Val McDermid
Rachgier
Ein Fall für Carol Jordan und Tony Hill
Thriller
Aus dem Englischen von Doris Styron
Knaur e-books
Val McDermid wurde 1955 in der Hafenstadt Kirkcaldy im schottischen Fife geboren. Sie stammt aus einer Bergarbeiterfamilie und ging als erste aus ihrer Familie auf eine Universität, und das gleich in Oxford. Nach dem Studium der Englischen Literatur arbeitete sie zunächst als Dozentin, dann lange als Journalistin bei namhaften britischen Zeitungen. Heute ist sie eine der erfolgreichsten britischen Autorinnen von Thrillern und Kriminalromanen. Ihre Bücher erscheinen weltweit in mehr als vierzig Sprachen. 2010 erhielt sie für ihr Lebenswerk den Diamond Dagger der britischen Crime Writers’ Association, die höchste Auszeichnung für britische Kriminalliteratur. Weltweit haben sich ihre Romane bisher elf Millionen Mal verkauft.
Die englische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Insidious Intent« bei Little, Brown, London.
© 2018 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
© 2017 by Val McDermid
© 2018 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Maria Koettnitz
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur GmbH, München
Coverabbildung: Arcangel Images/Jarno Saren und © FinePic/shutterstock
ISBN 978-3-426-45033-8
Hätte Kathryn McCormick geahnt, dass sie nur noch knapp drei Wochen zu leben hatte, hätte sie sich auf Suzannes Hochzeit vielleicht mehr zu amüsieren versucht. Stattdessen war sie, wie üblich, eher resigniert und bemühte sich, nicht allzu bedrückt dreinzuschauen. Mit leerem Blick starrte sie die anderen Gäste beim Tanzen an, als sehe überhaupt niemand zu.
Es war genauso wie jeden Tag im Büro. Auch dort war Kathryn immer die Außenseiterin. Obwohl ihre leitende Position ihr sehr wenig wirkliche Autorität verlieh, reichte es aus, um sie von allen anderen abzugrenzen. Jedes Mal, wenn sie die Teeküche betrat, um sich einen Kaffee zu machen, bemerkte sie, dass die Unterhaltung – worum auch immer es dabei ging –, entweder ganz abbrach oder von vertraulichen zu belanglosen Themen wechselte.
Es war wirklich dumm gewesen zu glauben, heute würde es anders sein. Sie hatte einmal einen Spruch gesehen, der ihr im Gedächtnis geblieben war: Die Definition von Irrsinn ist, das Gleiche immer wieder zu tun, aber andere Ergebnisse zu erwarten. Legte man diesen Maßstab an, war sie zweifellos bekloppt. An einem Samstagabend am Rand einer Hochzeitsfeier zu sitzen und zu erwarten, dass sie im Mittelpunkt der Unterhaltung und des Gelächters stehen werde, war ganz genau dieses sich stets wiederholende Verhalten, das nie etwas brachte als völlig vorhersehbares Scheitern.
Verstohlen warf Kathryn einen Blick auf ihre Uhr. Es wurde erst seit einer halben Stunde getanzt, aber es kam ihr viel länger vor. Nikki von der Buchhaltung ließ die Hüften kreisen wie eine Stangentänzerin, während Ginger Gerry vor Begeisterung den Mund aufriss. Anya, Lynne, Mags und Triona standen, ein Kleeblatt bildend, mit anliegenden Ellbogen, zuckenden Bewegungen und rhythmisch wippenden Köpfen beisammen. Emily und Oli wiegten sich im Gleichschritt, schauten sich unverwandt in die Augen und lächelten sich zu wie zwei Idioten. Idioten, die wahrscheinlich am Ende des Abends zusammen nach Hause gehen würden.
Sie konnte sich kaum noch daran erinnern, wann sie zum letzten Mal Sex gehabt hatte. Seit über drei Jahren war sie von Niall getrennt. Trotzdem fühlte es sich immer noch wie ein Schnitt mit dem Rasiermesser an. Eines Abends war er nach Haus gekommen, roch nach scharfem, herbem Bier, und seine Haut glänzte leicht vom Schweiß. »Ich habe mich für eine Stelle in Cardiff abwerben lassen. Da habe ich mein eigenes Konstruktionsteam«, sagte er, und seine Begeisterung ließ sich unmöglich übersehen.
»Das ist ja toll, Schatz.« Kathryn glitt vom Hocker an der Frühstückstheke, warf die Arme um ihn und versuchte, die Stimme in ihrem Kopf zu ersticken, die rief: »Cardiff? Was soll ich denn verdammt noch mal in Cardiff?«
»Außerdem ’ne große Gehaltserhöhung«, sagte Niall, stand aber so merkwürdig steif da und reagierte nicht auf ihre Umarmung.
»Wow! Wann ziehen wir also um?«
Er löste sich von ihr. Kathryns Magen verkrampfte sich. »Die Sache ist so, Kath.« Er schaute auf seine Füße hinunter. »Ich will allein umziehen.«
Die Worte ergaben keinen Sinn. »Was soll das heißen, allein? Kommst du dann nur an den Wochenenden nach Haus? Das ist doch verrückt. Ich kann dort Arbeit finden, ich habe Qualifikationen, mit denen man auch dort was anfangen kann.«
Er wich einen Schritt zurück. »Nein. Schau, es ist nicht leicht, das zu sagen … Ich bin nicht glücklich, schon eine ganze Weile ist es so, und ich meine, es ist für uns beide das Beste. Dass ich wegziehe, noch mal neu anfange. Wir können beide noch mal von vorn anfangen.«
Und das war’s. Na ja, nicht ganz. Es gab Tränen und Streit, und sie schnitt aus all seinen Calvin-Klein-Shorts den Schritt heraus. Aber er ging trotzdem. Sie verlor ihren Partner, ihre Würde und ihr Zuhause, denn die Hälfte des wunderschönen Reihenhauses in ihrem Lieblingsstadtteil von Bradfield gehörte Niall, und er bestand darauf, das Haus zu verkaufen. Deshalb wohnte sie nun in einem kleinen Schrank von Wohnung in einem Wohnblock aus den 1960er-Jahren, die dem Viertel zu nahe lag, wo sie zusammen gelebt hatten. Es war ein Fehler gewesen, in eine Wohnung in der Nachbarschaft zu ziehen, wo sie glücklich gewesen war, in der Nähe des Hauses, an dem sie jeden Tag auf dem Weg zur Straßenbahn vorbeigehen musste. Um das zu vermeiden, versuchte sie es mit einem Umweg von zehn Minuten, aber das war noch schlimmer. Ein furchtbarer Schlag ins Gesicht. Wenn sie dort vorbeiging, kam ab und zu das Paar heraus, das das Haus gekauft hatte, und sie winkten kurz und lächelten ihr verlegen zu.
