»In time we hate that which we often fear.«
»Wir hassen bald, was oft uns Furcht erregt.«
William Shakespeare
Antonius und Cleopatra, Akt I, Szene 3
1. Kapitel
Der Nachtmahr
Charlotte Rapp war fest entschlossen, aus diesem ungewöhnlich kalten, herbstlich anmutenden Tag Ende April das Beste zu machen.
Ihr Blick ging vom Frühstückstisch zu der noch österlichen Dekoration ihres Wohnzimmers hinaus zur Terrasse, doch was sie sah, war nicht angetan, sie fröhlich zu machen. Ihre geliebten Glyzinien, die seit wenigen Tagen in üppigen, hellblauen Trauben die Laube geschmückt hatten, waren dem Frost der vergangenen Nacht zum Opfer gefallen und hingen in schwarzen dürren Lappen an den gewundenen Ästen. Eine Biene umsurrte eines dieser tristen Gebilde und flog enttäuscht davon. In dieser toten Pflanze war kein Nektar mehr zu finden.
Das ausgiebige Frühstück mit anschließender Zeitungslektüre, für die Pensionärin Charlotte eine unverzichtbare Zeremonie, war heute weniger genussvoll als sonst ausgefallen. Überhaupt wurden neuerdings, wie ihr schien, die Pressemeldungen immer negativer. Daran änderte auch das ausnahmsweise nette Foto auf der ersten Seite wenig, das einen freundlichen Mann mit zwei Eseln bei einer Eselswanderung im Pfälzer Wald zeigte. Ein Stück schöne heile Welt, wo sonst das geballte Elend der Welt zu sehen war.
Die Überschrift »Entschleunigung mit Langohren« setzte einen positiven Kontrapunkt zu den grässlichen Bildern von Terror, Krieg und Verwüstung, die den Leser gewöhnlich erwarteten.
Dieser 18. April 2017 bot einen Artikel über die berühmt-berüchtigte Odenwaldschule in Oberhambach bei Heppenheim, die nun als familienfreundliche Wohnsiedlung die Vergangenheit mit ihren schrecklichen Missbrauchsfällen vergessen machen sollte. Dann gab es noch einen großen Bericht über das traditionelle Bensheimer Karfreitags-Passionsspiel, das als erschütternder Kreuzweg voller Symbolik und Tiefe auch dieses Jahr wieder mehr als tausend Zuschauer angezogen hatte.
Das Rätselraten um den Tod einer jungen Frau, die in Darmstadt abends auf offener Straße um Hilfe gerufen hatte und von herbeieilenden Anwohnern sterbend aufgefunden worden war, beschäftigte Charlotte sehr. Die Polizei verweigerte aus »ermittlungstechnischen Gründen« die Angabe der Art der Verletzungen des Opfers und die näheren Umstände der Tat. Ob es sich um ein Verbrechen handelte?
Charlotte, die eigentlich keine Grüblerin und eher dem Augenblick zugetan war, ertappte sich immer öfter dabei, dass fremde Schicksale sie lange und anhaltend berührten. Das Foto eines vom Hunger gezeichneten Kleinkinds aus dem Süd-Sudan, das ihr mit übergroßen Augen direkt ins Herz zu blicken schien, löste in ihr den Entschluss aus, gleich nach dem Frühstück für UNICEF zu spenden. Gewissensberuhigung, dachte sie, aber besser dieser Tropfen auf einen heißen Stein als gar nichts.
Sie blätterte weiter. Im Feuilleton blieb sie an einem interessanten Artikel über eine Ausstellung des schweizerisch-englischen Malers Johann Heinrich Füssli im Frankfurter Goethehaus hängen, der im Stil der Schauerromantik faszinierende Kunstwerke geschaffen hatte.
