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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74092-811-7
»Ich muss fahren«, sagte Alina Meinhard zu ihrer Schwester.
»Jetzt schon?«, fragte Paula-Sophia mit großen Augen. »Du bist doch gerade erst eine Stunde hier. Ich dachte, du würdest bis morgen bleiben …«
»Ich habe am Spätnachmittag einen Termin in Freiburg.« Alina sah sie mit unschuldiger Miene an. »Habe ich dir das am Telefon nicht gesagt?«
»Schade.« In Paulas graublaue Augen trat der Ausdruck ehrlichen Bedauerns. »Wir haben uns fast ein Jahr nicht gesehen«, sagte sie ruhig. Dabei versuchte sie, den Blick ihrer Schwester einzufangen, was ihr jedoch nicht gelang. »Und telefonieren tun wir ja auch nicht alle Tage. Ich dachte, wir hätten mal wieder ein bisschen Zeit für uns.«
»Lehrer brauchen sich um ihr Einkommen nicht zu kümmern«, entgegnete Alina spitz, während sie den Kopf in den Nacken warf und sich dabei eine widerspenstige Strähne aus der Stirn strich. »Euer Gehalt kommt jeden Monat von selbst. Ich jedoch bin freiberuflich tätig und muss mich darum kümmern, immer wieder neue Kunden zu gewinnen.«
Paula seufzte. »Ist ja schon gut.« Dann hellte sich ihre enttäuschte Miene wieder auf. »Aber du könntest doch nach deinem Termin wiederkommen und hier übernachten.«
»Ich habe das Hotel schon gebucht.«
»Warum willst du in der Stadt übernachten, wenn du hier …« Sie stand auf.
»Du kennst mich doch.« Alina wirkte jetzt fahrig und nervös. Als sie das traurige Lächeln ihrer Schwester bemerkte, stand sie ebenfalls auf und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Sei mir nicht böse«, fuhr sie etwas ruhiger fort. »Aber ich halte es hier auf dem Land einfach nicht länger als ein paar Stunden aus. Ich bin eben ein Stadtmensch.« Sie nahm das Sektglas in die Hand und stellte sich an das Verandageländer.
Paula beobachtete sie.
Groß, schlank, ja, fast ein wenig zu dünn, stand Alina da, in der für sie so typisch stolzen Haltung. Die Sonne malte rötliche Lichter in ihre nachtschwarzen Locken, die ihr bis weit in den Rücken fielen. Und wieder einmal dachte sie, wie wunderschön sie doch war –, wenn da nicht der angespannte Zug um ihren Mund und der harte Ausdruck in ihren dunklen Augen gewesen wären.
»Gut, dann fahr jetzt«, sagte sie schließlich.
Während sie den Krug mit den gelben Rosen, der den Kaffeetisch zierte, mit beiden Händen fest umfasste, wanderte ihr Blick mit versonnenem Ausdruck über die blühenden Wiesen, die sich vor ihrem Elternhaus ausbreiteten.
Warum nur war Alina so blind für die tannenbewaldeten Höhen am Horizont, den tiefblauen Sommerhimmel, der sich über ihnen spannte? So wenig empfänglich für die würzige Schwarzwaldluft oder das leise Lied der Steinache, die unten durch Ruhweiler plätscherte?
»Ich finde es schade«, murmelte sie wie zu sich selbst. »Wenn wir auch sehr unterschiedlich sind, so haben wir uns als Kinder mal geliebt.«
Alina drehte sich zu ihr um und trat auf sie zu. »Ich hoffe, wir lieben uns auch heute noch. Ich jedenfalls liebe dich genauso wie früher«, fügte sie mit aufgesetzter Munterkeit hinzu.
Sentimentalitäten waren nicht ihre Sache. Dennoch strich sie ihrer jüngeren Schwester rasch über das hellblonde Haar, dass dieser wie Seide über die Schultern floss. Dann schien sie sich mit ihrem Aufbruch doch noch ein wenig Zeit lassen zu wollen. Sie setzte sich in den Schaukelstuhl, der am Ende der Holzveranda stand, und begann zu wippen. Nicht gemächlich und ruhig, wie Paula es tat, sondern zügig, was typisch für sie war. Nichts konnte ihr schnell genug gehen.
»Du hast mir noch gar nichts über deinen Freund erzählt«, nahm Paula die Unterhaltung wieder auf. »Wie heißt er noch mal?«
»Du meinst meinen Verlobten«, verbesserte Alina sie mit schelmischem Zwinkern.
»Ihr habt euch verlobt?«
»In aller Stille. Es hat keine Feier gegeben, obwohl Arne eine haben wollte.«
»Warum wolltest du keine Feier?«
Alina lachte. »Eine Verlobung ist doch nur reine Formsache, um jemanden dingfest zu machen.«
»Dingfest?«
Mit ungeduldiger Geste vertrieb sie eine Fliege. »Arne verkörpert die sprichwörtliche gute Partie. Mit reicher und angesehener Familie im Hintergrund, die mir schon manchen Kunden vermittelt hat. Er ist ein bekannter Autor. Und er verkehrt in interessanten Kreisen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Außerdem kann ich ihn mir gut als Vater meiner Kinder vorstellen.«
»Du willst Kinder?«, fragte Paula verwundert.
»Warum nicht? Ich gehe auf die dreißig zu. Natürlich werde ich meinen Beruf nicht aufgeben. Für die Kinder ist dann Arne zuständig. Er arbeitet ja zu Hause.«
»Ich weiß nicht …«
»Du bist halt anders als ich.« Alina sprang aus dem Schaukelstuhl auf und stieß dabei ihr Sektglas um, das sie neben sich auf dem Boden abgestellt hatte. Der Sekt spritzte hoch, es klirrte.
»Mist.« Sie machte einen Schritt zur Seite und schrie gleich kurz auf.
»Was ist?«, fragte Paula erschrocken.
»Ich bin in einen Glassplitter getreten.«
»Dass du auch immer ohne Schuhe herumlaufen musst. Lass mal sehen.« Sie kniete sich neben ihre Schwester. »Oje! Das sieht nicht gut aus. Die Glasscherbe steckt noch drinnen. Tut es sehr weh?«
Alina war unter ihrer Bräune ganz grau geworden. »Hmm.«
»Ich bringe dich zu Dr. Brunner. Der muss die Scherbe rausziehen und den Fuß verarzten«, sagte Paula energisch, als würde sie mit einer ihrer Schülerinnen sprechen –, und Alina widersprach ihr dieses Mal nicht, was nur selten vorkam.