Seit damals hatte Kathryn ein paar zögernde Versuche unternommen, einen neuen Partner zu finden. Sie registrierte sich bei einer Online-Singlebörse und ging Dutzende von Kandidaten durch. Wenn sie sich ausmalte, dass sie deren Partnerin wäre, schien kein einziger auch nur entfernt vorstellbar. Einer von Nialls früheren Kollegen hatte ihr eine SMS geschickt und sie zum Essen eingeladen. Aber es war nicht gut gelaufen. Er hatte offensichtlich geglaubt, sie sei für Sex aus Mitleid zu haben, und war gar nicht erfreut, als sie ihm sagte, er solle sich verpissen. Beim vierzigsten Geburtstag ihrer Cousine hatte sie sich mit einem netten Jungen aus Nordirland zusammengetan. Sie waren zusammen im Bett gelandet, aber ein überragender Erfolg war es nicht gerade gewesen; er war nach Belfast entkommen und hatte sein Versprechen, sie anzurufen, nicht eingelöst.
Das war wahrscheinlich das letzte Mal gewesen, dass sie Sex hatte. Vor fünfzehn Monaten. Und dabei waren das doch angeblich die besten Jahre für Sex. Kathryn unterdrückte einen Seufzer und nahm einen weiteren Schluck Weißwein. Sie musste aufhören, sich in Selbstmitleid zu ergehen. Alle Zeitschriften, die sie je gelesen hatte, waren bei diesem Thema derselben Meinung– nichts schreckte einen Mann so sehr ab wie Selbstmitleid.
»Ist hier besetzt?« Eine tiefe, warme Männerstimme.
Kathryn fuhr leicht zusammen und wandte sich um.
Ein Fremder stand da und hatte die Hand auf die Lehne des Stuhls neben ihr gelegt. Ein nicht schlecht aussehender Unbekannter, bemerkte sie beiläufig, während sie stammelte: »Nein. Ich meine, ja, da saß jemand, aber jetzt nicht mehr.« Kathryn war es gewohnt, eventuelle Kunden einzuschätzen. Etwas größer als eins achtzig, dachte sie. Wenig über dreißig. Mittelbraunes Haar, leicht grau an den Schläfen. Klar ausgeprägte, schön geformte Augenbrauen über hellblauen Augen, die sich beim Lächeln mit Fältchen umgaben. Wie jetzt. Sein Nasenrücken wirkte etwas verdickt, als sei er einmal gebrochen gewesen und nicht gut eingerichtet worden. Wenn er lächelte, sah man seine leicht schiefen Zähne, aber das Lächeln war trotzdem einnehmend.
Er setzte sich neben sie. Anzughose, blendend weißes Hemd, der oberste Knopf offen, die blaue Seidenkrawatte gelockert. Seine Fingernägel waren gerade geschnitten und gepflegt, er war glatt rasiert und hatte einen Kurzhaarschnitt. Sie mochte Männer, die auf ihr Äußeres achteten. Niall war in der Beziehung immer sehr penibel gewesen. »Ich bin David«, sagte er. »Gehören Sie zur Seite der Braut oder des Bräutigams?«
»Ich bin eine Kollegin von Suzanne«, antwortete sie. »Ich heiße Kathryn. Mit y.« Sie hatte keine Ahnung, wieso sie das sagte.
»Nett, Sie kennenzulernen, Kathryn mit y.« Es klang belustigt, aber nicht spöttisch, fand sie.
»Sind Sie denn ein Freund von Ed?«
»Ich kenne ihn vom Fünferfußball her.«
Kathryn kicherte. »Das hat der Trauzeuge in seiner Rede ja ausgewalzt.«
»Allerdings.« Er räusperte sich. »Ich habe bemerkt, dass Sie hier alleine sitzen. Da dachte ich, vielleicht hätten Sie gern Gesellschaft?«
»Es macht mir nichts aus, allein zu sein«, sagte sie und bedauerte es, sobald es heraus war. »Aber verstehen Sie mich nicht falsch, es ist wirklich schön, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
»Mir macht es auch nichts aus, allein zu sein, aber manchmal ist es nett, sich mit einer attraktiven Frau zu unterhalten.« Und wieder dieses Lächeln. »Ich vermute, Sie tanzen nicht besonders gern? Also werde ich nicht vorschlagen, dass wir auf der Tanzfläche zeigen, was wir draufhaben.«
»Nein, ich mache mir nicht viel aus Tanzen.«
»Ich hab die Musik satt. Lieber würde ich mich unterhalten. Haben Sie Lust, zur Bar hinüberzugehen? Dort ist es nicht so laut, wir können reden, ohne dass wir einander anschreien müssen.«
Kathryn konnte es kaum fassen. Na gut, George Clooney war er nicht gerade, aber er wirkte adrett, war höflich und attraktiv und benahm sich, als habe er Interesse an ihr, so außergewöhnlich das auch sein mochte.
»Gute Idee«, erwiderte sie, schob ihren Stuhl zurück und stand auf.
Während sie zwischen den Tischen auf die Tür des Tanzsaals zugingen, umfasste der Mann, der sich David nannte, mit einer Hand ihren Ellbogen – eine fürsorgliche Geste. Kathryn McCormicks Mörder war jedoch alles andere als fürsorglich.
Detective Chief Inspector Carol Jordan zog ihre dicke Wachsjacke über und setzte eine Laufmütze auf ihr vom Schlaf zerzaustes Haar. Ein schwarz-weißer Collie tanzte um ihre Füße herum und konnte es kaum erwarten, in die kühle Morgenluft hinauszukommen. Sie band die Schnürsenkel ihrer robusten Wanderstiefel und trat in einen leichten Regenguss hinaus. Dann schloss sie die Tür der umgebauten Scheune hinter sich und ließ sie leise ins Schloss fallen.
Gemeinsam gingen sie los, Frau und Hund stiegen auf einer weitläufigen Zickzackroute über das Moor hinauf. Die Konzentration darauf verdrängte für ein paar glückliche Augenblicke den Aufruhr in Carols Kopf, aber er war zu hartnäckig, als dass es für längere Zeit funktionieren konnte. Der Anruf, der am Abend zuvor aus heiterem Himmel gekommen war, hatte jede Möglichkeit einer ruhigen Nacht zunichtegemacht, und jetzt galt das wohl genauso für ihre Ruhe am Morgen. Es gab kein Entkommen vor den scharfen Vorwürfen, die der Anrufer ihr entgegengeschleudert hatte.
Die jahrelange Polizeiarbeit an vorderster Front hatte bei Carol gerade genug Gründe für Reuegefühle hinterlassen. Jeder Polizist kannte den bitteren Beigeschmack des Misserfolgs, die Anspannung und Beklemmung in der Brust, wenn es darum ging, die schlimmste Nachricht der Welt zu überbringen. Die Fälle, in denen sie den Betroffenen keinen Trost hatten bringen können, weil in deren Leben plötzlich eine Lücke klaffte, diese Fälle schmerzten sie noch immer. Wenn sie durch bestimmte Straßen fuhr, in bestimmten Landstrichen unterwegs war oder gewisse Städte besuchte, von denen sie wusste, dass sich dort Unsägliches ereignet hatte, erfüllte sie das mit einem Gefühl quälender Unzulänglichkeit.
