Das Mädchen mit dem Fächer

Stories nach berühmten Kunstwerken

Herausgegeben von Lawrence Block

Aus dem amerikanischen Englisch von Frauke Czwikla

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über

Lawrence Block, geb. 1938, ist einer der bekanntesten Spannungsautoren der USA. Er hat bislang mehr als fünfzig Kriminalromane verfasst und zahllose Kurzgeschichten. Er ist Grand Master der Mystery Writers of America und hat bereits viermal den Edgar und den Shamus Award gewonnen, die zu den renommiertesten amerikanischen Krimipreisen zählen. Außerdem bekam er 2004 den Diamond Dagger der British Crime Writers’ Association für sein Lebenswerk zugesprochen. Damit war er erst der dritte amerikanische Autor, dem diese Ehre zuteil wurde. Er lebt in New York.

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Alive in Shape and Color« bei Pegasus Books, New York, NY.

 

Zusammenstellung und Vorwort© 2017 Lawrence Block

Sicherheitsregeln© 2017 Jill D. Block

Pierre, Lucien und ich© 2017 Lee Child

Das Mädchen mit dem Fächer© 2017 Nicholas Christopher

Die dritte Tafel© 2017 Michael Connelly

Ein bedeutender Fund© 2017 Jeffery Deaver

Charlie, der Friseur© 2017 Joe R. Lansdale

Georgia O’Keeffes Blumen© 2017 Gail Levin

Ampurdan© 2017 Warren Moore

Orange steht für Qual, Blau für Wahnsinn© 1988 David Morrell

Die schönen Tage© 2017 Joyce Carol Oates

Die Wahrheit entsteigt dem Brunnen, um die Menschheit zu beschämen© 2017 Thomas Pluck

Die große Welle© 2017 S. J. Rozan

Denker© 2017 Kristine Kathryn Rusch

Gaslicht© 2017 Jonathan Santlofer

Blut in der Sonne© 2017 Justin Scott

Die große Stadt© 2017 Sarah Weinman

David© 2017 Lawrence Block

Published in agreement with the author, c/o BAROR INTERNATIONAL, INC., Armonk, New York, U.S.A.

 

© 2018 der eBook-Ausgabe Droemer eBook

© 2018 der deutschsprachigen Ausgabe Droemer Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit

Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Jutta Ressel

Covergestaltung: Network! Werbeagentur, München

Coverabbildung: Heritage-Images / The Print Collector / akg-images

ISBN 978-3-426-45395-7

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.


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Raphael Soyer: »Büromädchen«

Vorwort

Ehe wir beginnen …

An dieser Stelle, geneigter Leser, steht das Vorwort, wie ich es ursprünglich schrieb:

 

Monate vor der Veröffentlichung von In Sunlight or in Shadow (Deutsche Ausgabe: Nighthawks. Stories nach Gemälden von Edward Hopper) im Dezember 2016 war bereits klar, dass das Buch ein Erfolg werden würde. Das Pantheon der Autoren hatte ein erstaunliches Spektrum an Stories geliefert, und die enorme Begeisterung bei Pegasus Books selbst garantierte eine wunderbare Ausgabe.

Was also sollte ich nun als Zugabe vorschlagen?

Kurzfristig dachte ich darüber nach, dieselbe Kombination noch einmal zu versuchen, einen weiteren Band mit von Hopper inspirierten Geschichten, entschied mich aber rasch dagegen. Der Mann hat uns zahlreiche Werke hinterlassen, und es ließen sich zig Gemälde nennen, die ebenso mühelos Geschichten evozieren wie diejenigen, die bereits ausgewählt wurden, aber mir war klar, dass eine Reise zu dieser Quelle reichte.

Welcher andere Künstler könnte also in einem zweiten Band an die Stelle Edward Hoppers treten?

Unzählige Namen tauchten auf, doch keiner davon schien vielversprechend. Jedes Mal konnte man sich vorstellen, dass eine Geschichte einem der Gemälde des genannten Künstlers entsprang. Andrew Wyeth, Piet Mondrian, Thomas Hart Benton, Jackson Pollock, Mark Rothko – jeder dieser Meister, ob gegenständlich oder abstrakt, vermochte eine einzelne faszinierende Geschichte zu inspirieren. Aber ein ganzes Buch?

Das was mir nicht ersichtlich.

Doch dann fiel der Groschen. Vielleicht ließ sich ja mit einer Reihe von Künstlern erreichen, was ein einzelner nicht hergab?

Siebzehn Schriftsteller, die siebzehn Geschichten schrieben, die auf siebzehn Bildern basierten – jedes von einem anderen Künstler.

Alive in Shape and Color (Deutsche Ausgabe: Das Mädchen mit dem Fächer).

Der Titel gefiel mir nicht so gut wie der erste Band In Sunlight or in Shadow – und tut es bis heute nicht, wie ich gestehen muss. Aber für den Anfang genügte er.

Ich atmete tief durch, goss mir einen Kaffee ein und begann eine Mail an die potenziellen Autoren zu entwerfen.

 

Die Einladung, einen Beitrag für eine Anthologie zu schreiben, ist eine Ehre, richtig?

Tja, selbstverständlich. Und doch stelle ich fest, dass mir dazu der Besucher einfiel, der irgendwie den Zorn der örtlichen Bevölkerung erregte, sodass einige ihrem Unmut Ausdruck verliehen, indem sie den Burschen teerten, federten und mit Schimpf und Schande aus der Stadt jagten.

»Trotz der Ehre, die mir zuteilwurde«, berichtete er, »hätte ich es vorgezogen, die Stadt auf konventionellere Weise zu verlassen.«

Die Ehre einer Einladung zu einer Anthologie birgt ihre eigenen Tücken. Man muss etwas schreiben, und die Bezahlung für die aufgewandte Zeit und Mühe ist im Wesentlichen symbolisch. Mir ist immer bewusst gewesen, dass die Bitte um eine Geschichte eigentlich die Bitte um einen Gefallen bedeutet.

Selbstverständlich gereicht so ein Beitrag dem Autor gelegentlich zum Vorteil. Wenn ich auf die Stories zurückblicke, die ich für Anthologien anderer Herausgeber geschrieben habe, gibt es vieles, wofür ich dankbar bin. Ein paar Geschichten über eine fröhlich mörderische junge Frau, alle beinah mürrisch für Anthologien von Freunden von mir verfasst, führten zu dem Roman Getting off. Eine Kurzgeschichte, die ich vor langer Zeit für eine Sammlung von Privatdetektiv-Stories zugesagt hatte, bewirkte die Wiederbelebung meines Helden Matthew Scudder, obwohl ich schon zu der Überzeugung gelangt war, dass ich nichts mehr über ihn zu schreiben wusste. (Diese Kurzgeschichte – Im frühen Licht des Tages heißt sie – war mein erster Verkauf an den Playboy, gewann meinen ersten Edgar Award, wuchs sich zu Nach der Sperrstunde aus und führte im Lauf der Jahre zu weiteren acht Kurzgeschichten und einem Dutzend Romanen über Mr Scudder.)

