Iain Reid
ENEMY
Psychothriller
Aus dem kanadischen Englisch
von Anke und Eberhard Kreutzer
Knaur e-books
Der Kanadier Iain Reid, Jahrgang 1980, veröffentlichte zunächst zwei preisgekrönte Memoirs; seine literarischen Arbeiten erschienen u.a. im New Yorker und in der National Post. Sein Romandebüt THE ENDING elektrisierte Presse und Leser und wird derzeit von Charlie Kaufman als Film für Netflix adaptiert. ENEMY ist Iain Reids zweiter philosophischer Thriller. Der Autor lebt in Kingston, Ontario.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Foe« bei Scout Press / Simon & Schuster, New York.
© 2019 der eBook-Ausgabe Droemer eBook
© 2018 Iain Reid
© 2019 der deutschsprachigen Ausgabe Droemer Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Covergestaltung: Sabine Kwauka
Coverabbildung: getty images / John Fedele; shutterstock / Krivosheev Vitaly, Anon Muenprom, jaboo2foto
ISBN 978-3-426-45351-3
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Für Ewan
Man wähle mit Bedacht, was man mitnimmt,
Wenn man für immer geht.
—Leonora Carrington, Das Hörrohr
AKT EINS
Zwei Scheinwerfer. Das Licht hat mich geweckt. Seltsam, wegen der außergewöhnlichen grünen Tönung. Nicht die weißen Scheinwerfer, die man üblicherweise kennt. Ich erspähe sie durchs Fenster, am Ende der Zufahrt. Ich muss eingedöst sein – ein Nickerchen nach dem Abendessen, vom vollen Magen und von der abendlichen Hitze. Ich blinzle ein paar Mal, um einen klaren Kopf zu bekommen.
Es gibt keine Vorwarnung, keine Erklärung. Aus dieser Entfernung kann ich das Auto auch nicht hören. Ich mache die Augen auf und sehe einfach nur diese grünlichen Lichter. Sie kommen scheinbar aus dem Nichts. Und reißen mich aus dem Schlaf. Heller als die meisten Scheinwerfer, die ich kenne, blitzen sie zwischen den beiden toten Bäumen am Ende der Zufahrt auf. Ich weiß nicht genau, wie spät es ist, aber es ist dunkel. Es ist spät. Zu spät für Besuch. Nicht, dass wir viel Besuch bekämen.
Wir bekommen keinen Besuch. Nie. Nicht hier draußen.
Ich stehe auf, strecke die Arme über den Kopf. Ich habe einen steifen Rücken. Ich schnappe mir die geöffnete Flasche Bier, die neben mir steht, rappele mich aus dem Sessel auf und bin mit wenigen Schritten am Fenster. Wie des Öfteren am Abend habe ich das Hemd aufgeknöpft. Bei dieser Hitze fällt einem nichts leicht. Alles kostet Überwindung. Ich warte, um zu sehen, ob das Auto, wie ich annehme, kurz anhält, wendet, zur Straße zurückkehrt und gefälligst weiterfährt und uns gefälligst in Ruhe lässt.
Tut es aber nicht. Der Wagen bleibt, wo er ist; die grünen Scheinwerfer sind auf mich gerichtet. Und dann, nach langem Zögern oder Sträuben oder Schwanken setzt sich der Wagen wieder in Bewegung, zu unserem Haus.
Erwartest du jemanden?, rufe ich laut nach oben.
»Nein«, ruft sie zurück.
Natürlich nicht. Keine Ahnung, wieso ich frage. Um diese späte Stunde ist hier noch nie jemand aufgetaucht. Niemals. Ich nehme einen Schluck Bier. Es ist warm. Ich beobachte, wie der Wagen die letzte Strecke bis zum Haus fährt und neben meinem Truck einparkt.
Also, du kommst wohl besser, rufe ich wieder. Da ist Besuch.
Ich höre, wie Hen die Treppe herunterkommt und ins Zimmer tritt. Ich drehe mich um. Sie war wohl gerade unter der Dusche. Sie trägt Cut-off-Shorts und ein schwarzes Tanktop dazu. Ihr Haar ist noch feucht. Sie sieht schön aus. Wirklich. Sie könnte nicht natürlicher und besser aussehen als gerade jetzt, wie sie so dasteht.
Hallo, sage ich.
»Hey.«
Einen Moment lang bleibt es dabei, bis sie das Schweigen bricht. »Ich wusste nicht, dass du da bist, ich meine, im Haus. Ich dachte, du wärst noch draußen in der Scheune.«
Sie greift sich mit der Hand ins Haar, spielt damit auf diese charakteristische Weise, indem sie es sich um den Zeigefinger wickelt und dann glatt zieht. Eine Marotte von ihr. Sie tut es, wenn sie sich konzentriert. Oder wenn sie durcheinander ist.
Da ist jemand, wiederhole ich.
Sie steht da und starrt mich an. Ohne zu blinzeln, scheint mir. Ihre Haltung ist steif, reserviert.
Was hast du?, frage ich. Alles in Ordnung?