»Wen haben wir denn da?«, rief Schwester Gertrud erstaunt aus, als Paula und Alina die Praxis betraten. »Das ist ja ein seltener Anblick«, fügte sie hinzu. Dabei blinzelte sie Paula herzlich zu.
»Hallo, Schwester Gertrud«, begrüßte diese die altgediente Sprechstundenhilfe des Landdoktors. »Meine Schwester hat sich eine Glasscherbe in den Fuß getreten, und zu allem Übel hat sie gleich auch noch einen dringenden Termin in Freiburg«, fügte sie mit unsicherem Lächeln hinzu.
Jeder in Ruhweiler wusste, dass der Praxisdrache, wie Gertrud von manchen Patienten genannt wurde, keine Ausnahmen duldete. Bei ihr ging alles der Reihe nach.
»Also ein Notfall?« Gertrud sah Paula mit all der Sympathie an, die sie für die junge Lehrerin empfand. Alina dagegen schenkte sie nicht einen Blick.
»Natürlich ein Notfall«, schaltete sich diese nun ein. »Wegen dieser blöden Scherbe kann ich schließlich nicht meinen Kunden in Freiburg verlieren.«
Schwester Gertrud sah sie mit ihren blanken Äuglein an, in denen sich das feine Lächeln, das sie Alina jetzt schenkte, nicht widerspiegelte. »Nur die Ruhe, Alina. Wir sind hier auf dem Land. Da laufen die Uhren anders als in der Großstadt.«
»Ich gehe trotzdem davon aus, dass Sie auch hier die Verletzten nicht verbluten lassen«, lautete Alinas deutlich ironische Antwort.
Die Sprechstundenhilfe holte tief Luft. Dabei hob sich ihr Busen bis an ihr volles Kinn. In diesem Moment öffnete sich zum Glück die Sprechzimmertür, und Dr. Matthias Brunner trat auf den Gang.
»Grüß euch!«, rief er mit strahlendem Lächeln aus. Er reichte zuerst Paula, dann deren Schwester die Hand. »Was kann ich für euch tun?«
»Für mich, Herr Doktor«, meldete sich Alina nun mit ebenso strahlendem Lächeln zu Wort. Dabei sah sie den Landarzt mit einem gekonnten Augenaufschlag von unten herauf an. »Ich bin in eine Glasscherbe getreten.«
Mehr musste sie nicht sagen. Die blutdurchtränkte Mullbinde um ihren Fuß sprach für sich.
»Oh, das muss wehtun«, erwiderte Matthias Brunner mit besorgter Miene. »Dann wollen wir mal sehen …« In Kavaliersmanier reichte er Alina den Arm.
Mit einem triumphierenden Lächeln an Gertruds Adresse hakte sich die junge Frau ein und ging mit dem Arzt in Richtung Miniklinik, wo es einen Operationsraum gab –, gefolgt von dem missbilligenden Blick des Praxisdrachens.
»Das sieht hier ja alles sehr professionell aus«, bemerkte Alina, als sie auf dem Operationstisch lag. »Seit wann gibt es die Miniklinik?«
»Seit vier Jahren«, antwortete Matthias, während er die Verletzung in Augenschein nahm. »Sie hat schon manches Menschenleben gerettet. Der Weg zum nächsten Krankenhaus beträgt von uns aus immerhin vierzig Kilometer.«
»Sophia hatte mir irgendwann mal davon erzählt, dass Sie sogar den Facharzt in Chirurgie haben.«
»Sophia?« Er zog die Stirn in Falten.
Alina lachte. »Meine Schwester Paula-Sophia. Ich hasse ihren ersten Namen, obwohl alle sie ja so nennen.«
»Stimmt.« Matthias lachte. »Ich erinnere mich. Für dich ist sie ja Sophia.«
»Was schon zu vielen Verwechslungen geführt hat.«
»Das kann ich mir denken.«
Alina lächelte ihn von unten herauf an, als wollte sie ihn behexen. »Ich liebe Verwirrungen.«
»Ich werde den Fuß jetzt betäuben, damit du keine Schmerzen hast«, fuhr er sachlich fort. »Danach ziehe ich die Glasscherbe heraus, säubere die Wunde und nähe sie mit drei Stichen zu.«
Alina nickte nur tapfer.
Während sich der Landarzt an die Arbeit machte, zog er seine Patientin ins Gespräch, um sie abzulenken.
»Und du bist Architektin geworden?«, begann er die Unterhaltung.
»Mit einem eigenen Büro«, erzählte sie ihm stolz. »Ich habe inzwischen drei Angestellte.«
»Respekt.« Er nickte mit anerkennender Miene. Dabei zog er die Scherbe vorsichtig mit einer Pinzette heraus. »Wo ist dein Büro ansässig?«
»In Frankfurt. Aber ich habe auch in Süddeutschland Kunden. Natürlich ist das alles ziemlich stressig. Manchmal glaube ich, dass ich mich übernommen habe. Bei meinem Arbeitspensum bleibt fast keine Zeit mehr fürs Privatleben.«
Matthias ließ sich seine Überraschung darüber, dass sich Alina ihm so offen anvertraute, nicht anmerken. Als junges Mädchen war sie sehr verschlossen gewesen, wenn nicht sogar ein bisschen arrogant.
»Bist du verheiratet?«, erkundigte er sich.
»Verlobt. Sagt Ihnen der Name Arne Nolden etwas?«
»Ist das nicht der Sachbuchautor, der erst vor Kurzem mit einem Buch über die Umweltkatastrophen Aufsehen erregt hat?«
»Genau.«
»Gratuliere.«
»Arne hält auch Vorträge«, erzählte Alina stolz weiter.
»Davon habe ich gelesen.« Der Landdoktor richtete sich auf. »So, wir sind fertig. Einen Schuh wirst du in den nächsten Tagen nicht tragen können. Zumindest nicht einen solch schmalen hohen, wie du jetzt anhast.« Er zeigte auf ihren Pumps am rechten Fuß.
