Mhairi McFarlane
Roman
Aus dem Englischen von
Maria Hochsieder
Knaur eBooks
Die englische Originalausgabe erscheint 2019 unter dem Titel »Don’t You Forget About Me« bei HarperCollins.
© 2018 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
© 2017 Mhairi McFarlane
© 2018 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Birthe Vogelmann
Covergestaltung: Franzi Bucher, München
Coverabbildung: Shutterstock/zatmenie
ISBN 978-3-426-44291-3
I was working as a waitress in a cocktail bar
That much is true
Du hast mich geliebt – welches Recht hattest du also, mich zu verlassen? Denn … nichts, was Gott oder der Teufel uns auferlegen konnte, hätte uns zu trennen vermocht, du selbst hast es aus freien Stücken getan. Nicht ich habe dein Herz gebrochen – du hast es getan, und damit auch das meine gebrochen.«
David Marsden sah auf und wischte sich das Kinn am Ärmel ab. Er hatte die Passage aus dem Schauerroman von Emily Brontë mit etwa derselben Gefühlsregung vorgetragen, die er beim Ablesen der Pizza-Hut-Speisekarte an den Tag legen würde. Als männlicher Teenager war es unerlässlich, monoton zu bleiben, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, eine Schwuchtel zu sein.
Im Klassenzimmer herrschte diese zäh fließende Hitze kurz vor dem Hochsommer, wenn sich die Klamotten schon mittags klebrig anfühlen. In unserem gedrungenen Sechzigerjahre-Kasten, die Fenster zur Hälfte hochgeschoben – die Klimaanlage des armen Mannes –, konnten wir aus der Ferne das Treiben auf dem Sportplatz hören.
»Danke, David«, sagte Mrs. Pemberton, als der das Taschenbuch zuschlug. »Was will Heathcliff in diesem Absatz eurer Ansicht nach sagen?«
»Er ist wieder mal sauer, weil er nicht vögeln darf«, nuschelte Richard Hardy, und wir wieherten los, nicht nur, weil damit die akademische Diskussion hinausgezögert wurde, sondern weil es Richard Hardy war, der den Witz gemacht hatte.
Es folgten ein paar gebrummte Bemerkungen, aber keine richtigen Antworten. Bis zu den Abschlussprüfungen waren es nur mehr sechs Wochen. Wir fieberten einerseits aufgeregt der Freiheit entgegen, die zum Greifen nah war, und hatten andererseits Panik vor der bevorstehenden Abrechnung. Die gequälten Bewohner jener Buchseiten fingen an, uns auf den Zeiger zu gehen. Wie wär’s mit ein paar echten Problemen wie unseren?
»Welches Recht hattest du also, mich zu verlassen – das ist schon ein bisschen unheimlich, oder«, sagte ich, weil niemand sonst Anstalten machte, das sich ausdehnende Schweigen zu brechen. Mrs. Pemberton reagierte manchmal gereizt, wenn sich das in die Länge zog, und gab dann mehr Hausaufgaben. »Ich meine, die Vorstellung, dass Cathy mit ihm zusammenbleiben hätte müssen oder dass sie es verdient hat, unglücklich zu sein, ist ein bisschen … na ja.«
»Interessant. Du findest also nicht, dass Heathcliff recht hat damit, dass sie das Leben von beiden ruiniert hat, weil sie ihre Gefühle verleugnet hat?«
»Na ja …« Ich holte Luft. »Es ist so wie da, wo es heißt, dass ihre Liebe für Heathcliff wie der unterirdische Fels ist, sie ist beständig, aber sie bereitet ihr kein Vergnügen.« Ich sage das hastig wegen der unvermeidlichen Belustigung, die das Wort »Vergnügen« auslösen muss. »Es klingt nicht gerade so, als habe sie Spaß, oder? Es geht nur darum, dass sie ihm verpflichtet ist.«
»Vielleicht ist die Liebe zwischen den beiden keine gewöhnliche romantische Liebe, sondern etwas Tiefes, elementar Geistiges.«
»Geistesgestört auf jeden Fall«, sagte eine männliche Stimme. Ich sah hinüber, und Richard Hardy zwinkerte mir zu. Mein Puls raste.
Meine Lehrerin hatte die lästige Angewohnheit, mich ernst zu nehmen und mich dazu zu bringen, tatsächlich nachzudenken. Einmal hatte sie mich nach dem Unterricht zurückgehalten und gesagt: »Du stellst dich dümmer als du bist, um besser bei den anderen anzukommen. Außerhalb dieser vier Wände gibt es eine große weite Welt, Georgina Horspool, und die Abschlussnoten werden dich weiter bringen als ihr Applaus. Du musst wissen, auch hübsche Gesichter werden alt.«
Hinterher war ich stocksauer, es war die Art von Wut, die man Leuten entgegenbringt, die einem etwas unterstellen, das absolut zutrifft. (Die Sache mit dem hübschen Gesicht allerdings gefiel mir ganz gut. Ich hielt mich nicht für hübsch, und es würde Ewigkeiten dauern, bis ich mal alt wäre.)
Murmelndes Geschwätz breitete sich im Klassenzimmer aus, und schwer hing das Desinteresse an Emily Brontës Sturmhöhe in der Luft.
Mrs. Pemberton, die spürte, wie die Aufmerksamkeit unwiederbringlich auf Irrwege ging, ließ ihre Bombe platzen.
»Ich habe beschlossen, euch umzusetzen. Ich habe nicht den Eindruck, dass es der Konzentration in diesem Raum dient, wenn ihr neben euren Freunden sitzt.«
Sie begann von Tisch zu Tisch zu gehen und, von ausgiebigem Genörgel begleitet, jeweils einen Schüler gegen einen anderen auszutauschen. Ich war davon überzeugt, dass ich mich aus der Sache herausreden könnte.
»Joanna, du kannst bleiben, wo du bist, und Georgina, du kommst nach vorne.«
»Was? Wieso?«
Ganz klar war die erste Reihe für die schwierigen Fälle, die Faulen oder die Außenseiter, reserviert – das war zutiefst ungerecht.
Der Sitzplan befolgte ein unsichtbares, aber klar festgelegtes Kastensystem: Streber und schräge Typen vorne. Durchschnittlich Beliebte, die sich bemühten, im Coolness-Ranking aufzusteigen, in der Mitte – so wie Jo und ich. Hinten die lässigsten Jungs und Mädchen wie Richard Hardy, Alexandra Caister, Daniel Horton und Katy Reed. Gerüchte gingen, dass Richard und Alexandra irgendwie miteinander gingen, aber irgendwie auch nicht, weil sie so cool waren.