»Ja«, antwortet sie. »Nichts weiter. Ich wundere mich nur, dass wir Besuch bekommen.«
Zögernd tritt sie näher. Auf mehr als Armeslänge bleibt sie stehen, trotzdem kann ich ihre Handcreme riechen. Kokosnuss und noch irgendwas. Pfefferminze, glaube ich. Es ist ein ungewöhnlicher Duft, für mich unverkennbar Hen.
»Kennst du jemanden mit so einem schwarzen Wagen?«
Nein, sage ich. Sieht nach Dienstfahrzeug aus, amtlich, oder?
»Kann sein«, sagt sie.
Die Scheiben sind getönt. Ich kann nicht hineinsehen.
»Er muss irgendein Anliegen haben. Wer auch immer das ist. Er ist da. Er ist den ganzen weiten Weg hier herausgekommen.«
Nach geraumer Zeit öffnet sich eine Tür, aber niemand steigt aus. Zumindest nicht gleich. Wir warten. Schätzungsweise fünf Minuten – in denen wir nur dastehen und hinausblicken, um zu erfahren, wer aus dem Auto steigt. Vielleicht sind es aber auch nur zwanzig Sekunden.
Dann sehe ich ein Bein. Jemand steigt aus. Es ist ein Mann. Er hat langes blondes Haar. Er trägt einen dunklen Anzug, das Hemd darunter mit geöffnetem Kragen, ohne Krawatte. Er hat ein schwarzes Köfferchen dabei. Er schließt die Wagentür, streicht sich das Jackett glatt und kommt zur Eingangstür. Ich kann ihn auf den alten Holzplanken hören. Er braucht eigentlich nicht anzuklopfen, weil wir ihn beobachten und er uns durchs Fenster sieht. Außerdem wissen wir, dass er da ist. Trotzdem warten wir, was er macht, und irgendwann klopft es dann auch.
Geh du, sage ich und schließe die mittleren Knöpfe an meinem Hemd.
Hen antwortet nicht, sondern dreht sich um, geht aus dem Wohnzimmer in den Flur zur Tür. Sie zögert es hinaus, blickt sich noch einmal zu mir um, holt Luft und macht dann auf.
»Hallo«, sagt sie.
»Hallo. Entschuldigen Sie die späte Störung«, erwidert der Mann. »Ich hoffe, ich komme nicht allzu ungelegen. Henrietta, nicht wahr?«
Sie nickt und blickt auf ihre Füße. »Terrance mein Name. Ich würde mich gerne kurz mit Ihnen unterhalten. Drinnen, wenn das möglich wäre. Ist Ihr Mann da?«
Das übertriebene Lächeln steht ihm unverändert im Gesicht, seit sie ihm geöffnet hat.
Worum geht’s?, frage ich, während ich aus dem Wohnzimmer in die Eingangsdiele trete. Dicht hinter Hen bleibe ich stehen. Ich lege ihr die Hand auf die Schulter. Sie zuckt unter meiner Berührung zurück.
Der Mann wendet sich mir zu. Ich bin größer als er, kräftiger gebaut. Und ein paar Jahre älter. Unsere Blicke kreuzen sich. Er sieht mich eine ganze Weile an, für meinen Geschmack länger als normal. Das Lächeln ist jetzt auch in seinen Augen, als sei er über das, was er vor sich sieht, hocherfreut.
»Junior, stimmt’s?«
Verzeihung, aber kennen wir uns?
»Gut schauen Sie aus.«
Worum geht’s?
»Ist das aufregend.« Er wendet sich an Hen. Sie meidet seinen Blick. »Auf dem ganzen Weg hatte ich Schmetterlinge im Bauch, und es ist schließlich ein gutes Stück Fahrt von der Stadt bis hierher. Es ist großartig, Sie endlich so vor mir zu sehen. Ich komme, um mit Ihnen zu reden, mit Ihnen beiden, nichts weiter«, sagt er. »Ich denke, Sie werden hören wollen, was ich Ihnen zu sagen habe.«
Worum geht’s, wiederhole ich meine Frage.
Irgendetwas stimmt nicht mit diesem unerwarteten Besuch. Hens Unbehagen ist nicht zu übersehen. Mir ist nicht wohl bei der Sache, weil Hen nicht wohl dabei ist. Wird Zeit, dass er uns sagt, was er will.
»Ich komme im Auftrag von OuterMore. Haben Sie schon von uns gehört?«
OuterMore, sage ich. Das ist die Organisation, die sich mit –
»Ob ich wohl kurz reinkommen dürfte?«
Ich halte ihm die Tür auf. Hen und ich treten zur Seite. Selbst wenn dieser Fremde in böser Absicht kommt, habe ich genug gesehen, um zu wissen, dass Terrance keine Bedrohung für uns darstellt. Nicht viel dran an dem Mann, schmächtig gebaut, man sieht ihm den Bürohengst an. Im Gegensatz zu mir, jemandem, der körperliche Arbeit gewohnt ist. Als er erst mal drinnen, in der Diele ist, schaut er sich um.
»Schön haben Sie’s«, sagt er. »Geräumig. Rustikal, schlicht, auf geschmackvolle Weise. Sehr hübsch.«
»Setzen wir uns ins Wohnzimmer?«, fragt Hen und geht voraus.
»Danke«, erwidert er.