»Nun gut.« Sie hob die Schultern. »Hauptsache, ich kann jetzt nach Freiburg fahren.«
Er streifte die Gummihandschuhe ab. »Aber nur so viel gehen wie nötig«, sagte er in mahnendem Ton. »Die Naht sitzt in der Fußsohle. Sie könnte sich bei Überbeanspruchung entzünden.«
Alina lachte sichtlich belustigt auf. »Keine Sorge. In Freiburg lege ich die Beine hoch.«
Matthias stutzte.
Hatte sie nicht gesagt, sie hätte einen Kundentermin?
»Dr. Brunner ist immer noch ein attraktiver Mann«, sagte Alina, als die beiden Schwestern zu Paulas Wagen gingen. »Ich mag Männer mit silbergrauen Schläfen«, fügte sie mit spitzbübischem Seitenblick hinzu.
»Wie alt ist denn dein Verlobter?«, erkundigte sich Paula erstaunt.
Sie hatte in Erinnerung, dass Alina ihr erzählt hatte, ihr Freund wäre zwei Jahre jünger als ihre Schwester.
»Genauso alt wie du«, lautete die Antwort.
Warum hat sie sich dann nicht mit einem älteren Mann verlobt?, fragte sie sich überrascht. Nun gut, das war nicht ihre Sache. Alina hatte den Menschen immer schon Rätsel aufgegeben.
»Dr. Brunner ist vor allem ein sehr guter Arzt«, fuhr sie in sachlichem Ton fort, als sie den Motor anließ. »Einen wie ihn wünschen sich die Leute. Er hat für alle ein offenes Ohr, für die großen und kleinen Probleme. Nicht umsonst hat er so viel zu tun.«
Alina warf einen Blick auf ihre goldene Armbanduhr.
»Kannst du ein bisschen schneller fahren?«, fragte sie in gehetztem Ton. »Sonst schaffe ich’s nicht, pünktlich in Freiburg zu sein.«
»Kannst du überhaupt Auto fahren?« Paula warf ihr einen besorgten Blick zu.
»Klar doch. Mein kleiner Flitzer besitzt ein Automatikgetriebe. Ich muss nur Gas geben und bremsen. Und das mache ich mit dem rechten Fuß.«
»Sag mal, was machst du eigentlich heute Abend so allein im Hotel?«, erkundigte sich Paula aus einer spontanen Eingebung.
»Wieso? Warum fragst du?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich würde mich unwohl fühlen, wenn ich den ganzen Abend allein in so einem unpersönlich eingerichteten Zimmer hocken würde.«
Alina lachte kurz auf. Eine Spur zu laut in Paulas Ohren.
»Das kommt daher, weil du das Reisen nicht gewöhnt bist«, antwortete sie. »Ich habe europaweit Kunden. Da kann es schon mal vorkommen, dass ich in einer fremden Stadt übernachten muss. Außerdem muss ich heute Abend noch an einem neuen Entwurf arbeiten. Ich muss schließlich Geld verdienen.«
»Hm.« Mehr erwiderte Paula nicht. Ihr war plötzlich peinlich, dieses Thema überhaupt angesprochen zu haben. Aber tief im Innern hatte sie gehofft, ihre Schwester doch noch überreden zu können, nach Ruhweiler zurückzukommen.
Die Arbeit ist ihr halt wichtiger, sagte sie sich mit einem Anflug von Wehmut, als sie vor ihrem Elternhaus parkte.
Nachdem sich Alina auf den Weg nach Freiburg gemacht hatte, fuhr Paula Einkaufen.
Der knappe Abschied von ihrer Schwester tat ihr immer noch ein bisschen weh. Nach dem Tod der Eltern hatten sie doch nur noch sich. Leider kannte ihre ältere Schwester keine Familienbande. Ob ihr Verlobter diesbezüglich anders dachte? Wahrscheinlich, wenn er sich eine Verlobungsfeier gewünscht hatte.
Mit diesen Gedanken im Kopf fuhr die junge Lehrerin über die Landstraße, die nach Ruhweiler hinunter führte. Die Sonne stand schon tief und ließ die Farben noch intensiver wirken –, das Schwarzgrün der Tannen, das Gold des Löwenzahns, der die Wiesen wie ein Teppich bedeckte. Sie hatte das Seitenfenster heruntergekurbelt, sodass die Sommerluft ins Wageninnere drang, und der Duft von Harz, den die Wärme des Tages aus den Stämmen getrieben hatte. All diese Eindrücke gaben Paula ein kleines Glücksgefühl und die Gewissheit, dass sie genau hierhin gehörte, anders als Alina, die schon früh von zu Hause ausgeflogen war, um die große Welt zu erkunden.
Kurz vor der großen letzten Kurve, hinter der Ruhweiler lag, entdeckte sie ein Auto am Straßenrand. Vor ihm stand ein Mann, der eine Landkarte auf der Kühlerhaube ausgebreitet hatte. Er sah hoch, als er ihr Auto hörte, und hob den Arm. Sie hielt neben ihm an, beugte sich über den Beifahrersitz und rief aus dem Fenster:
»Kann ich Ihnen helfen?«
Der Mann kam näher. Ein attraktiver Mann mit klaren Gesichtszügen und einem ruhigen aufmerksamen Blick. Als er zu ihr in den Wagen sah, schaute sie in ein paar graue Augen, deren Iris von einem feinen dunklen Rand eingefasst wurde. Faszinierende Augen, die ihr Herz schneller schlagen ließen.
»Hallo«, begrüßte er sie mit einem ebenso faszinierenden Lächeln. »Der Akku von meinem Navigationsgerät ist leer. Jetzt muss ich mich nach althergebrachter Sitte mit der Landkarte zurechtfinden, was nicht so klappen will, wie ich mir wünsche.«
Sie hielt den Atem an und wünschte sich in diesem Moment, dass er niemals zu lächeln aufhören würde. Zwei, drei Lidschläge lang sah sie wie verzaubert zu ihm hoch. Dann räusperte sie sich energisch und fragte:
»Wen oder was suchen Sie denn?«
»Hier in der Nähe muss es eine Mühle geben. Eine stillgelegte Mühle. Tannenmühle heißt sie. Sie ist auf der Karte nicht verzeichnet.« Der Blick aus diesen ungewöhnlichen grauen Augen lag mit eindringlichem Ausdruck auf ihrem Gesicht, als wollte ihr Besitzer ihr in die Seele blicken. Nicht etwa aufdringlich oder fordernd, nein, eher voller Interesse und Sympathie. Aber vielleicht deutete sie das ja auch alles falsch.