»Komm schon. Beweg dich.«
»Oh, Mann, Miss!«
Seufzend stand ich auf; das Tempo, mit dem ich die Stifte in die Tasche stopfte, sollte meinen Unwillen unterstreichen.
»Na also. Ich bin mir sicher, dass Lucas sich freut, dich neben sich zu haben«, sagte Mrs. Pemberton und deutete zu ihm rüber. Diese völlig unnötige Formulierung erzeugte gedämpftes Gackern.
Lucas McCarthy. Ein unbekanntes Subjekt, einer, der für sich blieb, so wie alle zukünftigen Serienkiller. Kein Freak, aber auch niemand, den ich mir als Banknachbarn ausgesucht hätte.
Er war hager und hatte ein spitzes Kinn, wodurch er ein bisschen unterernährt wirkte. Er war Ire, erkennbar an den kurzen, tiefschwarzen Stoppeln und der blassen Haut. Ein paar Witzbolde nannten ihn Gerry Adams nach dem irisch-republikanischen Politiker, sagten ihm das aber nicht ins Gesicht, weil sein Bruder angeblich ein echt harter Typ war.
Misstrauisch sah Lucas mit dunklem, ernstem Blick zu mir auf. Ich war verblüfft, wie deutlich ich ihm seine Befürchtungen vom Gesicht ablesen konnte. Würde ich meine Abneigung ihm gegenüber auf demütigende Weise öffentlich machen? Würde das hier sehr qualvoll werden? Müsste er sich wappnen?
Als ich seine Sorge bemerkte, sah ich mich plötzlich mit anderen Augen. Es bereitete mir ein schlechtes Gewissen, dass er so etwas von mir befürchtete.
»Tut mir leid, dass ich mich dir aufnötige«, sagte ich, als ich mich auf den Stuhl plumpsen ließ, und ich spürte, wie die Spannung um einen winzigen Bruchteil nachließ. (Ich benutzte gern ausgefallene Ausdrücke, aber immer mit einer ironischen, wegwerfenden Geste, um ja nicht als Angeberin rüberzukommen. Mrs. Pemberton kannte meine Masche nur zu gut.)
»Bis zum Ende der Stunde befasst ihr euch bitte paarweise mit folgender Frage – am Freitag werden wir die gemeinsam erarbeiteten Ergebnisse besprechen: Geht es in Sturmhöhe um Liebe? Und falls ja, um welche Art Liebe? Entscheidet, wer von beiden die Notizen macht«, sagte Mrs. Pemberton.
Lucas und ich lächelten uns unsicher an.
»Du bist die Denkerin, also mach ich besser den Protokollanten«, sagte Lucas und kritzelte das Thema oben auf ein liniertes DIN-A4-Blatt.
»Bin ich das? Danke.«
Ich schenkte ihm ein weiteres ermutigendes Lächeln und bemerkte, wie Lucas’ Miene sich aufhellte. Ich stöberte in meinem Gedächtnis nach irgendwelchen vereinzelten Fakten über ihn. Er war erst in der Oberstufe zu uns gekommen, was auch ein Grund dafür war, warum er eine Randexistenz führte.
Er trug immer die gleiche Art dunkler T-Shirts mit ausgebleichten Aufdrucken, die vom häufigen Waschen brüchig geworden waren, und am Handgelenk als Armbänder drei rot-blaue Schnüre. Ich erinnere mich, dass ihn manche der Jungs deswegen »Zigeuner« nannten (aber nicht ins Gesicht, weil sein Bruder ein echt harter Typ war). Im Aufenthaltsraum war er oft für sich und las Musikzeitschriften, einen Doc-Martens-Stiefel auf dem anderen Knie abgestützt.
»Ich finde, du hast recht mit Heathcliff. Er ähnelt mehr einem Werwolf als einem Menschen«, sagte er.
Mir wurde bewusst, dass ich zwei Jahre im selben Gebäude wie Lucas verbracht hatte, im selben Zimmer, und nie ein Gespräch mit ihm geführt hatte. Er hatte eine weiche Aussprache mit einem leichten Dubliner Zungenschlag. Unbewusst hatte ich den hiesigen Dialekt erwartet. Ich hatte ihm bisher keinerlei Beachtung geschenkt.
»Ja, echt! Wie ein großer, wütender Hund.«
Lucas lächelte mich an und schrieb es auf.
»Ich weiß ja nicht, aber es ärgert mich, dass Cathy für die ganze Sache verantwortlich gemacht wird«, meinte ich. »Sie fällt einmal eine falsche Entscheidung, und alles geht den Bach runter für die nächsten Generationen.«
»Vermutlich gäbe es nicht groß was zu erzählen, wenn sie die richtige Entscheidung getroffen hätte.«
Ich lachte. »Stimmt auch wieder. Dann hieße es einfach Zu Hause bei den Heathcliffs. Warte mal, wenn Heathcliff sein Nachname ist, wie heißt er dann eigentlich mit Vornamen?«
»Ich glaube, der hat nur einen Namen. So wie Morrissey.«
»Oder er heißt Heathcliff Heathcliff.«
»Kein Wunder, dass es ihm stinkt.«
Ich lachte. Und mir wurde klar: Lucas war nicht etwa still, weil er langweilig war. Vielmehr beobachtete er und hörte zu. Er war wie ein einfaches Holzkästchen, das man aufmachte und in dem man versteckte Schätze entdeckte. War er wirklich unscheinbar?, überprüfte ich mein Urteil.
»Aber es ist ja nicht ihre Entscheidung«, sagte Lucas zögernd. Er testete immer noch den Boden zwischen uns aus. »Ich meine, ist nicht eher das Geld schuld, die Gesellschaftsschicht und so, statt Cathy? Sie hält sich für was Besseres, aber das wurde ihr von den Lintons eingeredet. Nach dem Vorfall mit dem Hund wachsen sie ganz unterschiedlich auf. Vielleicht ist ja der Hund an allem schuld.«
Er kaute an seinem Kugelschreiber und lächelte verhalten. Etwas – und alles – hatte sich verändert. Damals wusste ich noch nicht, dass ein kurzer Moment unglaublich bedeutend sein kann.
»Ja, also geht es um Liebe, die zerstört wird durch …«, ich wollte beeindrucken, »menschenfeindliche Umstände.«
»Wird sie wirklich zerstört? Sie sucht ihn ja noch Jahre später als Geist heim. Ich würde eher sagen, dass die Liebe weiterging, auf andere Art.«
»Eine verquere, bittere, hoffnungslose Art, voller Wut und Schuldzuweisungen, ohne dass er sie berühren kann?«, fragte ich.