Weshalb ich nicht sagen kann, dass ich die Einladungen, die ich erhielt, bedaure. Dennoch spreche ich sie selbst nur zögerlich aus, da ich genau weiß, dass sie gewissermaßen immer eine Zumutung darstellen.

In diesem Fall wusste ich allerdings genau, bei wem beginnen. Ich lud alle sechzehn Autoren der ersten Anthologie ein. Mit ihnen zu arbeiten war ein Vergnügen gewesen, und ihre Stories waren erstklassig – ich konnte nur hoffen, dass zumindest einige von ihnen sich noch einmal auf diese Fron einlassen würden.

Megan Abbott musste passen, weil sie zu viel Arbeit auf dem Tisch hatte. Stephen King, der mich überrascht hatte, weil seine Liebe zu Hopper ihn zur Mitarbeit an der ersten Anthologie verführte – und dessen Story ihm eine Edgar-Nominierung einbrachte –, konnte dieses Mal widerstehen. Robert Olen Butler gefiel die Idee von Das Mädchen mit dem Fächer; er wählte einen Künstler und ein Gemälde, musste dann jedoch aussteigen, als er erfuhr, dass sein Verleger ihn zu einer langen Lesereise verpflichtet hatte, die ihm die notwendige Zeit raubte.

Doch alle anderen akzeptierten.

Ich muss gestehen, dass mich das total überraschte. Ich verschickte ein paar weitere Einladungen an David Morrell, Thomas Pluck, S. J. Rozan und Sarah Weinman. Auch sie nahmen an.

Alle Stories für den ersten Band waren neu, also speziell für diese Sammlung geschrieben, und Das Mädchen mit dem Fächer war genauso konzipiert. David Morrell erwiderte auf meine Einladung, dass ihm die Idee gefiel, er seine Story aber schon vor dreißig Jahren geschrieben hatte. Er schickte mir Orange steht für Qual, Blau für Wahnsinn, und mir fiel nicht schwer zu begreifen, was er meinte. (Ebenso mühelos zu begreifen war, warum er nach der Veröffentlichung damit den Bram Stoker Award gewann.)

Möglicherweise haben einige von Ihnen Davids Geschichte also schon einmal gelesen. Ich glaube nicht, dass es Ihnen etwas ausmacht, dies erneut zu tun.

Sie könnten sie als Bonus betrachten, da wir diesmal achtzehn Stories haben, eine mehr als in der ersten Anthologie. Ich empfand das nicht als Problem, und die lieben Leute bei Pegasus auch nicht.

 

Achtzehn Stories? Hm, sagen wir lieber sechzehn.

Eine Sache beim Schreiben ist, dass es nicht immer so läuft wie gehofft. Nur sehr selten entstehen Anthologien, bei denen kein Autor scheitert, den zugesagten Beitrag zu liefern.

Bei der ersten Anthologie war es genauso. Einer der Autoren suchte sich ein Bild aus und versprach, eine Geschichte zu schreiben, aber eine Häufung persönlicher Probleme ließ keine Arbeit zu, egal welcher Art. Als er uns in Kenntnis setzte, dass er einfach nicht würde abgeben können, hatten wir uns bereits die Bildrechte an dem von ihm gewählten Gemälde Cape Cod Morning gesichert. Wenn wir schon die Geschichte nicht haben konnten, dann wenigstens das Bild – wir nutzten es als Bonus im Vorsatz.

Bei dem vorliegenden Projekt war es Craig Ferguson, der einfach nichts abliefern konnte. Er hatte sich ein Gemälde von Picasso ausgesucht, aber die Story kam nicht, seine Planung wurde immer haarsträubender, und zusätzlich musste er noch Zeit für eine neue Sendung auf Sirius XM aufbringen. Er entschuldigte sich ausdrücklich und sagte, er hoffe auf mein Verständnis.

Ich verstand ihn nur allzu gut.

Weil ich selbst nicht in der Lage war, eine Story zu schreiben.

Ich hatte mir schon sehr früh ein Bild gewählt, ungefähr zu der Zeit, als ich begann, die Einladungen zu schreiben. Meine Frau und ich besuchten eine Porträtausstellung im Whitney in New York, und ein Ölgemälde von Raphael Soyer ließ mich wie angewurzelt stehen bleiben. Ich hatte es noch nie gesehen, wusste nahezu nichts über den Maler und dachte, es wäre eine ebenso perfekte Quelle literarischer Inspiration wie ein Werk von Hopper.

Am Ende reichte es für ungefähr tausend Wörter. Aber mir gefiel nicht, was ich geschrieben hatte, und ich konnte nicht erkennen, wohin das überhaupt führen sollte.

Nun, meine erste Geschichte habe ich 1957 verkauft, demnach mache ich das also schon seit sechzig Jahren. Doch in letzter Zeit drängt sich mir die Botschaft auf, dass ich es vielleicht gar nicht mehr kann. Vor ein paar Jahren schien mir, dass ich möglichweise bereit sein könnte, keine Romane mehr zu verfassen, und obwohl ich seitdem ein oder zwei Bücher veröffentlicht habe, rechne ich nicht damit, noch ein weiteres zu schreiben. In den letzten Jahren gab es einige wenige Kurzgeschichten und Novellen, und vielleicht werden es in der Zeit, die mir bleibt, noch mehr – aber vielleicht auch nicht.

Und das ist in Ordnung so.

Hätte ich die von Soyer inspirierte Geschichte jemand anderem zugesagt, hätte ich mich längst voller Bedauern entschuldigt. Aber es schien mir unverzeihlich, mein eigenes Buch im Stich zu lassen, und so rannte ich mit dem Kopf länger gegen die sprichwörtliche Wand, als geboten war. Schließlich dämmerte mir, dass ein Buch mit so ausgezeichneten Geschichten von so erstklassigen Schriftstellern seinen Weg in die Welt auch ohne einen Beitrag von mir machen würde.