Mit einer fahrigen Bewegung strich Paula sich das Haar aus der Stirn. Sie kannte sich plötzlich selbst nicht mehr. Vor ein paar Sekunden noch hatte sie das Gefühl gehabt, eine selbstbewusste Frau zu sein. Jetzt war sie nur noch verwirrt und unsicher.
Der Fremde schwieg abwartend. Sein Lächeln ließ ihr Herz Purzelbäume schlagen.
»Die Tannenmühle?«, wiederholte sie gedehnt.
»Die Mühle soll in einer Ansammlung von einigen Höfen liegen, außerhalb von Ruhweiler«, fuhr er fort.
Sie räusperte sich noch einmal, setzte sich aufrecht hin und sagte:
»Die Mühle kenne ich nicht, aber ich glaube, ich weiß, welche Höfe Sie meinen. Fahren Sie etwa zwei Kilometer weiter in die Richtung, aus der ich komme, dann biegen Sie rechts in ein Seitental ab in Richtung Titisee. Nach etwa zweihundert Metern liegen linkerhand in den Wiesen ein paar alte Schwarzwaldhöfe. Die könnten Ihr Ziel sein.« Sie lächelte ihn an, erleichtert darüber, dass sie überhaupt ein paar zusammenhängende Sätze über die Lippen gebracht hatte. »Klingeln Sie einfach an einem der Höfe«, fügte sie hinzu. »Die Leute sind hier alle hilfsbereit und geben Ihnen Auskunft.«
Der junge Mann richtete sich auf und trat zwei Schritte von ihrem Wagen zurück.
»Danke. Dann werde ich mal mein Glück versuchen.«
Groß, hochgewachsen, in lässiger Jeans, mit hellblauem Hemd, das so gut zu seinem sonnengebleichten Haar passte, stand er ein paar Schritte von ihrem Auto entfernt, als würde er noch zögern. Am liebsten hätte sie die Zeit angehalten, ihn betrachtet, ohne dass er sie dabei hätte sehen können, wie ein Foto, das sie auf merkwürdige Weise anrührte.
Jetzt reicht’s aber, sagte sie sich. Mach dich nicht lächerlich.
»Okay, dann viel Glück bei der Suche!«, rief sie ihm betont beschwingt aus dem Fenster zu, hob zum Abschied die Hand und fuhr an.
Er sah ihr nach, wie sie im Rückspiegel feststellte. Das Kennzeichen seines Wagens trug das Nummernschild von Düren, einer Stadt am Niederrhein. Wahrscheinlich macht er Urlaub hier, dachte sie, nachdem sie ihn nach der langen Kurve aus dem Blickfeld verloren hatte. Oder er war auf der Durchreise. Egal wie. Vermutlich würde sie ihn nicht wiedersehen. Mit Sicherheit nicht. Die Begegnung erinnerte sie an eine Szene aus einem Liebesroman, nur dass sich in solchen die Heldin und der Held ein paar Seiten weiter wieder über den Weg liefen und sich ineinander verliebten.
Idiotin, schimpfte sie sich. Du bist schon viel zu lange allein, hast seit Ferienbeginn viel zu viel Zeit und liest viel zu viele sentimentale Schmöker. Sie seufzte. Und dabei hatten die Schulferien gerade erst begonnen.
In der großen Landhausküche der Brunners hing ein köstlicher Duft unter der niedrigen Balkendecke. Er kündigte das Lieblingsgericht des Landdoktors an: Schäufele mit Kraut. Auch Lump, der Jagdhund des Arztehepaars, strich mit erhobener, feucht glänzender Nase durch den Raum.
»Du bekommst auch gleich dein Essen«, tröstete Ulrike Brunner ihren vierbeinigen Mitbewohner. »Warte nur noch so lange, bis Herrchen aus der Praxis kommt.«
Da spitzte Lump die Ohren, bellte kurz und flitzte in die Diele.
Ulrike lächelte in sich hinein. Wenn man vom Teufel sprach …
»Hallo, mein Schatz«, hörte sie ein paar Sekunden später ihren Mann hinter sich sagen und spürte gleich darauf einen zärtlichen Kuss im Nacken, der ihr auch noch nach mehr als dreißig Ehejahren immer wieder aufs Neue einen wohligen Schauer bescherte. »Das riecht ja schon ganz nach meinem Geschmack.«
Sie drehte sich um und küsste Matthias liebevoll auf den Mund.
»Ich hoffe, du hast Hunger mitgebracht.« Sie zwinkerte ihm zu. »Das Schäufele ist heute besonders groß ausgefallen.«
»Ich habe einen Bärenhunger«, bestätigte er ihr, während er Lumps Kopf tätschelte.
»Willst du den Wein schon mal öffnen? Wir können sofort essen.«
»Einen Elsässer Riesling?« Ihr Mann hielt eine lange schlanke Flasche hoch.
Sie nickte. »Der passt.«
Kurze Zeit später saß das Arztehepaar auf der Terrasse, wo die beiden bei schönem Wetter jeden Abend das Essen einnahmen. Lump machte sich über sein Futter her, das Ulrike mit ein paar Stückchen Schäufele verfeinert hatte. Und wie in den meisten Partnerschaften lautete die erste Frage der Hausfrau:
»Wie war dein Nachmittag?«
»Paula Meinhard war in der Praxis«, erzählte Matthias ihr. »Mit Alina zusammen.«
»Mit Alina?« Ulrike sah ihn groß an.
»Sie hat Paula besucht und war in eine Glasscherbe getreten.«
»Und? Wie sieht sie heute aus?«
»Sehr gut. Ganz Karrierefrau. Gertrud hat sie als arrogant bezeichnet«, fügte er mit belustigtem Lächeln hinzu.