»Ja.«
»Klingt nach der Ehe meiner Eltern.«
Ich hatte auch früher schon erfolgreich Witze gemacht, aber es hatte mich wohl nie zuvor in solche Hochstimmung versetzt, zu sehen, wie jemand einen Lachanfall bekam. Ich weiß noch, dass mir auffiel, wie weiß die Zähne von Lucas waren, und dass ich seinen Mund noch nie so weit offen gesehen hatte, um sie überhaupt zu bemerken.
Und so fing es an, richtig aber begann es drei Literaturstunden später mit vier Wörtern.
Sie standen auf einem linierten DIN-A4-Blatt, am Ende eines gemeinsamen Aufsatzes über die »Rolle des Übernatürlichen«. Wir tauschten den Schnellhefter immer wieder aus, machten Anmerkungen, extrem darum bemüht, uns gegenseitig zu beeindrucken. Eine Sekunde lang war ich verwirrt, als mein Blick auf den verräterischen Satz fiel, dann fuhr mir die Hitze den Nacken hinauf und die Arme hinunter.
Ich mag dein Lachen. x
Da stand es geschrieben, mit blauem BIC-Stift, eine unerwartete Fußnote. Es kam so beiläufig, dass ich es beinahe übersehen hätte. Warum hatte er mir keine SMS geschickt? Ich wusste, warum. Eine Nachricht direkt an mich wäre unzweideutig. Das hier könnte notfalls abgestritten werden.
Dass ich nicht genug von Lucas McCarthys Gesellschaft bekommen konnte, beruhte also auf Gegenseitigkeit. Nie zuvor hatte es mich so erwischt, schon gar nicht bei einem Jungen, dessen Haut, wie mir aufgefallen war, der Innenseite einer Muschel glich.
Nachdem ich Lucas vorher überhaupt nicht wahrgenommen hatte, war ich nun dazu übergegangen, ihn ununterbrochen wahrzunehmen. Ich entwickelte das sensorische Wahrnehmungsvermögen eines Spitzenprädators. Ich konnte zu jedem Zeitpunkt sagen, wo genau sich Lucas im Aufenthaltsraum aufhielt, ohne dass mein Blick ihn jemals gestreift hätte.
Schließlich hatte ich zitternd daruntergesetzt:
Ich mag deins auch. x
Ich gab Lucas den Hefter am Ende der nächsten Stunde zurück, und unsere Augen flatterten nervös hin und her. Als ich den Hefter das nächste Mal in Händen hielt, fehlte die Seite.
Ich hatte nicht gewusst, wie es sich anfühlte, sich zu verlieben, es war mir nie zuvor passiert. Aber ich stellte fest, dass man es leicht erkannte, wenn es so weit war.
Wir nutzten jeden Anlass, außerhalb der Schulzeit gemeinsam zu lernen, und bei dem schönen Wetter hatten wir einen Vorwand, uns draußen im Botanischen Garten zu treffen.
Eigentlich hatten wir Dates, und die Übungsblätter, die auf dem Rasen um uns verstreut lagen, waren unser Deckmäntelchen. Um ehrlich zu sein, hätte ich Mrs. Pemberton um den Hals fallen können.
Anfangs redeten wir ununterbrochen, saugten jede Information über den anderen auf. Sein Leben in Dublin, unsere Familien, unsere Zukunftspläne, unsere Lieblingsmusik, -filme, -bücher. Dieser finstere, ernste, einsilbige irische Junge war eine unaufhörliche Überraschung. Er stellte nichts von sich zur Schau, man musste es selbst entdecken: sowohl den trockenen Humor als auch sein gutes Aussehen, das er mit aufrechtem Gang und erhobenem Kopf ganz einfach hätte unterstreichen können, und ebenso seinen Scharfsinn. Er war verschlossen. Im Gegensatz dazu kam ich mir übersprudelnd vor.
Wenn ich etwas sagte, dann hörte er mir aufmerksam zu. Durch die faszinierten Augen von Lucas begann ich mich anders wahrzunehmen. Ich stellte etwas dar. Ich musste mich gar nicht so furchtbar anstrengen.
Als wir uns innerhalb von fünf Tagen das dritte Mal trafen, beugte sich Lucas zu mir, um mir über ein paar Leute in der Nähe etwas ins Ohr zu flüstern, und ich erschauderte. Es war ein Trick, er hätte nicht so nah herankommen müssen, und ich spürte, dass wir eine Stufe hochgerückt waren.
Während er zaghaft ein paar Strähnen meines Zopfs zurückstrich, sagte Lucas: »Ist dein Haar echt?«
Wir brachen in hysterisches Lachen aus.
»Ist die Farbe echt – die Farbe! Das hab ich gemeint. Oh, Gott …«
Ich wischte mir die Tränen fort. »Ja, die Perücke hat meine echte Haarfarbe. Ich bitte den Perückenmacher immer, dass er den richtigen Ton trifft.«
Unbedacht und vom Lachen ganz matt, sagte Lucas: »Es ist wunderschön.«
Wir beide schluckten und sahen uns mit bedeutungsschweren Blicken an, und das war’s: Wir küssten uns.
Danach lernten wir jeden Tag zusammen. Mit diesem Kuss war die Schranke gefallen, und jedes Mal, wenn wir uns sahen, ließen wir unseren Gefühlen noch freieren Lauf. Flüsternd teilten wir Geheimnisse, Ängste und Sehnsüchte, immer höher türmten sich die waghalsigen Vertrautheiten auf. Er hatte einen Spitznamen für mich. So hatte mich noch niemand zuvor gesehen. Nie zuvor hatte ich gewagt, mich auf diese Weise zu erkennen zu geben.
Bevor ich Lucas begegnet war, war mein Körper etwas gewesen, das Sorge und Kummer bei mir auslöste. Ich war nicht dünn genug, mein Busen zu groß, die Oberschenkel rieben zu sehr aneinander. Beim Knutschten mit ihm lernte ich diese Dinge lieben. Obwohl wir vollständig angezogen waren, blieb der aufregende Effekt, den es auf ihn hatte, nicht unbemerkt: die Hitze zwischen uns, sein Herzschlag, unser schneller Atem. Ich drückte mich an ihn, damit ich die Beule in seiner Jeans spüren konnte, und dachte: Das war ich. Der Gedanke, irgendwo für uns zu sein, wo wir unsere Unterleiber richtig zusammenführen konnten, war so aufregend, dass ich ihn kaum zu Ende denken konnte.