All das gehörte jedoch zum Beruf dazu. Alle Cops an jedem Ort, die ihre Arbeit auch nur mit etwas Sensibilität verrichteten, hatten diese Bürde zu tragen. Aber diese Sache war anders. Mit dieser letzten Dosis an Schuld trug sie eine persönliche Last.
Damals, als sie ihre Stelle, ihr Abzeichen und ihren Dienstgrad aufgab, hatte sie geglaubt, den Folgen ausweichen zu können, die sich in ihrem Inneren wie ein verknoteter Strick immer fester zusammenzogen. Dass sie einen Serienmörder unerbittlich verfolgt hatte, kostete ihren Bruder und dessen Frau das Leben. Welchen Grund konnte es überhaupt noch geben, im Dienst zu bleiben? Sie hatte nichts mehr zu tun haben wollen mit einem Beruf, der einen so hohen Preis verlangte.
Aber andere hatten nur zu gut gewusst, welche Schwachstellen man nutzen konnte, um sie zur Polizeiarbeit zurückzulocken wie die Motte zur Flamme.
Nr. 1: Langeweile. Sie hatte sechs Monate damit zugebracht, die umgebaute Scheune ihres Bruders vollkommen auseinanderzunehmen und zu renovieren, wobei sie die nötigen Fertigkeiten von alten Männern in der Kneipe und über YouTube-Videos lernte. Sie hatte unbedingt alle Spuren des dort Geschehenen beseitigen wollen, als könne sie durch den Umbau sich selbst davon überzeugen, dass Michaels und Lucys Tod eine Halluzination war. Als es endlich auf die letzte Phase ihres Projekts zuging, hatte ihre Wut sich so weit gelegt, dass sie begriff: Ihre selbst gewählte Aufgabe begann, sie zu langweilen. Sie war Ermittlerin, keine Bauhandwerkerin, wie der Mann, der in ihrem Gästezimmer schlief, ihr mit allem Nachdruck klargemacht hatte.
Nr. 2: Einsamkeit. Carols Freundschaften waren immer untrennbar mit ihrer beruflichen Tätigkeit verknüpft gewesen. Ihr Team war ihre Familie, und manche der Kollegen hatten es geschafft, die Schranke zu überwinden, und waren ihre Freunde geworden. Seit sie die Stelle aufgegeben hatte, war sie mehr oder weniger zu allen auf Distanz gegangen. Einer ihrer Nachbarn, George Nicholas, hatte versucht, ihre Abwehrhaltung zu durchbrechen. Er war großzügig, und dass sie den Hund hatte, ging auf ihn zurück. Flash stammte von seiner eigenen Hütehündin ab, war aber ein aus der Art geschlagener Spross, der sich vor Schafen fürchtete. Carol hatte diese Fehlbesetzung übernommen, weil sie fand, dass sie irgendwie zusammengehörten. George hatte das als ein Zeichen für eine engere Verbindung zu ihm verstanden, doch er war nicht der Mann, den sie wollte. Bei George würde sie sich nie zu Hause fühlen können. Und eine Rückkehr zur Polizei? Damit würde sie in den Kreis der Leute zurückkehren, die sie glauben ließen, dass es einen Ort gab, wo sie hingehörte.
Nr. 3: Stolz. Das war die entscheidende Schwachstelle, die sie empfänglich machte für ein Angebot, das sie hätte ablehnen sollen; sie hatte es aber nicht geschafft. Stolz auf ihr Können, Stolz auf ihre Intelligenz, Stolz auf ihre Fähigkeit, Antworten zu finden, wenn das niemandem sonst gelang. Sie wusste, dass sie gut war. Sie glaubte, die Beste zu sein, besonders wenn sie ihr handverlesenes Team um sich hatte. Andere hätten das vielleicht für arrogant gehalten, Carol Jordan wusste jedoch, dass es etwas gab, auf das sie sich etwas einbilden konnte. Niemand konnte diese Arbeit besser erledigen. An vielem hatte sie Zweifel, aber nicht an ihrer Eignung als Chefin.
Und letztendlich, der ausschlaggebende wunde Punkt. Nr. 4: Versuchung. Man hatte ihr viel mehr geboten als einfach die Chance, zu ihrer Arbeit zurückzukehren, über die sie sich definiert und die sich für sie so lange gelohnt hatte. Man hatte sich etwas Neues ausgedacht, etwas Vielversprechendes und Grandioses, etwas, das vielleicht zukünftig die Polizeiarbeit verändern würde. Und sie war ausgewählt worden, diese Unternehmung zu leiten. Ein regionales Team von Sonderermittlern, das Regional Major Incident Team, kurz ReMIT, das alle unverhofften, gewaltsamen Todesfälle übernehmen würde, die grausamsten Sexualverbrechen und die abscheulichsten Kindesentführungen im Bereich von sechs verschiedenen Polizeiapparaten. Vielleicht der erste zögernde Schritt auf eine landesweite Behörde zu, vergleichbar dem FBI. Wer sonst konnte das in die Hand nehmen, wenn nicht Carol Jordan?
Aber sie hatte es vermasselt, bevor man sie überhaupt fragen konnte. Ein so haarsträubend dummer Fehler, dass die einzige Möglichkeit, die Sache noch zu retten, in einer dreisten Aktion gut gemeinter Korruption bestand. Nicht eine Sekunde lang hätte sie in Betracht ziehen sollen, sie zu akzeptieren, und schon gar nicht, sich tatsächlich überreden zu lassen. Das Vertrauen in ihre Fähigkeiten hatte sie blind gemacht, es hatte ihr geschmeichelt, dass ein ehrenwerter Mann seinen guten Ruf aufs Spiel setzen würde, um sie dorthin zu versetzen, wo sie hingehörte, und schließlich waren ihr die Ansprüche ihres eigenen Egos zum Verhängnis geworden.
Und jetzt hatte sie noch mehr Blut an den Händen und konnte niemandem die Schuld daran geben als sich selbst.
Carol trieb ihren Körper energischer an, um die Steigung zu bewältigen, sodass ihre Muskeln schmerzten und ein Brennen in der Lunge einsetzte. Flash rannte kreuz und quer vor ihr über den Hügel, plötzlich schreckte eine Gruppe Kaninchen auf und verteilte sich hoppelnd über die Grasfläche des Moors; die schmutzig weißen Stummelschwänze sahen aus, als hätte man alte weiße Tennisbälle in die Gegend geschleudert. Carol verlangsamte nicht einmal ihre Schritte, denn von der Erbitterung erfüllt, die sie nur gegen sich selbst richtete, nahm sie nichts um sich herum wahr.
Was nun? Der einzige Grundsatz, an den sie sich immer gehalten hatte, war ihr Streben nach Gerechtigkeit. Dadurch hatte sie manchmal in dunkle Regionen vordringen müssen und hatte sich gezwungen gesehen, manche Wege nur widerstrebend zu nehmen, aber es war nie vergebens gewesen. Verbrecher der Gerechtigkeit zuzuführen war für sie immer die Erfüllung gewesen. Dieses Gefühl, eine Art Gleichgewicht in der Welt wiederherzustellen, brachte auch ihr eigenes Leben ins Gleichgewicht. Aber hier konnte es keine Gerechtigkeit geben.