Und nur weil ich daran gescheitert bin, eine Story zu schreiben, heißt das ja nicht, dass Sie ohne das Bild auskommen müssen. Ebenso wie Cape Cod Morning als wunderbares Frontispiz der ersten Anthologie diente, erfüllt The Office Girls diese Funktion in schönster Weise nun bei diesem Titel. Und wie zuvor lade ich Sie alle ein: Erfinden Sie Ihre eigene Geschichte zu Raphael Soyers stimmungsvollem Gemälde. Denken Sie sich eine Story aus – und falls Ihnen so etwas liegt, schreiben Sie sie auf.

Aber schicken Sie sie nicht an mich. Ich bin hier fertig.

 

Und das wäre es gewesen, hätte mir nicht Warren Moore, dessen von Salvador Dalí inspirierte Geschichte einer der besonderen Schätze ist, die Sie erwarten, eine Mail geschrieben. Er erinnerte mich daran, dass ich vor zwanzig Jahren eine Kurzgeschichte verfasst hatte, die die Bedingungen von Das Mädchen mit dem Fächer bequem erfüllte. David entstand aus meiner ersten Begegnung mit einer Kopie von Michelangelos Statue im Delaware Park von Buffalo, als ich ein Teenager war, und die Erinnerung wurde 1995 während eines Besuchs in Florenz beim Anblick des Originals wieder lebendig: Matthew Scudder ist zusammen mit seiner Frau Elaine in Florenz, als eine zufällige Begegnung mit dem Täter eines alten Falls ihm offenbart, was Paul Harvey das »Ende der Geschichte« zu nennen pflegte – eine Geschichte, die in Buffalo ihren Anfang nimmt, in New York weitergeht und am Ufer des Arno endet.

Perfekt für die Sammlung, aber durfte in diesem Buch eine weitere bereits veröffentlichte Story erscheinen? Ich hatte gute Argumente pro und contra, weshalb ich die Entscheidung Claiborne Hancock bei Pegasus überließ, der sich ohne zu zögern dafür entschied. Und so enthält Das Mädchen mit dem Fächer nun siebzehn Geschichten, in denen sich in der Skulpturengalerie Michelangelos David zu Rodins Denker gesellt.

Raphael Soyers Büromädchen jedoch haben wir als Frontispiz beibehalten, ein zusätzliches Gemälde, das Sie vielleicht zu inspirieren vermag – was bei mir leider nicht so recht der Fall war.

Lawrence Block

»Sicherheitsregeln«

Jill D. Block

Sicherheitsregeln

TAG EINS

Es war mein drittes Mal, und ich wusste genau, was mich erwartete. Ich fuhr früh in die Stadt, damit ich noch bei Starbucks vorbeischauen konnte, nachdem ich aus der U-Bahn gestiegen war. Ich war um 8.55 Uhr oben im angegebenen Saal. Ich fand einen Sitz, holte meine Zeitschrift heraus, überblätterte die Modeanzeigen und hatte bereits einen guten Teil von Graydon Carters Artikel über Trump gelesen, als es losging. Die Dame wies uns an, unsere Karten an der perforierten Kante abzutrennen, und nachdem sie die Abschnitte eingesammelt hatte, schaltete sie das Einweisungsvideo an.

Ich war nicht im Geringsten überrascht, als ungefähr dreißig Minuten nach Ende des Videos ein Gerichtsdiener die erste Gruppe aufrief. Ich kannte den Ablauf – zwanzig oder fünfundzwanzig von uns würden in einen Gerichtsaal gebracht, in dem man eine Jury wählte. Alle anderen würden hier warten, und im Verlauf des Tages und vielleicht auch noch morgen würden weitere Gruppen aufgerufen werden. Höchstens drei Tage, und ich hätte meine Bürgerpflicht erfüllt. Ich hoffte, in dieser ersten Gruppe aufgerufen zu werden – früh rein, früh raus. Vielleicht hätte ich sogar noch Zeit, mich nach Stiefeln umzuschauen.

Ich tat, was ich immer tue – zählen –, während die Namen aufgerufen wurden. Er las die Karten aus dem Stapel in seiner Hand laut vor, mit der gelangweilten Autorität eines Mannes mit Dienstmarke, wobei er hin und wieder über die Aussprache stolperte. Ich hörte auf, als ich bei fünfundachtzig angelangt war und er noch immer vorlas. Ich sah mich im Saal um – sechs Sitze pro Reihe auf jeder Seite des Mittelgangs und ungefähr fünfundzwanzig Reihen. Nicht alle Plätze waren besetzt, aber doch fast. Wir waren also ungefähr 250? 260? Ich versuchte, grob zu überschlagen, wie viele Menschen noch saßen, als ich meinen Namen hörte. Ich stopfte meine Zeitschrift in die Tasche, nahm meinen leeren Kaffeebecher und gesellte mich zu der Gruppe, die zur Tür an der Rückseite des Saals und hinaus in den Korridor ging. Der Gerichtsdiener rief weiterhin Namen auf.

Komisch, was passiert, wenn sich die Regeln ändern. Ich war vor einer knappen Stunde mit dem Gefühl eingetroffen, als gehörte mir das Gebäude, hatte genau gewusst, wohin ich gehen, was ich tun musste, was mich erwartete. Geschworenenpflicht, ja sicher. Vielleicht finde ich in der Mittagspause einen Laden, in dem ich eine Maniküre bekomme. Und dann war ich plötzlich genauso orientierungslos wie alle anderen, während ich auf Anweisungen wartete und der Gruppe ins Unbekannte folgte.

»Das müssten alle sein.« Der Gerichtsdiener redete weiter, während er sich durch die Gruppe bewegte. »Falls Sie Ihren Namen nicht gehört haben, prüfen Sie die Karte, die Sie mit der Post erhalten haben, auf der steht, dass Sie heute hier erscheinen sollen. Falls auf der Karte 27. September, Saal 311, steht, sind Sie am richtigen Ort und kommen mit mir. Falls auf Ihrer Karte etwas anderes steht als 27. September und Saal 311, sind Sie am falschen Ort. Falls Sie am falschen Ort sind, müssen Sie zum Hauptbüro der Gerichtsverwaltung in Zimmer 355 gehen. Alle anderen begleiten mich zum Saal 42 im achten Stock. Bitte folgen Sie mir.«

