Dr. med. Mirjam Tanner, Zürich, ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und in eigener psychotherapeutischer Praxis tätig. Sie gibt zahlreiche Fortbildungen zum Thema Mitgefühl.
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ISBN 978-3-497-02538-1 (Print)
ISBN 978-3-497-60205-6 (E-Book)
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Inhalt
Vorwort
Geleitwort
1
Einleitung
1.1 Beruhigender Atemrhythmus: Slowing down and settling
2
Geschichte
2.1 Paul Gilbert und die Entwicklung der CFT
2.2 Wissenschaftliche und gesellschaftliche Hintergründe
2.2.1 Das alte und das neue Gehirn
2.2.2 Mentalisieren, mehrere Selbst und Archetypen
2.2.3 Unsere moderne gesellschaftliche Lebensrealität
2.3 Der Einfluss des Buddhismus auf die Entwicklung der CFT
2.3.1 Die „Vier Unermesslichen“ und die „Vier Edlen Wahrheiten“
3
Theorie
3.1 Die Evolution formt unseren Geist
3.1.1 Die Evolution des alten und neuen Gehirns
3.1.2 Fazit
3.2 Die drei Systeme der Emotionsregulierung
3.2.1 Das Alarm- und Selbstschutzsystem
3.2.2 Das Antriebsund Anreizsystem
3.2.3 Das Beruhigungs- und Fürsorgesystem
3.2.4 Grundkenntnisse der Funktionsweise der drei Systeme
3.2.5 Tücken der Emotionsregulierung entlarven
3.2.6 Fazit
3.3 Scham, Schuld und Selbstkritik
3.3.1 Externe und interne Scham
3.3.2 Scham bei Vernachlässigung und Ablehnung
3.3.3 Scham bei grenzverletzenden intrusiven Erfahrungen
3.3.4 Scham im therapeutischen Setting
3.3.5 Unterscheidung zwischen Scham und Schuld
3.3.6 Entwertende Selbstkritik
3.3.7 Die klinische Arbeit mit ausgeprägter Selbstkritik
3.4 Die Natur von Mitgefühl: Der Lotus im Sumpf
3.4.1 Definitionen von Mitgefühl
3.4.2 Die Psychologien des Mitgefühls in der CFT
3.4.3 Eigenschaften von Mitgefühl
3.4.4 Mitgefühlsfertigkeiten
3.5 Unterschiede zwischen Achtsamkeit und Mitgefühl
3.6 Missverstandenes Mitgefühl
3.7 Ängste vor Mitgefühl
3.8 Gefahren von Achtsamkeits- und Mitgefühlspraktiken
3.8.1 Auswahl der Meditationen
3.8.2 Erwartungen: Die Absicht ist das Wirksamste
3.8.3 Vermeidung, Kontrolle und spirituelles Bypassing
3.9 Die Bedeutung von Mitgefühl im Buddhismus
4
Der therapeutische Prozess
4.1 Der mitfühlende Therapeut
4.1.1 Achtsamkeit
4.1.2 Gewichten statt Pathologisieren
4.1.3 Sicherheit und Verbundenheit in der Therapie
4.1.4 Slowing down
4.1.5 Die eigene Übungspraxis des Therapeuten
4.1.6 Tonglen-Meditation
4.2 Mitgefühl im Therapieprozess und Fallkonzeptualisierung in der CFT
4.3 Fazit
5
Evaluation und Herausforderung
5.1 Studien und ihre Kernaussagen
5.2 Diskussion und kritische Überlegungen
6
Ausblick auf zukünftige Entwicklungen
6.1 Das präventive Potential der CFT
6.2 Künftige Forschungsschwerpunkte
7
Mit der CFT verwandte Schulen
8
Zusammenfassung
9
CFT-Übungen
9.1 Die Absicht wirkt – nicht das Ergebnis
9.2 Übersicht über die Übungen
9.3 Achtsamkeitsübungen
9.3.1 Grundhaltung
9.3.2 Unseren ungezähmten Geist anerkennen
9.3.3 Mitfühlender Bodyscan
9.4 Mit Akzeptanz arbeiten
9.4.1 Den inneren Beobachter kultivieren
9.4.2 Achtsamkeit bei intensiven schwierigen Emotionen: R.A.I.N. Meditation
9.5 Mitgefühl entwickeln
9.5.1 Safe Place
9.5.2 Mitfühlendes verbündetes Wesen
9.5.3 Mitgefühl bei intensiven schwierigen Emotionen
9.6 Das mitfühlende Selbst
9.6.1 Hilfreiche Muster entwickeln
9.6.2 Method-Acting Technik
9.6.3 Mitgefühl für einen guten Freund oder Wohltäter
9.6.4 Mitgefühl für uns selbst
9.6.5 Vereinfachen oder Intensivieren
9.6.6 Selbstmitgefühls-Pause (Self-Compassion-Break)
9.6.7 Mitgefühl für schwierige Persönlichkeitsanteile
9.7 Den Kreis von Mitgefühl ausweiten
9.7.1 Metta-Meditation und die „Vier Unermesslichen“
Glossar
Literaturempfehlungen
Zitierte Literatur
Sachregister
Vorwort
Wir leben derzeit in einer sehr aufregenden Phase in der Geschichte der Psychotherapie. Zu diesem Zeitpunkt konvergieren die alten kontemplativen Traditionen buddhistischer Psychologie mit modernen wissenschaftlichen Methoden, um ein neues Paradigma zu schaffen. Dieser Therapieansatz beinhaltet große Hoffnung, weil er auf der Grundannahme basiert, dass wir unsere Beziehung zu dem, was uns stört, und uns selbst immer verändern können. Das gilt selbst dann, wenn wir mit scheinbar undurchdringbaren Problemen konfrontiert sind. Die Schlüsselelemente dieses neuen Ansatzes sind Achtsamkeit und Mitgefühl.
