Karen Rose
Thriller
Knaur eBooks
Karen Rose studierte an der Universität von Maryland, Washington, D.C. Ihre hochspannenden Thriller sind preisgekrönte internationale Bestseller. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern in Florida.
Mehr Informationen über Karen Rose unter www.karenrosebooks.com
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Edge of Darkness« bei Berkley, an imprint of Penguin Random House LLC, New York.
© 2018 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
© 2017 by Karen Rose Books, Inc.
Published by Arrangement with KAREN ROSE BOOKS INC.
© 2018 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Antje Nissen
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Coverabbildung: © Popova Alena / Shutterstock.com
ISBN 978-3-426-45303-2
1
»Der Zauberer von Oz« (1939). Drehbuch von Noel Langley, Florence Ryerson, Edgar Allan Woolf. Warner Home Video-DVD
Für meine Leser.
Ich danke euch dafür, dass ich durch euch in meinem Traumjob arbeiten darf und ihr meine Figuren so sehr liebt wie ich.
Und wie immer – für Martin.
Cincinnati, Ohio
Freitag, 18. Dezember, 23.15 Uhr
Andy schreckte aus dem Schlaf hoch und riss die Augen auf. Sein eigenes Zittern hatte ihn geweckt. Kalt. Es war so verdammt kalt. Dann beweg dich, verdammt. Los, bring deinen Kreislauf …
Dann kam die Erinnerung – und mit ihr lähmende Panik.
Er konnte sich nicht bewegen. Jemand hatte ihn gefesselt und einfach hier liegen gelassen. Wo auch immer dieses hier sein mochte.
Schrei, verdammt! Ruf um Hilfe! Er holte tief Luft. Seine Lunge brannte wie Feuer, und er wurde von einem heiseren Husten geschüttelt.
Es fiel ihm wieder ein. Nein. Nicht schreien. Sein Kopf schmerzte noch vom letzten Versuch. Er war schon einmal zu sich gekommen und hatte es probiert. Wie lange war das her? Es war dunkel gewesen. So wie jetzt.
Der Mann, ganz in Schwarz gekleidet, war aufgetaucht. Natürlich. Die Bösen trugen doch immer Schwarz, richtig?
Und der Mann gehörte zu den Bösen. Andy hatte um Hilfe gerufen, nach irgendjemandem. Aber der Mann in Schwarz hatte ihm einen so brutalen Tritt gegen den Kopf verpasst, dass er Sterne gesehen hatte. Danach hatte er lieber den Mund gehalten.
Doch nicht der Schlag hatte ihn das Bewusstsein verlieren lassen. Nein. Er schluckte mühsam. Seine Angst war so übermächtig, dass er fast keine Luft mehr bekam. Seine Brust fühlte sich an, als wäre sie mit Eis gefüllt. Der Kerl hatte ihm einen stinkenden Lappen aufs Gesicht gelegt. Andy hatte versucht, nicht zu atmen, doch dann hatte der Kerl zu einem weiteren Schlag ausgeholt, diesmal in den Magen, und Andy hatte nach Luft geschnappt und damit unwillkürlich eingeatmet, womit der Lappen getränkt war.
So war es auch am Hinterausgang der Imbissstube geschehen.
Ja, genau! Jetzt erinnerte er sich wieder. Hinter dem Pies & Fries. Er hatte gerade Rauchpause gemacht. Jemand hatte ihm aufgelauert. Es war schon dunkel gewesen, deshalb hatte Andy ihn erst gesehen, als er seine Zigarette anzündete, weder ein Gesicht noch eine Gestalt, sondern bloß einen Schatten am Rand seines Gesichtsfelds.
Wer sind die? Was wollen die von mir? Und wieso? Er hatte keine Feinde. Nicht mehr. Und nicht hier.
Er hatte doch noch mal ganz von vorn angefangen.
Und jetzt würde er hier verrecken. Wo auch immer das »hier« sein mag, dachte er bitter.
Ich verpasse meine Abschlussprüfungen, und dabei hatte ich lauter Einsen. Sogar in englischer Literatur. Dafür hatte er sich so ins Zeug gelegt.
Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Nichts von alldem.
Ich muss hier raus. Bevor der Typ zurückkommt. Wer auch immer er sein mag.
Ich muss hier raus. Linnie finden. Ich hab ihr nie gesagt, dass ich sie liebe. Aber ich muss es unbedingt tun. Und dass ich es nicht so gemeint habe. Nichts davon. Sie hatten sich gestritten, und er hatte ihr schreckliche Dinge an den Kopf geworfen. Und jetzt glaubte sie, dass das alles ernst gemeint war. Sie glaubte, er würde abhauen, sie hängen lassen, so wie alle anderen Menschen in ihrem Leben. Wie all die anderen Menschen in seinem Leben.
Ich habe einen Fehler gemacht. Es konnte nicht sie gewesen sein, die er an jenem Tag gesehen hatte. Mit einem anderen Mann. Sie hatte es so vehement abgestritten, als er ihr seine Vorwürfe entgegengeschleudert hatte. Seine Wut. Seine Kränkung. Sie war in Tränen ausgebrochen, hatte es immer noch abgestritten. Dann war sie weggelaufen. Und er hatte es zugelassen.
Aber dann, nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte, war ihm klar geworden, dass er ihr glaubte. Ich glaube dir. Aber auch das hatte er ihr nicht gesagt. Noch nicht. Und wenn ich nicht bald hier rauskomme, werde ich es ihr überhaupt nicht mehr sagen können.