Hen knipst eine Lampe an und nimmt in ihrem Schaukelstuhl Platz, ich in meinem Sessel. Terrance setzt sich uns gegenüber in die Mitte des Sofas. Er legt seinen Koffer auf den Couchtisch. Ihm sind die Hosenbeine hochgerutscht. Er trägt weiße Socken.
Ist noch jemand im Wagen?, will ich wissen.
»Nein, ich komme allein«, antwortet er. »Mit diesen Besuchen bin ich betraut. Hab ein bisschen länger hierher gebraucht als gedacht. Sie wohnen wirklich weit vom Schuss. Daher die späte Stunde. Nochmals, tut mir leid. Aber es ist wirklich schön, da zu sein. Und Sie beide zu sehen.«
»Ja, es ist wirklich schon spät«, sagt Hen. »Sie haben uns gerade noch vor dem Schlafengehen erwischt.«
Er ist so ruhig, so entspannt, als sei er schon hundert Mal bei uns gewesen und habe hier auf diesem Sofa gesessen. Seine übermäßige Gelassenheit hat die gegenteilige Wirkung auf mich. Ich versuche, mit Hen einen kurzen Blick zu tauschen, doch sie sieht nur geradeaus und wendet keine Sekunde den Kopf. Ich komme wieder zur Sache.
Was führt Sie her?, frage ich.
»Richtig. Ich wollte nur nicht mit der Tür ins Haus fallen. Wie gesagt, komme ich im Auftrag von OuterMore. Wir sind eine Einrichtung, die vor sechzig Jahren gegründet wurde. Angefangen haben wir mit autonomem Fahren. Unsere Flotte selbst fahrender Autos war die leistungsstärkste und sicherste auf dem Weltmarkt. Im Lauf der Jahre hat sich unser Schwerpunkt verlagert, und mittlerweile ist er sehr spezifisch. Nach dem Fahrzeugsektor haben wir uns der Forschung und Entwicklung im Bereich der Luft- und Raumfahrt zugewandt. Derzeit haben wir die nächste Übergangsphase im Blick.«
Die nächste Übergangsphase, wiederhole ich. Also den Weltraum? Kommen Sie im Regierungsauftrag? Das da draußen ist ein Wagen des öffentlichen Dienstes.
»Ja und nein. Falls Sie die Nachrichten verfolgen, ist Ihnen vielleicht bekannt, dass OuterMore ein Joint Venture ist. Eine Partnerschaft. Wir haben einen staatlichen Sektor, daher der Wagen, und unsere Wurzeln in der Privatwirtschaft. Ich kann Ihnen ein kurzes Einführungsvideo über uns zeigen.«
Er holt ein Screen aus seinem schwarzen Köfferchen. Er hält es mit beiden Händen hoch, die Vorderseite uns zugewandt. Ich werfe Hen einen Blick zu. Sie nickt und gibt mir zu verstehen, dass ich es mir ansehen soll. Er spult ein Video ab. Es erscheint mir typisch für staatliche Werbespots – übertrieben enthusiastisch und forciert. Wieder werfe ich einen verstohlenen Blick zu Hen. Sie wirkt desinteressiert. Sie zwirbelt sich eine Haarsträhne um den Zeigefinger.
Auf dem Screen wechseln die Bilder rasant, zu rasant, um auf Einzelheiten achten zu können oder auch nur die Botschaft zu verstehen, die der Spot vermitteln will. Lächelnde Menschen, Leute bei Gruppenaktivitäten, Leute, die miteinander lachen und miteinander essen. Alle sind glücklich. Es folgen mehrere Aufnahmen vom Himmel, dann von einem Raketenstart, von reihenweise Metallbetten im Kasernenstil.
Als das Video zu Ende ist, verstaut Terrance das Screen wieder in seinem Köfferchen. »Also«, sagt er. »Wie Sie sehen, arbeiten wir schon seit geraumer Zeit an diesem Projekt. Länger, als den meisten bekannt ist. Es gibt immer noch viel zu tun, aber die Dinge kommen voran. Der technologische Fortschritt, der da zu verzeichnen ist, kann sich sehen lassen. Eben jetzt haben wir wieder beträchtliche Investitionen zu verzeichnen. Es ist so weit. Ich weiß, dass sich in letzter Zeit auch die Medien für unser Projekt interessieren, aber ich darf Ihnen verraten, dass die Sache viel weiter gediehen ist, als es die Berichterstattung vermuten lässt. Es ist alles von langer Hand geplant.«
Ich versuche, seiner Logik zu folgen, bring’s jedoch nicht ganz auf die Reihe.
Nur damit es keine Missverständnisse gibt: Wenn Sie sagen, »Es ist so weit«, was genau meinen Sie damit? Wir verfolgen die Nachrichten nicht regelmäßig, nicht wahr?, sage ich und wende mich dabei an Hen.
»Nein«, bestätigt sie, »normalerweise nicht.«
Ich warte darauf, dass sie noch etwas hinzufügt, vielleicht ihrerseits eine Frage stellt, irgendetwas anmerkt, doch sie schweigt.
»Ich spreche von der ersten Expedition«, sagt er. »Zur Installation.«
Zur was?