Das Gemälde Der Nachtmahr mit dem zurückgebeugten Körper einer weißgekleideten jungen Frau und dem bedrohlichen Kobold, der auf ihr sitzt, und dem gespenstischen Pferdekopf, der aus dem Hintergrund in die Szene hineinragt, war Charlotte, der ehemaligen Lehrerin für Englisch und Kunst, wohlbekannt. Sie hatte ihren Schülern dieses Kunstwerk gerne gezeigt, wenn Shakespeares Dramen durchgenommen wurden. Ein wenig glich diese von Alpträumen geplagte Schöne ganz in Weiß Shakespeares Heldin Desdemona, die von ihrem krankhaft eifersüchtigen Ehemann Othello getötet wird. Füssli hatte mit seiner schaurig-schönen Kunst die Werke von Shakespeare und Milton illustriert und die moderne Psychoanalyse vorweggenommen.
Charlotte musste ein wenig lächeln, wenn sie daran dachte, dass die Engländer den Namen Füssli aussprachen wie »Fjusli«. Kein Wunder, denn der Schweizer war schon in jungen Jahren nach England ausgewandert, wo er als Henry Fuseli berühmt wurde.
Warum kommt mir gerade Desdemona in den Sinn, fragte sich Charlotte. Othello, Desdemona und das Motiv der Eifersucht.
Ach natürlich, es hing mit Sophie zusammen. Mit Sophie und ihren ewigen Beziehungsdramen. Sophie, Charlottes geliebter Nichte, die der Tante in vielem glich, und das nicht nur äußerlich, sondern auch, was Charakter und Interessen betraf.
Den schönen Künsten zugetan, war Sophie, die als Restauratorin am Museum Speyer gearbeitet hatte, vor einem halben Jahr nach Bensheim an der Bergstraße gezogen, wo sie nun als Freischaffende tätig war und begann, sich einen Kundenkreis aufzubauen. Ein mutiges und mühsames Unterfangen, sich selbständig zu machen, aber Sophies Ausdauer, ihr Selbstbewusstsein und ihre berufliche Kompetenz waren gute Voraussetzungen dafür, dass sie ihren Weg machen würde. Schön, dass die geliebte Nichte nun in ihrer Nähe wohnte.
Charlotte dachte, während sie genüsslich ihren Kaffee trank, weiter über Sophie nach, deren privates Glück leider zu wünschen übrig ließ. Nach einer ebenso kurzen wie gescheiterten Ehe war Sophie in eine Liaison hineingeraten, die sich als Desaster entpuppt hatte.
Boris Maiwald war ein verheirateter Mann und Vater von zwei Kindern. Er führte ein Doppelleben zwischen seiner kleinen Familie in Berlin und in Süddeutschland, wo er arbeitete und mit Sophie ein Liebesverhältnis unterhielt. Die sonst so kluge Sophie war gutgläubig und blind verliebt auf einen Schwindler hereingefallen. Charlotte verglich ihr eigenes privates Glück mit dem permanenten Liebespech ihrer Nichte, die sich nun, mit 42 Jahren, fragen musste, ob ihr Lebensmuster darin bestand, immer wieder an den Falschen zu geraten.
Seit geraumer Zeit nun war von einem Torsten Blessing die Rede gewesen, aber die Tante hatte bisher den neuen Liebhaber ihrer Nichte noch nicht zu Gesicht bekommen.
Gestern hatte Sophie bei Charlotte angerufen und sie mit der Mitteilung überrascht: »Tante Charlotte, ich habe mit Torsten Schluss gemacht. Frag mich bitte nicht, warum. Du würdest es nicht glauben.«
Charlottes spontanes Angebot, sogleich zu Sophie zu fahren und ihr in der neuerlichen Krise beizustehen, war von der Nichte ungewohnt barsch abgelehnt worden: »Ach, ich bereue es schon, dich da reingezogen zu haben. Mir kann eh keiner helfen.«
Und sie hatte aufgelegt.
Schade, dass Ferdinand nicht schon wieder hier ist, dachte Charlotte. Er ist so praktisch, diplomatisch und klug und in schwierigen Situationen so bedacht. Aber er hat seinen Urlaub nach all den schwierigen Jahren als Kripochef mehr als verdient.