Achtsamkeit fokussiert hauptsächlich auf das nicht-urteilende, offenherzige Gewahrsein der Erfahrung von Moment zu Moment. Wenn wir allerdings in den Griff von intensiven und störenden Emotionen gelangen wie Trauer, Wut, Verzweiflung oder Scham, kann unser Selbstwertgefühl von diesen Emotionen überwältigt werden und wir beginnen uns selbst zu attackieren („Ich bin dumm“; „Ich bin defekt“). Das ist genau der Moment, in dem wir des Mitgefühls bedürfen. Mitgefühl rettet das verwundete Selbst. Während Achtsamkeit sich auf die Erfahrung konzentriert, fokussiert Mitgefühl auf den Erfahrenden. Zusammen sind Achtsamkeit und Mitgefühl sehr wirksame Elemente, die, wenn sie mitten in schwierigen Emotionen lang genug existieren, diese schließlich transformieren können.
Der englische Psychologe, Dr. Paul Gilbert, erkannte die Bedeutung von Mitgefühl durch die Arbeit mit psychiatrischen stationären Patienten, die klar verstanden hatten, dass ihre Denkweise sie deprimiert machte, aber auch, dass sie das Experimentieren mit realistischeren Gedanken nicht besser fühlen ließ. So stolperte er damals über die Bedeutung des „Aufwärmens des Gesprächs“ und die Compassion Focused Therapy (CFT) wurde geboren.
Mit dem Zusatz von aus dem tibetischen Buddhismus adaptierten Mitgefühlsübungen und einem theoretischen Rahmen aus tiefem Mitgefühl und der evolutionären Psychologie („Es ist nicht Deine Schuld, aber es liegt in Deiner Verantwortung“) ist die CFT derzeit die umfassendste, empirisch gestützte Annäherung an Mitgefühl in der Psychotherapie und hat wesentlich zu unserem modernen Verständnis von Mitgefühl in der Gesundheitsversorgung beigetragen.
In dieser klar geschriebenen kompakten Einführung in die CFT bietet Dr. Tanner dem deutschsprachigen Publikum einen ausgezeichneten Überblick über die Geschichte, Theorie, Forschung und Praxis der CFT. Es enthält auch hilfreiche Abschnitte über Fallkonzeptualisierung und Anregungen, Mitgefühl in der therapeutischen Beziehung zu schulen. Auch für Leser, die nicht in der klinischen Praxis tätig sind, enthält dieses Buch faszinierende Einblicke in die Entstehungsweise unserer psychischen Probleme und wie sie innerhalb von Beziehungen gelindert werden. Es vermittelt einen Eindruck von der unsichtbaren Macht der Scham bei psychischen Störungen und wie mitfühlende Beziehungen, einschließlich jener, die wir mit uns selbst haben können, unsere tiefsten Wunden zu heilen vermögen. Ich glaube, dieses wichtige Buch wird vielen Therapeuten und ihren Patienten neue Perspektiven eröffnen und sie zu kreativen Behandlungsmöglichkeiten inspirieren.
Geleitwort
In diesem verständlich geschriebenen und informativen Buch gibt Mirjam Tanner einen Überblick über die wichtigsten Aspekte der Compassion Focused Therapy und ihre wesentlichen Techniken. Mit tiefer Einsicht geschrieben und einem präzisen Verständnis der Kernprozesse sowie einer umfassenden klinischen Erfahrung ist dies für deutschsprachige Leser eine gute Einführung in diese Therapie. Eine wunderbare Ergänzung zur Literatur über die CFT, aus welcher viele noch lernen können.