Er zerrte an seinen Fesseln, erreichte jedoch nur, dass sich die Seile noch tiefer in seine Haut gruben. Er sank auf den kalten Beton und hatte Mühe, den Schluchzer zu unterdrücken, der ihn von innen heraus zu zerreißen drohte und schließlich als klägliches Wimmern über seine Lippen drang.
Sei ein Mann, verdammt noch mal! Tu was. Sieh zu, dass du hier rauskommst!
Aber es war sinnlos. Ich werde hier drinnen sterben.
Auf keinen Fall. Dafür hast du schon viel zu viel geschafft, zu erbittert gekämpft.
Völlig umsonst. Ich werde hier drinnen sterben.
Er fror so entsetzlich, spürte den eiskalten Beton durch seinen dünnen Pulli und die Socken. Seinen Parka und die Schuhe hatten sie ihm weggenommen. Beide waren nagelneu gewesen. Na ja, er hatte sie letzte Woche erst im Secondhand-Laden gekauft; nachdem er die Semestergebühren bezahlt hatte, war gerade noch genug für ein paar Winterklamotten übrig gewesen. Von den Sachen des letzten Jahres passte ihm nichts mehr.
Weil ich endlich gewachsen bin. Jahrelang hatte er darauf gewartet, groß genug zu sein, um sich wehren zu können. Und jetzt drückt mir so ein Arschloch einen Lappen ins Gesicht, und ich bin erst mal völlig k. o.
Aber wer? Wer würde so was tun? Wer, verdammt noch mal? Ein Raubüberfall war es jedenfalls nicht. Er hatte gerade mal zwanzig Mäuse in der Tasche gehabt – sein Trinkgeld vom Abendgeschäft, und sein gesamtes restliches Geld, hundertzweiundvierzig Dollar und sechs Cents, lag sicher auf seinem Konto.
Niemand, der auch nur halbwegs klar im Kopf war, würde ihn ausrauben, und die einzige Person, die ihn hasste wie die Pest, saß im Knast.
Dieses kranke Miststück saß doch noch ein, oder? Neuerliche Panik wallte in ihm auf. Der Richter hatte sie zu fünfzehn Jahren verknackt, von denen gerade einmal drei vorbei waren.
O Gott. Wenn sie rauskommt, bin ich tot. Andy begann zu hyperventilieren. Aber die Cops hätten ihn doch gewarnt, oder?
Nein, du Genie, weil sie keine Ahnung haben, wo du steckst. Du bist abgehauen, schon vergessen? Hast deinen Namen geändert. Und keine Nachsendeadresse hinterlassen.
Shane und Linnie waren die Einzigen, die wussten, wo er sich aufhielt. Linnie … bestimmt wollte sie ihn nie wiedersehen. Er schloss die Augen. Was ich gesagt habe … tut mir so leid.
Natürlich würde Shane zu Hilfe eilen, wenn Andy sich bei ihm meldete, aber Andy hatte ihn nie zurückgerufen, nachdem sich ihre Wege getrennt hatten. Weil ich ganz von vorn anfangen wollte.
Genauso wie Shane. Shane hatte nie Schiss vor etwas.
Eine Träne löste sich aus Andys Augenwinkel und lief ihm übers Gesicht. Ich werde den morgigen Tag nicht erleben.
Zumindest nicht, wenn sie ihn weiter hier hocken ließen. Er würde erfrieren.
Tu etwas. Sei ein Mann, verdammt noch mal! Lass dir etwas einfallen, wie du diese Seile durchschneiden kannst, bevor der Typ zurückkommt und dir den Lappen noch mal aufs Gesicht drückt.
Sieh zu, dass du freikommst, damit du Linnie suchen und es ihr sagen kannst.
Auf dem Boden lag nichts Brauchbares herum, nichts Metallisches mit einer scharfen Kante. Auch nichts aus Plastik, noch nicht einmal ein Stein oder so etwas. Rein gar nichts.
Bloß Betonboden und Wände aus grob gezimmertem Holz. Jemand hatte aus Planken eine Hütte zusammengebaut; es gab weder Mörtel noch Glasfasern noch sonst etwas in den Ritzen, das die Kälte abgehalten hätte. Damit stand fest, dass es nur noch schlimmer werden konnte.
Das Knacken eines Zweigs ließ ihn erstarren. Jemand kam.
Hilfe, vielleicht? Vielleicht ist jemand hier, der mich nach Hause bringen kann.
Doch dann ging die Tür auf, und der Mut verließ ihn. Es war wieder der schwarz gekleidete Mann. Wortlos zog er ihn hoch und schwang ihn sich im Gamstragegriff über die Schulter.
Ein stechender Schmerz fuhr ihm durch den Schädel, und sein restlicher Körper war schon ganz taub vor Kälte. Er sah die von dünnem, zwei Tage altem Schnee bedeckte Rasenfläche, als der Mann ihn durch einen Garten trug und schließlich eine Tür öffnete.
O mein Gott. Warm. So warm. Seine Füße begannen heftig zu prickeln, als sein Blut wieder zu zirkulieren begann. Wieder drang ein Wimmern aus seinem Mund.
»Leg ihn da rüber«, befahl eine leise Stimme. Ein Mann. Älter. Und so drohend, dass Andy erschauderte.
Erneut durchzuckte ihn der Schmerz, als der schwarz gekleidete Typ ihn mit dem Gesicht voran auf ein Sofa fallen ließ. Es war alt. Staubig.