Wir hielten es geheim. Ich weiß nicht genau, warum, es war nicht so, dass wir uns abgesprochen hätten. Es war eine wortlose Übereinkunft.
An der Schule wurden neue Paare auf absurde, lächerliche Weise zur Schau gestellt. Ich wollte mich dem Gejohle und Geklatsche auf den Schulkorridoren einfach nicht aussetzen, dem Schubsen und Grinsen, der Frage, was wir angestellt hatten, die uns beiden die Schamesröte ins Gesicht treiben würde. Und ich wusste, dass man mich necken würde, mehr noch als ihn. Für Jungs war ein Treffer ein Treffer, und – auch wenn es brutal klang –, ich war beliebt und Lucas nicht. Die Jungs würden krakeelen und spötteln, und die Mädchen würden sagen: igitt.
Es war viel einfacher, wenn wir abwarteten, denn bald wären die Gefangenschaft, die Schule und ihre grausamen Regeln Vergangenheit.
Es entspricht definitiv den Tatsachen, dass das erste männliche Wesen, das mein Outfit für die Abschlussparty zu sehen bekam, überwältigt war und ihm die Kinnlade herunterfiel. Leider war er acht Jahre alt und eine absolute Flachpfeife.
Als ich in den lauen Sommerabend hinaustrat, aufgedonnert wie ein Pfau auf Modenschau, war der Nachbarsjunge dabei, den Türklopfer mit einem angekauten Eisstiel hochzuschnipsen, damit man ihn reinließ. Sein Mund leuchtete himbeerrot.
»Warum funkelt dein Gesicht so?«, fragte er, womit er nicht etwa meine sichtbar gute Laune meinte, sondern die achtundsechzig Kosmetikartikel, mit denen ich mich zugegipst hatte.
»Zieh Leine, Willard«, sagte ich jovial. »Schau dich selbst an.«
»Ich kann deine Titten sehen!«, fügte er hinzu und schoss ins Haus, bevor ich ihm dafür eine Ohrfeige verpassen konnte.
Ich zupfte mein Kleid zurecht und machte mir Sorgen, dass Willard – auch wenn er in seinem Elmo-Sweatshirt nicht gerade als Praktikant bei der Vogue durchgegangen wäre – recht hatte. War es zu viel? Das Kleid war tiefrot und hatte einen nicht gerade dezenten Ausschnitt, und dabei hatte ich jene Art Busen, die sich gern in den Vordergrund drängte. Als ich mich fertig gemacht hatte, war ich fahrig gewesen, weil es das erste Mal in meinem Leben war, dass ich mit dem Bewusstsein Unterwäsche anzog, dass nicht ich selbst sie wieder ausziehen würde. Der Gedanke ließ mich schwindeln.
Lucas und ich hatten uns ein Versprechen gegeben. Nachdem das Knutschen in angezogenem Zustand inzwischen beinahe ebenso frustrierend wie aufregend war, hatte ich ihm vorgeschlagen, nach der Abschlussparty über Nacht zusammen »in der Stadt« zu bleiben. Ich tat beiläufig, als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Ich versuchte sogar, das Ganze herunterzuspielen, so als hätte ich es schon einmal getan. Ich wusste nicht, ob er es schon einmal gemacht hatte.
»Klar«, meinte er, und sein Blick und sein Lächeln fuhren mir geradewegs ins Herz und in die Lenden.
Ich war so aufgeregt, dass ich praktisch schwebte: Ich kenne den genauen Tag, an dem ich meine Jungfräulichkeit verlieren werde, und es wird mit ihm passieren.
Ein paar Stunden vorher war ich ins Holiday Inn gegangen, hatte dort eingecheckt, einige Sachen deponiert und das Doppelbett bestaunt. Dann war ich wieder nach Hause gegangen und hatte meine desinteressierten Eltern daran erinnert, dass ich bei Jo übernachten würde. Glücklicherweise war meine Schwester nicht da, denn wenn ich eine Lüge auftischte, roch Esther den Braten auf hundert Meter.
Die Party fand in einem pseudo-irischen Pub im Zentrum statt, in einem Veranstaltungsraum mit einem Tapeziertisch voller beigefarbenem Essen. Plastikbehälter mit billigem Alkohol drängten sich in Trögen, die bis zum Rand mit Eiswürfeln gefüllt waren. Natürlich schmolzen die in Windeseile und setzten alles unter Wasser.
Es war merkwürdig, dass Lucas und ich beide wussten, was wir später vorhatten, und trotzdem so taten, als seien wir uns gleichgültig. Über den Raum hinweg erhaschte ich einen Blick auf ihn, wie er in einem schwarzen Cordhemd eine Dose Bier trank. Unmerklich nickten wir uns zu.
Bis zu diesem Zeitpunkt war es eine pragmatische Entscheidung gewesen, unsere Beziehung für uns zu behalten. Heute Abend aber fühlte es sich plötzlich falsch an. Was gab es da zu verheimlichen? Bedeutete es, dass wir uns schämten, ob bewusst oder unbewusst? Wäre er lieber offen damit umgegangen? War es eine Beleidigung, die er stillschweigend hingenommen hatte?
Ich fühlte mich etwas beklommen, aber wir hatten nun mal die Weichen gestellt, auf denen wir nun bleiben mussten. Später würde ich das Thema ansprechen. Später. Ich konnte kaum fassen, dass es tatsächlich so weit war. In meinem Kopf drehte sich alles.
Ich trank Cider mit Johannisbeersirup, und ich trank zu schnell. Ich merkte, wie meine Hemmungen sich im Zischen des sprudelnden Drinks auflösten. Richard – der sich, wie ich nun erfuhr, lieber Rick nennen ließ – Hardy sagte: »Du siehst gut aus.« Ich errötete, murmelte ein Dankeschön. »Wie die heilige Hure. Das ist genau dein Look, stimmt’s?«
»Hahaha«, sagte ich, als alle losprusteten. Das war Erwachsenengeplänkel, und ich hatte Glück, dass ich daran teilhaben durfte.
Je mehr der Abend voranschritt, desto mehr hatte ich das Gefühl, in einem Kreis aus Licht und Gelächter zu schweben, Arm in Arm mit denen, die den Glorienschein trugen. Ich fragte mich, warum ich mich bislang so unterschätzt hatte. Ich meine, klar, ich war alkoholisiert, aber plötzlich fühlte es sich wie ein Kinderspiel an, gemocht zu werden.
Jo und ich sahen uns staunend an: War die Schule tatsächlich vorbei? Wir hatten überlebt? Und verließen sie im Höhenflug?