1 Einleitung
Eine Einleitung für ein Buch zu schreiben, beinhaltet eine ganz spezielle Herausforderung. Wie kann sie verfasst werden, damit sie die Neugierde des Lesers derart packt, dass sie auch bis zu Ende gelesen wird und das Interesse für das gesamte Werk weckt? Nach ein paar schlaflosen Nächten, hilfreichen Gesprächen und Versenkung in Meditation über diese Frage reifte die Überzeugung, dass der Leser dazu am besten bereits in der Einleitung einen Hauch von Compassion Focused Therapy (CFT) praktisch erfahren soll. Im besten Fall spricht das im Leser ein tiefes Bedürfnis nach Achtsamkeit und Mitgefühl an sowie das bereits natürlich vorhandene intuitive Wissen über dessen Wert und er fühlt sich da gut abgeholt, wo er sich im Moment auch immer befinden mag. So wie wir in der psychotherapeutischen Arbeit mit CFT die Achtsamkeit unserer Klienten schärfen, um sie Schritt für Schritt an verschiedene Aspekte von Mitgefühl heranzuführen, möchte ich jetzt gerne Ihre Achtsamkeit für diese Zeilen, diese Einleitung und dieses Buch insgesamt gewinnen. Es wäre nützlich, wenn Sie sich dazu sammeln und Anforderungen des Alltags, Belastendes aus den letzten Tagen und mögliche Sorgen, was Ihre Zukunft betrifft, für den Moment ablegen könnten. Warum dazu nicht mit einer der Achtsamkeitsübungen beginnen, mit denen in der CFT gearbeitet wird? Gerne möchte ich Sie mit der folgenden Übung einladen, sich für die nachfolgenden Kapitel zu sammeln und einzustimmen.
1.1 Beruhigender Atemrhythmus: Slowing down and settling
Bitte lesen Sie die folgende Anleitung aufmerksam durch und lassen Sie uns in die Übung und schließlich in dieses Buch eintauchen.
Finde eine entspannte aufrechte Sitzhaltung, die Dir erlaubt, frei zu atmen. Lenke Deine Aufmerksamkeit sanft auf Deinen Atem, auf das Ein- und Ausatmen. Beobachte eine Weile, wie Dein Ein- und Ausatmen geht. Wo spürst Du die Atembewegungen am deutlichsten? Ist das an den Nasenflügeln, wenn Du kältere Luft ein- und wärmere Luft ausströmen spürst? Ist es bei den sich ausdehnenden und sich wieder zusammenziehenden Bewegungen des Oberkörpers? Oder ist es das Heben und Senken der Bauchdecke? Wie lange geht Dein Ein- und Dein Ausatmen?
Lass‘ uns nun die Atmung vertiefen und verlangsamen. Dazu kannst Du als körperliches Signal dafür, wohin Deine Atmung fließen soll, Deine Hände sanft auf den Unterbauch legen. Achte nun auch auf die Atempausen vor dem Ein- und Ausatmen. Du kannst die Atmung verlangsamen, indem Du diese Pausen bewusst etwas ausweitest, bis es beginnen würde, etwas unangenehm zu werden. Vertiefen lässt sich Deine Atmung, indem Du Dir beim Ausatmen vorstellst, einen vollen Ballon langsam zu entleeren, indem Du die Luft durch Deinen Mund kontinuierlich und langsam ausströmen lässt. Es ist wichtig, darauf zu achten, die gesamte Luft auszuatmen. Es vereinfacht, vollständig auszuatmen, wenn Du Dir erlaubst, das Ausströmgeräusch oder sonst einen Ton hörbar zu machen.
Wenn Deine Aufmerksamkeit von der Atmung abschweift, ist das ganz normal. Unser Geist ist es gewohnt, sich zu bewegen. Bringe die Aufmerksamkeit dann einfach sanft auf Deine Atmung zurück und fahre mit der tiefen Atmung bis in den Unterbauch hinein fort. Während der gesamten Übung achte darauf, bis tief in den Unterbauch zu atmen, bis dorthin, wo Deine Hände den Unterbauch berühren.
Um beobachten zu können, wohin unsere Aufmerksamkeit gelenkt wird, und um zu üben, sie auf ein bestimmtes Objekt gerichtet zu halten, hilft innere Entschleunigung. Im hektischen Alltag, in der die Aufmerksamkeit vornehmlich auf äußere Begebenheiten gerichtet ist, sind wir oft nicht mit unseren inneren Wahrnehmungen verbunden. Es scheint einen Moment der Ruhe zu brauchen, damit wir uns orientieren und uns unserem inneren Erleben gegenüber öffnen können. Oftmals geschieht das dann, wenn wir nicht mehr abgelenkt und im Bett liegend eigentlich gerne einschlafen möchten. Bei vielen Klienten mit Schlafproblemen kommen die gesamten angestauten inneren Spannungen genau dann zum Vorschein und wühlen sie auf.
Übungen zu kennen, durch die wir uns immer wieder von Neuem beruhigen und innerlich festigen können, ist für jeden Menschen von Nutzen. Besonders wichtig scheint mir die Fertigkeit, sich selbst zu beruhigen, wenn wir mit Mitgefühl arbeiten wollen. Bevor bei dieser Arbeit Freude entstehen kann, öffnen wir uns immerhin für das eigene Leiden oder das von anderen Leuten und lassen uns davon berühren. Dieses Öffnen wird durch die Möglichkeit, sich wieder beruhigen zu können, beispielsweise durch die obige einfache Atemübung sehr viel leichter möglich. Ohne die Möglichkeit, sich beruhigen und entspannen zu können, besteht bei speziell auf Mitgefühl ausgerichteten Meditationen stets die Gefahr, dass diese das Alarm- und Selbstschutzsystem aktivieren – einen Modus, in dem kaum Mitgefühl hervorgebracht werden kann. Als Beruhigungsübung kann sie jedoch das Beruhigungs- und Fürsorgesystem aktivieren und eine Grundlage bilden für sämtliche Mitgefühlsübungen.