Wenn Carol zugab, dass sie an dem Komplott beteiligt gewesen war, würde sie nur ein ganz kleiner Teil des Schadens und der Zerstörung sein. Aber es würde ReMIT bereits kaputtmachen, bevor die SoKo überhaupt in Gang gekommen war und richtig arbeitete. Und das würde die Chancen von Schwerverbrechern verbessern, sich den Konsequenzen ihrer Taten zu entziehen. Und sie würde die Karrieren von Kollegen zerstören, die sich auf sie verlassen hatten. Wahrscheinlich würde sie im Gefängnis landen. Und – was noch schlimmer war – andere auch.
Die Schuld daran trug sie. Sie hatte Blut an ihren Händen. Es gab nur eine Rettungsmöglichkeit. Sie musste ReMIT zum Erfolg führen. Wenn sie daraus ein Eliteteam formen konnte, das wirklich unter den schwierigsten Umständen Verhaftungen und Verurteilungen erreichte, wenn sie Mörder hinter Gitter bringen konnten, bevor noch mehr Menschen auf sinnlose Weise das Leben genommen wurde, wenn sie wirklich einen Unterschied machte … Sie würde trotzdem noch für diese anderen Todesfälle in der Schuld stehen. Aber zumindest würde es etwas geben, das auf der anderen Seite der Bilanz zu Buche schlagen konnte.
»Ich mache mir Sorgen um Torin«, sagte Detective Sergeant Paula McIntyre, als der Jugendliche sich vom Wagen entfernte und, ohne sich ganz umzudrehen, zum Abschied ein Winken andeutete.
Dr. Elinor Blessing schaltete das Radio aus. »Ich auch.« Tagelang schon hatte es sie beschäftigt. Es war ihr letzter Gedanke, bevor sie sich dem Vergessen während des Schlafs hingab, und der erste beim Aufwachen.
Früher am Morgen hatte sie wegen des aufdringlichen Klingelns vom iPhone ihrer Partnerin gestöhnt. Verdammte Kirchenglocken. Wie konnte ein so kleines Stück Silikon so viel Lärm machen? Wenn das so weiterging, würde sie zum Quasimodo der Notaufnahme werden. »Paula«, hatte sie schlaftrunken genörgelt. »Heute ist mein freier Tag.«
Paula McIntyre schmiegte sich an Elinor und küsste sie sanft auf die Wange. »Ich weiß. Aber ich muss doch dafür sorgen, dass ich und Torin duschen und frühstücken und rechtzeitig losgehen. Schlaf ruhig weiter. Ich werde ganz leise sein, du wirst nicht mal merken, dass ich da bin.«
Elinor brummte, überzeugt hatte sie das nicht. Ein Beben durchlief die Matratze, als Paula aus dem Bett sprang und auf die Dusche zuging. Die Kombination der beunruhigenden Sorge um Torin, des klappernden Ventilators und der rauschenden Dusche war zu viel. Jede Aussicht, noch einmal einschlafen zu können, war in weite Ferne gerückt. Elinor resignierte angesichts des Unabwendbaren, stieß einen kehligen Laut der Empörung aus und stand auf.
In ihren Morgenmantel gehüllt, stieg sie die Treppe zum Dachausbau hinauf, den ihr gemeinsamer vierzehnjähriger Schützling in sein Männerreich verwandelt hatte. Nach dem Anklopfen steckte Elinor den Kopf durch die Tür. Denn seit sie Torin kürzlich aufgenommen hatten, lasen sie sich pflichtbewusst Kenntnisse darüber an, wie man als Eltern eines Jugendlichen überlebt. »Morgen, Torin«, sagte sie und klang wesentlich heiterer, als sie sich fühlte. »Gut geschlafen?«
Sein Brummen klang ähnlich wie ihr eigenes Erwachen, nur eine Oktave tiefer.
»Zeit aufzustehen.« Elinor wartete, bis ein langes, dünnes, behaartes Bein unter der Steppdecke hervorgestreckt wurde, und zog sich dann ins untere Stockwerk in die Küche zurück. Kaffee. Eine Schale mit frischem Obst für Torin. Toast für Paula. Zwei Eier zurechtgelegt, die für Torin pochiert werden sollten, Baked Beans schon im Topf. Für alle gemeinsam Saft. Alles gerichtet und startbereit, ohne auch nur einen Moment nachdenken zu müssen. Was sie gedanklich beschäftigte, war nicht das Frühstück, sondern der Junge.
Rein zufällig war er Teil ihres Lebens geworden. Die beiden Frauen hatten keinen biologischen Hang zur Mutterschaft verspürt, aber nachdem Torins Mutter einem Mord zum Opfer gefallen war, hatte er sich strikt geweigert, aus Bradfield wegzuziehen und bei seiner Tante und Großmutter zu leben, entfernten Verwandten, was die Gefühle, aber auch die geografische Lage betraf. Sein Vater arbeitete im Ausland und war schon viele Jahre kaum jemals anwesend gewesen. »Ich muss da bleiben, wo meine Freunde sind«, hatte er beharrt, stur, aber nicht unvernünftig, fand Elinor. Die Freundschaft zwischen Elinor und seiner Mutter und Paulas berufliche Mitwirkung an der Mordermittlung hatten irgendwie dazu geführt, dass Torin in ihrem Haushalt und in ihrer Obhut landete. Beide wussten nicht recht, wie sich das zugetragen hatte. Aber sie waren auch nicht bereit, einen Jungen zurückzuweisen, der seinen Rettungsanker verloren hatte.
So hatte sich ihr gemeinsames Leben erweitert und schloss nun einen Jugendlichen mit ein. Eine naheliegende Verbindung war das nicht gewesen, aber schon seit Monaten ging es ganz gut. Elinor war erstaunt gewesen und, wenn sie ehrlich war, sogar etwas besorgt, dass Torin so gut mit dem Tod seiner Mutter fertigzuwerden schien. Ihr gemeinsamer Freund, der klinische Psychologe Tony Hill, hatte sie jedoch beruhigt. »Trauer ist etwas Individuelles. Manche gehen damit offener um, manche behalten es eher für sich. Für manche ist es kompliziert, weil ihre Beziehung zu der toten Person nicht einfach war. Für andere – wie Torin zum Beispiel – ist es relativ problemlos. Er ist traurig, er hat einen geliebten Menschen verloren, aber er ist nicht von Zorn oder Verbitterung erfüllt, mit denen er nicht klarkommt. Bestimmt werdet ihr unerwartete Ausbrüche erleben, die aus heiterem Himmel zu kommen scheinen. Allerdings glaube ich nicht, dass er eine unverarbeitete Reaktion internalisiert hat, die er vor euch verbirgt.« Dann hatte er sein schiefes Lächeln aufgesetzt und seine eigene Aussage abgeschwächt. »Natürlich kann ich mich auch irren.«
Rein äußerlich betrachtet, hatte er recht gehabt. Torin und die Frauen hatten sich aufeinander eingestellt. Elinor und Paula hatten wiederentdeckt, dass Brettspiele Spaß machen konnten und es davon eine ganz neue Generation gab, die nur darauf wartete, gekauft und gespielt zu werden. Torin hatte sich Filme angeschaut, die anzusehen er sonst niemals in Betracht gezogen hätte. Langsam und behutsam hatten sie erfahren, was sie über einander wissen mussten.