Charlottes Gedanken gingen zurück zu den zwei gemeinsamen Wochen mit ihrem Lebensgefährten auf Norderney: Radtouren durch die Dünen, zum großen Leuchtturm und auf den Deichwegen. Ausflüge zu den Stränden und zur alten Mühle. Das Verweilen im Café auf der romantischen Marienhöhe, wo Heinrich Heine sein wunderschönes Gedicht »Am Meer« während seines Aufenthalts auf der Insel verfasst haben soll.
Der frisch gebackene Rentner, wie Ferdinand Guldner sich nannte, genoss die entschleunigte Zeit.
»Nie wieder ein Verbrecher, nie wieder schwere Jungs, Mörder und Psychopathen, nie wieder …«, wiederholte er mantrahaft, als wolle er damit die Schrecken der Vergangenheit für immer bannen.
Nach den zwei Wochen harmonischer Gemeinsamkeit war dann aber doch eine kleine Meinungsverschiedenheit eingetreten. Ferdinand, der auf der Heimfahrt seinen Neffen Alexander Hansen in Bremen besuchen wollte, versuchte Charlotte zu überreden, nicht gleich von Norderney aus heimzufahren, sondern mit ihm zusammen die geplanten vier Tage bei Alexander zu verbringen.
»Gerne wäre ich mitgekommen und hätte mit dir einen Ausflug nach Worpswede gemacht. Wir hätten das Haus Barkenhoff von Heinrich Vogeler besucht und sein Haus am Schluh in Fischerhude, oder wir wären auf den Spuren von Otto Modersohn und Paula Modersohn-Becker gewandelt. Aber meine Tiere brauchen mich. Puck und Luna haben nun lange genug auf mich verzichten müssen.«
Schließlich musste Ferdinand einsehen, dass seine Lebensgefährtin sich nach der zweiwöchigen Abwesenheit nach ihrer Katze und ihrem Hund sehnte.
Alma Schäfer, die Nachbarin, hatte zwar die Tiere bestens versorgt, doch Mischlingshund Puck kam allmählich in die Jahre und wurde immer anhänglicher und ein wenig sonderlich, und Katze Luna mit ihrem lahmen Beinchen brauchte ebenfalls viel Zuwendung.
Beide lagen nun, während Charlotte ihre letzte Tasse Kaffee austrank und die Zeitung zusammenfaltete, einträchtig im Hundekorb. Seit Katze Lakritze vor einem halben Jahr gestorben war, rückten die beiden immer mehr zusammen und straften das Klischee von der Feindseligkeit zwischen Hund und Katz Lügen.
Meine beiden schwarzen Ungeheuer, dachte Charlotte zufrieden. Ich möchte euch nicht missen, zumal Ferdinand erst in drei Tagen zurück ist. Er hatte seinen Aufenthalt beim Neffen verlängert.
Bevor sie die Zeitung weglegte, fiel ihr Blick noch mal auf den Artikel: »Ein Bild gewordener Alptraum mit Folgen«, mit dem Foto des Füssli-Gemäldes Der Nachtmahr. A nightmare, wie die Engländer sagten. Gruselig, dieses Gemälde, dabei so genial. Welcher Alptraum hat nur meine Nichte Sophie bewogen, mit Torsten Blessing Schluss zu machen, fragte sich Charlotte beim Abräumen des Frühstückstisches.
Bevor sie aus dem Haus ging, um ihre Einkaufsrunde in Birkenbach zu drehen, rief sie beim Kartenservice ihrer Tageszeitung »Weinheimer Nachrichten« an und bestellte zwei Karten für den Liederabend am 6. Mai im Rahmen der Schwetzinger Festspiele. Das war ein Samstag. Schade, dass das Repertoire keine Vertonung eines Heine-Gedichts enthielt. Man kann nicht alles haben, seufzte Charlotte innerlich. Petrarca, Goethe, Hölderlin haben schließlich auch ganz schön gedichtet. Und mit einem Lächeln auf den Lippen ging sie die Stufen hinab.
Beim Hinaustreten auf die Terrasse fiel Charlottes Blick auf die tot und schwärzlich von den Ästen baumelnden erfrorenen Glyziniendolden.
