DER STEINWÄCHTER



Julia Lalena Stöcken

Über die Kurzgeschichte

In den Überresten eines verlassenen Dorfes leben zwei Kinder wie eine Familie zusammen – vollkommen unbehelligt – bis ein Fremder in ihre friedliche Welt eindringt. Aus dem anfangs harmlosen Spiel wird bald bitterer Ernst …

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Über die Autorin

J.Stoecken_ebookJulia Lalena Stöcken, 1989 in Niedersachsen geboren, hat eine tiefe Leidenschaft für alles Vergangene und stöbert mit Vorliebe in Museen und alten Gemäuern.
Die Begeisterung dafür hat sie ihrer Mutter zu verdanken, die ihr schon früh historische Romane nahegebracht hat – und der Wunsch, die Charaktere mögen nach ihrem Willen handeln, trieb sie dazu, selbst mit dem Schreiben anzufangen. Eng verbunden damit ist das Zeichnen und Skizzen ihrer Charaktere pflastern ihr Arbeitszimmer.
Julia lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter bei Lüneburg.

Weitere E-Books von Julia Lalena Stöcken bei dp DIGITAL PUBLISHERS
Ljuba und der Reiter der Steppe (ISBN 978-3-96087-236-8)
Zur Leseprobe

Weitere booksnacks von Julia Lalena Stöcken bei dp DIGITAL PUBLISHERS
Tausend Kraniche (ISBN 978-3-96087-178-1)
Narrenfeuer (ISBN 978-3-96087-073-9)

Mehr zur Autorin findest du auf
www.digitalpublishers.de/autoren/julia-lalena-stoecken/

www.julia-lalena-stoecken.jimdo.com/

www.facebook.com/Julia-Lalena-Stoecken/

Der Junge hob die Hand über die Augen und blinzelte in die Sonne. Sie stand hoch über ihm und kündete von der Mittagszeit, aber für diese Erkenntnis brauchte er die Sonne nicht – sein Magen zog sich rhythmisch zusammen und erinnerte ihn daran, dass das Frühstück längst verdaut war. Aber der Umstand, dass es Frühstück gab, das es zu verdauen galt, ließ ihn kurz lächeln.

Neben seinem Bein baumelte das tote Kaninchen, das er heute in der Falle gefunden hatte. Es war jung und mager, mehr Knochen als Fleisch, aber es würde reichen für sie beide.

Pfeifend wandte sich Culann von den saftig grünen Weiden unterhalb der Anhöhe ab und den kargen Felsklüften zu, die auf der anderen Seite die Hügellandschaft durchzogen. Er machte einen Satz von dem Brocken herunter, auf dem er stand, und lief weiter die Steigung hinauf, bis er die Kuppe erreichte. Das Dorf lag am Hang auf der anderen Seite. Gebäude aus Feldsteinen mit Dächern aus grauverwittertem Stroh in einer grünen Landschaft, seltsam nebeneinander aufgereiht wie stumme Soldaten – Wächter aus Stein. Doch wen sie bewachten, war nicht ersichtlich.

Der Ort schien verlassen.

Der Junge nahm das abschüssige Gelände zu den Hütten hinunter. Plötzlich erklang ein lautes Scheppern, gefolgt von einem unterdrückten Fluchen, und seine Lippen formten ein Grinsen. Er umrundete das erste Gebäude.

Ein Mädchen hockte vor dem Eingang und sammelte Scherben eines Tonkrugs auf. Als ein Schatten über die schmale Gestalt mit den roten Zöpfen fiel, hob sie den Blick, bemerkte die Belustigung in dem Gesicht des Jungen und schob die Unterlippe vor.

Culann kniete sich rasch neben sie und nahm eine Handtellergroße Scherbe auf. „Du solltest besser aufpassen, Muirgheal“, mahnte er und benutzte absichtlich den Namen, den sie nicht mochte, weil er nicht mädchenhaft klang. Ihre Eltern hatten sie so genannt, aber ihre Eltern waren nicht mehr da. Wie erwartet bebten ihre blassen Nasenflügel.

„Sehr witzig“, zischte Mur und nahm ihm die Scherbe aus der Hand, fügte sie dem eigenen Stapel hinzu und erhob sich so grazil es mit der wackeligen Fracht möglich war. Sie verschwand in der Hütte.

Culann kam auf die Beine, machte aber keine Anstalten, ihr ins Innere zu folgen, sondern schaute erneut zur Sonne hinauf. „Ich hab‘ ein Kaninchen gefangen.“

Klappern und Klirren drangen aus der Behausung, die die beiden miteinander teilten, und dann Murs Stimme: „Gut, leg es auf die Kiste. Ich werde es kochen.“ Wieder Klappern.

Culann band die Schlinge los, mit der er das Kaninchen an seinem Gürtel befestigt hatte. Er platzierte es auf der umgestülpten Kiste, die neben dem Eingang stand und auf der Mur für gewöhnlich grobe Kocharbeiten ausführte, weil sie den Schmutz und den Geruch von Blut nicht in ihrer Behausung haben wollte. Ein dunkler brauner Fleck auf dem Holz zeugte davon. Sie war sehr pingelig, was das anging. Culann sah ihr oft dabei zu, wie sie draußen in der Sonne saß und etwas – meist eine Rübe, manchmal ein Kaninchen – geschickt mit dem Messer zerteilte. Es war friedlich, ihr zuzusehen.

Einen Moment lauschte er den Geräuschen in der Hütte, begriff, dass Mur heute nicht herauskommen würde und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Er kehrte dem Gebäude den Rücken. „Wann essen wir?“

„Es dauert noch.“

Der Junge seufzte schwer und plötzlich hörte er ein Zischen, überraschend nah, und als er herumwirbelte, stand Mur mit in die Hüften gestemmten Händen hinter ihm und funkelte ihn an.

„Wenn du etwas essen willst, hol mir neuen Torf!“