Seine Leistungen in der Schule hatten sich nach dem plötzlichen Abfall durch den Schock nach dem Tod seiner Mutter wieder verbessert, und er schien sich wegen der bevorstehenden Prüfungen nicht zu sorgen. Paula war beunruhigt gewesen, weil sie meinte, er treffe sich kaum mit Freunden. In seinem Alter hatte sie zu einer Gruppe von Mädchen gehört, die ewig in ihren Zimmern zusammensaßen, mit Make-up experimentierten, die Knutschvarianten der Jungen verglichen, die sie geküsst hatten – denn Paula hatte damals noch keine Möglichkeit gefunden, sich selbst zu verstehen –, und über alle klatschten, die nicht ihrem erlauchten Kreis angehörten. Bei den Jungen gab es die gleichen engen freundschaftlichen Bindungen, wenn sie auch nicht wusste, worüber sie sprachen, nur, dass es etwas anderes war.
In Torins Leben lief es nicht so. Gelegentlich traf er sich samstags mit Freunden, um in den teuren Designerläden herumzuhängen, die die Straßen hinter dem Bellwether Square säumten, aber meistens war er lieber allein. Allerdings entfernte er sich nie weit von den diversen Displays, die ihm wie eine Nabelschnur als Verbindung dienten. Aber Elinor, deren Kollegen im Bradfield Cross Hospital einer Vielfalt von Alterstufen und sozialen Schichten angehörten, versicherten ihr, dass Teenager heutzutage eben so seien. Sie verständigten sich über Selfies und Snapchat, Tagging und Twitter wie über Bilder bei Instagram. Und in der nächsten Saison wäre es bestimmt schon etwas ganz anderes. Persönliche Kommunikation war schließlich so was von zwanzigstes Jahrhundert.
Aber im Lauf der letzten zwei oder drei Wochen hatte sich etwas geändert. Torin war in einem düsteren Schweigen versunken und reagierte kaum auf ihre Fragen oder Bemerkungen. Er war zu dem brummigen, mundfaulen Teenager geworden, der dem Klischee entsprach, trug bei Tisch nichts zur Unterhaltung bei und flüchtete in sein Zimmer, sobald er das Essen in sich hineingeschaufelt hatte. Als Elinor ihn fragte, ob er über seine Mutter sprechen wolle, fuhr er zusammen, als hätte sie ihn geschlagen. »Nein«, war die Antwort, während er die dunklen Augenbrauen zusammenzog und finster dreinblickte. »Was gibt es da zu reden?«
»Ich habe mich nur gefragt, ob sie dir vielleicht mehr fehlt als sonst«, erklärte sie und blieb angesichts seiner feindseligen Reaktion stoisch.
Er seufzte. »Ich würde sie ja doch nur enttäuschen.« Dann hatte er seinen Stuhl zurückgeschoben, obwohl noch ein Stück Pizza auf seinem Teller lag. »Ich muss Hausaufgaben machen.«
Und jetzt stritt auch Paula das nicht mehr ab, was Elinor Sorge bereitet hatte. Es gab gute Gründe, wegen Torin beunruhigt zu sein. Während Paula am Steuer sich in den langsamen morgendlichen Verkehr einfädelte, wählte Elinor ihre Worte sorgfältig. »Ich glaube, etwas treibt ihn um. Zusätzlich zum Tod seiner Mutter, meine ich. Etwas, das wir nicht herausbekommen, weil es außerhalb unserer Erfahrung liegt.«
»Was sollen wir also machen?«
»Meinst du, es würde etwas bringen, mit jemandem in der Schule zu reden? Seine Klassenlehrerin war doch nach Bevs Tod ziemlich hilfreich.«
Paula reihte sich zum Abbiegen nach rechts ein. »Es ist einen Versuch wert. Soll ich Tony bitten, mal zum Abendessen zu kommen, um zu sehen, ob er Torin zum Reden bringen kann?«
»Heben wir uns das doch auf, bis wir gar nicht mehr weiterkommen.« Elinor wollte sich nicht entmutigen lassen. »Vielleicht geht es nur darum, dass er vierzehn und kein Mann im Haus ist, mit dem er reden kann.«
»Er kann jederzeit auf FaceTime mit seinem Dad reden. Und er unterhält sich oft stundenlang mit Tony. Ich glaube nicht, dass wir uns deshalb massive Vorwürfe machen müssen, Elinor«, meinte Paula spitz. Elinor hoffte, es hatte nur mit dem Verkehr zu tun, der sie ärgerte.
»Wenn du meinst. Aber …«
Paula fragte nach. »Aber was?«
Elinor lächelte leicht belustigt. »Carol Jordan sagt immer, dass du die Beste im Vernehmen bist, die sie je gesehen hat. Und du schaffst es nicht, dass er frei redet. Deshalb meine ich, es muss wohl ernst sein.«
Paula schüttelte den Kopf. »Er ist kein Verdächtiger, El. Er ist ein Jugendlicher mit einem Hormonschub, der einen tragischen Verlust erlitten hat. Ich mach mir Sorgen, dass er alles in sich hineinfressen könnte, nicht, dass er kriminelle Handlungen verheimlicht.«
Elinor strich sich ihr langes schwarzes Haar aus dem Gesicht und genoss das Gefühl, es offen zu tragen, statt ordentlich frisiert wie während der Arbeit. Sie lachte leise vor sich hin. »Du hast recht. Hast es mir mal wieder gezeigt. Danke, du schaffst es immer, mich zu beruhigen.«
Paula antwortete spöttisch. »Auch wenn ich mich selbst nicht beruhigen kann?«
»Besonders wenn ich diesen leisen Zweifel bemerke, der mir sagt, dass du auch nur ein Mensch bist.« Sie streichelte Paulas Arm. »Was liegt bei dir heute vor?«
»Na ja, mit ReMIT kommen wir ja erst langsam in Fahrt. Der Fall mit den Internet-Trollen, das war eher ein Zufall als etwas, das uns offiziell zugeteilt wurde. Wir werden also abwarten und sehen müssen, was auf Carols Schreibtisch landet. Ich freue mich darauf.«
Elinor lächelte. »Ich weiß.« Sie rutschte auf ihrem Sitz zur Seite und reckte den Hals, um die Straße besser übersehen zu können. »Halt nach der Ampel an, ich geh hier durch die Ladenpassage, dann brauchst du nicht um den Block zu fahren und kommst um den chaotischen Verkehr auf dem Campion Way herum.«
Paula hielt an und beugte sich hinüber, um Elinor mit einem Kuss zu verabschieden. »Es ist etwas, und zugleich ist es nichts«, sagte sie. »In diesem Alter sieht es immer wie das Ende der Welt aus. Aber dann ist es das nie.« Sie klang zuversichtlich, aber Elinor sah den Zweifel in Paulas blauen Augen.