Es dauerte mehr als eine Dreiviertelstunde, bis wir alle oben im Gerichtssaal waren. Wir benahmen uns wie eine Gruppe ungezogener Erstklässler. Wir besetzten alle Plätze, und die übrigen Personen stellten sich an die Seitenwände und in den hinteren Teil des Saals. Der Richter stellte sich vor, entschuldigte sich für die fehlenden Sitzplätze und dankte uns für unser Kommen. Er stellte uns die Vertreter der Anklage, die Verteidigung und den Beschuldigten vor und erklärte, dass wir die Gruppe wären, aus der die Anwälte zwölf Geschworene auswählen würden. Warum so viele Personen? Nun, erläuterte er, man rechne mit einer Prozessdauer von vier Monaten. Vier Tage die Woche, von zehn bis siebzehn Uhr, den gesamten Januar hindurch. Darauf erklang ein kollektiver Stoßseufzer, gefolgt von geflüsterten Gesprächen. Er wartete ab, bis sich die Unruhe gelegt hatte, und sprach dann kurz darüber, wie das Geschworenensystem funktionierte. Er sagte, dass er das Opfer zu würdigen wisse, das jeder von uns durch sein heutiges Erscheinen gebracht hatte, ganz zu schweigen davon, was von den Geschworenen erwartet wurde, die man für diesen Fall auswählte. Dann forderte er uns auf, uns ein paar Minuten Zeit zu nehmen, um einzig auf Grundlage des Zeitplans, den er genannt hatte, nachzudenken, zu reflektieren, festzustellen, ob wir wirklich in der Lage wären, dieser Jury als Geschworene zu dienen. Er war gut. Er gab einem das Gefühl, ihm etwas schuldig zu sein, als müsste man alles geben, um eine Möglichkeit zu finden, diese äußerst bedeutende Säule unseres Rechtssystems zu stützen. Als ließe man ihn im Stich, wenn man sagte, man könne nicht. Er sagte, falls wir glaubten, dabei sein zu können, sollten wir uns einen Fragebogen vom Gerichtsdiener holen, ihn draußen im Korridor ausfüllen, ihn dann dem Gerichtsdiener zurückgeben und am Freitag wiederkommen. Falls wir dachten, dass wir es nicht schafften, sollten wir Platz nehmen. Er und die Anwälte würden sich nacheinander einzeln mit jedem, der blieb, unter vier Augen unterhalten.

Ich setzte mich hin.

Ich verbrachte den Rest des Tages dort, zu Tränen gelangweilt, weil elektronische Geräte im Gerichtssaal untersagt waren. Es war eiskalt. Ich beschäftigte mich damit zu beobachten, wie sie die Leute zu Warteschlangen aufreihten, als würde ich eine Art Kontrolle über das System erlangen, wenn ich es verstand. Es mussten immer fünf Leute gleichzeitig aufstehen und sich in der Reihenfolge ihrer Sitzplätze anstellen. Die nächsten fünf wurden aufgerufen, wenn nur noch eine Person in der Schlange vor der geschlossenen Tür stand. Ich versuchte mitzuzählen, wie viele Personen sich einen Fragebogen holten, nachdem sie ihr vertrauliches Gespräch hinter sich hatten, und wie viele ihre Karte wiederbekamen und gebeten wurden, in den Saal zurückzukehren, in dem wir uns ursprünglich eingefunden hatten, vermutlich um entlassen zu werden. Ich hatte noch sieben Personen vor mir, als man uns zum Mittagessen schickte, mit der Aufforderung, um 14.15 Uhr wieder da zu sein. Bei meiner Rückkehr fand ich mich hinter jemandem, der offensichtlich noch nie durch einen Metalldetektor gegangen war (»Was? Ich muss den Gürtel abnehmen?«), weshalb ich als eine der Letzten den Gerichtssaal betrat. Statt sieben Personen vor mir zu haben, saß ich nun in der letzten Reihe und hatte nur vier Personen hinter mir. So ging es den ganzen Nachmittag weiter – sitzen, warten. Dann endlich war ich an der Reihe. Der Richter stellte sich und die Anwälte noch einmal vor, und ich nannte meinen Namen. Ich erklärte, dass es mir meine Arbeit unmöglich machte, als Geschworene zu dienen. Dass meine Position bei der Bank Personalplanung umfasste, dass immer jemand dort sein musste, der tat, was ich tat. Sie fragten mich, wie viele wir waren, wer mich an diesem Tag vertrat und was passieren würde, wenn einer von uns krank wurde oder Urlaub nahm. Ich fragte mich, was ich stattdessen hätte sagen sollen, ob sie auch nachgehakt hätten, wenn ich behauptet hätte, ich müsse mich einer lebensrettenden Operation unterziehen. Der Richter dankte mir für meine Zeit und bat mich, den Fragebogen auszufüllen und am Freitag wieder zu erscheinen.

TAG ZWEI

Man hatte uns in einen größeren Gerichtssaal verwiesen, aber es waren dennoch ein paar Sitze zu wenig für die Leute, die am Freitag zurückkehrten. Wie sich herausstellte, war meine Gruppe vom Dienstag die zweite Gruppe – sie hatten dasselbe zwei Wochen zuvor mit einer anderen Gruppe gemacht, und nun war Tag zwei für alle, die einen Fragebogen ausgefüllt hatten. Der Richter begann, indem er uns mitteilte, dass die Anwälte aus unserer Gruppe die Geschworenen für die Entführung und den Mord an Milo Richter 1978 auswählen würden. Ich spürte, wie ich tief Luft holte. Micheline! Ganz plötzlich ergab alles einen Sinn. Es gab einen Grund, warum ich hier war. Der Richter erklärte, dass Vertrautheit mit dem Fall keinen Ausschlussgrund darstellte. Er gestand uns zu, dass einige von uns sicherlich eine Menge wussten, andere hingegen womöglich noch nie von der Sache gehört hatten, aber dass dies weder in dem einen noch dem anderen Fall eine Rolle spielte.

Er erläuterte, wie die Geschworenenauswahl funktionierte. Man würde sechzehn zufällig ausgewählte Namen aufrufen, und diese sechzehn Personen würden sich auf die Geschworenenbank setzen, wo der Richter jedem eine Reihe von Fragen stellen würde. Auf Grundlage der Antworten auf die Fragen des Richters würden die Anwälte entscheiden, dass einer oder mehrere der sechzehn nicht für den Fall geeignet waren, worauf man sie entlassen würde. Weitere Namen würden aufgerufen, und der Richter würde diesen neuen Personen dieselben Fragen stellen. Sobald sechzehn Personen die Fragen des Richters überstanden hatten, würden die Anwälte sie als Gruppe ansprechen. All das würde im Gerichtssaal vonstatten gehen. Wir würden alle anwesend sein. Keine Telefone, keine Computer. Er begann über die Wichtigkeit einer unvoreingenommenen Jury zu sprechen, und ich hörte nicht länger zu.