»Die beiden Schwestern waren ja schon von Kindheit an sehr verschieden«, sagte Ulrike mit nachdenklicher Miene. »Was für Vater Meinhard ein Glück war. Alina hätte ihn nie bis zum Tod gepflegt, obwohl sie immer sein Liebling gewesen ist.«
»Alina ist jetzt verlobt.«
»Wirklich?« Ulrike hob die blonden Brauen, was den erstaunten Ausdruck in ihren wunderschönen blauen Augen noch betonte. »Schade, dass Paula dieses Glück bisher noch nicht widerfahren ist. Ihr hätte ich es von Herzen gegönnt.«
»Es ist heute schwer, den richtigen Partner zu finden. Alina schätze ich eher so ein, dass es ihr weniger um die Liebe geht, sondern mehr darum, nach außen hin perfekt zu erscheinen. Dazu gehört natürlich auch ein Ehemann an ihrer Seite.«
Seine Frau nickte ernst. »Und Paula geht’s mehr ums Herz. Übrigens«, sie schnitt ein Stück Fleisch ab, »ich habe Philip Anders heute Nachmittag in Ruhweiler getroffen.«
»Was machte der denn hier?«
»Eine Stippvisite bei seiner Mutter.«
Matthias legte das Besteck auf den Teller.
»Muss ich jetzt eifersüchtig werden?«, fragte er schmunzelnd.
»So ein Quatsch«, erwiderte sie und lachte silberhell. »Obwohl er wirklich sehr gut aussah.«
»Schiffsärzte sehen immer gut aus. Zumindest in Filmen.«
Wieder musste sie lachen. »Er will nicht mehr zur See fahren.«
»Mit Mitte vierzig wird’s auch Zeit, bodenständig zu werden«, lautete die trockene Antwort ihres Mannes, während er mit genüsslicher Miene weiteraß.
»Glaubst du, dass Philip je zur Ruhe kommen wird?« Voller Skepsis sah sie ihn an.
»Stimmt. Ein Casanova wie er hat …« Matthias hob die Schultern.
»Er sprach davon, eventuell eine Praxis in Freiburg zu kaufen, um zukünftig in der Nähe seiner Mutter zu sein. Frau Anders ist ja nicht mehr die jüngste.«
»Na ja, vielleicht geschehen ja noch Wunder«, meinte der Landarzt.
Etwa zur gleichen Zeit saß Paula auf der Veranda ihres Elternhauses, das ihr Vater ihr vererbt hatte.
Die Sonne war mittlerweile untergegangen. In einigen hundert Metern Entfernung begann der Wald, dessen mächtige dunkle Fichten sich dem gläsernen Abendhimmel entgegenstreckten. Die Luft war erfüllt vom Duft des frisch gemähten Grases und dem vielstimmigen Gesang der Vögel.
Paulas Gedanken wanderten zu den Stunden am Nachmittag, die sie nach langer Zeit wieder einmal mit ihrer Schwester verbracht hatte. Alina hatte ziemlich emotionslos geklungen, als sie über ihren Verlobten gesprochen hatte. Nun gut, es ging sie schließlich nichts an, wie Alina ihr Leben führte. Leider. Sie konnte nur hoffen, dass sie glücklich war, obwohl sie tief im Innern daran zweifelte, dass ihre Schwester überhaupt lieben konnte. Und wie sieht das bei mir aus?, fragte sie sich seufzend.
Es hatte ein paar Männerbekanntschaften gegeben, aber ihr Traummann war nicht dabei gewesen. Im Kollegium besaß sie einen glühenden Verehrer, der sie jedoch nicht als Mann reizte. Tja, wie sollte ihr Traummann überhaupt sein? Welche Eigenschaften sollte er mitbringen? Wie sollte er aussehen? So wie der Autofahrer aus Düren, der nach dem Weg zur Tannenmühle gefragt hatte?
Sie lächelte vor sich hin.
Es war albern, total verrückt, aber dieser Mann hatte eine Ausstrahlung besessen, die sie völlig in seinen Bann gezogen hatte. So sehr, dass sie auch jetzt wieder an ihn denken musste. Aufs Neue sah sie seinen intelligenten und ruhigen Blick vor sich, der sie nicht losließ. Ihr dummes Herz begann sogar jetzt wieder, schneller zu schlagen. Ob er eine Partnerin, eine Ehefrau oder eine Freundin hatte? Männer wie er waren nicht mehr solo, gab sie sich selbst zur Antwort. Außerdem hatte er keinerlei Anstalten gemacht, mit ihr zu flirten, wie sie es von vielen kannte, die auf der Suche nach einer Beziehung waren. Vergiss ihn, befahl sie sich.
Um sich abzulenken, nahm sie den Roman zur Hand, den sie erst gestern zu lesen begonnen hatte. Ein Kriminalroman. Liebesromane machten sie in der letzten Zeit nur traurig. Ganz egal, ob mit oder ohne Happy End. Die darin beschriebenen Liebesszenen weckten eine Sehnsucht in ihr, die sie tief in sich zu vergraben suchte. Ja, sie war einfach schon viel zu lange allein. Aber es ging ihr doch gut! Sie hatte einen Beruf, den sie liebte, wohnte in dem Haus, das sie liebte, und in der Gegend, in der sie sich wohlfühlte. Sie besaß Freundinnen, einen Bekanntenkreis, hatte ihren Sport, ihre Hobbys. Und über ihr Gehalt konnte sie auch nicht klagen. Was wollte sie eigentlich mehr? Fehlten ihr die Beziehungsprobleme ihrer Freundinnen? Streit, Enttäuschungen, Tränen?
Leise lachte sie in sich hinein.
Nein, ganz sicher nicht. Lieber allein sein als ständig Krach mit dem Freund oder Ehemann haben.
Und trotzdem, widersprach ihr da ein kleines Teufelchen. Trotzdem könntest du morgen mal zur Tannenmühle fahren. Du hast schließlich Ferien. Außerdem ist diese Mühle vielleicht ein schönes Ziel für eine Klassenwanderung nach den Ferien.
Nein, antwortete sie energisch. Kein Ausflug zur Tannenmühle. Stattdessen werde ich morgen schwimmen gehen. Schwimmen …
Sie hörte auf zu schaukeln und setzte sich aufrecht hin.