Als sie durch die morgendliche Menschenmenge schritt, sagte sich Elinor, sie müsse die Worte ihrer Partnerin eben so hinnehmen. »Etwas und nichts.«
Obwohl sie selbst das nicht einen Augenblick glaubte.
Carol hatte die Tür der Scheune fast lautlos geschlossen; aber Tony lebte schon so lang allein, dass ihm nahezu unmerkliche Veränderungen in seiner Umgebung selbst im Schlaf nicht entgingen. Der Teil der Scheune, den Michael Jordan zur Gästewohnung umgebaut hatte, war auch sein Softwarelabor gewesen und praktisch schalldicht. Aber trotzdem war Tony durch Carols Weggehen aus seinem stets leichten Schlaf erwacht. Eine leichte Luftbewegung, eine geringe Unterbrechung der Klanglandschaft seiner Träume konnten das bewirken. Was auch immer es war, er wachte auf und wusste sofort, dass sie die Scheune verlassen hatte.
Einige Augenblicke lag er da und fragte sich, wie es kam, dass sie beide nach wie vor in der Nähe des anderen ausharrten. Beide hatten immer wieder versucht, sich voneinander zu entfernen, aber dabei blieb es nie. Und jetzt war er hier angekommen, unter ihrem Dach. Wenngleich sie es beide nicht offen zugeben konnten, war er hier, weil sie seine Hilfe brauchte, damit sie vom Trinken loskam, und weil er sie brauchte, damit sie ihm das Gefühl gab, dass sein Menschsein echt und nicht lediglich eine Maske war. Aus diesem Grund war er da gewesen, als das Telefon geklingelt hatte und die fatale Nachricht kam.
Er wusste sofort, dass der Anruf Schwierigkeiten bedeutete. Carols graue Augen verdunkelten sich, und ihre Miene spannte sich an, wobei sich feine Fältchen zeigten, die er nie zuvor bemerkt hatte. Mit einer Hand fuhr sie sich durch ihr blondes Haar, und die matte Beleuchtung in der Scheune ließ mehr Silberfäden erkennen als ein paar Monate zuvor. Ein schmerzlicher Augenblick der Erkenntnis, dass sie sichtbar älter wurde.
Es war seltsam, wie diese Momente plötzlich klar hervortraten. Er hatte das an seinem eigenen Gesicht bemerkt. Oft verstrichen Monate, ohne dass irgendeine Veränderung auffiel; dann warf er eines Morgens einen Seitenblick in den Spiegel und begriff plötzlich, dass sich die einstigen Lachfältchen nun dauerhaft in die hohlen Wangen eingegraben hatten. Wenn er morgens aufstand, begehrte sein Körper manchmal auf. Er erinnerte sich, dass Carol ihn ausgelacht hatte, weil er »Altmänner-Seufzer« ausstieß – so nannte sie das –, als er sich neulich vom Sessel hochgehievt hatte. Eigentlich hatte er noch nie viel darüber nachgedacht, dass sie beide einmal alt werden würden; jetzt, wo es ihm bewusst wurde, begriff er, dass er in Gedanken immer darauf zurückkommen würde, bis er herausfand, was es für ihn bedeutete. Die Bürde eines Psychologen war ein Beruf, in dem es keine Auszeit gab.
Was er jetzt herauskriegen musste, war, wie er Carol helfen konnte, nach diesem letzten Desaster nicht den Kopf zu verlieren. Er kannte sie gut genug, dass er vermuten konnte, sie würde die Situation als Ansporn sehen, sich noch mehr abzuverlangen. Ihr eigenes Selbstwertgefühl wäre mit dem Erfolg von ReMIT verbunden wie die Doppelhelix der DNA, die beiden würden vollständig voneinander abhängen. Und das war eine gefährliche Verhaltenweise. Denn wie gut sie als Ermittlerin auch sein mochte, konnte sie doch nicht den Ausgang jedes Falls bestimmen.
Bevor er sich weiter in diese Gedanken vertiefen konnte, wurde er auf ein leises Motorengeräusch aufmerksam. Die wenigen Fahrzeuge auf der ruhigen kleinen Straße, die an der Scheune vorbeiführte, waren meistens nur für ein paar Sekunden zu hören, aber dieses Auto blieb länger in der Nähe, und das Geräusch wurde nicht leiser, sondern lauter. Offenbar bekamen sie Besuch.
Tony kroch aus dem Bett und fiel fast wieder darauf zurück, als er sich unbeholfen in seine Jeans zwängte. Er griff nach dem dicken Fischerpullover, den zu tragen er sich auf seinem Boot angewöhnt hatte, und ging durch den Hauptbereich der Scheune zur Haustür, wobei er auf den kalten Steinplatten zu hüpfen begann. Der Motor war jetzt abgestellt, bemerkte er. Als eine Wagentür sich mit dem teuer klingenden leisen Klicken deutscher Ingenieurskunst schloss, öffnete er die Tür. Der Mann, der aus dem Auto ausstieg und sich ihm zuwandte, war ihm nur allzu bekannt.
»John«, sagte Tony und bemühte sich nicht, seine müde Resignation zu verbergen. Die Ankunft von John Brandon, Carols früherem Chief Constable, des Mannes, der ihre Rückkehr zur Polizeiarbeit eingefädelt hatte, war kein Schock. Nicht nach der Neuigkeit des vorausgegangenen Abends. »Kommen Sie doch rein.«
Brandon trat näher, seine Ähnlichkeit mit einem bekümmerten Bluthund war noch deutlicher als sonst. »Ich schließe aus Ihrem Gesichtsausdruck, dass Sie davon gehört haben?«
Tony trat zurück, um ihn hereinkommen zu lassen. »Sie hat jede Menge Feinde, John. Dachten Sie tatsächlich, dass keiner von denen nach dem Telefon greifen würde?«
Brandon seufzte. »Schlechte Nachrichten verbreiten sich immer schnell.« Er schaute sich um, und Tony bemerkte, wie das geübte Auge des Polizisten die Einzelheiten des frisch renovierten Raums erfasste. Die freigelegten Balken, der perfekte Putz. Die sparsame, einfache Einrichtung und ein massiver Kamin aus Stein, in dem Feuerholz zum Anzünden bereitlag. Noch keine Bilder an den Wänden, keine Teppiche auf dem gefliesten Boden. Raumteiler, die einen Schlafbereich abtrennten; eine abgeteilte Ecke, in der sich, wie Tony wusste, ein luxuriöses Badezimmer verbarg. »Sie hat gute Arbeit geleistet«, bemerkte Brandon.