Trotzig dachte sie: Nein, ich weigere mich, in diesen Blütenleichen eine unheilvolle Symbolik zu sehen.
Und sie stieg in ihr Auto.
2. Kapitel
Der Anruf
Sophie wunderte sich manchmal, weshalb sie den Namen ihres geschiedenen Mannes beibehalten hatte. Die Ehe mit Sven Dahm war eine kurze und schmerzvolle Erfahrung gewesen. Eine Zeit voller Lügen und falscher Schwüre. Eine Zeit der Hinterhältigkeit, der Demütigungen und der seelischen Verletzungen. Eine Zeit, die zum Glück lange vorbei war.
Dennoch konnte sich Sophie von dem Namen nicht trennen. Sie lachte ein wenig bitter auf. Hing es mit dem Klang zusammen? Sophie Dahm, das passte zu ihr, eine Mischung aus dem Mädchennamen Sophie mit dem nostalgisch-verträumten Flair und dem pragmatisch-kurzen Nachnamen. So sah sie sich selbst: ein Mischwesen aus Romantik und Pragmatismus. Realitätssinn gepaart mit einer gehörigen Portion Spiritualität. Keiner ihrer jeweiligen Partner, ihrer »Verflossenen«, hatte dies je erkannt.
War es ihr Fehler, dass sie offenbar anders wirkte auf das andere Geschlecht, als sie wirklich war? Ob sie die falschen Signale aussandte, bewusst oder unbewusst? Sie konnte noch so sehr darüber grübeln, stets kam sie zu der fatalen Erkenntnis: Es ist mein Lebensmuster, an die falschen Männer zu geraten. Eine schmerzliche, unabänderliche Erfahrung.
Mit Torsten, dachte sie, sei alles anders geworden. Doch dann dieser Alptraum. Mit allem hatte sie gerechnet, nur nicht damit. Das Telefon schrillte und riss sie jäh aus ihren Gedanken. Eine ihr unbekannte Männerstimme flüsterte: »Es gibt kein Entrinnen. Du steckst mittendrin.«
Es klickte am anderen Ende der Leitung. Der unheimliche Anrufer hatte aufgelegt. Sophie merkte, wie sie am ganzen Körper zitterte. Telefonterror? Davon hatte sie gelesen, und eine Kollegin war vor Jahren von einem anonymen Anrufer belästigt worden, der Obszönitäten ins Telefon gehaucht hatte, über Wochen hinweg. Die Kollegin hatte zuerst Strafanzeige gegen Unbekannt erstatten wollen, sich dann aber doch dagegen entschieden.
»Jeden Tag werden unzählige Frauen mit solchen Anrufen belästigt«, hatte sie gesagt. »Die Polizei hat anderes zu tun, als solchen Fällen nachzugehen. Das ist doch für die eine Bagatelle.«
Es gab solchen Telefonterror in der Realität und in Filmen, doch ihr eigenes Leben verlief in ruhigen Bahnen, wenn man absah von den Turbulenzen, die immer mal wieder, meist für kurze Zeit, die falschen Partner in ihr Leben hineinbrachten. Und die Sache mit Torsten war vorbei. Sie selbst hatte dieses Kapitel ein für alle Mal beendet.
Er war gegangen, verständnislos, achselzuckend. Aber er hatte ihren Entschluss, die Beziehung abzubrechen, akzeptiert. Es gab keinen Einspruch, keine Widerrede, noch nicht einmal den Versuch, sie durch Argumente umzustimmen. Eine fast unheimlich wirkende Resignation ließ ihn einfach aufstehen und ihre Wohnung verlassen. Warum nur hatte er ihr hinterherspioniert? Warum nur diesen albernen Privatdetektiv angeheuert, den sie enttarnt hatte? Sagt man so? Es war wie in einem dieser Filme. Es gab einige Folgen der Serie um ihren geliebten Inspektor Columbo, in denen Ehefrauen oder Ehemänner von ihren jeweils eifersüchtigen Partnern bespitzelt wurden. Glaubhaft in einem Film. Lächerlich im richtigen Leben. Vor allem in ihrem Leben, wo es keinerlei Grund zur Eifersucht gab. Es gab keinen Nachfolger für Torsten Blessing. Ihr Entschluss, die Beziehung zu beenden, hatte nichts mit einem Nebenbuhler zu tun.