»Installation. Die erste Welle, eine Umsiedlung auf Zeit, als Pilotprojekt, läuft an.«
Umsiedlung. Sie meinen, außerhalb der Erde? Im All?
»Genau.«
Ich dachte, das wäre eher hypothetisch, eine Fantasievorstellung, entgegne ich. Deshalb also sind Sie hier?
»Es ist sehr real. Und ja, das ist der Grund meines Besuchs.«
Hen atmet hörbar aus. Es klingt eher wie ein laut vernehmliches Stöhnen, ob aus Unsicherheit oder Verärgerung, kann ich nicht sagen.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagt der Mann, »aber dürfte ich einen von Ihnen wohl um ein Glas Wasser bitten? Ich komme um vor Durst, nach der langen Fahrt.«
Hen steht auf, dreht sich in meine ungefähre Richtung, ohne mir in die Augen zu sehen. »Möchtest du auch was?«
Ich schüttle den Kopf. Ich hab noch mein Bier, das ich angebrochen hatte, bevor der Wagen eintraf, bevor der Abend für uns diese unvorhersehbare Wendung nahm. Ich greife danach und trinke einen warmen Schluck.
»Nun, da wären wir. Hier wohnen Sie also. Sehr schön. Wie alt ist das Haus?«, fragt er, als Hen in die Küche gegangen ist.
Alt, sage ich, ein paar Hundert Jahre oder so.
»Beachtlich! Ich liebe so was. Sind Sie hier glücklich? Gefällt es Ihnen hier, Junior? Fühlen Sie sich wohl? Nur Sie beide?«
Was soll die Frage?, denke ich.
Wir kennen es ja nicht anders, antworte ich. Hen und ich. Wir sind hier glücklich, zusammen.
Er legt den Kopf schief und lächelt wieder.
»Tja, was für ein Haus. Wie geschichtsträchtig. Diese Wände hier hätten bestimmt eine Menge zu erzählen. Muss schön sein, so viel Platz zu haben, und diese Ruhe. Hier draußen können Sie tun und lassen, was Sie wollen. Weit und breit kein Mensch, auf den Sie Rücksicht nehmen müssten. Gibt es noch andere Farmen hier in der Gegend?«
Nicht mehr, erwidere ich. Früher schon. Jetzt sind es fast nur noch Äcker. Rapsanbau.
»Ja, ich hab die Felder auf der Fahrt gesehen. Wusste gar nicht, dass Raps so hoch wächst.«
Ist er früher auch nicht, erkläre ich ihm, als das Land hier noch den Farmern gehörte. Jetzt gehört das meiste den Konzernen oder ist in staatlicher Hand. Die Konzerne bauen die neue Sorte an. Es ist ein Hybridgewächs, deutlich größer und gelber als die frühere, ursprüngliche Sorte. Braucht kaum Wasser. Diese Pflanzen halten selbst einer langen Dürre stand. Wachsen außerdem schneller. Kommt mir zwar unnatürlich vor, aber so ist es nun mal.
Er beugt sich zu mir vor.
»Das ist faszinierend. Fühlen Sie sich je ein bisschen … hibbelig? Hier draußen so ganz allein?«
Hen kommt mit dem Wasser zurück und reicht es Terrance. Sie rückt ihren Schaukelstuhl näher an mich heran und setzt sich.
Frisch aus unserem Brunnen, sage ich. Solches Wasser bekommen Sie nicht in der Stadt.
Er bedankt sich bei ihr, hebt sein Glas an die Lippen und trinkt es in einem geräuschvollen Zug zu zwei Dritteln aus. Ein Rinnsal läuft ihm am Mundwinkel herunter und übers Kinn. Mit einem genüsslichen Seufzer stellt er das Glas auf den Tisch.
»Köstlich«, sagt er. »Also, wie gesagt, sind wir schon in der Planungsphase. Ich bin bei der PR-Abteilung, als Kontaktperson. Ich wurde Ihrer Akte zugeteilt. Ich werde eng mit Ihnen beiden zusammenarbeiten.«
Mit uns?, frage ich. Wir haben eine Akte?
»Na ja … erst seit Kurzem.«
Ich bekomme einen trockenen Mund. Ich schlucke, doch es hilft nichts.
Wir haben uns für nichts gemeldet und auch nicht zugestimmt, dass eine Akte über uns angelegt wird, sage ich und nehme einen Schluck Bier.
Er lächelt wieder und zeigt dabei seine strahlend weißen Zähne, Implantate, nehme ich an, wie bei vielen Leuten in der Stadt. »Das stimmt, da haben Sie recht. Aber wir hatten unsere erste Verlosung, Junior.«
Ihre erste was?, frage ich.
»Unsere erste Verlosung.«
»So nennen Sie das also«, sagt Hen und schüttelt den Kopf.
Eine Verlosung? Wie soll ich das verstehen?, will ich wissen.
»Es ist immer ein bisschen schwierig für mich, einzuschätzen, wie viel in der breiten Öffentlichkeit, wie zum Beispiel bei Ihnen, angekommen ist, was Sie sich nach allem, was Sie gelesen und gesehen haben, über uns zusammenreimen. Hier draußen vermutlich nicht viel. Es ist nämlich so: Sie wurden ausgewählt. Deshalb bin ich hier.«
Auch wenn er den Mund geschlossen hat, sehe ich, wie sich Terrance mit der Zunge die oberen Schneidezähne leckt.