In diesem Moment ertönte eine weitere Stimme. Sie gehörte einer jungen Frau und kam ihm bekannt vor. O Gott. Er kannte sie. »Warum?«, fragte sie, und er hörte den körperlichen Schmerz in den beiden Silben. »Warum er? Er hatte doch gar nichts damit zu tun.«
»Weil ich ihn brauche«, antwortete der Mann. »Setz ihn aufrecht hin.«
Der Mann in Schwarz zerrte Andy am Kragen seines dünnen Pullis hoch. Andy sah sich um. Er befand sich in einem mit altem schäbigem Mobiliar ausgestatteten Büro. Eine Werkstatt? Es roch nach Öl.
Andy starrte den Kerl in Schwarz im trüben Schein einer einzelnen Lampe an.
Er war … keine Ahnung. Andy hatte ihn noch nie gesehen. Er war nicht alt, aber auch nicht jung. Vierzig? Oder fünfzig? Schwer zu sagen bei diesem Licht. Er schien sehr groß und kräftig zu sein; der gestärkte weiße Stoff seines Hemds spannte sich um seinen Bizeps.
Andy kannte den Typ nicht, und er war auch niemand, dem er über den Weg laufen wollte.
Die Frau dagegen … O Gott, Linnie. Sie hingegen wusste genau, wer er war. Das verriet ihr bleiches, beängstigend schmales Gesicht klar und deutlich. Ihr verschwollenes, von Hämatomen übersätes Gesicht.
»Linnie?«, krächzte Andy. Dieser Mann war gefährlich. Und er hatte sie beide in seiner Gewalt.
Vielleicht ist das alles ein Missverständnis. Ein schreckliches Missverständnis. Vielleicht hatte er es ja auf jemand ganz anderen abgesehen.
Aber dann schüttelte Linnie den Kopf, wollte ihm nicht in die Augen sehen. »Es tut mir leid«, flüsterte sie. »Es tut mir so leid, Andy.«
Also war es doch kein Missverständnis. Der Mann hatte niemand anderen in seine Gewalt bringen wollen, sondern es zumindest auf Linnie abgesehen.
Das muss er sein. Andy hatte sie gemeinsam ein Motelzimmer betreten sehen. Sie beide … zusammen. »Wer sind Sie?« Seine Stimme klang brüchig, kläglich. »Was wollen Sie?«
»Sie, Mr Gold. Genauer gesagt, Ihre Dienste«, sagte der Mann.
»Meine Dienste?«, wiederholte Andy verständnislos. »Was für Dienste? Du lieber Gott, ich bin Kellner! Und ich studiere englische Literatur im Hauptfach. Sie müssen mich mit jemandem verwechseln.«
Der Mann wandte sich Linnie zu. »Er weiß es nicht, stimmt’s, Linnea?« Andy spürte, wie sich ihm vor Angst der Magen umdrehte. Linnie wusste also, weshalb man ihn geschnappt und entführt hatte.
Linnie schloss die Augen. »Nein«, flüsterte sie. »Er glaubt, wir wären ein Paar.«
Der Mann stieß ein schnaubendes Lachen aus. »Ein Paar? Dass ich nicht lache. Los, sag ihm die Wahrheit.«
Linnie schüttelte den Kopf. Sie sank auf ihrem Stuhl zusammen und wandte ihr geschundenes Gesicht ab.
Andy packte die kalte Wut. »Sie haben sie geschlagen? Sie?«
»Ich habe ihr die Seele aus dem Leib geprügelt«, erwiderte der Mann mit einem grausamen Lächeln, holte aus und verpasste ihr mit dem Handrücken einen weiteren Schlag, der sie vor Schmerz aufheulen ließ. Es klang wie das Jaulen eines Hundes. »Los, sag es ihm, Linnie«, befahl er höhnisch.
»Linnie?«, krächzte Andy, während er seinen Herzschlag in den Ohren rauschen hörte. »Mir was sagen? Wer ist der Typ?«
»Sag es ihm«, befahl der Mann noch einmal. »Er soll wissen, wieso er hier ist. Das hat er verdient.«
Andy spürte bittere Galle in seiner Kehle aufsteigen. Die Angst fühlte sich wie ein Klumpen ranzigen Fetts in seinem Magen an. »Bitte, Linnie?«
»Er ist mein … Zuhälter.« Sie spie das Wort förmlich aus.
Andy blieb der Mund offen stehen, doch kein Wort drang über seine Lippen. Ihr Zuhälter? Linnie war eine Prostituierte? Das konnte unmöglich sein. Hätte sie Geld gebraucht, wäre sie doch zu mir gekommen, hätte es mir gesagt. Oder etwa nicht?
Er liebte sie. Seit Jahren. Eines Tages würden sie heiraten. Weil er irgendwann den Mut aufbringen würde, ihr seine Gefühle zu gestehen. Irgendwann. Er hätte es getan.
Ich hätte ihr sagen müssen, dass ich sie liebe. Seine Augen brannten. Denn es war auch jetzt noch die Wahrheit.