Gedankenverloren schlenderte Sophie in die Küche, ging zum Kühlschrank, holte sich Butter, Goudakäse und eingelegte Tomaten, schnitt sich eine große Scheibe altdeutsches Bauernbrot ab und legte alles auf einen großen Teller. Nachtwandlerisch trug sie alles an den Esstisch in der kleinen Nische des Wohnzimmers ihrer gemütlichen Altbauwohnung in der malerischen Kleinstadt Bensheim an der hessischen Bergstraße, wo sie sich mittlerweile gut eingelebt hatte und sich pudelwohl fühlte. In Krisensituationen aß sie gerne und ungestraft, denn nichts setzte bei ihr an. Sie wurde von vielen ihrer Geschlechtsgenossinnen beneidet, die Kummerspeck ansetzten, wenn sie ihre seelischen Nöte und ihren Frust mit lukullischen Genüssen zu kompensieren versuchten. Frauen, die schon zunahmen, wenn sie eine Torte nur ansahen.
Sophie schaute aus dem Fenster. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite ging ein Pärchen eng umschlungen zu einem geparkten grünen Skoda. Sie sahen fast grotesk aus: die sehr dicke junge Frau in enganliegenden Leggings, welche die überflüssigen Pfunde höchst unvorteilhaft betonten, zumal das üppig vorquellende Fleisch über und über tätowiert war, und der schmächtige junge Mann, der ebenfalls mit Tattoos übersät und der Partnerin um eine Haupteslänge unterlegen war. Grotesk, ja, aber sie waren ein Paar, vielleicht sogar ein glückliches obendrein.
Ein altes, sehr altes Ehepaar kam aus der Gegenrichtung um die Ecke gebogen. Die beiden hielten sich an der Hand, als wollten sie sich gegenseitig stützen in dieser widrigen Welt. Beide waren sichtlich gehbehindert und watschelten schwerfällig daher. Ihr fiel der volkstümliche Spruch ein: Jedes Töpfchen findet sein Deckelchen.
Warum machte sie selbst eine Ausnahme?
Was ist nur falsch mit mir, dachte Sophie, während sie die beiden Paare mit Blicken verfolgte. Warum gibt es keine Stütze für mich? Sie sinnierte über Tante Charlotte und ihren Lebensgefährten Ferdinand Guldner nach, das späte Liebespaar. Sie gönnte den beiden ihr Glück.
Das Telefon schrillte.
Sophie blieb wie angewurzelt sitzen. Sie belegte sich demonstrativ ein zweites Brot, holte sich aus dem Kühlschrank zwei gefärbte Eier, Überbleibsel vom letzten Sonntag, dem Ostersonntag.
Die beiden Paare draußen auf der Straße waren verschwunden. Eine Frau um die sechzig, schwer beladen mit Einkaufstüten, bewegte sich langsamen Schritts und mit gesenktem Kopf auf dem Trottoir.
Die sieht einsam aus, dachte Sophie. Das bin ich in zwanzig oder dreißig Jahren.
Sie biss in ein mit Salz bestreutes Osterei.
Das Telefon schrillte wieder.
Sophie schaute nach draußen zum weißen Fliederstrauch im Garten des gegenüberliegenden Art déco-Hauses, das mit seiner Loggia sehr hübsch aussah. Nein, Sophie würde nicht zum Telefon gehen. Und wenn sie sich alles nur einbildete? Wenn es Tante Charlotte war, die sich schlicht und einfach besorgt nach ihr erkundigen wollte?