Ich spähe zu Hen hinüber. Und wieder blickt sie geradeaus. Wieso sieht sie mich nicht an? Ihr macht etwas zu schaffen. Es ist nicht ihre Art, mir auszuweichen. Das gefällt mir nicht.
»Wir müssen uns das anhören, Junior«, sagt Hen, aber ihr Ton ist seltsam. »Wir müssen versuchen zu verstehen, was er sagt.«
Terrance blickt von mir zu ihr und wieder zu mir. Merkt er, wie gereizt sie ist? Kann er das heraushören? Er kennt uns nicht, weiß nicht, wie wir zueinander sind, wenn niemand dabei ist.
»Bitte entschuldigen Sie, wenn ich es mir bequem mache«, sagt er und steht auf, um sich das Jackett auszuziehen. »Das Wasser hat geholfen, aber mir ist immer noch ein bisschen warm. Bei uns ist es überall klimatisiert. Ich bitte um Nachsicht. Sind Sie sicher, dass Sie nicht auch ein Glas Wasser trinken wollen, Henrietta?«
»Nein danke«, sagt sie.
Henrietta. Er nennt sie bei ihrem vollen Vornamen. Er schwitzt durchs Hemd. Die Schweißflecken, die hier und da entstanden sind, erinnern an kleine Inseln auf einer Landkarte. Er faltet das Jackett zusammen und legt es neben sich aufs Sofa.
Jetzt ist Zeit für weitere Fragen. Er gibt mir die Gelegenheit. Das ist an seiner Körpersprache zu erkennen.
Sie sagen also, ich sei ausgelost worden.
»Richtig«, sagt er, »so ist es.«
Wofür?, frage ich.
»Für die Reise ins All. Die Installation. Wenn auch erst in der Vorrunde; das ist nur der Anfang. Ich muss betonen, dass es sich dabei um die Gesamtliste handelt, freuen Sie sich also nicht zu früh. Andererseits, wer würde sich nicht freuen? Ich freue mich für Sie. Diesen Teil meiner Aufgabe liebe ich mehr als alles andere – die gute Nachricht zu überbringen. Es gibt keine Garantie, das muss Ihnen klar sein. Ganz und gar nicht. Trotzdem ist es bedeutsam. Dies ist ein bedeutsamer Moment.«
Er sieht Hen an. Ihr Gesicht gibt keine Regung zu erkennen.
»Sie würden nicht glauben, was für einen Ansturm an Freiwilligen wir im Lauf der letzten Jahre hatten. Tausende von Menschen brennen darauf, es schon einmal so weit zu schaffen wie Sie. Viele würden buchstäblich alles dafür geben, in diesem Moment dieselbe großartige Nachricht zu bekommen. Also …«
Ich kann Ihnen nicht folgen, sage ich.
»Im Ernst?«, fragt er lachend zurück, schüttelt den Kopf und beruhigt sich. »Junior, Sie haben es geschafft! Sie haben es in die Vorauswahl geschafft. Sie stehen auf der Liste! Für die Installation. Wenn Sie weiterkommen, wenn Sie es in die Endauswahl schaffen, werden Sie das Projekt von OuterMore besuchen. Vielleicht sind Sie sogar schon bei den Ersten dabei. Bei der ersten Welle. Am Ende könnten Sie für immer da oben leben.«
Terrance zeigt zur Decke, auch wenn er es höher meint, durch das Dach bis in den Himmel. Er wischt sich über die Stirn und gibt mir Zeit zu begreifen, was er mir da sagt, bevor er fortfährt.
»Es ist eine Chance, wie sie sich einem nur einmal im Leben bietet. Es ist nur der Anfang. Wir haben schon einmal die erste Verlosung durchgeführt, weil diese … Rekrutierung nach dem Glücksprinzip … ihre Zeit dauern kann.«
Ich nehme noch einen Schluck Bier. Ich glaube, ich brauche noch eins.
Glücksprinzip?
»Ich weiß, das ist erst mal überwältigend«, antwortet Terrance verständnisvoll. »Und ein bisschen viel auf einmal. Aber vergessen Sie nicht, ich kann das nicht oft genug sagen, und ich meine es auch so: Alles verändert sich. Veränderung, Wandel gehört zu den wenigen Gewissheiten im Leben. Menschen machen Fortschritte. Wir können gar nicht anders. Wir entwickeln uns weiter. Wir kommen voran. Wir expandieren. Was weit hergeholt und extrem erscheint, wird normal und ist schon bald überholt. Wir wenden uns dem nächsten Projekt zu, der nächsten Entwicklung, dem nächsten Horizont. Das da oben, das ist nicht wirklich eine andere Welt. Sie ist weit weg. Für unsere Lebenswirklichkeit ist sie außer Reichweite. Dabei rückt sie die ganze Zeit näher. Wir rücken sie näher heran. Verstehen Sie?«
Sein Blick kündet von Zuversicht und Begeisterung. Was liest er wohl in meinem Blick? Jedenfalls empfinde ich keine Begeisterung. Sollte ich wohl. Tue ich aber nicht. Ich sehe Hen an. Sie spürt es, wendet sich zu mir um und lächelt zaghaft. Endlich. Ein Lächeln. Etwas, das uns verbindet. Sie ist bei mir. Sie ist zurück.