Wird diese Übung im therapeutischen Kontext durchgeführt, empfiehlt es sich wie bei sämtlichen anderen Übungen auch, dass der Therapeut mitmacht und nicht davor zurückschreckt, ein Ausatmungsgeräusch zu demonstrieren.
Auch wenn es mir keine rundum zufriedenstellende Lösung scheint, wurde im Folgenden der Leserlichkeit wegen hauptsächlich die männliche Form verwendet. Beispielsweise ist selbstverständlich immer auch an Therapeutinnen und Klientinnen gedacht und sind selbstverständlich Frauen und sämtliche weibliche Wesen stets genau gleich angesprochen wie männliche.
Gerne möchte ich meinen beiden Töchtern Amani und Aliyah danken für ihre große Geduld mit mir – Ihr musstet für dieses Buch viel zurückstecken! Dem Ernst Reinhardt Verlag und Anne-Kathrein Schiffer danke ich für die äußerst angenehme und beeindruckende Zusammenarbeit. Marie-Anne Rahel, Dir danke ich für Deine Freundschaft und Deinen hilfreichen scharfen Blick für Details. Paul Gilbert und Chris Germer herzlichen Dank für die offenherzige freundliche Unterstützung und Maarten Aalberse für die vielen freundschaftlichen, anregenden, kritischen und differenzierten Diskussionen über die CFT! Ich danke der ACT-Bildungswerkstatt und allen an der CFT interessierten Kolleginnen und Kollegen. Mein Dank gilt weiter Viktor Meyer, meinem Mentor, und meinen buddhistischen Lehrern und Lehrerinnen für das Erfahrenlassen ihres tiefen Mitgefühls. Ich danke allen meinen Klientinnen und Patienten, die mich die CFT klinisch praktizieren lehren. Allen meinen Freundinnen und Freunden möchte ich für ihre verlässliche Verbundenheit danken. Urs, ich bin unendlich glücklich und dankbar, dass Du da bist und mich zum Blühen bringst!
2 Geschichte
„Mitgefühl ist kein Luxus. Es ist eine Notwendigkeit für das Überleben der Menschheit.“ (Dalai Lama, zitiert von Daryl Cameron 2013)
2.1 Paul Gilbert und die Entwicklung der CFT
Paul Gilberts Interesse an Mitgefühl erwachte vor über 40 Jahren, als er als Abiturient einen Vortrag über Carl Gustav Jungs Konzept der Archetypen (C. G. Jung 2012 in der 18. Auflage) hörte. Später studierte er zuerst Wirtschaft und Politik und promovierte schließlich in Psychologie. Sein Interesse, die drei Fächer in einen Zusammenhang zu bringen, prägte seine weitere berufliche Entwicklung und floss später auch in die Compassion Focused Therapy (CFT) ein. Er beschäftigte sich mit der Frage, wie die durch die Evolution geprägte Psyche im Zusammenhang mit unseren ökonomischen Systemen uns einerseits vulnerabel für zahlreiche psychische Probleme macht, aber auch zu Glück und innerer Zufriedenheit führen kann (Gilbert 2000).
Die Faszination an der Jungianischen Analytischen Psychologie führte ihn weiter zur Evolutionären Psychologie. In den Archetypen, die tiefgreifende menschliche Erfahrungen wie Geburt, Mutterschaft, Trennung und Tod über die unterschiedlichsten Kulturen und Generationen hinaus als Urbilder im Unbewussten verankern, erkennt Gilbert einen bedeutenden Ausdruck der evolutionären Entwicklung des menschlichen Geistes.
Auch Beck und Greenberg (Beck 1987; Beck et al. 1985) befassten sich mit entwicklungsgeschichtlichen Einflüssen auf die menschliche Psyche. Sie stellten Zusammenhänge der evolutionären Einflüsse auf die neueren, für uns Menschen charakteristischen kognitiven Fähigkeiten her.
In seiner weiteren Forschung und seinem zweiten Buch „Depression: The Evolution of Powerlessness“ (1992) konzentrierte Gilbert sich auf die Untersuchung von Gefühlen der Unterlegenheit, Niedergeschlagenheit und Beengung im Zusammenhang mit der Erfahrung des Scheiterns. Die Beschäftigung mit diesen Themen führte ihn schließlich zum Studium von Scham und entwertender Selbstkritik, als Phänomene der Selbstentwertung, Selbstunterwerfung bis zu Formen von selbstverletzendem Verhalten (Van Vliet 2011). In weiteren Schritten fügte er neueste Erkenntnisse der Verhaltenspsychologie, Bindungstheorie, Emotionsforschung und Neurobiologie mit seinem Interesse am Buddhismus und seiner Begeisterung für das Thema der Freundlichkeit in seine eigenen wissenschaftlichen und empirischen Studien zusammen.
Folgende Erkenntnisse waren für Gilbert bei der Entwicklung der CFT von ausschlaggebender Bedeutung:
Zunächst interessierte ihn, in welchem Zusammenhang die Evolutionäre Psychologie mit Mitgefühl und Altruismus steht (Gilbert 2005; Bowlby 1969; Hrdy 2009).