Micheline. Ich hatte seit Jahren nicht mehr an sie gedacht, aber ich konnte sie vor meinem inneren Auge sehen, als hätte ich sie gestern zuletzt getroffen. Diese Zöpfe. In der Schule nannten alle sie Zöpfchen. Zöpfchen Grady. Weil Micheline für unsere verschlafene New-Jersey-Stadt zu lang, zu kompliziert war. Doch ich nannte sie immer nur Micheline. Ich hatte allein in meinem Zimmer geübt, gelernt, den Namen richtig auszusprechen, wie sie es tat, wie ihre Mutter es tat.

Micheline und ich waren beste Freundinnen. Ich hatte sie mir aus einer Klasse voller Erstklässler ausgesucht, wie man sich den schönsten Apfel aus einem Korb am Marktstand wählt. Sie war meine erste Freundin, die wahrhaft mir gehörte, deren Mutter keine Freundin meiner Mutter war, die man mir nicht mit dem Befehl aufgedrängt hatte, miteinander zu spielen, während sich die Erwachsenen unterhielten. Natürlich hatte ich sie gewählt. Schon beim ersten Mal, als ich sie sah, konnte ich den Blick nicht von ihr abwenden. Sie war anders, nicht wie der Rest von uns. Nicht nur ihr Name, auch ihre Manieren, ihr Akzent, ihre Kleidung. Sie trug Petit Bateau, der Rest von uns Kleidung von Danskin, die unsere Mütter aus den Billigläden mitbrachten.

Alle wollten mit ihr befreundet sein. Sogar Mrs Turner mit ihren dicken Knöcheln und der Brille an einer Kette um den Hals war vollkommen bezaubert von Micheline. Was mich so verblüffte, selbst damals schon, mit sechs Jahren, war, dass sie auch mich wählte. Sie war meine beste Freundin und ich ihre, mit einer solch absoluten Gewissheit, die ich seitdem nie mehr verspürt habe. Bei nichts. Wir waren Zöpfchen und Nicki. Micheline und Veronica.

Der Richter schickte uns für eine zehnminütige Pause in den Korridor. Er sagte, bei unserer Rückkehr würde man die erste sechzehnköpfige Gruppe aufstellen und anfangen. Es sollte den ganzen Tag dauern, unterbrochen von einer Mittagspause von 13 Uhr bis 14.15 Uhr. Ich griff nach meiner Tasche, schaltete mein Handy ein und gesellte mich zu der Menge, die aus dem Gerichtssaal strömte. Bitte ruft mich auf, bitte ruft mich auf, bitte ruft mich auf, wiederholte ich stumm. In der Warteschlange vor der Damentoilette scrollte ich durch die Mails, die gekommen waren, während mein Smartphone ausgeschaltet war. Bitte ruft mich auf, bitte ruft mich auf, bitte ruft mich auf. Ich steckte mein Smartphone wieder ein, ohne eine der Mails geöffnet zu haben. Lasst mich das machen, dachte ich. Lasst mich das in Ordnung bringen. Lasst mich das für Micheline tun.

Bis wir alle wieder im Saal waren, Platz genommen hatten und anfangen konnten, vergingen fünfundzwanzig Minuten. Der Gerichtsdiener begann Namen von Karten zu lesen, die er aus so einer Metalltrommeln, zog, die man mit einer Kurbel drehen konnte. Bitte ruft mich auf, bitte ruft mich auf, bitte ruft mich auf. Er las einen Namen vor und buchstabierte ihn dann, erst den Vor-, dann den Nachnamen, vermutlich um sicherzustellen, dass der Gerichtsschreiber sie richtig notierte. Ich saß aufrecht da und rutschte ein wenig nach links, damit der Gerichtsdiener mich deutlich sehen konnte, falls er aufblickte. Er rief zehn Namen auf. Noch sechs. Ich schloss die Augen und atmete tief ein. Bitte ruft mich auf, bitte ruft mich auf, bitte ruft mich auf.

Er rief mich nicht auf.

Ich war enttäuscht, wusste jedoch, dass es noch weitere Gelegenheiten geben würde, meinen Namen aufzurufen. Ich hörte aufmerksam zu, was der Richter zu den sechzehn Gewählten sagte. Er stellte jedem einzelnen dieselben Fragen, in derselben Reihenfolge, einem nach dem anderen. Als er die vierte Person befragte, konnte ich die Fragen auswendig. »Wo in Manhattan leben Sie?«, »Woher stammen Sie ursprünglich?«, »Welchen Schulabschluss haben Sie?«, »Sind Sie gegenwärtig berufstätig?«, »Welcher Arbeit gehen Sie nach?«, »Wer lebt mit Ihnen in Ihrem Haushalt?«, »Sind Ihre Kinder im schulfähigen Alter?«. Es würde einfach sein. Ich lebte seit fast dreißig Jahren an der Upper East Side, wohin ich nach meinem Abschluss gezogen war. Ich lebte allein, hatte keine Kinder, arbeitete nicht mit Kindern. »Sind Sie oder ein Familienmitglied oder enge Freunde jemals Opfer eines Verbrechens gewesen?«, »Arbeiten Familienmitglieder oder enge Freunde von Ihnen für die Strafverfolgungsbehörden?«, »Kennen Sie irgendjemanden, der wegen eines Verbrechens angeklagt oder verurteilt wurde?«, »Was machen Sie gern in Ihrer Freizeit?«. Die meisten antworteten so leise, dass ich sie nicht richtig verstehen konnte, obwohl die Anwälte sie immer wieder aufforderten, lauter zu sprechen. Die Leute, die in den ersten Reihen auf der rechten Seite des Saals nahe der Richterbank saßen, lachten über die Antwort einer Dame auf die Frage, mit wem sie zusammenlebte. Ich blickte hinüber und sah, dass auch der Richter lächelte. Ich fragte mich, was sie wohl gesagt hatte.

Als der Typ in dem Buffalo-Bill-Shirt bejahte, dass er oder ein enger Freund oder ein Familienmitglied Opfer eines Verbrechens gewesen war, fragte der Richter, ob er dies in seinem Fragebogen erläutert hatte, und der Typ sagte: »Ja.« Scheiße. Ich erinnerte mich an die Frage, aber ich hatte sie beantwortet, ohne großartig nachzudenken. Ich war ziemlich sicher, dass ich »Nein« geschrieben hatte. Oder falls »Ja«, hatte ich nur daran gedacht, wie mir in Paris einmal das Portemonnaie geklaut worden war, weshalb ich vermutlich so was geschrieben hatte wie »Taschendiebstahl, 1984«. Ich hatte nicht gelogen. Zumindest nicht absichtlich. Ganz ehrlich, ich dachte an Micheline nicht auf diese Weise. Wir waren acht Jahre alt.