»Das dürfte nicht überraschen.«
»Wo ist sie?«
»Oben am Hang mit dem Hund. Lässt ihre Wut an der freien Natur aus.«
Brandon setzte sich auf eines der niedrigen, mit Tweed bezogenen Sofas. »Wer hat es ihr gesagt?«
»Detective Chief Inspector John Franklin von der West Yorkshire Police. Man könnte sagen, es bereitete ihm ein brutales Vergnügen.« Schon allein der Gedanke an Carols bestürzten Gesichtsausdruck ließ den Ärger auf Tonys Zügen erscheinen. »Es hat sie ziemlich umgehauen.«
Brandon seufzte. »Ich wünschte, er hätte die Klappe gehalten.«
»Warum? Die Sache lässt sich nicht so drehen und wenden, dass sie nicht die gleiche Wirkung hätte.«
»Ich wollte es ihr sagen. Ich wollte ihr erklären, dass sie keine Schuld hat. Dass die Art und Weise, wie es gelaufen ist, in die Kategorie des Gesetzes unbeabsichtigter Folgen fällt.«
»Wie bitte?« Frustriert fuhr Tony sich mit den Fingern durch sein dunkles welliges Haar. »Sie und Ihre mächtigen Freunde haben die Vorschriften umgangen, damit Carols Verhaftung wegen Alkohol am Steuer aufgrund einer Formalität abgeschmettert wurde. Was aber hieß, dass drei weitere Autofahrer ebenfalls freikamen. Dann setzt sich einer von denen wieder ans Steuer, ist aber diesmal so betrunken, dass er sich selbst und drei weitere unschuldige Menschen bei einem nächtlichen Zusammenstoß umbringt? Und Sie meinen, das kann man als eine ›unbeabsichtigte Folge‹ abtun?« Tony deutete eine sarkastische Geste für die Gänsefüßchen an.
»Niemand tut das ab. Aber wenn jemand die Schuld auf sich nehmen muss, bin ich es und die Beamten des Innenministeriums, die es überhaupt erst für eine gute Idee hielten. Nicht Carol.«
Tony schüttelte ungeduldig den Kopf. »Viel Erfolg damit, ihr beizubringen, dass sie die Dinge so sehen soll. Sie haben Glück, wenn Sie erreichen, dass sie am Ende des Tages noch auf ihrem Posten ist.«
Brandon wand sich verlegen auf seinem Platz und schlang seine schlaksigen Beine umeinander. »Ich hatte gehofft, Sie würden mir helfen, sie zu überzeugen, dass es keinen Sinn ergibt, jetzt aus dem Dienst auszuscheiden. Was getan ist, ist getan. Auf ReMIT wird wohl eher früher als später ein aktueller Fall zukommen, und wir brauchen sie als Leiterin des Teams.«
»Heute Morgen habe ich noch nicht mit ihr gesprochen. Aber sie wird das tun, was sie für das Beste hält, egal, was wir beide sagen, John.«
Während er noch sprach, ging die Tür auf, Flash sprang durch den Raum, fuhr als Willkommensgruß mit der Zunge über Tonys Oberschenkel und drehte sich dann, die Ohren aufgestellt, den Kopf nach vorn gestreckt und Luft schnuppernd, Brandon zu.
»Das wird sie«, sagte Carol und ging einige Schritte auf die beiden zu. »Ich habe Ihnen gleich gesagt, dass es keine gute Idee war, gegen eine gerechtfertigte Verhaftung einzuschreiten, John.«
»Sie haben sich nicht besonders heftig dagegen gewehrt, wenn ich mich recht erinnere.« Der Wortlaut war abwehrend, aber Brandons Tonfall klang bedauernd.
Carol seufzte. »Sie haben meine Schwachstelle perfekt eingeschätzt. Und ich bin der Versuchung und der Schmeichelei erlegen.«
»Es war keine Schmeichelei«, wandte Brandon ein. »Sie waren die am besten geeignete Person, um ReMIT zu leiten. Das sind Sie nach wie vor.«
Carol schlüpfte aus ihrer Jacke und hängte sie an einen Haken. »Sie mögen wohl recht haben. Und deshalb gehe ich jetzt an die Arbeit.« Sie wandte sich den beiden zu, ihr Blick funkelte voll kalter Wut. »Sie haben mir etwas Schreckliches angetan, John. Vier Menschen sind gestorben, weil Sie und Ihre Freunde beschlossen, man müsse mir einen Persilschein ausstellen. Sie können sich hinter der Überzeugung verstecken, Sie hätten richtig gehandelt. Aber ich nicht. Ich habe mich aus Eitelkeit und wegen eines Egotrips überreden lassen, die Leitung von ReMIT zu übernehmen.« Sie verstrubbelte ihr von der Mütze flach gedrücktes Haar, sodass es in seine natürliche Form fiel. »Ich hielt meine Motive für redlich, aber ehrlich gesagt waren sie das nicht. Also muss ich mit meiner Schuld leben. Jetzt schäme ich mich, dass ich eingewilligt habe, bei Ihrer schäbigen Absprache mitzuspielen. Und ich kann nur eins tun, wodurch ich mich irgendwie rehabilitieren kann, nämlich losgehen und eine Arbeit leisten, die andere Menschen vielleicht vor dem Tod bewahrt.«
Tony verspürte Stolz und Mitleid bei ihren Worten. »Das ist keine Kleinigkeit«, fügte er leise hinzu.
»Vier Leben, John«, sagte Carol. »Uns allen zuliebe sollten Sie hoffen, dass niemand herausbekommt, was im Amtsgericht in Calderdale wirklich gelaufen ist.«
Paula war überrascht, die Erste im Büro zu sein. Gewöhnlich hatte sich Detective Constable Stacey Chen schon hinter ihrem schützenden Bollwerk aus einem halben Dutzend Computermonitoren niedergelassen, wenn das restliche Team eintraf. Aber heute war es dunkel in dem separaten Büro, wo sie ihre schwarze Kunst der digitalen Ermittlung betrieb; die Tür war zu, und Paula nahm an, abgeschlossen. Sie hängte ihren Mantel auf, aber bevor sie an der hoch spezialisierten vollautomatischen Kaffeemaschine des Teams auftanken konnte, klingelte das Telefon in Carol Jordans Büro.
Die Tür stand offen. Als Paula zu Carols altem Major Incident Team in Bradfield gehört hatte, gab es die allgemeine Regel, dass jeder Anruf angenommen werden sollte. Deshalb lief sie hinüber und schnappte sich beim vierten Klingeln den Hörer. »ReMIT, DS McIntyre«, meldete sie sich.
»Ist DCI Jordan zu sprechen?«, fragte eine unbekannte weibliche Stimme.