Unverbrämte Bosheit lag in dem Lächeln des Mannes. »Und?«, höhnte er. »Wem gehörst du nun, Linnea?«
Ein Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf. »Dir.«
»Genau. Du gehörst mir.« Der Mann stieß sie weg, als wäre sie Abfall. »Du gehörst mir. Und vergiss das gefälligst nicht, Miststück. Niemals«, knurrte er. »Machen Sie den Mund zu, Mr Gold. Das sieht höchst unattraktiv aus.«
Unattraktiv. Das Wort hing in der Luft, zwischen ihnen. Vibrierte wie eine Gitarrensaite. Unattraktiv? Andy schluckte hörbar. »Ich mache da nicht mit«, stieß er verzweifelt hervor. »Ich werde nichts tun, um attraktiv zu sein. Ich werde mich nicht verkaufen.«
Der Mann musterte ihn einen Moment lang, dann warf er den Kopf in den Nacken und lachte. »Du glaubst, ich will dich verkaufen? Das ist echt gut, Junge. Nein, du wirst nicht anschaffen, sondern du wirst töten.«
Entsetzt wich Andy zurück. »Nein. Das mache ich nicht.«
»Oh, doch, das wirst du.« Der Mann strich Linnie eine Haarsträhne aus dem Gesicht – eine fast zärtliche Geste, stünde ihm die Verachtung nicht ins Gesicht geschrieben. »Denn wenn du es nicht tust, jage ich ihr eine Kugel in den Kopf.« Er tippte ihr gegen die Stirn. »Und zwar genau hier.«
Nein. Nein … Nein. Andy stockte der Atem, als Linnie einen kläglichen Schrei ausstieß. »Nein«, stöhnte sie. »Bitte. Ich tue es. Lass es mich an seiner Stelle tun.«
Wieder schlug der Mann ihr ins Gesicht. »Halt’s Maul!«, schnauzte er sie an. »Er wird es tun!«
Andys Lunge schien sich aus ihrer Erstarrung zu lösen, und er schnappte nach Luft, zu schnell, zu scharf. »Das können Sie nicht machen. Sie können sie nicht töten. Das … Das können Sie nicht!«
Der Mund des Mannes verzog sich zu einem Lächeln, bei dessen Anblick Andy neuerlich eiskalt wurde. »Los, nimm sie«, befahl er dem Kerl in Schwarz. »Zeig ihm, wozu wir fähig sind.«
»Nein«, stöhnte Linnie. »Bitte, nicht.«
Der Schwarzgekleidete warf sich Linnie über die Schulter, so wie er es zuvor mit Andy getan hatte, und trug sie hinaus. Augenblicke später drangen Linnies Schreie herein – entsetzliche Schreie. Er tat ihr weh. Der Schwarzgekleidete tat ihr weh.
Und Andy konnte ihn nicht daran hindern.
Er schloss die Augen, um das Grinsen des Kerls vor ihm nicht länger sehen zu müssen. Ihr Zuhälter. Der Typ war ihr Zuhälter. Sie hatte versprochen, es nicht zu tun. Sie hatte es versprochen. Damals, in der Pflegefamilie, hatten sie einen Pakt geschlossen – er, Linnie und Shane. Sie hatten sich gegenseitig das Versprechen gegeben, niemals ihren Körper zu verkaufen, selbst wenn es noch so schwierig werden würde. Sie hatte es versprochen.
Aber es war eine Lüge gewesen. Andy konnte nicht sagen, was ihn mehr schmerzte – die Tatsache, dass sie ihren Schwur gebrochen hatte, oder dass sie verzweifelt genug gewesen sein musste, sich nicht daran zu halten. Oder dass sie sich mir nicht anvertraut hat.
Der Mann zündete sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug, ehe er den Rauch ausstieß, der in einer dünnen Säule aufstieg. »Also, Andy, nein, Mr Gold – wie hätten Sie’s denn gern? Wollen Sie noch mehr? Mein Partner kann dafür sorgen, dass sie noch eine halbe Ewigkeit weiterschreit. Oder kann ich darauf zählen, dass Sie Ihrer kleinen Freundin das Leben retten?«
Andy schlug die Augen auf und zwang sich, den Mann anzusehen, der ihrer beider Leben mit dieser beiläufigen Gleichgültigkeit in seiner Hand hielt. Der Kerl lauschte mit schief gelegtem Kopf Linnies Schreien.
»Also, Mr Gold? Raus mit der Sprache. Meine Geduld lässt allmählich nach.«
Andy biss die Zähne aufeinander. »Was soll ich tun?«, stieß er hervor.
Cincinnati, Ohio
Samstag, 19. Dezember, 15.30 Uhr
»Bist du sicher, dass das Kleid einigermaßen gut aussieht, Mer?«
Mit einem gutmütigen Seufzer wandte sich Dr. Meredith Fallon der jungen Frau zu. »Es sieht fantastisch aus, Mallory. Du siehst fantastisch aus. Sehr schick. Keiner wird dich für etwas anderes halten als für eine Achtzehnjährige, die sich soeben für ihre Kurse eingeschrieben hat.«
Aber das war nicht das einzig Bemerkenswerte an Mallory Martin, die heute zum ersten Mal die Zufluchtsstätte für Gewaltopfer verlassen hatte, wo sie während der letzten vier Monate versucht hatte, das Erlebte zu verarbeiten und ihre Wunden zu heilen – was an sich schon eine enorme Leistung war. Dabei hatte der Heilungsprozess erst begonnen. In den zehn Jahren ihrer Arbeit als Kinder- und Jugendpsychologin war Meredith kaum ein Opfer begegnet, das mehr durchgemacht hatte als Mallory – und kaum eines, das so mutig war wie sie.