Parallel dazu rückte auch die Bedeutung der Evolutionären Psychologie für eine gesunde psychische und physische Entwicklung und unser Wohlbefinden (Cozolino 2007; Gilbert 2009; Siegel 2012a) in den Mittelpunkt wissenschaftlicher Forschung. Bifulco et al. (2002) zeigten, dass Menschen mit chronischen und komplexen psychischen Problemen häufig aus einem Milieu stammen, in dem wenig Mitgefühl und Altruismus erlebt wurde. Auch die erheblichen negativen Auswirkungen daraus auf die menschliche Entwicklung wurden untersucht (Cozolino 2007). Es zeigte sich, dass diese Menschen häufiger von ausgeprägter Scham und einer Tendenz zu entwertender Selbstkritik geplagt werden. In der Folge können sie es sehr schwer haben, sich der Güte anderer Menschen zu öffnen und sich selbst wohlwollend zu behandeln. Von Klienten mit einem solchen familiären Hintergrund hört man im Rahmen einer Therapie mit klassischem kognitiv-verhaltenstherapeutischen Hintergrund u. a. typischerweise Sätze wie: „Ich kann den Sinn hinter den zu trainierenden alternativen positiven Gedanken über mich gut verstehen, aber ich fühle mich trotz der Einsicht immer noch wie X oder wie Y. Immer noch empfinde ich, dass mit mir etwas nicht stimmt oder ich doch selbst schuld daran bin, dass man mich misshandelt hat.“ Das zeigt, dass das alleinige Vermitteln und Einüben von positiveren gedanklichen Inhalten oft nicht ausreicht, um Klienten auch zu einer positiveren emotionellen Erlebensweise zu verhelfen. Kognitive Einsicht alleine scheint oft die emotionelle Stimmung noch nicht verbessern zu können.
Ganz im Gegenteil dazu unterstreicht Gilbert, dass bei gewissen Klienten ein für sie neuer positiver Inhalt alleine erst recht Selbstzweifel wecken und so eine depressive Verstimmung verstärken kann. Dies scheint eine Antwort auf eine für Klienten befremdende, nicht glaubwürdige positive Kognition zu sein. Die Sozialpsychologie beschrieb dasselbe Phänomen als Kognitiv-Emotionelle Dissonanz. In der CFT wird aus diesem Grund nicht nur sorgfältig darauf geachtet, was Klienten denken, sondern genauso auf die Intonation von Kognitionen, also darauf, wie Gedanken im Kopf von Klienten klingen mögen. Bei depressiven Klienten z. B. sieht sie im häufig sehr harschen und destruktiven Ton ihrer selbstkritischen Gedanken einen wichtigen Faktor, der unbeachtet eine psychische Störung hartnäckig aufrechterhalten kann. In der CFT wird deswegen viel Wert gelegt auf die Entwicklung einer annehmenden, warmen und mitfühlenden Weise, über sich selbst und die Welt nachzudenken. Sie sieht dies als Basis, um konstruktiv reagieren zu können und bietet dafür umfassende Trainingsmöglichkeiten, die vor allem in Kapitel 9 dieses Buches einzeln noch genauer vorgestellt werden.
Neben der Bedeutung des kognitiven Stils von Klienten berücksichtigt das Konzept der CFT schließlich auch das Phänomen des Mentalisierens. Hierbei geht es um die für den Menschen einzigartige Fähigkeit, sich über eigene mentale Zustände und die mentale Verfassung von anderen Leuten Vorstellungen zu machen. In der CFT wird der Standpunkt vertreten, dass das Aufbauen eines gefestigten mitfühlenden Selbst in der Therapie die Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit von Klienten günstig beeinflussen kann. Unter günstig versteht die CFT dabei eine Entwicklung, die die soziale Verbundenheit und eine grundlegend wohlmeinende Selbst- und Fremdbeurteilung fördert.
Als ein weiterer Faktor, der die CFT maßgeblich mitprägte, spielte Gilberts Interesse am Buddhismus eine wichtige Rolle. Angeregt von der buddhistischen Sichtweise, die das Leiden eines Menschen nicht pathologisiert sondern im Gegenteil betont, wie menschlich und unumgänglich schmerzhafte Erfahrungen im Leben sind, wuchs seine Faszination daran. Sein persönliches Interesse an psychologischen und philosophischen Aspekten des Buddhismus brachte ihn schließlich in Berührung mit buddhistischen Mitgefühlspraktiken. Darunter werden im Buddhismus spezifische Übungen, wie die der „Vier Grenzenlosen“ oder „Tonglen“ zur Entwicklung von Mitgefühl verstanden (siehe Kapitel 2.3.1, 4.1.6 und 9.7.1). Im Folgenden werden unter dem Begriff Mitgefühlspraktiken aber sämtliche Übungen angesprochen, die sich für die Kultivierung von Mitgefühl als hilfreich erwiesen haben, auch jene ohne buddhistischen Hintergrund.