Dass ich auf meinem Fragebogen nichts dazu geschrieben hatte, schien mir ein weiteres Zeichen, dass es mir bestimmt war, hier zu sein. Dass es einen Grund für meine Anwesenheit gab. Ehe ich wusste, worum es bei diesem Fall ging, hätte ich die Frage einfach mit »Ja« beantworten und etwas über die Geschehnisse schreiben können, und ich war ziemlich sicher, dass dies gereicht hätte, um mich nach Hause zu schicken. Was ich zu diesem Zeitpunkt gewollt hatte, richtig? Deshalb war es nicht so, als hätte ich absichtlich nichts erwähnt. Ich wollte entlassen werden. Hätte ich mich daran erinnert, hätte ich »Ja« geschrieben.

Nachdem der Richter die siebte Person befragt hatte, machten wir Mittagspause. Ich lief durch die Gegend und fragte mich, was ich tun sollte. Sollte ich es ihnen sagen oder nicht? Selbstverständlich wusste ich, dass ich das tun sollte. Sie stellten diese Frage nicht ohne Grund. Und wir hatten geschworen, einen Eid abgelegt oder so, die Wahrheit zu sagen. Doch wenn ich sie sagte, würde sie das gegen mich einnehmen. Sie würden davon ausgehen, dass ich nicht unvoreingenommen sein konnte. Dass ich nicht zwischen diesem Fall und dem, was Micheline zugestoßen war, unterscheiden konnte.

Nach der Mittagspause machten sie an dem Punkt weiter, an dem sie aufgehört hatten. Der Richter fuhr fort, dieselben Fragen zu stellen, und die Personen auf der Geschworenenbank fuhren fort, sie zu beantworten. Ich schloss die Augen.

Ganz plötzlich kam die Erinnerung. Sie war lebhaft wie ein Traum, und doch, ich war hellwach, mir vollkommen bewusst, wo ich mich befand, auf einem Sitzplatz im Gerichtsaal, das Raunen der Fragen und Antworten im Hintergrund. Wir waren in der zweiten Klasse. Das wusste ich, weil Miss Jordan da war, und die hatten wir in der zweiten Klasse. Wir liebten sie, weil sie so jung und hübsch war. Besonders nach Mrs Turner im Jahr zuvor. An diesem Tag besuchte ein Polizist die Klasse, um mit uns über Sicherheitsvorschriften im Verkehr zu reden. Sachen wie nach links und rechts zu schauen und die Straße nur an der Ecke zu überqueren. Als der Polizist fertig war und sich erkundigte, ob noch jemand Fragen hätte, hoben zwei Kinder die Hand, Timmy Irgendwer, der im Sommer nach der fünften Klasse fortzog, und Micheline. Timmy fragte den Polizisten, ob er schon mal eine Waffe abgefeuert hätte. Und dann fragte Micheline nach den Sicherheitsvorschriften für das Vorbeilaufen an einem Geisterhaus.

Alle lachten, auch der Polizist und Miss Jordan. Aber ich wusste, dass sie keinen Witz hatte machen wollen. Micheline und ich gingen jeden Tag zusammen zur Schule und wieder nach Hause. Im Rückblick scheint es unglaublich, dass unsere Eltern das gestatteten. Wir waren sechs oder sieben Jahre alt. Aber es war wirklich eine andere Zeit. Alle Schulkinder, die draußen in Richtung See wohnten, liefen zur selben Zeit in dieselbe Richtung. Nicht direkt gemeinsam, aber keiner wirklich allein. Micheline wohnte am weitesten draußen, deshalb waren wir immer nur noch zu zweit, wenn wir am Roten Haus vorbeiliefen.

Wir hatten mit der Zeit unsere eigenen Sicherheitsregeln aufgestellt. Wir mussten die Luft anhalten, wenn wir am Haus vorbeiliefen. Wir holten also am Briefkasten tief Luft und hielten sie dann an, bis wir den Baum auf der anderen Seite erreichten und ihn mit der Hand berührten. Wir gingen so schnell wir konnten, aber wir durften nicht rennen. Und wir durften das Haus nicht ansehen. Wir blickten stur geradeaus und versuchten, nicht zu blinzeln. Ich weiß nicht, warum wir nicht einfach die Straßenseite wechselten.

Nachdem der Richter die letzte Person befragt hatte, unterhielt er sich einige Minuten mit den Anwälten. Er bat die Personen auf der Geschworenenbank, noch eine Weile im Korridor zu warten, für den Fall, dass die Anwälte noch Fragen an sie hatten, und der Rest von uns war für heute fertig. Man befahl uns, am Montag um zehn Uhr wieder zu erscheinen. Draußen war es schön, und da es ohnehin zu spät fürs Büro war, beschloss ich, zu Fuß nach Hause zu gehen.

Ich hatte nicht wirklich geglaubt, dass es im Roten Haus spukte. Ich wusste vermutlich nicht einmal, was spuken bedeutete. Es war ein altes Haus, in dem niemand mehr wohnte, der Anstrich verblasst und blätternd. Der Rasen vor dem Haus war verwildert, und die Einfahrt wurde nicht geräumt, wenn es schneite. Eine der Stufen zur Veranda war kaputt. Ich erinnere mich, dass ich einmal in den Semesterferien daheim zu Besuch war und feststellte, dass man es abgerissen hatte und ein neues Haus auf dem Grundstück gebaut worden war. Ich konnte es nicht glauben – das Rote Haus war verschwunden. Ich fragte meine Mutter, was sie darüber wusste, wem es gehört hatte und wann es verkauft worden war. Sie sagte, sie wüsste nicht, wovon ich redete. Das alte rote Haus? An dem sie tausendmal vorbeigefahren war? Vielleicht sogar zehntausendmal? Das Haus, das Dad eine »verdammte Beleidigung fürs Auge« genannt hatte? Nein. Sie erinnerte sich nicht.

Ich gab mir Mühe, mich zu beschäftigen, weil ich nicht das ganze Wochenende über den Fall nachdenken wollte. Der Richter hatte uns gesagt, dass wir weder über den Fall reden noch lesen durften und dass wir jegliche Artikel oder Zeitungsberichte oder Gespräche darüber meiden sollten. Er sagte, es sei in Ordnung, anderen zu erzählen, für welchen Fall wir in Betracht gezogen wurden, mehr aber nicht. Ich beschloss, nichts zu sagen. Ich wollte nicht riskieren, dass jemand etwas darüber zu mir sagte. Oder über Micheline.