»Das stimmt, aber sie gehen aufs College, ich dagegen nur …« Mallory wandte den Kopf ab. »Verdammt.«
»Du nimmst dein Leben in die Hand. Habe ich dir eigentlich schon gesagt, wie verdammt tapfer du bist?«
»Zweimal. Und zwar allein heute.« Sie lächelte flüchtig, ehe sie verlegen das Gesicht verzog. »Ich weiß, es ist blöd von mir … zu versuchen, dir ein Lob abzuluchsen, meine ich. Entschuldige.«
Diesmal war Merediths Seufzer nicht mehr ganz so geduldig. »Was haben wir über dieses Wort gesagt?«
»›Blöd‹?«
»Ja, das auch. Aber eigentlich geht es mir um das ›Entschuldigung‹. Streich sie sofort aus deinem Vokabular, alle beide.«
Mallory holte Luft und nickte knapp, aber entschlossen. »Eliminiert.«
»Gut. Los, legen wir einen Zahn zu. Es ist nicht mehr weit bis zum Café, und mir frieren bald die Zehen ab.«
Sie würden ein bisschen feiern. Mallory hatte sich für mehrere Volkshochschulkurse eingetragen – ein erster Schritt in Richtung Highschool-Abschluss, den ihr das Monster verwehrt hatte, das sie sechs lange Jahre gefangen gehalten hatte.
»Vielleicht hättest du gefütterte Stiefel anziehen sollen«, zog Mallory sie auf. »Und welche ohne diese Wahnsinnsabsätze.«
Meredith betrachtete ihre nagelneuen kniehohen Wildlederstiefel und musste lächeln – Mallory belehrte sie. Eigentlich eine Kleinigkeit, aber so herrlich normal. Das Mädchen hatte sich zu einer ihrer erklärten Lieblingspatientinnen entwickelt. »Aber die sind eben schöner. Außerdem waren sie heruntergesetzt.«
Mit liebevoller Nachsicht schüttelte Mallory den Kopf. »Und natürlich musstest du sie haben. Damit sich die vielen anderen Stiletto-Wildlederstiefel in deinem Schuhschrank nicht gar so einsam fühlen.«
Merediths Lächeln verblasste. Nicht etwa wegen der Kritik, denn a) lag auf der Hand, dass Mallory sie nur necken wollte, und b) zogen ihre Freundinnen sie ohnehin ständig wegen ihres überquellenden Schuhschranks auf.
Nein. Sondern weil Meredith sie tatsächlich hatte kaufen müssen. Nicht zwingend diese Stiefel, aber sie hatte das dringende Bedürfnis gehabt, sich irgendetwas zu gönnen. Sie hatte sich damit ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk gemacht, weil nichts darauf hindeutete, dass sie das Geschenk bekommen würde, nach dem sie sich in Wahrheit sehnte. Im Sommer hatte es den Anschein gehabt, als würde es vielleicht klappen – dass sie außer ihrer Familie das erste Mal jemanden an ihrer Seite hätte, an den sie sich über die Feiertage kuscheln könnte.
Wie albern von ihr, sich solche Hoffnungen zu machen. Ihre gemeinsame Zeit mit Adam Kimble war kostbar und knapp gewesen – und ihm hatte sie ganz offensichtlich nicht genauso viel bedeutet wie er ihr. Der Fall, der sie zusammengeführt hatte, war mittlerweile gelöst und Adam von der Bildfläche verschwunden. Wieder einmal.
Was angesichts ihres gemeinsamen Freundeskreises einiges an Talent und Planung erforderte. In den letzten vier Monaten hatte es mehr als genug Gelegenheiten gegeben, sich rein zufällig über den Weg zu laufen. Aber da es nie dazu gekommen war, musste sie davon ausgehen, dass er ihr bewusst aus dem Weg ging. Das tat weh. Sehr.
Allerdings hatte er sie nicht konsequent gemieden. Sie dachte an die Umschläge, die sie alle paar Wochen in ihrem Briefkasten gefunden hatte. Ohne Absender.
Aber von wem die aus Malbüchern herausgerissenen, mit Buntstiften oder farbigen Kugelschreibern ausgemalten Seiten stammten, lag auf der Hand. Sie waren alle mit größter Sorgfalt angefertigt worden, ohne auch nur einen Strich über die Linien hinaus. Detective Adam Kimble schien stets darauf bedacht zu sein, innerhalb der vorgezeichneten Grenzen zu bleiben.
Die ersten Bilder waren noch in allen möglichen Rotschattierungen gewesen, im Lauf der Wochen waren jedoch weitere Farben hinzugekommen. Eines der Bilder war sogar mit Wasserfarben ausgemalt; sage und schreibe fünfzehn verschiedene Farben hatte sie gezählt, eigentlich war es gar nicht so übel gewesen. Die Botschaft dahinter war eindeutig: Ich arbeite dran. Und es geht mir allmählich besser. Gib mich nicht auf.
Aber vielleicht war das auch reines Wunschdenken ihrerseits.
»Meredith?«, fragte Mallory kleinlaut. »Es tut mir leid. Ich wollte dich doch bloß aufziehen.«
Meredith blieb abrupt stehen, als sie merkte, dass Mallory direkt vor dem Café stand und sie mit ernster Miene ansah. Sie waren einen ganzen Häuserblock weit gelaufen, ohne ein Wort zu wechseln. Scham ergriff Besitz von ihr, hinterließ einen bitteren Geschmack auf ihrer Zunge. Eigentlich ist heute Mallorys großer Tag, und ich habe es geschafft, dass es wieder mal nur um mich geht.