Das ist verrückt, sage ich, beuge mich hinüber und berühre Hen am Arm. Weltraum. Das ist eine andere Welt. Aber wir haben hier eine Welt. Ein Leben. Hier. Zusammen.
Bei mir regt sich das Bedürfnis, dieses Leben, so, wie ich es kenne und verstehe, zu verteidigen, zu beschützen.
Sie kreuzen hier in meinem Haus auf, sage ich, aus heiterem Himmel, und erklären mir, möglicherweise müsse ich gehen? Unabhängig davon, was ich selber will? Meinen Sie im Ernst, nach all den Jahren, die ich jetzt schon mit Hen hier lebe, könnte man mich gegebenenfalls zwingen, hier wegzugehen? Ich habe nie darum gebeten. Da stimmt doch was nicht.
Wieder lächelt Terrance, dann beugt er sich langsam ein wenig vor. »Hören Sie«, sagt er. »Das hier ist die Vorwarnung.« Er spricht nicht weiter, wechselt die Stellung auf dem Sofa. »Nein, tut mir leid. Das ist das falsche Wort. Warnung klingt so negativ. Und das ist es schließlich nicht. Es ist etwas Gutes. Da wird ein Traum wahr. Und ich räume ja ein, dass Sie sich nicht freiwillig dafür gemeldet haben. Nicht direkt. Aber Sie haben schon mal über den Weltraum gesprochen. Unser Algorithmus hat das ermittelt.«
Als sie das hört, wird Hen plötzlich munter. »Demnach haben Sie uns abgehört?«, fragt sie. »Wie lange hören Sie uns schon ab?« Diesen scharfen Unterton kenne ich nicht bei ihr. Er gibt mir ein … keine Ahnung, was für ein Gefühl. Ich weiß nur, dass es mir nicht gefällt.
Terrance hebt beschwichtigend die Hand. »Bitte«, sagt er. »Ich habe mich nur dumm ausgedrückt. Ich habe Ihnen die Sache nicht richtig erklärt. Es handelt sich dabei nicht um Überwachung oder gezieltes Abhören. Die Mikrofone an Ihren Screens sind immer an – das wissen Sie. Es geht hier um das Sammeln von Daten. Das Programm, das wir dafür verwenden, sichtet die Informationen und ordnet es bestimmten Themenfeldern zu. Es erkennt Wörter, die von Interesse sind.«
»Wetten, dass Sie ihn jetzt noch intensiver abhören«, sagt Hen. »Wetten?«
»Ja, das stimmt.«
Hens Gesicht ist mühsam beherrscht und verschlossen.
Wörter, die von Interesse sind? Würden Sie das bitte erklären?, frage ich. Können Sie mir Wörter nennen, die für diese Verlosung erfasst worden sind – eine Verlosung, von der ich, nebenbei gesagt, nichts wusste?
Ich hoffe, das ist die Frage, die Hen unter den Nägeln brennt.
»Für unsere Zwecke gehören dazu alle Äußerungen über Reisen oder den Weltraum oder Planeten oder den Mond. Die würden uns mit Sicherheit nicht durchs Raster fallen. Wir sind auf Informationen angewiesen.« Er verstummt, als überlege er sich, wie viel er verraten soll. »Unser Auswahlsystem ist hochkomplex und nicht leicht zu erklären. Sie müssen uns einfach vertrauen. Überhaupt ist Vertrauen hier das A und O.«
Hen hat die Hände fest zusammengelegt. Sie ist so reglos, so still. Wieso sagt sie nichts? Wieso stellt sie nicht mehr Fragen? Wieso überlässt sie alles mir?
Können Sie uns mehr erzählen?, frage ich. Was habe ich mir unter diesem Siedlungsprojekt vorzustellen?
»In den Anfängen, vor Jahren, gab es für menschliches Leben im All viele Optionen. Glaubten wir zumindest. Auf dem Mond. Dem Mars. OuterMore hat sogar mit dem Gedanken gespielt, einen neu entdeckten Planeten zu besiedeln, der um einen Stern im benachbarten Sonnensystem kreist. Am Ende haben wir beschlossen, uns gleichsam einen eigenen Planeten zu erschaffen, unsere eigene Raumstation.«
Alles, was er sagt – benachbarte Sonnensysteme –, ist für jemanden wie mich schwer zu begreifen. Aber ich muss es wenigstens versuchen.
Wieso?, frage ich. Wieso überhaupt eine Station errichten, wo es schließlich hier gute Orte zum Leben gibt? Und wieso eine ganze künstliche Raumstation, wenn es da draußen fix und fertige, einwandfreie Planeten gibt?