Ich habe den Grund nie verstanden, aber Michelines Verschwinden erhielt nie dieselbe nationale Aufmerksamkeit wie der Fall Milo Richter einige Jahre danach. Natürlich lag es zum großen Teil daran, wo wir lebten. Ich weiß wirklich nicht genau, an wie viel ich mich selbst erinnere und wie viel ich weiß, weil ich es gelesen habe oder mir jemand davon erzählt hat. Ich weiß nur, dass Helene hineinging, um Micheline für die Schule zu wecken, und ihr Bett leer war. Sie war verschwunden. Ihr Vater war nicht in der Stadt, weil er anderswo arbeitete, deshalb waren nur sie beide im Haus gewesen. Die Hintertür war nicht verschlossen. Doch eine Menge Leute ließen ihre Hintertüre offen. Helene hatte getrunken. In den Zeitungsartikeln, die ich später las, wurde ausgiebig darüber berichtet, dass eine leere Weinflasche im Müll lag und eine halb volle Flasche auf dem Küchentresen stand. Sie war auf dem Sofa eingeschlafen. Was immer im Haus geschehen war, sie hatte es verschlafen.

Helene war nicht wie die anderen Mütter, und sie hatte nicht viele Freunde. Sie und Pete hatten sich kennengelernt, als er in Frankreich arbeitete. Sie waren aus Paris hergezogen, nachdem Pete in das New Yorker Büro seiner Firma versetzt worden war, in dem Sommer, ehe Micheline und ich eingeschult wurden. Helene gehörte nicht zu den Müttern, die Klassenausflüge begleiteten, sich freiwillig für die Schulbücherei meldeten oder beim Halloween-Laternenzug halfen. Meine Mutter hatte viel an ihr auszusetzen. Vermutlich ging es allen Müttern so. Sicher waren auch meine Erzählungen, wenn ich von Micheline nach Hause kam, nicht gerade hilfreich – dass Helene mir gesagt hatte, ich könne sie Maman nennen, dass sie uns mit ihren Parfüm einsprühte oder uns beim Backen helfen ließ und über das Chaos lachte, das wir anrichteten, über und über mit Puderzucker eingestäubt. Bei mir zu Hause nannte Micheline meine Mutter Mrs Ellis, und als Belohnung durften wir manchmal im Wohnzimmer von Tabletts Fertiggerichte essen und dabei Fernsehen schauen. Meine Mutter sagte, es schiene einfach nicht richtig, dass Helene bei der Beerdigung so hübsch angezogen gewesen war, Lippenstift aufgetragen, ein Tuch getragen hatte. Ich erinnere mich, wie meine Mutter zu meinem Dad sagte: »Was für eine Mutter würde bei der Beerdigung ihres Kindes auch nur daran denken, ein Tuch zu tragen?«

TAG DREI

Bitte ruft mich auf, bitte ruft mich auf, bitte ruft mich auf. Der Tag begann mit dem Gerichtsdiener, der Personen auswählte, um die beiden zu ersetzen, die nach der Befragung durch den Richter entlassen worden waren. Ich versuchte mich zu erinnern, wer auf den leeren Plätzen gesessen, was sie gesagt hatten, um nach Hause geschickt zu werden. Der Gerichtsdiener drehte an der Kurbel und zog eine Karte heraus, mit der die neue Person für Platz Nummer drei identifiziert wurde. Bitte ruft mich auf, bitte ruft mich auf, bitte ruft mich auf. Nein. Nächster Name für den nächsten Platz. Nein. Der Richter stellte den beiden Neuen dieselben Fragen. Nachdem er fertig war, beriet er sich flüsternd mit den Anwälten. Vermutlich um sicherzugehen, dass die beiden Neuen in Ordnung waren, und dann sagte er, er wäre bereit, noch jemandem die Chance zum Reden zu geben. Er sprach ein wenig über die Vorvernehmung von Geschworenen und forderte uns, das Publikum, auf, aufzupassen und darüber nachzudenken, wie wir die gestellten Fragen beantworten wollten, und dann übergab er an die stellvertretende Staatsanwältin.

Zu Beginn gefiel sie mir. Sie schien gut zu sein. Sie redete laut und mit Nachdruck und schien keine Probleme zu haben, zu einer Gruppe zu sprechen. Sie redete über die Indizien, die sie und ihr Team präsentieren würden, und was diese bewiesen. Sie sprach auch über die Beweise, die die Verteidigung wahrscheinlich präsentieren würde. Als sie mit der Befragung begann, konnte man erkennen, dass sie sich gemerkt hatte, wer auf welchem Platz saß, und sie die Namen kannte. »Miss Cantone, Sie werden der Beweisführung zuhören und Ihren gesunden Menschenverstand nutzen, um zu beurteilen, wie überzeugend diese ist, richtig?« Miss Cantone bejahte. »Und Sie, Mr Wald. Sie auch? Werden Sie in der Lage sein, die vorgelegten Beweise mithilfe Ihrer Lebenserfahrung und Ihres gesunden Menschenverstandes zu beurteilen?« Mr. Wald bejahte. »Noch jemand? Ist hier jemand, der keinen gesunden Menschenverstand einsetzen kann? Mr Lometo? Spreche ich das richtig aus?« Ich konnte sehen, dass der arme Mr Lometo nicht wusste, welche ihrer Fragen er beantworten sollte.

Sie erklärte, dass die erste Zeugin der Anklage Wendy Richter sei, Milos Mutter, und sie wahrscheinlich während ihrer Aussage sehr emotional sein würde. »Achtunddreißig Jahre sind vergangen, seit Milo entführt und ermordet wurde. Hat irgendjemand –«

»Einspruch. Mutmaßlich entführt und ermordet.«

Der Richter wandte sich an die Personen auf der Geschworenenbank. »Bis nicht bewiesen ist, dass eine Entführung und ein Mord stattfanden, behalten Sie bitte im Kopf, dass es sich nur um Mutmaßungen handelt. Fahren Sie fort.«

Sie machte weiter, betonte dabei mutmaßlich, als gäbe sie einem verzogenen Kind nach, fragte, ob irgendjemand der Meinung sei, dass Wendy Richter mittlerweile »darüber hinweggekommen sein« sollte. Ein kollektives Nein. Als sie fragte, ob jedermann zustimmte, dass das echte Leben keine Folge von Law & Order war, blendete ich sie aus.