Tante Charlotte, das ahnte sie, musste beunruhigt sein nach dem brüsken Beenden des Telefonats. Sie war fast eine zweite Mutter für sie, seit Sophies Kindheit. Tante Charlotte, der sie ähnlich sah, aber mit dunkleren Haaren als die Tante, größer und schlanker. Mit grünen statt mit graublauen Augen. Sie teilte auch ihre Interessen: Kunst, Antiquitäten, Literatur und klassische Musik. Sophie machte mit der rechten Hand eine seltsame Bewegung. Ach ja, fast habe ich eine Gemeinsamkeit mit Tante Charlotte vergessen, dachte sie, als sie sich bei der Geste ertappte. Wenn wir aufgeregt sind und in innerem Aufruhr, dann wischen wir mit der Hand imaginäre Krümel vom Tisch. Es lag in den Genen.
Sie lächelte. Das Telefon klingelte schon wieder. Es wird die Tante sein. Gedankenübertragung. Ganz sicherlich.
»Du steckst mitten drin. Du entkommst mir nicht«, flüsterte die Männerstimme am anderen Ende der Leitung.
Ein merkwürdiges Hüsteln. Dann ein klickendes Geräusch. Sophie ging langsam zu ihrem Platz in der gemütlichen Nische zurück und schaute gedankenverloren auf die menschenleere Straße hinunter.
Es begann leise zu regnen, und die Äste des weißen Fliederbaums im Garten gegenüber bogen sich elegant im Wind.
Alles könnte so schön sein, dachte Sophie. Doch was ist da in mein Leben getreten? Wer hat es auf meine Seelenruhe abgesehen?
Sie wusste keine Antwort.
3. Kapitel
Das Fürstenlager
Er ging mit schlurfenden Schritten zum Tempelchen hoch.
»Heb deine Füße«, hatte sie ihn immer ermahnt und sich mokiert über seinen Gang. Das war alles längst vorüber, aber die spöttischen Worte hatten in seiner Seele Narben hinterlassen. Das Tempelchen war sein Lieblingsplatz im Park. Schon als Kind war er oft alleine da oben gewesen, hatte sich hierher geflüchtet in Begleitung seines Hundes.
Das war einer der großen Vorzüge des Parks mit dem seltsamen Namen »Fürstenlager«. In der Volksschule schon erfuhr man im Fach Heimatkunde, dass das Fürstenlager im Bensheimer Stadtteil Auerbach die Sommerresidenz der Landgrafen von Hessen-Darmstadt gewesen war. Mit seinen vielen exotischen Bäumen, Sträuchern und Pflanzen und zahlreichen Hofgebäuden war das Fürstenlager in der Art eines Dörfchens angelegt und in die sanfte Hügellandschaft des Odenwalds eingebettet. Eisenhaltige Mineralquellen waren Anfang des 18. Jahrhunderts dort entdeckt worden, doch bald war die Brunnenfassung verschlämmt, und das ganze Projekt einer Kuranlage war leider in Vergessenheit geraten. Erst Ende des 18. Jahrhunderts entdeckte das Erbprinzenpaar Ludwig und Luise von Darmstadt das idyllische Tal neu, und die beiden regten Baumaßnahmen an, die zur stetigen Erweiterung des Fürstenlagers zur Sommerfrische für die Darmstädter Adligen führten. Stallungen, Eiskeller, Wirtschaftsgebäude, Damen- und Prinzenbau und Herrenhaus entstanden. Ein Weißzeug-Häuschen und ein Wachthaus rundeten das wunderhübsche Bild dieses Traumdorfes ab, fern von der Mühe und Arbeit eines echten Dorfes. Es hatte hier nie Scheunen, Schweineställe und Misthaufen gegeben.
Der Hofstaat und die Familien der hessischen Landgrafen hatten bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts regelmäßig ihre Sommermonate im Fürstenlager verbracht. Dann aber erwies sich nach chemischen Analysen der Gesundbrunnen als wenig mineralhaltig und ohne die ersehnte Wunderwirkung. So hatte die Nutzung des Fürstenlagers durch die Adligen allmählich geendet, dafür stieg der Park in der Beliebtheit der Auerbacher Bürger.
Ja, dachte er, während er weiter den steilen Pfad zum geliebten Tempelchen hochschlurfte, der Park ist nicht abgegrenzt, er war es noch nie.