Terrance kratzt sich am Kopf. »Aus vielfältigen Gründen. Wenn Sie zum Beispiel zu einem dieser Planeten gelangen möchten, wären es – selbst bei Lichtgeschwindigkeit, die man aber nicht erreichen kann – ungefähr achtundsiebzig Jahre hin und zurück. Das war eins der Probleme. Wir haben uns dafür entschieden, stattdessen andere Probleme aus dem Weg zu räumen. Wir haben die erste Phase, die Einrichtung, von Anfang an als Pilotprojekt verstanden, als Erkundungsphase. Menschen würden dorthin gehen und dort leben, wir würden das Ganze beobachten, Tests durchführen, umfangreiche Analysen anstellen, und dann kämen sie wieder heim. Für dieses Modell erschien ein eigener Planet am besten geeignet. Es gibt schon Raumstationen da oben. Schon lange. Unsere erste haben wir vor mehreren Jahren gestartet. Seitdem arbeiten wir daran. Die Station ist rasant gewachsen. Inzwischen hat sie gigantische Ausmaße erreicht. Sie umkreist in diesem Moment, während wir hier miteinander reden, die Erde. Sie ist zwar noch nicht fertig, aber sie ist da.«
Wir können es nicht lassen, denke ich, wir müssen immer weiter expandieren, ausschwärmen, erobern.
Und die Regierung weiß von alledem?
»Wir sind die Regierung«, sagt er. »Wir sind eine Regierungsstelle; wir sind staatlich, es ist unsere Forschung.«
Ich hab bis heute nicht einmal ein Flugzeug von innen gesehen, bemerke ich. Dasselbe gilt für Hen. Man könnte sie damit jagen. Sie ist noch nie weit gereist. Sie hätte schreckliche Angst davor, ins Weltall zu reisen.
»Ach so«, sagt Terrance. »Das hätte ich gleich klarstellen sollen. Mein Fehler. Hier geht es um Sie, Junior, nur um Sie.«
Und da dämmert es mir. Ich sehe, worauf er hinauswill.
Dann stehen wir nicht beide auf der Liste? Wir sind nicht beide in die Verlosung gekommen?, frage ich.
»Nein, leider nicht. Nur Sie, Junior.«
Hen zeigt keine Reaktion. Sie sagt nichts. Sie seufzt nicht einmal, macht keinen Muckser. Sie sitzt einfach nur da. Ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll. Ich habe das Gefühl, als liege die Sache nicht bei mir. Und Hen ist nicht gerade von Hilfe.
Und wie geht’s weiter?, frage ich.
»Zunächst mal geschieht gar nichts, jedenfalls nichts Plötzliches, Unverzügliches. Die Liste ist immer noch lang, ebenso wie das Verfahren. Stellen Sie es sich lieber wie einen Marathon vor. Es gehört zu unserer Vorgehensweise, Ihnen diese Nachricht persönlich zu übermitteln. Wenn möglich. So können wir am besten eine Beziehung aufbauen. Wenn Sie nicht in die engere Wahl kommen, dann war das hier unser erster und letzter Besuch, aber es könnte auch der Anfang von viel mehr sein.«
Wie lang ist die erste Auswahlliste?
»Bedauerlicherweise, das werden Sie gewiss verstehen, Junior, bin ich nicht befugt, Ihnen weitere Auskünfte zu erteilen, außer, dass Sie draufstehen. Alles Übrige ist unter Verschluss. Ich kann Ihnen nur so viel dazu sagen, dass mit einer Entscheidung erst in ein paar Jahren zu rechnen ist.«
Ein paar Jahre. Gut zu wissen; es hilft mir, mich zu entspannen. Es geht hier demnach um eine entfernte Möglichkeit, so weit entfernt wie die Raumstation selbst, die um die Erde kreist. Vielleicht hat Hen das von Anfang an begriffen. Vielleicht ist sie deshalb so still, so ruhig.
Damit ist die Unterhaltung zu Ende, irgendwie. Tatsächlich redet Terrance weiter und lässt sich noch mindestens eine Stunde lang über die Ziele von OuterMore aus, nur über nichts, was mich interessiert. Wenn ich eine Frage oder eine Bemerkung einwerfe, hält er sich strikt an die Richtlinien des Unternehmens. Vieles von dem, was er von sich gibt, wirkt einstudiert. Ich frage mich, wie lange er diesen Job schon macht. Bestimmt nicht allzu lange. Dafür hält er sich zu ängstlich an sein Skript. Und er zeigt ungeniert seinen Enthusiasmus. Das steht mal fest. An einer Stelle erzählt er uns von einem Forschungsprodukt, das OuterMore entwickelt hat, es heißt Life Gel, eine Art topische Salbe, die dem Körper dabei hilft, sich an die fehlende Atmosphäre zu akklimatisieren. Ein Gel, denke ich. Ein Gel, das einem dabei hilft, sich an etwas Abwegiges zu gewöhnen. Das ist so bizarr, so abgehoben, dass ich mir nicht wirklich etwas darunter vorstellen kann.
Als Terrance sich entschuldigt, um auf die Toilette zu gehen, sind Hen und ich endlich allein. Zuerst sagt keiner von uns etwas. Wir sitzen in fassungslosem Schweigen da. Dann endlich sieht Hen mich an.
Ich blicke ihr in die Augen. Jetzt, wo sie mich sieht und mir Aufmerksamkeit schenkt, fühle ich mich sofort besser.
»Was meinst du?«, fragt sie.