Lange Zeit war ich überzeugt gewesen, dass ich schuld war an dem, was Micheline zugestoßen war. Als wir eines Tages auf dem Heimweg von der Schule am Roten Haus vorbeigelaufen waren, hatte etwas meine Aufmerksamkeit erregt. Ich hatte den Kopf kaum bewegt, sondern meine Augen nach links verdreht, damit ich etwas sehen konnte. Dann war ich stehen geblieben und hatte mich umgedreht. Auf den Eingangsstufen saß ein Mann, der am gesplitterten Holz der kaputten Stufe zog. Ich fasste Michelines Hand und zeigte auf ihn. »Schau! Ein Ungeheuer.« Wir rannten, so schnell wir konnten, zu mir nach Hause. Wir sagten nichts zu meiner Mutter. Ich hatte Angst, dass wir Ärger bekommen würden, weil wir die Rote-Haus-Regeln gebrochen hatten. Ich fragte mich, was passiert wäre, wenn wir jemandem davon erzählt hätten, was wir gesehen hatten. Ob dann vielleicht alles anders gekommen wäre.

Wir sahen das Ungeheuer danach noch drei Mal. Zweimal saß er in einem schmutzigen weißen Auto, das vor dem Roten Haus parkte, und einmal stand er auf der Veranda vor dem Eingang und rauchte eine Zigarette. Er sah vollkommen normal aus, erwachsen, aber nicht alt, Brille, lange Haare und weite Kleidung. Als wir ihn das letzte Mal sahen, lächelte er und winkte uns zu. Wir hatten entsetzliche Angst.

Die Anwältin stellte weiter diese rhetorischen Fragen, und die Leute auf der Geschworenenbank gaben weiter die richtigen Antworten. »Als Geschworene müssen Sie den Anordnungen des Richters Folge leisten. Werden Sie dazu fähig sein? Ja? Miss Chen? Mr Frawley?« »Glauben Sie, dass jemand ehrlich sein kann, auch wenn er ungebildet ist?« Es war frustrierend. Ihre Fragen waren so dumm. Wie sollten sie ihr zu entscheiden helfen, wer in die Jury kam? Ich holte mein Buch heraus und las bis zur Mittagspause.

Der Anwalt der Verteidigung war besser. Zumindest konnte ich erkennen, was er von den Personen in Erfahrung zu bringen versuchte, die er befragte. Er redete eine ganze Weile, ehe er begann, Fragen zu stellen. Er sprach über die Last der Beweisführung, begründete Zweifel und die Unschuldsvermutung. Er sprach über die Schwachstellen der Anklage, das Fehlen von Augenzeugen, DNA-Spuren, Videos von Überwachungskameras. Darüber, dass Milos Leiche nie gefunden worden war.

Michelines Leiche fand man drei Tage nach ihrem Verschwinden im See. Sie war erwürgt worden und bereits tot gewesen, als man sie ins Wasser geworfen hatte. All das wusste ich damals nicht. Erst Jahre später konnte ich meine Mutter dazu bringen, wirklich mit mir darüber zu reden. Was sagt man auch einer Achtjährigen, deren beste Freundin aus dem Bett entführt, ermordet und in den See geworfen worden war, während ihre Mutter schlief?

Ich wusste von Anfang an, dass sie verschwunden war. An jenem ersten Morgen waren alle zu erschrocken, um sich eine altersgerechte Geschichte auszudenken. Nachdem man ihre Leiche gefunden hatte, erzählte mir meine Mutter, Micheline sei an einem so weit entfernten Ort, dass sie niemals würde zurückkommen können. Ich fand nur heraus, dass sie tot war, weil eines der kirchlicheren Kinder in der Schule sagte, sie wäre im Himmel. Meine Mutter musste irgendwo gehört oder gelesen haben, wie wichtig es war, mich dazu zu bringen, über meine Gefühle zu reden; deshalb fragte sie mich, als sie mich an diesem Abend zu Bett brachte, was meiner Meinung nach passiert wäre, statt mir eine bereinigte Version der Wahrheit zu erzählen. Ich sagte, es war das Ungeheuer. Dass das Ungeheuer vom Roten Haus sie geholt hatte. Meine Mutter erzählte später, dass sie sich gedachte hätte, diese Geschichte wäre so gut wie jede andere, die sie oder mein Vater sich hätten ausdenken können, deshalb nahm sie mich in den Arm und legte sich zu mir, bis ich eingeschlafen war.

Der Anwalt stellte eine Reihe von Fragen über IQ und psychologische Testverfahren. Hatte jemals jemand seinen IQ messen lassen? Waren die Anwesenden vertraut mit dem Myers-Briggs-Persönlichkeitstest? Er stellte keine Ja- oder Nein-Fragen wie die Anklägerin. Er fragte verschiedene Personen scheinbar willkürlich nach ihren Erfahrungen oder Meinungen. Er sprach über geistige Behinderung und fragte die Anwesenden, ob sie schon einmal Kontakt zu geistig behinderten Menschen gehabt hätten. Er sagte, Zeugen würden aussagen, dass der Angeklagte in den Achtziger- und Neunzigerjahren über längere Zeit Drogen genommen hatte. Er fragte, ob dieses Wissen über den Angeklagten ihre Meinung über ihn beeinflusste, wie wahrscheinlich es war, dass er auch andere Verbrechen begangen hatte. Dasselbe mit häuslicher Gewalt. Zwischen ihm und seiner Ex-Frau hatte es einige Vorfälle häuslicher Gewalt gegeben. Ich konnte erkennen, wie er vorging. Er legte die Karten auf den Tisch. Tat keinen Moment so, als wäre dieser Kerl ein Engel. Sondern stellte diese Fragen, um herauszufinden, wer in der Lage sein würde, all diese üblen Dinge über ihn zu hören und nicht automatisch anzunehmen, dass er die andere Sache getan hatte.

Das Ungeheuer wurde nie gefasst. Oder falls doch, nie in Verbindung mit Micheline gebracht. Abgesehen von diesem einen Gespräch mit meiner Mutter, in dem ich sagte, das Ungeheuer hätte es getan, sprach nie wieder jemand mit mir darüber. Keine freundliche Polizistin bat mich, ein Bild vom Ungeheuer zu malen, kein couragierter Schulpsychologe wurde verpflichtet, mir zu helfen, eine Sprache zu finden, die die Erwachsenen verstanden. Es war 1971. Das Leben ging weiter.

1982