Ihren Wert und ihre heilsamen Qualitäten auch für die westliche Psychotherapie erkennend wurde Mitgefühl für Gilbert das Zentrum, um welches sich psychologische Heilung dreht. Andere Vertreter der Verhaltensmedizin und kognitiven Verhaltenstherapie wie Jon Kabat-Zinn, John Teasdale und Steven Hayes, um nur einige wenige zu nennen, begannen, mehr und mehr Elemente des buddhistischen Achtsamkeitstrainings für die westliche Psychotherapie zu adaptieren. Diese lösten damit die dritte Welle der Verhaltenstherapien, die Achtsamkeitsbasierte Verhaltenstherapie, aus, während dagegen Gilberts Interesse bei den Mitgefühlspraktiken blieb. Damit Achtsamkeits- und Mitgefühlspraktiken in der westlichen Medizin und Psychotherapie Anerkennung finden und ihren Platz einnehmen konnten, werden sie inzwischen seit rund vier Jahrzehnten durch Forschung auf ihren klinischen Nutzen hin überprüft und an das westliche Klientel adaptiert. Inzwischen gibt es mit der Compassionate Mind Foundation ein weltweites Netz von an der CFT interessierten Klinikern und wissenschaftlichen Forschern. In Kapitel 7 können sich interessierte Leser über weitere psychologische Ansätze informieren, die auf Mitgefühl fokussieren.
2.2 Wissenschaftliche und gesellschaftliche Hintergründe
Im Folgenden soll eine Übersicht geschaffen werden über die wichtigsten wissenschaftstheoretischen und sozialpsychologischen Einflüsse, welche die Entwicklung der CFT prägten. Wir werden diesen Themen später noch ausführlicher in Kapitel 3 begegnen.
Im letzten Jahrhundert wurde durch die Evolutionspsychologie die Sichtweise populär, unser Gehirn als eine Art Hybrid zu betrachten (Liebermann 2013). Dabei handelt es sich um ein System, bei dem mehrere Technologien miteinander kombiniert wurden und welches als zusammengesetztes Ganzes neue Eigenschaften und Möglichkeiten hervorgebracht hat. Dieses System besteht aus dem entwicklungsgeschichtlich älteren Hirnstamm, der manchmal etwas entwertend auch als Reptiliengehirn bezeichnet wird. Neben dem Hirnstamm entwickelten sich neuere und höher entwickelte Anteile. Diese umfassen die zu analytischeren Leistungen befähigte Großhirnrinde und würden dem jungen Säugergehirn entsprechen (Liebermann 2013). Beide Teile stehen durch das Zwischenhirn, dem Ort des limbischen Systems oder des älteren Säugergehirns in einer Art funktionaler Verbindung. Die Entwicklung des Hirnstamms lässt sich bis auf rund 500 Millionen Jahre zurückverfolgen. Seine Funktionen scheinen instinktgetrieben und fokussieren im Wesentlichen auf Kämpfen, Flüchten, Nahrungsbeschaffung und Fortpflanzung. Wenn es der Sicherheit dient, kann er blitzschnell Signale weiterleiten und verarbeiten.
Darwin legte 1859 in seinem Buch The Origins Of Species dar, dass unser Geist und Gehirn die Folge einer natürlichen Auslese sind. Dabei baut die Evolution strikt auf ihren früheren Entwicklungen auf. Weil sie sich nie rückwärts bewegen kann, werden ältere primitivere Baupläne in modernere implementiert. So wird verständlich, dass auch die Gehirne von Säugetieren artenübergreifend über dieselben Funktionspläne verfügen.
Was uns als Menschen von anderen Primaten unterscheidet ist jedoch die relative Größe unseres Gehirns, dabei speziell die Größe der Großhirnrinde und des Präfrontalen Cortex, der direkt hinter der Stirn liegt. Dieser ist unter anderem beteiligt bei der Erschaffung von Vorstellungen von Raum und Zeit, des Selbstgefühls und von Mentalisierungsprozessen, moralischen Urteilen sowie bei der Erzeugung einer bewussten Aufmerksamkeit (Gilbert 2013; Liebermann 2013).
2.2.1 Das alte und das neue Gehirn
Für die CFT sind Spannungen durch Dissonanzen, die durch das komplexe Zusammenspiel älterer und neuerer Gehirnstrukturen entstehen können, deshalb wichtig, weil sie emotionelle Reaktionen erzeugen können, die uns im Alltag vor große Probleme stellen. Grundsätzlich geht es dabei darum, dass im Zusammenhang mit schwierigen Emotionen unsere neueren Hirnfunktionen sozusagen durch die älteren „ausgetrickst“ werden können. So können deren ältere, instinktivere und wenig reflektierte Funktionen die Steuerung übernehmen und ungewollt das Verhalten bestimmen (Gilbert 2013). Zur Illustration ein praktisches Beispiel, nennen wir es die „Pralinengeschichte“.