Wenn ich das wüsste. Ich versuche einfach nur, alles sinken zu lassen, sage ich und schüttle den Kopf. Ich weiß, ich sollte mich freuen, aus dem Häuschen sein über eine Chance, die sich die meisten etwas kosten lassen würden, aber …
»Bist du durcheinander? Hast du Angst? Fühlst du dich überrumpelt?«
Nein, nein, nein, sage ich. Alles bestens.
»Gut«, erwidert sie. »Ist eine Menge auf einmal zu verdauen. Scheiß Life Gel.«
Kannst du laut sagen, scheiß Life Gel, bestätige ich.
Terrance kommt zurück, und so können wir nicht mehr ungestört reden. Er knüpft genau da wieder an, wo er aufgehört hat, ohne Punkt und Komma. Und er beantwortet noch immer keine meiner Fragen, sondern lässt sich über abstrakte Tangenten aus. Er gibt komplizierte algorithmische Details über die Vorauswahlliste preis. Dann zeigt er weitere Videos von neu entwickelten Raketen mit transparenter Schubdüse sowie eins, in dem sie etwas zu erklären versuchen, das sie »Schubkraftverteilung« nennen.
Hen sitzt die ganze Zeit neben mir und hört sich alles an. Dann, nach vielleicht einer halben Stunde, entschuldigt sie sich. Terrance redet noch eine Weile auf mich ein, und endlich scheint ihm der Stoff auszugehen. Ich weiß, dass ich mehr Fragen, mehr Bedenken habe, auf die ich Antworten brauche, aber diese ganze Begegnung war so unerwartet und überwältigend, dass sie mir entfallen sind. Mir geht die Luft aus, meine Neugier ist erschöpft. Ich geleite ihn zu seinem Wagen. Wir schütteln uns die Hand. Als ich ihn hier draußen ansehe und seine Hand in meiner spüre, beschleicht mich zum ersten Mal an diesem Abend das seltsame Gefühl, dass ich ihn von irgendwoher kenne.
Er verstaut seinen Aktenkoffer und überrascht mich damit, dass er sich noch einmal umdreht und zu einer Umarmung an sich zieht. Als er loslässt, tritt er zurück und packt mich bei der Schulter.
»Glückwunsch«, sagt er. »Hat mich so gefreut, Sie hier zu sehen.«
Kenne ich Sie?, frage ich.
Diese Zähne. Dieses Lächeln. »Das ist nur der Anfang. Tag eins. Aber ich habe das bestimmte Gefühl, dass wir uns in Bälde wiedersehen«, sagt er. Dann steigt er ein. »Viel Glück!«
Mit einem dumpfen Geräusch klappt die Tür zu. Ich sehe dem Wagen hinterher, wie er die Zufahrt hinunterrollt und auf die Straße abbiegt. Draußen ist es inzwischen stockduster. Ich höre die Grillen und anderen kleinen Viecher in den Rapsfeldern. Ich sehe mich um. Hier komme ich her. Hier kenne ich mich aus. Etwas anderes habe ich nie gekannt. Ich werde, habe ich immer gedacht, nie etwas anderes kennenlernen.
Ich blicke in den Himmel – von Sternen übersät. Derselbe Himmel wie immer. Mein ganzes Leben habe ich in denselben Nachthimmel geblickt. All die Sterne. Satelliten. Der Mond. Ich weiß, dass der Mond so weit weg ist. Aber heute Abend sieht es anders aus. Ich hab noch nie drüber nachgedacht, aber ich kann es sehen, alles – diese Sterne und den Mond – ich kann sie von hier aus mit eigenen Augen sehen. Wie ist es möglich, dass sie so weit weg sind?
Als ich wieder reingehe, ist es ganz still im Haus. Hen muss bereits zu Bett gegangen sein. Schon seltsam. Sie ist einfach nach oben gegangen, ohne auf mich zu warten und noch mal mit mir über alles zu reden? Sie ist erschöpft. Das muss es sein. Da taucht wie aus dem Nichts ein Fremder mit einer seltsamen Nachricht bei uns auf. Ich kann verstehen, dass sie müde ist.
Ich knipse die Lampe im Wohnzimmer aus. Ich bringe das Wasserglas und die leeren Bierflaschen in die Küche und stelle sie auf der Arbeitsplatte neben dem Spülbecken ab. Ich öffne den Kühlschrank, sehe hinein, hole aber nichts heraus. Die kalte Luft, die aus dem Kühlschrank entweicht, tut gut.
Ich tappe, ohne Licht zu machen, nach oben und bleibe auf jeder Stufe stehen, um mir die Fotos an der Wand anzusehen. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mir das letzte Mal Zeit dafür genommen habe. Bei der spärlichen Beleuchtung muss ich nah herangehen. Es sind insgesamt drei, gerahmt und auf Reihe gehängt, eins von Hen und mir zusammen, die zwei anderen von ihr und mir allein.
Das von uns beiden ist eine Selfie-Nahaufnahme. Hen hat den Mund geöffnet; sie lacht. Sie ist glücklich. Deshalb hat sie es wahrscheinlich aufgehängt. Auf dem von mir, allein, sehe ich so viel jünger aus. Ich erkenne mich kaum wieder. Hat Hen das gemacht?