sir“, fügte er an, als er Denys hinter dem Schreibtisch stehen sah. Er nickte ihm zu, blieb neben Lolas Sessel stehen und stellte das Tablett vor ihr auf dem Schreibtisch ab. „Ich habe Ihnen ein paar Kekse dazugelegt für den Fall, dass Sie hungrig sind.“

„Vielen Dank.“ Nach Denys’ Feindseligkeit wirkte die Freundlichkeit des Sekretärs wie ein lindernder Balsam. Sie schenkte dem jungen Mann ein dankbares Lächeln. „Wie aufmerksam von Ihnen.“

„Nichts zu danken, nichts zu danken.“ Er ergriff die Teekanne und goss ihr ein. „Lassen Sie mich noch einmal betonen, wie aufregend es ist, Sie persönlich kennenzulernen, Miss Valentine. Als ich mit meinem früheren Arbeitgeber letztes Jahr in New York war, habe ich mir Ihr Soloprogramm angesehen und fand es spektakulär. Ich weiß noch, wie Sie diesem Herrn in der ersten Reihe mit dem Zeh den Hut vom Kopf geholt und in die Luft geschleudert haben. Wie Sie es geschafft haben, ihn auf Ihrem eigenen Kopf landen zu lassen, ist mir unbegreiflich.“ Er lachte. „Ich wette, der Bursche vergisst nie wieder, im Theater den Hut abzunehmen.“

Lola verschwieg, dass der Mann mit dem Hut immer im Publikum saß. „Ich freue mich, dass es Ihnen gefallen hat.“

„Ausgesprochen gut gefallen. Ich hoffe, Ihr Aufenthalt in London bedeutet, dass Sie hier auftreten wollen?“

„Das würde ich sehr gern, ja.“ Sie schaute zu Denys hinüber, und dessen eisige Miene bestätigte ihr, welch schwieriges Unterfangen das werden würde. „Wir werden sehen.“

„Ich hoffe sehr darauf. Ich würde mich ungemein freuen, Sie noch einmal auf der Bühne zu erleben. Wünschen Sie Zucker und Milch?“

Bevor Lola hätte antworten können, denn Denys schaltete sich ein.

„Dawson, hören Sie auf, um Miss Valentine herumzuscharwenzeln, und suchen Sie mir die Vertragsunterlagen in der Sache Calvin und Bosch heraus, wenn Sie so gut sein wollen.“

„Selbstverständlich, Mylord.“ Mit einem bedauernden Lächeln reichte Mr. Dawson ihr den Tee, verbeugte sich und verließ das Zimmer.

Tasse und Unterteller in der Hand, lehnte sich Lola zurück und wartete, aber Denys machte keine Anstalten, ebenfalls Platz zu nehmen. „Denys, setz dich. Sonst bekomme ich noch einen steifen Nacken.“

„Dafür wird diese Unterredung nicht lange genug dauern.“ Er beugte sich vor, die Handflächen auf die Eichenoberfläche seines Schreibtischs gestützt. „Auf gar keinen Fall werde ich mich auf eine Partnerschaft mit dir einlassen. Und auch meinem Vater werde ich das nicht gestatten.“

„Eine solche Partnerschaft besteht längst.“

„Nicht mehr lange. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigst“, fügte er an, bevor sie fragen konnte, was er meinte, „ich habe einen Termin, zu dem ich zu spät komme.“

Sie sah ihn an, und während sie ihn musterte, wurde ihr klar, dass dieses Gespräch, vorerst wenigstens, beendet war. Sollte ihrer beider Partnerschaft je funktionieren – und sie war entschlossen, um jeden Preis dafür zu sorgen –, musste sie das Fundament dazu möglichst gefällig gestalten. Und dazu gehörte, seinen Terminkalender zu respektieren.

„Natürlich.“ Sie steckte den Brief wieder in die Handtasche, stellte die Tasse ab und stand auf. „Wann möchtest du die Unterredung fortführen? Ich könnte mir einen Termin bei deinem Sekretär holen oder …“

„Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt, aber offensichtlich war das nicht der Fall.“ Er verstummte kurz und verengte die Augen, deren Farbe sich von Braun zu Schwarz zu verdunkeln schien. „Wir werden keinen Termin haben. Ich werde kein Gespräch mit dir führen, weder über das Imperial noch über irgendetwas anderes. Nicht jetzt und nicht künftig.“

„Aber Denys, bald beginnt die Spielzeit. In zwei Wochen fangen die Proben für ‚Othello‘ an. Wir müssen Entscheidungen treffen, Vereinbarungen …“

„Selbstverständlich“, unterbrach er sie. „Dawson wird dir die Namen meiner Anwälte geben. Ich bin sicher, sie werden dich gern auf dem Laufenden halten bezüglich der Entscheidungen und Vereinbarungen, die ich im Hinblick auf das Imperial treffe. Du wirst ihnen doch mitteilen, wohin wir deinen Gewinnanteil überweisen sollen?“