Sie rang sich ein Lächeln ab. »Weiß ich doch, Süße. Es lag nicht an dir oder daran, was du gesagt hast. Manchmal bin ich einfach mit den Gedanken woanders.«
»Es beruhigt mich, dass es sogar dir so geht. Da fühle ich mich gleich viel besser.«
Meredith lächelte. »Wie schön, dass ich selbst dann noch helfen kann, wenn ich Mist baue.« Sie deutete auf das Schild über dem Café. »Gehen wir rein. Ich hoffe, es gefällt dir. Hier gibt’s die beste Pasta der ganzen Stadt.«
»Trifft sich gut, ich habe nämlich Bärenhunger. Eine Frage habe ich allerdings«, sagte Mallory ernst.
»Nur eine?« Meredith lachte, als Mallory die Augen verdrehte. Wieder eine so herrlich normale Reaktion. Sei dankbar, statt dem nachzutrauern, was du nicht haben kannst. Sie konnte Adam nicht zwingen, mit ihr zusammen sein zu wollen, und es wurde allmählich Zeit, seinetwegen nicht länger den Mond anzuheulen. »Raus damit. Was gibt’s?«
»Was passiert eigentlich, wenn ich den Führerschein mache und wieder Auto fahre?«
Die Hand auf der Türklinke, hielt Meredith inne. »Was meinst du?«
Mallorys Gesicht verzog sich zu einem verschmitzten Grinsen. »Na ja, wie soll ich Auto fahren, wenn ich das Wort ›blöd‹ nicht in den Mund nehmen darf? Ich meine, vorhin, beim Parkplatzsuchen, hast du es mindestens dreimal benutzt. Also, wie soll ich fahren, ohne dieses Wort sagen zu dürfen? Oder ›Schwachkopf‹? Oder ›Sch…‹?« Sie zog den Laut in die Länge. »Sch-öne Bescherung.«
Meredith lachte. »Du kleines Ekelpaket.«
Mallory grinste, sichtlich zufrieden mit sich. »Kann sein, aber immerhin habe ich dich zum Lachen gebracht. Und zwar richtig.«
Meredith schluckte. »Rein jetzt, bevor ich zum Eiszapfen werde.« Sie hielt Mallory die Tür auf. Ihre Kehle fühlte sich eng an, wenngleich aus einem anderen Grund als zuvor. Mallory hatte einen Witz gerissen. Um mich aufzumuntern. Dass sich die junge Frau, die so grausam missbraucht worden war, die Fähigkeit bewahrt hatte, Mitgefühl für andere zu empfinden … Meredith war zutiefst gerührt. Sie räusperte sich.
»Es müsste ein Tisch auf den Namen ›Fallon‹ reserviert sein«, sagte sie mit immer noch leicht belegter Stimme.
»Ja, bitte hier entlang.« Die Kellnerin, eine junge Frau in Mallorys Alter, führte sie zu einem Fenstertisch. »Das ist der beste Platz, um Leute zu beobachten«, sagte sie mit einem Lächeln.
»Und um auf das Feuerwerk zu warten, während es schön warm und gemütlich ist«, fügte Meredith hinzu.
Mallorys Augen begannen zu leuchten, doch sie wartete, bis die Kellnerin verschwunden war, ehe sie sich vorbeugte. »Feuerwerk? Wo denn?«
»Auf dem Fountain Square«, antwortete Meredith. »Wir essen erst mal was, trinken in aller Ruhe Kaffee, und dann gehen wir raus auf die Straße.«
»Hast du das Café deshalb ausgesucht?«
»Nein, nein.« Meredith ließ den Blick wohlwollend umherschweifen. »Ich war jedes Jahr mit meiner Großmutter hier, nachdem wir uns den Nussknacker angesehen haben. Nur wir beide. Damals fanden die Aufführungen noch in der Music Hall statt und waren sehr festlich.« Nach einer langen Renovierungsphase hatte die Music Hall dieses Jahr den Betrieb wieder aufgenommen. Eigentlich hatte Meredith vorgehabt, die Mädchen, die im Mariposa House Zuflucht gefunden hatten, dorthin mitzunehmen, die Idee jedoch wieder verworfen. Die meisten Mädchen hätten angesichts der Menschenmassen Panik bekommen. Vielleicht klappte es ja nächstes Jahr.
»Wie festlich?«, wollte Mallory wissen. »Mit langen Kleidern und Handschuhen und so?«
»Na ja, nicht ganz so schick«, wiegelte Meredith lächelnd ab. »Aber ich durfte mein schönstes Weihnachtskleid tragen und bekam eine große Schleife ins Haar, und meine Oma trug ihr Festtagskostüm und ihre Perlenkette dazu. Granny trug immer Perlen.«
»So wie du«, meinte Mallory. »Zumindest als Ohrringe. Ich habe dich noch nie ohne gesehen. Und ohne deine Armreifen«, fügte sie mit einem Blick auf Merediths Handgelenke hinzu.