»He, George.«
Rick Hardy winkte mich zu sich. Also hieß ich für ihn jetzt George? Wow, ich hatte es wirklich geschafft! Er lehnte neben einem Abfalleimer voller Dosen an der Wand, um ihn herum die übliche Schar Groupies. Es ging das Gerücht um, dass er die Uni links liegen lassen würde. Seine Band hatte Interesse bei den großen Labels geweckt.
»Ich will dir was zeigen«, sagte er.
»Okay.«
»Nicht hier.«
Mit einer einzigen geschmeidigen, einem zukünftigen Rockstar würdigen Bewegung löste sich Rick von der Wand und reichte einem seiner Bewunderer sein Glas. Er streckte die Hand aus, bedeutete mir, ihm meine zu reichen – ich spürte, wie sich uns zahlreiche Augenpaare zuwandten –, und sagte: »Komm mit mir.«
Überrascht stellte ich mein Glas mit einem dumpfen Knall ab, legte meine Hand in seine und ließ mich von ihm durch das Gedränge führen. Mein Tipp war entweder ein neues Auto oder ein großer Joint. Mit beidem würde ich fertigwerden.
Ich schaute zu Lucas hinüber, um ihm zu versichern, dass das hier selbstverständlich gar nichts bedeutete. Er sah mich mit exakt demselben Blick an, den er beim ersten Mal hatte, als man mich neben ihn gesetzt hatte.
Wie schlimm wirst du mich verletzen?
Und die Tagessuppe ist eine Karotten-Tomaten-Suppe«, beende ich meinen Vortrag mit einer munteren Note, einem melodischen Tusch, den die orangefarbene Suppe definitiv nicht verdient.
(»Gibt es so was überhaupt: Karotten-Tomaten-Suppe?«, hatte ich den Chefkoch Tony gefragt, als er einen Löffel in den brodelnden Kessel steckte, aus dem es intensiv gemüsig roch. »Ab sofort, ja, Tinker-Bell-Möpschen.« Ich habe nicht den Eindruck, dass Tony eine Kochausbildung absolviert hat. Geschweige denn eine Charme-Ausbildung.)
Um ehrlich zu sein, habe ich weniger für die Gäste als für mich selbst meiner Performance ein bisschen Farbe verliehen. Ich bin nicht bloß Kellnerin, ich bin eine Spionin aus der Welt der Worte, die Material sammelt. Ich beobachte mich von außen.
Der missmutige Mann – mittleres Management, würde ich sagen – mit einer depressiv wirkenden Ehefrau lässt den Blick über die laminierten Optionen des That’s Amore! schweifen. Die Speisekarte wird von einer Clipart-Darstellung des schiefen Turms von Pisa geschmückt, samt einer Gabel mit aufgedrehten Regenwürmern und einem Pavarotti, der aussieht wie Bigfoot nach einem Schlaganfall.
Er hat auf den Namen Keith reserviert, was mir seltsam vorkam, aber es gibt ja auch eine Schauspielerin, die Penelope Keith heißt, also ist es vielleicht gar nicht so merkwürdig.
»Karotte-Tomate? Oh, nein. Nein, eher nicht.«
Geht mir ähnlich.
»Was empfehlen Sie?«
Diese Frage hasse ich. Sie führt geradewegs zum Meineid. Tony hat mir vorhin gesagt: »Mach Reklame für die Spaghetti Vongole, die Muscheln schauen nicht mehr ganz so fit aus.«
Was ich empfehlen würde ist das türkische Restaurant gerade mal fünf Minuten von hier.
»Wie wär’s mit der Arrabbiata?«
»Ist das scharf? Ich mag keine scharfen Sachen.«
»Ein bisschen scharf, aber eigentlich ziemlich mild.«
»Was Sie als mild bezeichnen, ist für mich möglicherweise nicht mild, junge Frau!«
»Warum fragen Sie mich dann nach meinen Empfehlungen?«, murmle ich vor mich hin.
»Was?«
Ich lächle mit zusammengekniffenen Lippen. Die Beherrschung dieses zusammengekniffenen Lächelns ist eine durchaus entscheidende Fertigkeit. Leicht beuge ich mich nach vorne, die Hände auf den Knien, in Bittstellerhaltung.
»Sagen Sie mir, was Sie gerne essen.«
»Risotto.«
Vielleicht sollten Sie sich dann einfach für den Risotto entscheiden, oder ist das zu weit hergeholt?
»Aber der ist mit Meeresfrüchten«, sagt er mit einer Grimasse. »Was für Meeresfrüchte sind das denn?«
Sie kommen aus der Tupperdose, auf der mit Edding »Meeresfrüchte« steht, und sehen so aus wie das Zeug, das man in den Anglerläden als Köder kaufen kann.
»Eine Mischung. Venusmuscheln, Garnelen, Miesmuscheln …«
Mit schwindendem Mut nehme ich seine Bestellung der Spaghetti Carbonara auf. Diesem Mann stehen die Worte »gepfeffertes Feedback« ins Gesicht geschrieben, und dieses Lokal bietet sowohl dem anspruchsvollen wie dem anspruchslosen Besucher eine große Angriffsfläche.
Folgendes steht in ein paar der aktuell topplatzierten Bewertungen bei TripAdvisor über That’s Amore!:
Dieses Lokal gibt dem Wort »miserabel« eine vollkommen neue Dimension. Das Knoblauchbrot schmeckte so, als habe jemand seinen Mundgeruch auf Toast geschmiert, wobei stimmt, was man uns gesagt hat, es war die perfekte Ergänzung zur Pastete, die vermutlich von einem Lastesel stammte. Der Hauswein ist der Schweiß Satans. Als die Tür zur Küche offen stand, sah ich, wie der Koch, der aussah wie ein toter Bee Gee, sich an den Eiern kratzte, also bin ich gegangen, bevor man mir die Hauptspeise aufdrängen konnte. Leider werde ich nie erfahren, ob die Scaloppine vom Kalb das Blatt noch gewendet hätten. Aber die Kellnerin versicherte mir, dass alles »regional und frei laufend« sei, also hängt vermutlich irgendwo in der Nähe ein Anschlag mit einer vermissten Katze, wenn Sie verstehen, was ich meine.
Zugegebenermaßen war ich total zugekifft, als ich dieser Teufelsküche das erste und letzte Mal einen Besuch abstattete. Aber was zum Henker sind »Sheffield-Garnelen«? Diese Stadt ist nicht gerade bekannt für ihre Küstenanbindung. Ich würde mir das Pollo alla Cacciatora aus diesem Restaurant als Henkersmahlzeit bestellen, weil es dem, was folgt, wirklich ein wenig den Stachel nehmen würde.