Trotz ihres Entschlusses, möglichst geschäftsmäßig aufzutreten, spürte Lola Wut in sich aufflammen. „Einen Augenblick. Mir ist bewusst, dass Henrys Anwalt dich nicht von der Situation in Kenntnis gesetzt hat, und ich verstehe, dass dies alles ein ziemlicher Schreck für dich sein muss. Aber, Denys, ich habe keineswegs vor, mich ausschließen zu lassen, während du sämtliche Entscheidungen im Namen des Imperial allein triffst und die Leitung an dich reißt. Im Gegensatz zu Henry habe ich vor, mich als Partnerin aktiv einzubringen.“

An seinem kantigen Kiefer zuckte ein Muskel. „Nicht, solange ich atme.“

„Ich weiß, dass du mir böse bist. Wahrscheinlich hasst du mich sogar. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass ich eine vollwertige, gleichgestellte Partnerin deines Vaters bin und bei allem ein Mitspracherecht habe.“

„Das ist ein weiterer Punkt, den du mit meinen Anwälten erörtern kannst.“ Er überging den missmutigen Laut, den sie ausstieß, wandte sich ab und verließ sein Büro und damit ihr Blickfeld. „Begleiten Sie mich nach unten, Mr. Dawson“, hörte sie ihn sagen. „Es gibt da einige Dinge, die Sie in meiner Abwesenheit erledigen sollen.“

Lola wollte ihm folgen, überlegte es sich anders und blieb stehen. Sie konnte ihm schlecht über die Korridore und Treppen seines eigenen Bürogebäudes nachjagen, schon gar nicht im Beisein seines Sekretärs. Außerdem war er ohnehin nicht in der Stimmung, ihr zuzuhören. Es war besser, ihm ein wenig Freiraum zuzugestehen, damit er den Sachverhalt ihrer neuen Beziehung verdauen konnte.

Trotzdem konnte sie nicht anders, als ihm eines noch hinterherzuschleudern, ehe er ihr entkäme.

„Wir stecken da gemeinsam drin“, rief sie ihm nach. „Dieses Gespräch ist noch nicht zu Ende.“

„Natürlich nicht“, kam es prompt zurück. „Wenn es um dich geht, ist offenbar nichts je zu Ende.“

Mit dieser letzten Spitze knallte die Tür des Vorzimmers ins Schloss, sodass Lola allein war.

Wie? fragte sie sich, während sie sich zurück in ihren Sessel sinken ließ. Wie soll ich es anstellen, dass wir vernünftig zusammenarbeiten?

Das erschien ihr nun noch undenkbarer als kurz nach Henrys Tod vor einem Monat.

Seufzend lehnte sie sich zurück, von Müdigkeit übermannt. Sie hatte den Menschen verloren, der ihr Mentor, Freund und ein so guter Vater gewesen war, wie es ihrem leiblichen Erzeuger im Traum nicht eingefallen wäre. Während der letzten Wochen der Wintersaison hatte sie allabendlich seinen leeren Platz vor sich gehabt in dem Bewusstsein, dass er nie wieder dort sitzen würde. Sie war diejenige gewesen, die Alice seinen Verlust hatte beibringen müssen. Und auf Mr. Forbes’ Drängen hin hatte sie gemeinsam mit Henrys ekelhafter Sippschaft an der Verlesung des Testaments teilnehmen müssen.

Im Geiste sah sie Mr. Forbes vor sich, sah die gewachsten Enden seines voluminösen Schnauzbarts hüpfen, während er mit lakonischer, juristisch nüchterner Stimme Henrys Nachlass regelte – ein Einkommen für die Gattin, Treuhandvermögen für jedes der Kinder, sämtliche New Yorker Unternehmen für den Sohn, eine Aussteuer für das Töchterchen …

Lolas Anwesenheit im Büro des Anwalts war vonseiten der Familie mit feindseliger Resignation hingenommen worden. Offenkundig waren die Angehörigen vorab darüber informiert worden, dass Lola einen Teil der Erbmasse erhalten würde.

Lola indes hatte nichts davon geahnt. Was hätte er ihr auch vermachen sollen? Gewiss keinen Schmuck und auch keine Pelzmäntel oder Kinkerlitzchen, wie Männer sie ihrer Mätresse schenken. Derlei Tand würde an Alice gehen. Auch dass Henry ihr aus sentimentalen Gründen ein kleines Andenken hinterlassen würde, hatte Lola sich nicht vorstellen können. Henry war geschäftstüchtig und selbstsüchtig gewesen und hatte einen messerscharfen Verstand, aber ihm war kein Fünkchen Sentimentalität eigen gewesen. Vielleicht erbte sie Geld, hatte sie gemutmaßt, wenngleich das absurd anmutete, denn sie hatte sich ein ordentliches Polster angespart. Dieses hatte sie dem Erfolg ihres Soloprogramms zu verdanken, eines Programms, das ganze fünf Jahre lang am Madison Square gelaufen war und Henry und dessen Mitinvestoren eine Stange Geld eingebracht hatte.

„Abschließend gibt es noch eine Verfügung, die Miss Valentine betrifft.“