Meredith strich liebevoll über einen der Ohrringe. »Die habe ich von ihr geerbt. Du hättest meine Großmutter bestimmt gemocht. Sie war eine echte Granate.«
Mallory lächelte belustigt. »Eine Granate mit Perlenkette.«
»Das kannst du laut sagen. Und das ist noch nicht alles. Gran war nicht nur eine Lady mit Perlenkette, sondern eine ausgebuffte Falschspielerin, die fluchen konnte wie ein Kutscher, eine Pistole in ihrer riesigen Handtasche hatte und dabei alle glauben machte, sie sei eine harmlose Omi, die gern Socken strickt.«
Mallory blickte mit hochgezogenen Brauen von der Speisekarte auf. »Sag nichts gegen Stricklieseln. Inzwischen kenne ich mehrere von denen, die auch bis an die Zähne bewaffnet sind.«
Meredith prustete los. Kate, ihre jüngste Freundin, war FBI-Agentin, Scharfschützin und strickte wie eine Verrückte. Und sie brachte immer mehr von Merediths Freundinnen dazu, sich ihr anzuschließen. Inzwischen gehörte zu ihrem allmonatlichen Mädelsabend neben Wein und Schokolade auch Strickwolle.
Meredith selbst hatte sich noch nicht vom Strickfieber anstecken lassen, dafür trug sie bereits seit Jahren heimlich eine Waffe, entweder in der Tasche ihres Blazers oder in einem BH-Holster. Als Kinder- und Jugendtherapeutin war sie immer wieder mit gewalttätigen Familienmitgliedern konfrontiert, die ihr drohten. Sie trainierte regelmäßig auf dem Schießstand, hatte ihre Waffe aber zum Glück bisher nie benutzen müssen.
»Meine Großmutter fehlt mir sehr«, sagte sie wehmütig. »Nach dem Tod meiner Eltern war sie mein Fels in der Brandung.«
Mallory legte den Kopf schief. »Und wann ist sie gestorben?«
»Vor drei Jahren«, antwortete Meredith, wohl wissend, dass sie Mallory bisher nie etwas über sich erzählt hatte. Ich muss sie an einen anderen Therapeuten überweisen, und zwar bald. Die Vorstellung tat weh. Aber eigentlich war dieser Schritt längst überfällig. In den letzten Monaten war ihre Bindung viel zu eng geworden. »An einem Herzinfarkt. Aber wenigstens ging es ganz schnell, und sie musste nicht leiden. Obwohl sie schon über achtzig war, hatte ich nicht damit gerechnet. Es war ein Schock. Ich war einfach noch nicht bereit, sie gehen zu lassen.«
Mallorys Gesicht wurde traurig. »Das kann ich verstehen. Und was ist mit deinen Eltern passiert?«
Meredith holte tief Luft. Ihr Tod war weder schnell noch ohne Schmerzen vonstattengegangen, darüber hinaus jährte sich bald ihr Todestag. Noch ein weiterer Grund für ihren Frustkauf. »Ein Flugzeugabsturz«, sagte sie leise. »Vor sieben Jahren.«
»Oh«, sagte Mallory betroffen. »Und was ist mit deinem Großvater?«
Beim Gedanken an ihn hob sich Merediths Stimmung augenblicklich. Sie sah Mallory die Erleichterung an. »Er lebt noch und ist ein ziemlich wilder Typ. Er lebt in Florida, in einem Haus am Strand, und geht jeden Tag angeln. Er behauptet, er würde auch jeden Tag einen Fisch fangen, aber das ist bestimmt eine Lüge. Vielleicht lernst du ihn sogar kennen. Er kommt über die Feiertage her.« Er ließ sie Weihnachten niemals allein verbringen. »So, aber jetzt schauen wir endlich, was es zu essen gibt. Heute lasse ich es mal so richtig krachen.« Sie ging direkt zu den Desserts über. »Sonst ist meine morgendliche Lauferei ja völlig sinnlos.«
Meredith überlegte gerade, für welches Schokoladendessert sie sich entscheiden sollte, als sie Mallory scharf den Atem einsaugen hörte. Sie sah auf, und auch ihr stockte der Atem.
Ein junger Mann stand direkt zwischen ihrem Tisch und dem Fenster. Er war kreidebleich und zitterte am ganzen Leib. Lauf, war ihr erster Gedanke, und mit den Jahren hatte sie gelernt, im Zweifelsfall ihren Instinkten zu folgen. Doch stattdessen ließ sie die Speisekarte sinken und zwang sich zu einem Lächeln, während sie sich erhob. Mit einer beiläufigen Geste schob sie die Hände in ihre Blazertasche und löste den Verschluss ihres Holsters. »Kann ich Ihnen helfen?«
Der junge Mann schluckte. »Es tut mir so leid«, sagte er und zog eine Waffe aus der Tasche. »Es tut mir leid«, flüsterte er. »So leid.«
Und dann zielte er auf sie.
Meredith holte Luft und ignorierte die erschrockenen Aufschreie der anderen Gäste. Sie musste ihn von seinem Vorhaben abbringen. Es war ihr schon früher mit Schießwütigen gelungen, warum also nicht auch jetzt? »Reden wir darüber«, sagte sie.
Er schüttelte den Kopf. Die Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Dafür ist es zu spät. Ich muss es tun.«
Meredith riskierte einen Blick auf Mallory. Das Mädchen starrte wie gebannt auf den Pistolenlauf. Ihre Augen waren weit aufgerissen und glasig. Sie stand eindeutig unter Schock.
»Sie müssen das nicht tun«, sagte Meredith ruhig. »Wir kriegen das wieder hin. Was auch immer los ist, wir finden eine Lösung.«
Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Seien … Sie einfach still. Bitte.« Die Waffe in seiner Hand wackelte gefährlich, als er noch stärker zu zittern begann.
Er will das nicht tun. Er will eigentlich gar nicht hier sein. Jemand hatte ihn gezwungen.