Ich habe dem Besitzer von That’s Amore! gesagt, dass ich nie zuvor eine derart miese Bolognese gegessen hätte, sie habe geschmeckt wie Hackfleisch mit Ketchup. Er antwortete, das sei das besondere Rezept seiner Nonna, worauf ich sagte, dass seine »Nonna« offensichtlich nicht kochen könne, und er mir vorwarf, seine Familie zu beleidigen! Ohne Scheiß, er sah ungefähr so italienisch aus wie Boris Becker.
»That’s Shit!«, würde besser passen.
Wann war dir klar, dass du Kellnerin werden wolltest?«, fragt Callum, mein einziger Kollege im Service, während er versucht, eine Orangina in Cowboy-Manier hinunterzukippen, und den Schraubverschluss dann wieder mit männlich entschlossener Geste daraufschraubt.
Er hat einen dünnen Schnurrbart, Schweißringe unter den Achseln und nur ein einziges Hobby und/oder Interesse: im Fitnesscenter Kurse zu belegen, die »Leg Death« heißen. Oft befürchte ich, dass er flirten will. Ich verlege mich immer auf einen Ältere-Schwester-Tonfall, um dem zuvorzukommen.
»Hmm … Ich würde nicht unbedingt sagen, dass ich es wollte. Oder auch will.«
»Oh, klar. Wie alt bist du noch mal?«, sagt Callum.
Callum, der nicht gerade der schlaueste Zweiundzwanzigjährige ist, merkt nicht, wenn seine Gedankengänge allzu offensichtlich sind. Einmal erwähnte er mir gegenüber, dass der Stepper sich auch super für Leute eigne, die »sieben, acht Kilo über dem Idealgewicht« lägen.
»Dreißig«, sage ich, und er macht große Augen.
»Wow!«
»Danke.«
»Nein, ich meine, du siehst gar nicht so alt aus. Du siehst aus wie … achtundzwanzig.«
In letzter Zeit wird mir bewusst, dass ich in der Gastronomie früher mit gleichaltrigen Leuten zusammengearbeitet habe, mittlerweile aber zunehmend zur Grande Dame werde. Bei diesem Gedanken wirft mein Magen Falten wie ein geschrumpfter alter Fußball. Die Zukunft ist ein Umstand, an den ich lieber nicht denke.
Als ich den Job im That’s Amore! angenommen hatte, war ich bereits einen Monat im Rückstand mit der Miete gewesen, und ich redete mir ein, dass das Lokal retro sei mit seinen tropfenden Kerzen in den korbummantelten Chianti-Flaschen, den rot-weiß karierten abwischbaren Tischdecken, den Plastikweinreben über der Bar und den Italienischen Liebesklassikern: Vol. 1 in der Stereoanlage.
»Warum suchst du dir nicht einen richtigen Job?«, fragte Mum. Zum tausendsten Mal erklärte ich ihr, dass ich eine zukünftige Schriftstellerin sei, die Geld verdienen müsse; wenn ich einen richtigen Job annehmen würde, dann wär’s das – richtiger Job auf immer und ewig. Irgendwo hinten im Schrank liegt noch mein Jahrbuch aus der Abschlussklasse. Ich bekam den Titel »Wahrscheinlichste Kandidatin, es weit zu bringen und einen Eins-a-Abschluss zu machen«. Ich habe es bis in die mieseste Trattoria von Sheffield gebracht, und ich habe mein Studium nach einem Semester abgebrochen. Aber davon abgesehen trifft es haargenau ins Schwarze.
»Du wirst eine sehr alte Kellnerin ohne Rente sein«, erwiderte Mum.
Meine Schwester Esther ergänzte: »Gott sei Dank geht niemand, den ich kenne, dorthin.«
Joanna sagte: »Ist das That’s Amore! nicht der Laden, in dem es vor einem Jahr den Norovirus-Ausbruch gab?«
Nachdem ich die »rustikale Hausmannskost« probiert hatte, war ich mir nicht sicher, ob man den Norovirus nicht zu Unrecht zum Sündenbock gemacht hatte.
Mittlerweile wäre ich in der Lage, die in Endlosschleife durchlaufende CD mit dem Hammer zu traktieren. Ich wünsche mir, dass der Mond Dean Martin mit der Faust ins Auge schlägt wie Mike Tyson.
Es stellt sich heraus, dass meine Rolle weniger die einer Kellnerin ist als die der Verteidigerin eines gastronomischen Terrorismus. Ich bin der Drogenkurier, der die illegale Ware aus der Küche an den Tisch bringt und im Verhör unschuldig tut.
Man hatte mir gesagt, dass ich als Zulage zu meinem mageren Gehalt eine kostenlose Mahlzeit bekäme, und bald wurde mir klar, dass das ein Vorteil war, der ungefähr so viel zählte wie das Angebot, die Notrutsche hinunterzurutschen, wenn dein Flugzeug gerade abstürzt.
Was dem Ganzen aber die Krone aufsetzt, ist, dass aufgrund einer Mischung aus dementen Rentnern, Masochisten, Studenten, die von dem Happy-Hour-zwei-für-den-Preis-von-einem-Angebot angelockt werden, und Leuten von außerhalb das That’s Amore! tatsächlich Gewinn abwirft.
Der Besitzer, ein extrem griesgrämiger Mann, der nur unter dem Namen »Beaky« bekannt ist, beruft sich auf seine mediterranen Wurzeln auf mütterlicher Seite, sieht aber ganz und gar nach Sheffield aus und klingt auch so. Immer mal wieder kommt er herein, um einen Grappa zu kippen und die Kasse zu leeren, und ist ganz zufrieden damit, den Laden mit Tony als De-facto-Boss weiterschlingern zu lassen.
Tony ist ein dürrer Kettenraucher mit einem schütteren Vokuhila, und er ist erträglich, wenn man weiß, wie man mit ihm umgehen muss, also sein Wort als gottgegeben anerkennt, seine lüsterne Anmache ignoriert und immer daran denkt, dass es ums Geldverdienen geht.
Heute Abend ist wenig los, und nachdem ich die Hauptspeisen den glücklichen Empfängern ausgehändigt habe, nippe ich an einem Wasserglas und betrachte mein erschöpftes Spiegelbild auf der Edelstahloberfläche des Gaggia-Kaffeeautomaten.
Vom anderen Ende des Raums kommt ein Ruf.