Es war noch hell genug. Und sie kannte den See von Kindheit an. Er barg nichts Gefährliches. Ganz in seiner Nähe lag ein Bauernhof, dessen Besitzer sie kannte. Auch zu dieser Dämmerstunde würde ihr dort nichts passieren können. Warum schwamm sie sich nicht jetzt noch frei von all diesen dummen Gedanken?
Paula parkte am Straßenrand und ging den schmalen Pfad zum Wasser hinunter. Sie schaute auf den See hinaus, der wie ein Teppich aus schwarzblauem Samt vor ihr lag. Mücken spielten über dem Schilf, das sich langsam im lauen Wind wiegte. Hinter dem Weiher erstreckte sich ein Waldgebiet, wo sie als kleines Mädchen vergeblich die Zwerge und Feen gesucht hatte, von denen ihre Mutter ihr und Alina immer vor dem Schlafengehen erzählt hatte. Zwischen dem alten Bauernhof, in dessen Stube schon Licht brannte, und dem Seeufer blühten im saftigen Grün Gänseblümchen und Wiesenschaumkraut. Und über diese Idylle spannte sich der Abendhimmel mit den ersten Sternen.
Sie verweilte ein paar Augenblicke und atmete die seidige Luft tief ein. Eine wohltuende innere Ruhe überkam sie. Dann streifte sie ihr Kleid ab. Sie trat ans Ufer, beugte sich hinunter und schöpfte mit beiden Händen Wasser. Welch ein wunderbares erfrischendes Gefühl! Ein paar Mal ließ sie es über ihr Gesicht rinnen, als könnte sie so das Bild des attraktiven Fremden wegwaschen, das sie auf der Fahrt hierher erneut vor ihrem inneren Auge gesehen hatte. Schluss jetzt!
Mit einem kühnen Satz sprang sie in den See und kraulte ein paar Meter. Er war noch warm von der Hitze des Tages. Mit einem zufriedenem Lächeln auf den Lippen legte sie sich auf den Rücken, paddelte sacht und schaute hinauf zum Himmel, dessen Lichter auf sie herunter blinkten, als wollten sie ihr einen Weg weisen.
Als Uwe Müller über das Wasser schaute, entdeckte er die Frau – und erkannte sie auf den ersten Blick. Sie stand auf der gegenüberliegenden Seite des Ufers. Völlig reglos verharrte sie dort, wie eine antike Statue, die vollkommen geformten Gliedmaßen vom Licht der Dämmerung übergossen. Einen Augenblick lang glaubte er, ein Fabelwesen zu sehen, eine blonde Wassergöttin, aus den Tiefen des Sees aufgestiegen, um sich den Freuden der Sterblichen hinzugeben. Jetzt hob sie in einer grazilen Bewegung beide Arme und verschwand mit einem perfekten Kopfsprung unter der Wasseroberfläche. Völlig gebannt wartete er, bis diese Wasserfee Sekunden später wieder auftauchte, ein paar Meter kraulte und sich dann auf dem Rücken treiben ließ, als wäre sie allein auf der Welt.
Er hatte noch ein paar Mal an sie denken müssen. An ihre Augen, die die Farbe des Sees besaßen, die fein geschnittenen Züge, die zierliche, dennoch weibliche Figur. Er hatte ihr beim Abschied noch etwas Nettes sagen wollen, etwas Einmaliges, was nicht jedem einfiel, aber er hatte die richtigen Worte nicht gefunden. War er inzwischen aus der Übung gekommen?
Ein Lächeln umspielte seine Lippen, ein bitteres Lächeln, wie er selbst bemerkte.
Die Wassernixe schwamm jetzt zum Ufer zurück. Er wollte rasch seinen Rückzug antreten, um nicht von ihr gesehen zu werden. Doch da schaute sie schon zu ihm hinüber, verhielt den Schritt und schlang schützend die Arme um sich.
Sein Herz setzte einen Schlag aus. Am liebsten hätte er sich unsichtbar gemacht. Wie peinlich! Hoffentlich dachte sie jetzt nicht, er hätte sie aus irgendwelchen niedrigen Trieben beobachtet. Hitze stieg ihm in den Kopf. Sein Puls raste. Während sich ihre Blicke auf der Mitte des Sees trafen, hob er die Hand zum Gruß, drehte sich um und ging durch das Schilf zum Waldrand, wo er seinen Wagen geparkt hatte.
Paula tauchte aus dem Wasser auf, strich mit beiden Händen das Haar aus der Stirn und ging langsam ans Ufer. Dann blieb sie stehen, genoss den lauen Abendwind, der sacht ihren nassen Körper umwehte. Mit zurückgelehntem Kopf und geschlossenen Augen blieb sie ein paar Atemzüge im seichten Wasser stehen. Sie lauschte dem Gesang der Vögel.
Wie ein Liebeslied, dachte sie mit weichem Lächeln.
Dann plötzlich überfiel sie das Gefühl, nicht mehr allein in dieser Idylle zu sein. Sie öffnete die Augen und sah sich um. Da entdeckte sie ihn. Trotz der Entfernung erkannte sie ihn. Das Blut stockte ihr in den Adern. Sie fühlte sich zu keiner Bewegung fähig.
Er stand am gegenüberliegenden Ufer, hoch aufgerichtet, und sah zu ihr herüber. Jetzt hob er die Hand, winkte ihr zu und drehte sich um. Dann verschwand er hinter dem Schilfgürtel.
Ob er jetzt zu mir herüberkommt?, fragte sie sich mit hämmerndem Herzen. Rasch trat sie aus dem Wasser, nahm das Badetuch aus ihrer Tasche und trocknete sich ab. Danach streifte sie ihr Polokleid über. Dabei machte sie sich keine Gedanken darüber, dass ihr Bikini noch tropfnass war. Mit angehaltenem Atem hielt sie Ausschau nach dem Fremden. Doch nichts tat sich. Wenn er vorhatte, sie zu begrüßen, musste sie ihn gleich irgendwo auftauchen sehen. Sie wartete mit angehaltenem Atem, sah angestrengt in die Richtung, aus der er kommen musste. Die Sekunden dehnten sich zu qualvollen Minuten. Nichts geschah. Nein, sie wartete vergeblich auf ihn. Enttäuschung machte sich in ihr breit.