Beschwichtigend streckte Meredith eine Hand nach ihm aus, während ihre andere zu ihrem Holster glitt, ohne die Waffe herauszuziehen. »Tun Sie’s nicht. Ich kann Ihnen helfen. Wie heißen Sie, mein Lieber?«
Wieder schüttelte der Junge verzweifelt den Kopf. »Still jetzt! Ich muss nachdenken!« Er zuckte zusammen, riss die freie Hand hoch und schlug sich aufs Ohr. »Hören Sie auf, mich anzuschreien! So kann ich nicht denken!«
Aber niemand schrie ihn an. Im Gegenteil. Im Restaurant herrschte Totenstille.
Er stieß sich den Finger ins Ohr. »Ich hab doch gesagt, ich tu’s!«, schrie er.
Schizophrenie? Er war genau in dem Alter, in dem die Krankheit häufig ausbrach, aber normalerweise zeigten die Patienten keine Gewaltbereitschaft gegen andere. Es sei denn, die Stimmen in seinem Kopf befahlen ihm, zu schießen. Außerdem war es nach wie vor möglich, dass ihn jemand dazu zwang. Sie musste herausfinden, womit sie es hier zu tun hatten, und sich dann für die beste Taktik entscheiden.
Sie traute sich nicht, den Blick von ihm zu lösen. »Runter, Mallory«, befahl sie ganz leise.
»Nein!«, rief der Junge, während sein Blick zu der kreidebleichen Mallory schweifte. »Keiner rührt sich!« Er richtete die Waffe zuerst auf Mallory, dann wieder auf Meredith. »Keine Bewegung.«
Meredith hatte den kurzen Moment genutzt, um ihre eigene Waffe zu ziehen. Ihre Hand war ganz ruhig, als sie sie auf den Jungen richtete, dessen Augen sich weiteten.
Im Restaurant war es immer noch totenstill, lediglich vereinzelte erstickte Angstlaute und schweres Atmen der Gäste war zu hören.
»Nimm die Waffe weg, Junge«, sagte Meredith sanft. »Ich will dir nicht wehtun, und ich weiß, dass du mir auch nicht wehtun willst.«
Der junge Mann wimmerte. Er konnte kaum älter als Mallory sein. Er ist bloß ein Junge. Ein völlig verängstigter Junge. »Ich kann das nicht«, flüsterte er.
»Ich weiß«, sagte Meredith besänftigend. »Ich weiß, dass du es nicht kannst. Und das ist in Ordnung. Lass die Waffe fallen, bitte. Ich helfe dir. Ich will dir helfen.«
»Er wird sie umbringen«, flüsterte der Junge heiser.
Wer? Die Frage lag ihr auf der Zunge, doch sie verkniff sie sich. Viel wichtiger war jetzt, ihn zum Aufgeben zu bewegen. »Wir können dir helfen. Das weiß ich. Bitte … bitte, nimm einfach die Waffe runter.«
Cincinnati, Ohio
Samstag, 19. Dezember, 15.55 Uhr
»Verdammt«, stieß er hervor, während er Andy mit dem Fernglas vom Fahrersitz seines vor dem kleinen Café geparkten SUV aus beobachtete. Fallon trug eine Waffe.
Die ruhige Stimme der Psychologin drang aus dem Transmitter in Andys Tasche. Sie versuchte, ihn zu beruhigen, es ihm auszureden. Und allem Anschein nach gelang es ihr, denn bislang hatte er nicht geschossen. Aber eigentlich spielte es keine Rolle. Die Waffe war lediglich die einfachste Methode, damit Andy möglichst nahe an ihren Tisch herankam.
Über das Mikro in Andys Ohr hatte er ihm befohlen, an den Tisch zu treten, an dem Fallon mit ihrem Schützling saß. Er hatte ihn angewiesen abzudrücken und ihn noch einmal daran erinnert, dass Linnea sterben würde, falls er es nicht täte. Aber in Wahrheit würde er sie ohnehin töten. Das Mädchen hatte sein Gesicht gesehen.
Genau wie Andy. Auch er würde nicht mit dem Leben davonkommen.
Er schob den Automatikhebel nach vorn, ließ den Fuß jedoch auf der Bremse, während er die Anruftaste auf seinem Handy drückte. Dann nahm er den Fuß von der Bremse und erstarrte.
Nichts war passiert.
Dabei hätte in diesem Moment alles losbrechen müssen, aber da war nichts – keine Explosion, kein berstendes Glas, kein umherfliegender Schutt. Nichts.
Er rammte den Hebel wieder in die Parkposition, schnappte das Fernglas und nahm Andy ins Visier. Der Junge zielte immer noch auf Meredith, die inzwischen ihre eigene Waffe auf ihn gerichtet hielt. Er lebte also immer noch. Verdammte Scheiße! Er überprüfte die Nummer. Sie stimmte. Er wählte sie ein zweites Mal. Wieder nichts.
»Verdammt!«, stieß er hervor. Er konnte die Stimme des Jungen über das Mikro kaum hören. Er wird sie umbringen. Andy war drauf und dran, Meredith Fallon alles zu erzählen. Dieser beschissene kleine Dreckskerl.
»Niemals!« Dazu würde es nicht kommen. Er zog das Gewehr unter dem Sitz hervor, ohne Linnea auf dem Rücksitz zu beachten, die entsetzt nach Luft schnappte.
»Nein!«, schrie sie. »Das kannst du nicht machen!«
Doch er konnte. Und er würde. Keine losen Enden.