»Wer spricht?«
»Detective Superintendent Henderson von der North Yorkshire Police.«
In dieser Position waren Frauen noch so selten, dass Paula schon von Anne Henderson gehört hatte. Sie gehörte zu denen, die sich eher ruhig verhalten, aber durchaus gefährlich sind. »Hat nichts abgekriegt, als der Humor verteilt wurde«, war die Meinung eines Sergeants aus Bradfield, der seine Karriere bei der Polizei in North Yorkshire begonnen hatte. Paula fand nicht, dass man dadurch zu einem schlechten Menschen wurde, allerdings hatten die MIT-Ermittler die Horrorszenen, mit denen sie regelmäßig zu tun hatten, oft nur mit schwarzem Humor bewältigen können. »Es tut mir leid, Ma’am«, sagte Paula. »DCI Jordan ist im Moment in einer Besprechung. Kann ich Ihnen helfen? Oder etwas ausrichten?«
»Wir haben hier etwas und dachten, das würden Sie sich gern mal anschauen«, äußerte Henderson abrupt. »Wie gehen Sie bei solchen Übergaben vor?«
»Ich bin noch nicht sicher, wie wir verfahren«, meinte Paula. »Aber ich denke mir, DCI Jordan wird mit einem Team an den Tatort kommen wollen.«
»Das wird nicht möglich sein«, antwortete Henderson knapp und klang schon etwas verärgert. »Die Kollegen am Tatort haben es nicht als ungeklärten Todesfall eingestuft.«
»Also wie? Sie haben die Spuren am Tatort nicht gesichert?«
»Es ist kompliziert. Vielleicht ist es am besten, der Leiter der Ermittlung mailt Ihnen die Details zu? Dann könnten Sie weitersehen.«
Paula wusste keine Antwort. Wie würde Carol Jordan entscheiden? Wenn der Tatort futsch war, mussten sie irgendwo anders anfangen. »Das ist wahrscheinlich das Beste«, antwortete sie.
»Ich kümmere mich darum. Wenn DCI Jordan sich das mal angeschaut hat, kann sie mich anrufen, und wir werden die Sache voranbringen.«
Und das war’s. Als Paula auflegte, ging die Tür auf, und Stacey Chen kam herein, gefolgt von Karim Hussain. Stacey schaute mürrisch drein, aber Karim war so energiegeladen wie ein junger Hund, für den man einen nagelneuen Tennisball geworfen hat. »Hallo, Chefin« rief Karim. »Soll ich uns allen Kaffee machen?«
Stacey verdrehte die Augen und ging auf ihr Büro zu. »Earl Grey«, murmelte sie und schloss die Tür auf.
»Ich weiß«, sagte Karim gut gelaunt. »Keine Milch, und er soll die Farbe von Famous Grouse haben.« Zwecks Qualitätskontrolle befand sich ein Flachmann mit Whisky im Schrank unter dem Wasserkocher. »Ich lerne dazu, Mr Fawlty.« Er klimperte mit seinen lächerlich langen Wimpern als Parodie auf einen flirtenden Kellner. Niemand beachtete ihn. Er zuckte die Schultern und wandte sich wieder der Kaffee- und Teezubereitung zu. Gut, dass seine Schwester ihn jetzt nicht sehen konnte. Sie würde sich mit Begeisterung über ihn lustig machen, der große Ermittler, zum Teeboy verdonnert.
Paula folgte Stacey. »Alles in Ordnung?«
»Alles klar. Ich hab getan, was zu tun war.«
»Wie hat er es aufgenommen?«
»Keine Ahnung. Ich hab ihn überall geblockt.« Stacey setzte sich an ihren Bildschirmen zurecht, deren spukhaftes Flimmern immer wieder verschiedene Farbschattierungen auf ihr Gesicht und ihre weiße Bluse malte. Ihr Gesichtsausdruck war düster und nicht gerade einladend. Die meisten Menschen, dachte Paula, würden die Gelegenheit begrüßen, über einen so heimtückischen Exfreund wie den, als der Sam Evans sich entpuppt hatte, mal ordentlich vom Leder zu ziehen. Stacey war jedoch nicht »die meisten Menschen«.
»DSI Henderson von North Yorkshire hat gerade angerufen. Sie schicken uns die Details eines Falls rüber.«
Stacey lächelte voll bissiger Vorfreude. »Gut. Daran können wir uns festbeißen.«
Paula zog sich zurück, sie war froh, dass Karim kam und ihr einen Kaffee hinstellte. Sie loggte sich ein und checkte die von ReMIT in der Cloud gespeicherten Daten. North Yorkshire hatte nicht lange herumgetrödelt. Unter dem Kürzel NYP wurde der einzige Unterordner im Bereich »Dringend« auf seine Identifizierungsnummer hin überprüft. Paula spürte, wie ihr Puls schneller schlug. Zum ersten Mal hatte ReMIT einen Fall von einer anderen Polizeistelle hereinbekommen. Jetzt mussten sie sich beweisen.
Später am Vormittag saß das kleine Team an einem Tisch in Hufeisenform um zwei Whiteboards herum. DCI Carol Jordan stand vor ihnen, die Schultern angespannt, die zu Fäusten geballten Hände hingen seitlich herunter. Außer Karim sah nur DI Kevin Matthews aus, als stehe er in den Startlöchern, dachte Paula. Carol Jordan hatte dunkle Augenringe, Stacey glich einer überzeugenden Zweitbesetzung für den Sensenmann, und Tony Hill, von dem sie sich vor allem erhofften, dass er sich einer Sache wie dieser sofort begeistert annehmen werde, hatte fortwährend finster dreingeblickt, seit er vor zehn Minuten hereingekommen war. Das letzte Mitglied des Teams, Alvin Ambrose, war von beeindruckender Gelassenheit, hatte die Arme locker vor der Brust verschränkt, eine abwartende Haltung; sein kahl rasierter Schädel glänzte unter den Röhrenlampen, und sein dunkler Anzug ließ ihn wie den Rausschmeißer eines Nachtklubs wirken, mit dem nicht zu scherzen war.
»Wir haben es mit einem total unbrauchbaren Tatort zu tun«, sagte Carol einleitend. »Das ist alles andere als ideal für unseren Start als ReMIT. Aber dadurch werden wir uns nicht aufhalten lassen.«
Sie drehte sich um und schrieb in energischen Großbuchstaben den Namen Kathryn McCormick oben auf das Whiteboard.
»Vor drei Tagen entdeckte nachts ein Autofahrer an einer kleinen Straße zwischen Swarthdale und Ripon ein brennendes Fahrzeug in einer Parkbucht. Er parkte in zwanzig Metern Entfernung, dann gingen er und sein Beifahrer wieder zurück. Das Feuer loderte im Innenraum des Fahrzeugs, und sie sahen die Umrisse einer Gestalt auf dem Fahrersitz. Der Fahrer, ein sechsunddreißigjähriger Ingenieur, versuchte näher heranzugehen, wurde aber von der Hitze zurückgehalten.« Carol schrieb in kleinerer Schrift »Simon Downey« an die Tafel. Darunter fügte sie »Rowan Calvert« hinzu. »Rowan rief die Feuerwehr, während Simon zu seinem Wagen zurücklief, um den Feuerlöscher zu holen.«
Kevin schnaubte: »Das hätte so viel Wirkung gezeigt wie ein Furz in einem Gewitter.«