Warum hätte er kommen sollen?, fragte das Teufelchen hämisch.
Tja, warum?, fragte sie sich nun ebenfalls. Dass er sie erkannt hatte, war offensichtlich. Er hatte sie gegrüßt, aber eindeutig kein Interesse daran gehabt, sich an diesem wunderschönen Sommerabend am idyllischen Seeufer mit ihr zu unterhalten, obwohl sie zu dieser Stunde doch die einzigen Menschen hier gewesen waren.
Nimm sein Verhalten als Zeichen dafür, dass du ihn vergessen solltest, sagte sie sich streng. Die starke Anziehung, die sie gespürt hatte, war nicht beidseitig gewesen.
Am nächsten Tag lockte die Morgensonne Paula schon früh aus dem Bett. Sie nahm sich vor, nach Freiburg zu fahren. Ein bisschen shoppen, in den Buchläden stöbern, mittags in irgendeinem der Straßencafés sitzen, die Leute beobachten und einfach die Zeit vergessen. Kurzum, all die Dinge tun, zu denen sie während der Schulzeit nicht kam. Ja, das war ein guter Plan.
Tatsächlich kamen der jungen Frau die nachfolgenden Stunden auch wie Urlaub vor. Während sie genüsslich ihr Eis löffelte, spielte ein Lächeln um ihre Lippen. Mit geschlossenen Augen hielt sie ihr Gesicht der Sonne entgegen und genoss deren warme Strahlen auf der Haut. Das fröhliche Lachen der beiden Frauen am Nachbartisch drang an ihr Ohr, Gesprächsfetzen, Autohupen, die Glocke vom Freiburger Münster auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes … All das störte sie nicht, weil sie innerlich abgeschaltet hatte. Vor ihrem geistigen Auge sah sie sich schon in dem neuen Kleid, das sie sich gekauft hatte. In vierzehn Tagen würde sie es auf der Geburtstagsparty einer Bekannten tragen.
Ein Handy klingelte. Ganz nah neben ihr. Ihr Handy.
Paula öffnete die Augen, griff in die Tasche.
Alina?, dachte sie verblüfft, als sie die Nummer erkannte. Ihre Schwester rief doch sonst nur alle Jubeljahre einmal an. Noch überlegte sie, ob sie die Leitung überhaupt öffnen sollte. Alina verstand es besser als jeder andere, Hektik in das Leben ihrer Mitmenschen zu bringen. Und die brauchte sie jetzt nicht. Trotzdem, sagte sie sich dann. Vielleicht war ihre Schwester in Not oder brauchte ihren Rat.
»Ja?«, fragte sie kurz angebunden.
»Hallöchen, ich bin’´s, dein Schwesterherz.«
Paula musste leise lachen. »Was gibt’s?«
»Ich wollte dir was erzählen. Oder dich vielmehr um etwas bitten.«
O nein! Besser als kein anderer verstand ihr Schwesterherz auch, andere Leute für ihre Ziele einzuspannen.
»Um was?«, erkundigte sie sich skeptisch.
»Arne hat von irgendeiner Tante ein Sommerhaus in deiner Nähe geerbt. Er will dort sein neues Buch schreiben.« Alina lachte belustigt auf. »In der Stadt fehlt ihm angeblich die nötige Ruhe zum Arbeiten, die Inspiration, wie er es nennt.«
»Ja und?« Worauf wollte sie hinaus?
»Vielleicht kannst du ihn mal zum Essen einladen, damit mein Erfolgsautor in eurer Einöde nicht verhungert.«
»Ich kenne ihn doch gar nicht.«
»Was heißt das denn? Ihr könnt euch doch kennenlernen. Arne will sich morgen oder übermorgen das Haus ansehen. Oder heute, ich weiß nicht mehr genau. Ich habe ihm deine Nummer gegeben. Er wird dich anrufen.«
Wie kam Alina dazu, ihrem Verlobten einfach ihre Nummer zu geben?, fragte sie sich empört.
»Ich glaube kaum, dass dein Arne in Ruhweiler verhungern wird«, entgegnete sie kühl. »Auch bei uns gibt es gute Lokale.«
»Das ist doch eine sehr gute Gelegenheit, euch vor der Hochzeit mal kennenzulernen«, sagte ihre Schwester gleichermaßen erstaunt wie arglos klingend. »Ich kann dir nicht sagen, wann ich es in nächster Zeit schaffen werde, dich mit ihm zusammen zu besuchen.«
»Noch wirst du ja nicht heiraten.«
Alina lachte. »Man weiß nie. Also, sei eine liebe Schwester und lade ihn ein. Er wird sich freuen. Er kennt doch niemanden in dieser Gegend. Außerdem hätte ich ein besseres Gefühl, wenn du ein Auge auf ihn hast.«
»Wie meinst du denn das?«
»Arne ist ein toller Typ. Nicht, dass ihn mir irgendjemand noch vor der Hochzeit wegschnappt.« Alina lachte wieder belustigt, ein eindeutiges Zeichen dafür, dass sie diese Möglichkeit für völlig ausgeschlossen hielt. »Das sollte nur ein Witz sein«, fügte sie rasch hinzu. »Natürlich ist er mir treu. Also machst du’s, falls er dich anruft?«
Paula hätte das Gespräch noch in die Länge ziehen können, indem sie alle möglichen in ihren Augen triftigen Argumente anführte, die gegen eine solche Einladung sprachen, aber sie wusste ja nur zu gut, dass ihre Schwester, wenn sie ein Ziel verfolgte, keine Logik gelten ließ.
»Wir werden sehen«, antwortete sie deshalb. »Falls es sich zeitlich einrichten lässt. Wie du weißt, habe ich Ferien. Wenigstens in diesen Wochen möchte ich keinen Termindruck haben.«
»Ihr armen Lehrer …«
Sie wollte Alina gerade eine scharfe Antwort geben, als sie den Mann auf der anderen Seite des Münsterplatzes entdeckte –, den Mann aus Düren. Er musste sie schon vorher gesehen haben, denn er sah zu ihr hinüber. Jetzt winkte er ihr zu.
»Du, ich muss Schluss machen. Tschüs«, sagte sie hastig und drückte die rote Taste, während sie ihm zurückwinkte.