»Entschuldigen Sie? Entschuldigen Sie!«
Ich arrangiere meine Gesichtszüge zu einem neutral-interessierten Ausdruck, als Mr. Keith mich zu sich winkt, obwohl mir vollkommen klar ist, was auf mich zukommt. Er nimmt die Gabel und lässt sie zurück in die geronnene Carbonara-Pampe in der Farbe von Fugenkitt fallen.
»Das ist nicht essbar.«
»Das tut mir leid. Was stimmt nicht damit?«
»Was stimmt damit? Es schmeckt nach Käsefüßen. Es ist lauwarm.«
»Möchten Sie etwas anderes bestellen?«
»Nein, eigentlich nicht. Ich habe Carbonara bestellt, weil es das war, was ich essen wollte. Ich hätte das gern, aber in der essbaren Variante.«
Ich öffne und schließe den Mund, weil mir nicht klar ist, wie das zu bewerkstelligen ist, ohne Tony zu feuern, sämtliche Lieferanten auszutauschen und das That’s Amore! dem Erdboden gleichzumachen.
»Offensichtlich stand es herum, während Sie das Risotto für meine Frau zubereitet haben.«
Derart wilde Vermutungen würde ich niemals anstellen, denn die Wahrheit kann nur schlimmer sein.
»Soll ich die Küche bitten, Ihnen eine neue zu machen?«
»Ja, bitte«, sagt der Mann und reicht mir den Teller.
Ich lege Tony die Situation dar, den es nie zu stören scheint, dass die Kunden seine Kochkunst grauenhaft finden. Ich wünschte, er nähme es persönlich, vielleicht würde es sich positiv auf die Qualität auswirken.
Er holt eine Großpackung geriebenen Parmesan hervor, streut noch etwas mehr davon auf den Teller, rührt darin herum und stellt ihn für zwei Minuten in die Mikrowelle. Die Mikrowelle klingelt, und er holt den Teller heraus.
»Zähl bis fünfzig und gib’s ihm dann. Die Zunge wird schmecken, was der Geist ihr vorgibt.« Er tippt sich an die Stirn. Ich kann mir nicht helfen, aber wenn es so einfach wäre, dann hätte das That’s Amore! einen Michelin-Stern anstelle der Durchschnittsbewertung von einem Stern bei TripAdvisor.
Die Sache ist die: Ich würde Tony ja dazu überreden, eine neue Carbonara zu kochen, aber die wäre genauso übel wie die letzte.
Schwer legt sich die Scham auf meine Schultern. Bislang fühlt sich mein Leben an wie eine lange Übung darin, meine Nervenenden abzustumpfen.
Nachdem ich eine Weile abgewartet habe, um die Illusion zu untermauern, trage ich das beleidigende Nudelgericht durch die Schwingtür.
»Bitte schön, Sir«, sage ich und gebe wieder die Basil-Fawlty-Nummer mit dem verkniffenen Lächeln, als ich den Teller abstelle. »Bitte entschuldigen Sie.«
Der Mann starrt auf den Teller, und ich bin sehr dankbar für die Ablenkung durch ein älteres Ehepaar an der Tür, das begrüßt und an einen Tisch geführt werden muss.
Sobald ich das erledigt habe, ruft mich Mr. Keith mit niederschmetternder Unvermeidlichkeit zurück an seinen Tisch. Ich muss hier weg. Ich muss hier weg. Nur noch meine Miete für diesen Monat verdienen. Und die Woche auf Kreta mit Robin buchen, wenn es mir gelingt, ihn dazu zu überreden.
»Es ist dasselbe Essen. Das, das ich habe zurückgehen lassen.«
»Was?« Ich tue überrascht und schüttle energisch den Kopf. »Ich habe den Koch gebeten, es neu zuzubereiten.«
»Es ist derselbe Teller.« Der Mann deutet auf einen Sprung im gemusterten Porzellan. »Das war der, den ich vorhin schon hatte.«
»Hmm … vielleicht hat er die Carbonara neu gemacht, aber den gleichen Teller benutzt?«
»Er hat ein neues Essen gekocht, das alte vom Teller gekratzt und in den Müll gekippt, den Teller gewaschen, abgetrocknet und dann wieder verwendet? Warum sollte er nicht einen neuen Teller nehmen? Haben Sie zu wenige Teller?«
Das ganze Restaurant hört zu. Ich habe nichts darauf zu erwidern.
»Lassen Sie uns nüchtern und realistisch sein: Es ist dasselbe Essen, nur aufgewärmt.«
»Ich bin mir ganz sicher, dass der Koch ein neues zubereitet hat.«
»Wirklich? Haben Sie gesehen, wie er das gemacht hat?«
Der Gast mag ja recht haben, aber im Augenblick hasse ich ihn trotzdem.
»Nein, aber … ich bin sicher, das hat er.«
»Holen Sie ihn her.«
»Was?«
»Holen Sie den Koch, damit er es mir selbst erklären kann.«
»Oh … er ist gerade sehr beschäftigt am Herd.«
»Daran habe ich keinen Zweifel, wenn ich bedenke, dass er die merkwürdige Angewohnheit besitzt, gleichzeitig das Geschirr zu spülen.«
Mein verkniffenes Lächeln ist mittlerweile zu einer steifen Joker-Grimasse gefroren.
»Ich werde hier warten, bis er ein paar Minuten Zeit findet, mir zu erklären, warum man mir zwei Mal denselben minderwertigen schleimigen Gatsch serviert und mich dann auch noch anlügt.«
Gatsch. Ein gutes Wort. Typisch, dass ausgerechnet ich einen Redegewandten unter den feindseligen Gästen abkriege.
Ich gehe zurück in die Küche und sage zu Tony: »Er will dich sprechen. Der Mann mit der Carbonara. Er meint, er sehe, dass es dieselbe ist wie vorher, weil es derselbe Teller sei.«
Tony ist gerade dabei, eine Entenbrust zu braten und sie mit einer Küchenzange zu wenden. Ich sage Ente. Falls in letzter Zeit in eine Tierhandlung eingebrochen wurde, könnte es auch ein Papagei sein.
»Was? Sag ihm, er kann mich mal. Wer ist er, Detective …«, er macht eine Pause, » … Teller?«
In einem geistigen Wettstreit zwischen Detective Teller und Tony würde ich mein Geld auf Ersteren setzen.
»Du bist die Bedienung, kümmere du dich darum. Das ist nicht mein Bier.«
»Du hast mir dasselbe Essen zurückgegeben! Was kann ich denn dafür, wenn er das merkt?«
»Setz deinen Charme ein. Das ist es doch, wofür du bezahlt wirst. Charmant sein.« Herausfordernd wandert sein Blick an mir hinauf und hinunter.