Die Pralinengeschichte
Nehmen wir an, wir entdecken soeben, dass eines unserer Kinder die Pralinen, die wir eigentlich einer Freundin zum Geburtstag schenken wollten, restlos aufgegessen hat. Leicht könnte es passieren, dass wir auf Basis der älteren Gehirnstrukturen von einer sehr rasch aufkommenden Ärgerreaktion übermannt werden. Der Körper reagiert mit erhöhter Muskelspannung, wir können spüren, wie unser Herz schneller zu schlagen beginnt, und vielleicht nehmen wir eine Welle von Energie wahr, die in unserem Körper aufwärts zum Kopf zu schießen scheint. Bevor wir überlegen konnten, was jetzt wirklich am vernünftigsten wäre, nämlich gegebenenfalls neue Pralinen zu kaufen, haben wir möglicherweise bereits begonnen, auf das Kind einzuschimpfen und mit Drohgebärden herumzufuchteln. Kurze Zeit später wundern wir uns eventuell bereits wieder darüber, was denn im Verhältnis zum Geschehenen einen derart großen Alarm ausgelöst hat. Im weiteren Verlauf beginnen wir, uns vielleicht sogar kritische Fragen zu unserem aufbrausenden Verhalten zu stellen und uns vorzuwerfen, dass wir so harsch auf eine Kleinigkeit reagierten. Eventuell beginnen wir, uns neben dem Pralinenraub zusätzlich auch noch über uns selbst zu ärgern. Es kann geschehen, dass wir für längere Zeit zwischen Ärger, Frustration und ruhigeren planerischen Überlegungen hin- und hergeworfen werden, bis wir uns wieder beruhigen können und herausgefunden haben, wie wir uns verhalten wollen.
Dafür, so sagen uns Neurowissenschaftler wie Rick Hanson (Hanson & Mendius 2009), spielen die Quantität und die Qualität der Vernetzungen von Hirnarealen des älteren (Amygdala = A) und neuen Gehirns (Anteriorer Cingulärer Cortex = ACC, einem Teil des Präfrontalen Cortex) eine entscheidende Rolle. Wenn Impulse in der neuronalen Achse von unten (A) nach oben (ACC) fließen (bottom up reaction), reagieren wir instinktiver, leidenschaftlicher und rascher. Umgekehrt scheinen Reaktionen, die von oben (ACC) aus gesteuert nach unten (A) fließen (top down reaction), bewusster gewählt, auf mehr Vernunft basierend und durch eine weitere Sicht in die Zukunft motiviert. Top-down-Reaktionen brauchen mehr Zeit. Diese beiden Netzwerkzentren, metaphorisch gesprochen das Herz und der Kopf, können sich durch stärkere gegenseitige Verbindung unterstützen. Durch achtsames Wahrnehmen unserer Reaktionen kann das innere Feuer gelöscht werden. Die Bewusstheit über unsere Absichten ermöglicht es, klar zu entscheiden – für Kopf- oder Herzreaktionen. Dem Prinzip folgend, gemäß welchem Neurone, die zusammen feuern schließlich zusammen verdrahten (engl.: „neurons that fire together wire together“), werden die für achtsames Gewahrsein und bewussteres Erkennen von Absichten notwendigen neuen neuronalen Verbindungen zwischen älteren und neueren Arealen geschaffen und verstärkt (Hanson & Mendius 2009).
In der CFT ist die Bildung und Reifung solcher neurophysiologischer Entwicklungsmuster von Interesse. In einem weiteren Schritt bringen Gilbert und sein Team Erkenntnisse daraus mit Ergebnissen aus der Bindungsforschung in Zusammenhang. Die CFT anerkennt die hohe Vulnerabilität des Menschen vor allem während der Geburt, seiner perinatalen und daraufhin folgenden frühesten Bindungen zu Bezugspersonen. Der Umstand, dass der Mensch als verhältnismäßig sehr unausgereiftes Wesen zur Welt kommt, überlässt dem Umfeld, in das er geboren wurde, einen entsprechend großen Einfluss auf seine Ausreifung. Gilbert betont, dass wir weder diese hohe Vulnerabilität noch das soziale Milieu auswählen können, in das wir hineingeboren werden und das uns maßgeblich prägt. Nach Gilbert entwickelt sich das menschliche Gehirn zu einem großen Teil aus sozialen Interaktionen für soziale Funktionen (Gilbert 2014a), weswegen frühe Bindungsstörungen besonders prägend sind. Die dafür wichtigen neurophysiologischen Entwicklungsmechanismen finden zunehmend Beachtung und Integration allgemein in der Psychotherapie und ganz speziell in der CFT.
Weiter wurde in der CFT die Störanfälligkeit der durch die Evolution geformten Funktionen der Emotionsregulierung untersucht. Es zeigte sich, dass Klienten sehr davon profitieren können, wenn ihnen diese Zusammenhänge auf anschauliche Weise in psychoedukativer Absicht erklärt werden. Die CFT greift dafür auf das einfache und illustrative Modell von Depue (Depue 2005) zurück. Das adaptierte Modell geht von drei unterschiedlichen basalen Regulationssystemen der Emotionen aus: dem Aktivierungs- und Anreizsystem, dem Bedrohungs- und Selbstschutzsystem und dem Beruhigungs- und Fürsorgesystem. Die CFT entwickelte insbesondere Methoden, um das Beruhigungs- und Fürsorgesystem zu stärken mit der Absicht, die drei Systeme insgesamt besser in Balance zu bringen. Kapitel 3.2 widmet sich ausschließlich den drei Emotionsregulierungssystemen.