Mit angehaltenem Atem beobachtete sie, wie er sich nun den Weg durch die Menschen auf dem Platz zum Eiscafé bahnte. Als er schließlich vor ihrem Tisch stehen blieb, gehörte das Gespräch mit ihrer Schwester bereits der Vergangenheit an. Sein Lächeln löste ihre Verärgerung über Alina ganz einfach in Luft auf.
»Darf ich mich setzen?«
»Gern«, antwortete Paula.
»Da wir uns jetzt zum dritten Male begegnen, dachte ich …«
Ihr Gegenüber verstummte. Er machte einen verlegenen, ja, sogar unsicheren Eindruck auf sie.
Ein Draufgänger ist er nicht, ging es ihr durch den Sinn.
»Uwe«, stellte er sich vor und reichte ihr die Hand.
»Paula.« Sie erwiderte seinen festen Händedruck. »Hast du die Tannenmühle gefunden?«, erkundigte sie sich, um ein Gespräch in Gang zu bringen.
Da er sich mit Vornamen vorgestellt hatte, sprach sie ihn auch ganz selbstverständlich in der Du-Form an.
»Ja.« Sein Strahlen ging auf sie über. Es gab ihr ein Gefühl innerer Leichtigkeit. Welch positive Ausstrahlung er hatte! Und diese Augen in die …
»Ich habe die Mühle vor einer Woche gekauft.«
»Du hast sie gekauft?« Voller Staunen sah sie ihn an.
Das bedeutete, dass er zukünftig ganz in ihrer Nähe wohnen würde.
»Sie war ein Superangebot. Und ich träumte schon lange von einem Wochenendhaus mitten in der Natur, abgelegen von der Hektik der Städte.«
»Du kommst aus Düren, nicht wahr? Dein Nummernschild …«
Er lachte. »Falsch. Das ist ein Mietwagen. Die Leihfirma hat ihren Sitz dort. Mein Auto hatte kurz vor meiner Abreise den Geist aufgegeben.«
Die Kellnerin kam. Uwe bestellte Kaffee, sah sie an und fragte: »Darf ich dich zu etwas einladen?«
»Ebenfalls Kaffee.«
»Kommst du hier aus dem Schwarzwald?«, fragte er, nachdem die junge Frau gegangen war.
»Aus Ruhweiler.«
Ihre Blicke begegneten sich, hielten einander fest, und die Luft zwischen ihnen begann plötzlich wie Champagner zu prickeln.
»Ich bin hier geboren«, fügte sie hinzu. Dabei sah sie schnell weg.
»Schwimmst du öfter in dem See?«
»Meistens.« Sie biss sich auf die Lippen und fügte mutig hinzu: »Zurzeit jeden Abend. Bei schönem Wetter.«
»Die Gegend hat es mir angetan«, sagte er, ohne auf ihren Wink mit dem sprichwörtlichen Zaunpfahl einzugehen.
»Was hast du denn bis jetzt vom Schwarzwald gesehen?«, erkundigte sie sich, um das Gespräch auf neutralen Boden zu bringen.
Voller Begeisterung erzählte er ihr nun von den Sehenswürdigkeiten, die er besucht hatte.
»Aber das Schönste hier sind die unberührte Natur und die gute Luft«, sagte er und begann, von den Wanderungen zu schwärmen, die er vor ein paar Monaten durch den Schwarzwald gemacht hatte.
Während er sprach, schenkte er ihr immer wieder dieses Lächeln, den durchdringenden Blick aus seinen hellgrauen Augen, deren Iris einen so außergewöhnlichen dunklen Rand besaß. Sie hörte seinen Schilderungen gar nicht richtig zu, sondern fühlte sich vielmehr gefangen genommen von seiner ausdrucksstarken Gestik und Mimik, die seine Worte begleiteten. Immer mehr zog dieser Mann sie in seinen Bann. Hin und wieder warf sie auch ein paar Worte in die Unterhaltung ein. Die Zeit an diesem Mittag raste an ihr vorbei, die Umgebung wurde zur Kulisse, die anderen Menschen zu Wesen aus einer anderen Welt –, bis Uwe auf die Kirchenuhr sah und erschrocken feststellte:
»Ich muss fahren. In einer halben Stunde habe ich einen Termin mit dem Schreiner wegen des Umbaus.« Er winkte die Kellnerin heran, die zu Paulas Enttäuschung auch umgehend kam.
Uwe bezahlte. Für sie beide.
»Also dann …« Er zögerte, warf wieder einen gehetzten Blick auf die Kirchenturmuhr. »Ich komme sowieso schon zu spät. Wir sehen uns bestimmt noch …« Er nahm sich nicht einmal mehr die Zeit, ihr die Hand zu geben, schenkte ihr nur noch einmal ein bedauerndes Lächeln und tauchte dann in der Menschenmenge auf dem Münsterplatz unter.
Nachdem er außer Sichtweite war, überfiel sie ein Gefühl von Leere. Die Sonne verdunkelte sich, Schatten legte sich über den Platz. Sie sah hinauf zum Himmel. Tatsächlich hatte sich eine große Wolke vor die Sonne geschoben. Ihr folgten noch andere.
War dies ein schlechtes Zeichen? Vielleicht sah sie Uwe nie mehr wieder. Sie hatten keine weitere Verabredung getroffen. Er hatte weder nach ihrer Adresse noch der Telefonnummer gefragt. Vermutlich hatte ihre Begegnung für ihn nicht die gleiche Bedeutung wie für sie gehabt.
Paula fasste sich mit beiden Händen an die Stirn, als könnte sie durch diese Geste all die Gedanken, die ihr durch den Kopf jagten, bündeln.
Ganz ruhig, sagte sie sich. Du übertreibst. Wie oft kam es vor, dass sich Menschen zufällig trafen, miteinander plauderten und dann in unterschiedliche Richtungen weitergingen. Im Wartezimmer, im Bus oder sonst wo. Wie oft hatte sie eine solche Situation selbst schon erlebt! Aber dieses Mal war es anders gewesen. Zumindest für sie. Oder bildete sie sich diese ungeheure Anziehung nur ein, weil sie sich so sehr nach Liebe sehnte?