Der klassische Tony: unterschwellige Aggressivität, Mobbing am Arbeitsplatz und anzüglicher Sexismus in einer einzigen Anweisung.
»Ich kann ihm doch nicht sagen, dass seine Augen sich täuschen! Wir hätten einen neuen Teller nehmen sollen.«
»Verdammte Entenkacke«, sagt Tony, nimmt das Geschirrtuch von seiner Schulter und wirft es auf den Boden. »Verdammte Ente, die wird bald Kohle sein.«
Sich über die Auswirkung dieser Auseinandersetzung auf seine Kochkünste zu beschweren ist eine Scheinheiligkeit von Ausmaßen, die man nur vom All aus erkennen kann.
Er schaltet die Flamme unter der Pfanne aus, poltert dramatisch durch die Schwingtür und fragt: »Wer ist es?« Ich glaube ja nicht, dass diese Boxermanier etwas Gutes verheißt.
Ich schleiche an Tony vorbei und führe ihn an den besagten Tisch, wobei ich diplomatisch-beruhigende Geräusche von mir gebe.
»Was bitte ist das Problem?«, dröhnt Tony und stützt die Arme in die Hüften seines nicht ganz blütenweißen Kochkittels.
»Das ist das Problem«, sagt Mr. Keith, nimmt die Gabel auf und lässt sie angeekelt wieder fallen. »Wie kommen Sie dazu, das hier für akzeptabel zu halten?«
Tony stutzt. »Wissen Sie, was in eine Carbonara gehört? Das ist ein traditionelles italienisches Rezept.«
»Eier und Parmesan? Das hier aber schmeckt wie Schmelzkäse, den man durch das Suspensorium eines Ringkämpfers passiert hat.«
»Oh, verzeihen Sie. Ich wusste nicht, dass Sie Restaurantkritiker sind.«
Tonys letzte Embassy-Regal-Zigarette muss ihn in einen Rauschzustand versetzt haben, dass er so unhöflich zu einem Gast ist.
»Man muss nicht Michelin-Sterne verteilen, um zu erkennen, dass das hier grässlich schmeckt. Wie auch immer, nachdem Sie das Thema angeschnitten haben: Tatsächlich bin ich heute für eine Restaurantkritik im Star hier.«
Tony, der dank seiner Zigaretten-und-Schinkensandwich-Diät ohnehin blass ist, wird merklich blasser.
Wenn das hier keine Krise und es nicht unschlagbar unprofessionell wäre, würde ich lachen. Ich gebe vor, mir gedankenverloren über das Gesicht zu reiben, um den Impuls zu unterdrücken.
»Hätten Sie denn lieber was anderes?«, fragt Tony.
Tony verschränkt die Arme und wendet den Kopf in meine Richtung, während er das sagt, und mir ist klar, dass ich in der Küche einen Anschiss kriegen werde, im Sinne von: Hättest du damit nicht selbst fertigwerden können?
»Ehrlich gesagt nicht. Das letzte Mal, als ich Sie bat, mir ein neues Essen zu bringen, haben Sie es wieder aufgewärmt. Kriege ich diese Ausgeburt dann ein drittes Mal zu sehen?«
Mir fällt auf, dass Mrs. Keith erstaunlich entspannt wirkt. Vermutlich ist sie froh, dass jemand anders den Ärger abkriegt. Es sei denn, sie ist eine falsche Ehefrau, eine Art Kritiker-Stichwortgeberin.
»Ich dachte, Sie wollten es einfach heißer?«
»Ja, einen heißeren Ersatz, nicht noch mal denselben Dreck.«
Tony wendet sich an mich: »Warum hast du mir nicht gesagt, dass er ein neues Essen will?«
Ich runzle die Stirn. »Äh. Hab ich nicht …?«
»Nein, du hast gesagt, dass ich es warm machen soll.«
Ich bin derart perplex ob dieser schamlosen Unwahrheit, dass mir keine Erwiderung einfällt.
»Nein, das stimmt nicht, ich habe gesagt …« Ich verstumme, weil es ein zu großer Verrat wäre, unsere gesamte Unterhaltung wiederzugeben. Aber erwartet er wirklich von mir, dass ich mich hinstelle und die ganze Schuld auf mich nehme?
Schweigen. Ja, genau so ist es.
»Willst du behaupten, dass ich lüge?«, fährt Tony fort, und fasziniert folgt das ganze Lokal dem Spektakel.
Ich mache den Mund auf, um zu antworten, aber es kommt kein Wort heraus.
»Oh, tatsächlich. Das tust du. Weißt du was? Du bist gefeuert!«
»Was?!«
Ich denke noch, dass er einen Witz macht, aber Tony deutet auf die Tür. Callum, der auf der anderen Seite des Raums steht, ist schockiert; mit offenen Mund hält er einen riesigen Pfefferstreuer in den Händen und rührt sich nicht.
»Na ja, das kommt mir ein bisschen übertrieben vor …«, sagt Mr. Keith und sieht plötzlich geläutert aus. Genau darum hat Tony das gemacht. Nur so kann er wieder Oberhand gewinnen und hoffen, dass die Besprechung nicht ausschließlich auf der nach alten Socken schmeckenden Carbonara herumreitet.
Man könnte eine Stecknadel fallen hören – alles schweigt, außer Dean Martin, der sein »Scusa mea, but you see, back in old Napoli …« schmachtet.
Ich ziehe die Schürze ab, schmeiße sie auf den Boden und schnappe mir mit zittrigen Händen meine Handtasche hinter der Bar.
Ohne noch einmal zurückzublicken, schieße ich hinaus. Tränen steigen hoch und brennen mir in den Augen, aber die werden mich ganz bestimmt nicht beim Weinen erwischen.
Als ich um die Ecke bin und nach einem Taschentuch suche, weil meine nicht-wasserfeste Wimperntusche im Sinkflug begriffen ist, bekomme ich eine Nachricht von Tony.
Sorry, Baby. Manchmal muss man ihnen einfach einen Kopf liefern. In vierzehn Tagen bist du wieder da, und wenn das Kritikerarsch es rausfindet, dann sag, dass deine Mum gestorben ist oder so was und wir Mitleid mit dir hatten. Nimm dir einfach Urlaub! Unbezahlt natürlich.
That’s Amore.
Dann fällt mir etwas anderes ein.
Verdammte Scheiße, ich habe meinen Mantel vergessen!