2.2.2 Mentalisieren, mehrere Selbst und Archetypen
Darüber, wie eigenen mentalen Zuständen und denen von anderen Leuten Bedeutungen zugeschrieben werden, gibt es in der Psychologie verschiedene Erklärungsansätze. Für die CFT war das Modell der Mentalisierungsfähigkeit als einer dieser Ansätze von Interesse.
Die CFT betrachtet die Persönlichkeit als ein System, das aus mehreren Persönlichkeitsanteilen (multiple selves) besteht, die unabhängig voneinander aktiviert werden können. Als Beispiele neben vielen anderen Persönlichkeitsanteilen seien hier das selbstkritische Selbst, das ängstliche Selbst, das fürsorgliche Selbst oder das mutige und interessierte Selbst erwähnt.
Gilbert interessierte sich für den Einfluss von Mitgefühlspraktiken auf die Kompetenz des Mentalisierens und Integrierens verschiedener Persönlichkeitsanteile bei Klienten. Er stellt diese Kompetenzen in Zusammenhang mit dem Wohlbefinden von Klienten.
Die Mentalisierungsfähigkeit erlaubt dem Menschen, sich effizient auf die geistige Verfassung von anderen Leuten einzustellen. Sie erleichtert ebenfalls, mit den eigenen Hoffnungen, Befürchtungen, Absichten und Zielen effektiv umzugehen und diese mit solchen von anderen Menschen in Übereinstimmung zu bringen. Um sich in unterschiedlichen sozialen Rollen und Beziehungen und bei sozialen Aufgaben zu bewähren, werden die Informationen genutzt, die durch das „Lesen“ und Interpretieren verschiedener Geisteszustände gewonnen werden können. Sowohl eine schwach entwickelte Fähigkeit zu mentalisieren wie vermutlich auch eine überdurchschnittlich starke kann mit Schwierigkeiten bei der Selbst- wie der Kontextwahrnehmung einhergehen. Die CFT interessiert Zusammenhänge zwischen Mentalisierungsprozessen und einer Dysbalance der Emotionsregulierung.
Dabei konnte man im Rahmen der CFT-Therapie beobachten, dass Achtsamkeits- und Mitgefühlsübungen die Mentalisierungskompetenz auf günstige Weise beeinflussen können.
Durch die in den CFT-Übungen angestrebte Entschleunigung des Selbsterlebens werden unterschiedliche innere Muster und Persönlichkeitsanteile, mentale Zustände und archetypische Anteile des Selbst häufig genauer erfahren. Es wird deutlicher beobachtbar, wie verschiedene innere Zustände aktiviert und wieder deaktiviert werden und wie sie mit Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen, Wünschen und Verhalten verknüpft sind. In der buddhistischen Psychologie werden diese unterschiedlichen Zustände Geistesformationen oder Gewohnheitsmuster genannt (Holmes & Holmes 2013). Piaget und die kognitiven Verhaltenstherapeuten sprechen von Schemata, psychodynamisch orientierte Psychologen nennen sie Ich-Anteile oder Ego States (Holmes & Holmes 2013). Die CFT spricht von den mehreren Selbst (engl. multiple selves).
In der CFT wird Wert darauf gelegt, die Mitte einer Person, aus welcher sich die verschiedenen Anteile u. a. überhaupt beobachten lassen, durch die Entwicklung eines mitfühlenden Selbst zu stärken. Aus diesem mitfühlenden Selbst heraus kann ein hilfreicher Abstand zu den häufig unbewusst und teilweise automatisch ablaufenden Mustern entstehen. Die Identifikation oder Fusion mit schwierigen Anteilen kann gelockert werden. Die gesamte Selbstidentität wird mehr und mehr als etwas Dynamisches, Wechselhaftes und Vielseitiges erlebt.
Der tibetische Buddhismus nimmt sich die Vorstellung von Mandalas zu Hilfe. Ein Mandala ist ein Raum mit einem Zentrum. Die Stärkung und Festigung des mitfühlenden Zentrums erlaubt es uns, die unterschiedlichen Persönlichkeitsanteile und die Welt um uns aus einer neuen Perspektive zu betrachten und zu erfahren (aus der mitfühlenden Mitte heraus). Wenn wir unsere Mitte verlieren, werden wir an den Rand des Mandalas geschleudert und verlieren unsere mitfühlende Perspektive, identifizieren uns mit gewissen Persönlichkeitsanteilen und laufen Gefahr, uns in reaktiven Verhaltensmustern zu verlieren. Gemäß dem tibetischen Buddhismus entsteht daraus Leiden. Das Mitgefühlstraining öffnet Wege und Türen ins reine mitfühlende Zentrum.
Um die vielen Selbst auf lebendige Weise erfahrbar zu machen, möchte ich Sie, wie Tom und Lauri Holmes es in ihrem Buch Reisen in die Innenwelt (Holmes & Holmes 2013) tun, einladen, Ihre eigenen verschiedenen Selbst, im Beispiel „Teile“ genannt, zu erkunden.