Ein Leben, wie es spannender nicht sein könnte
Paris, 1809. François Vidocq wird von der Polizei dringend gesucht. 25-mal ist er schon aus dem Gefängnis ausgebrochen. Für seine Freiheit entwickelt er einen Plan, dem nicht einmal der Polizeidirektor widerstehen kann. Er bietet an, selbst Verbrecher zu jagen – denn wer kennt ihre Verstecke und Winkelzüge besser als er? Mit Spurensicherung, Beschattungen und Indiziensammeln revolutioniert er die Polizeiarbeit und wird zum Vorbild für FBI und Scotland Yard.
Die wahre Geschichte des echten »Sherlock Holmes«
Vorwort
Die Weissagung der Hexe
»Dragonerfranz« und andere Gauner
Abbé Constantin: Seelsorger der Gottlosen
Der geheime Geldschatz
Flucht aus dem Elternhaus
Hafenräuber
Der Zirkus Cotte-Comus
Acci, der Affenmensch
Zum ersten Mal: ein falscher Name
Die Guillotine vor dem Vaterhaus
Der Schwindel fliegt auf
Flucht mit Dschingis Chan
Die Geheimnisse des Hexenbanners
Das schwarze Haus der Trickdiebe
Die Schenke zum fröhlichen Meineid
Unschuldig verurteilt
Flucht aus dem »Ochsenauge«
Die Massenflucht der Mörder
Der trickreiche »Hans Listig«
Gebrandmarkt als Galeerensträfling
Das Wirtshaus der »Räubermutter«
Die Bande der »Fußbrenner«
Attentat auf den Pulverturm
Die »Methode Cagliostro«
»… zum Tode verurteilt«
Der Erpresser macht Ernst
Freiwillig im Gefängnis
Das »System Linné« der Unterwelt
Die geniale Idee
Audienz bei Minister Fouché
Flucht – mithilfe der Polizei
Die Gründung der »Sûreté«
Blondy geht ins Netz
Der Mordplan
Annette als Detektivin
»Prosit Neujahr – du bist verhaftet«
Mordanschlag auf Vidocq
Die berühmte Razzia
Conradin, der Schatzgräber
Die Bande der drei Mörder
Heiße Spur in Montmartre
Wer war der dritte Mann?
»Vater der Kriminalistik«
François Eugène Vidocq gilt als »der erste Detektiv« und »Vater der Kriminalistik«. Denn er erkannte als Erster, dass Polizisten nicht immer in einschüchternden Uniformen auftreten sollten, sondern manchmal ganz unauffällig, leise, klug beobachtend und kombinierend. Nach dieser Erkenntnis gründete er zur Zeit Napoleons I. die erste Kriminalpolizei der Welt, die Pariser »Sûreté«. Sein Erfolg übertraf alle Erwartungen: Paris, damals eine Hochburg der Mörder und Wegelagerer, war wenige Jahre später die sicherste Hauptstadt Europas.
Vidocqs »Sûreté« wurde daraufhin Vorbild für Englands »Scotland Yard« und schließlich für sämtliche Polizeibehörden der Welt, unter anderem das legendäre amerikanische FBI.
Vidocq gilt auch als »erster Detektiv der Weltliteratur«: Er war Vorbild für die Figur des Auguste Dupin in Edgar Allan Poes klassischer Kriminalnovelle ›Die Morde in der Rue Morgue‹ sowie für Arthur Conan Doyles genialen Sherlock Holmes und für Agatha Christies Meisterdetektiv Hercule Poirot. Sein Freund Honoré de Balzac, einer der berühmtesten Dichter der Weltliteratur, nahm Vidocq als Vorlage für die Figur des Vautrin in dem 1834 veröffentlichten Roman ›Père Goriot‹. 1844/45 erschien ›Der Graf von Monte Christo‹, dessen Titelheld ebenfalls Vidocq nachempfunden war. Der Autor, Alexandre Dumas der Ältere, war gleichermaßen mit Vidocq befreundet. Und Victor Hugo, der damals an seinem Werk ›Les Misérables‹ (Die Elenden) schrieb, nahm den ehemaligen Sträfling und späteren Detektiv Vidocq als Vorlage für gleich zwei Personen dieses Romans: für den gejagten Jean Valjean und seinen Jäger, Inspektor Javert.
Jäger und Gejagter – Vidocq war es in Victor Hugos weltberühmtem Roman und er war es bis zuletzt in seinem Leben. Auch er war – wie Dumas’ Graf von Monte Christo – unschuldig verfolgt und in den Kerker geworfen worden. Er hatte, um dem ungerechten Urteil zu entgehen, insgesamt fünfundzwanzigmal die Flucht ergriffen. Bis zu seinem vierunddreißigsten Lebensjahr war Vidocq gezwungen gewesen, entweder in Gefängnissen oder, von Polizisten gehetzt, in den Schlupfwinkeln der Unterwelt zu leben. Seine Chancen, jemals in der menschlichen Gesellschaft Fuß zu fassen, waren fast aussichtslos. Vidocq jedoch gab sich selbst nie auf, verlor nie Mut und Willenskraft. Und deshalb machte er Unmögliches möglich: Er – der polizeilich gesuchte Strafgefangene – wurde Gründer und Leiter der Pariser »Sûreté«.
Wie ihm das alles gelang, steht in diesem Buch geschrieben.
Abgesehen von schriftstellerischen Freiheiten, die nötig waren, um aus nüchternen Tatsachen einen Roman zu gestalten, ist nichts erfunden, sondern mit Dokumenten verschiedener Art belegt: mit Originalprotokollen, zeitgenössischen Zeitungsreportagen und mit persönlichen Aufzeichnungen von Vidocq.
w. h.
Die nordfranzösische Stadt Arras war eine Stadt der Gauner und Spitzbuben, war Treffpunkt und Schlupfwinkel der Taschendiebe, Hehler und Einbrecher, der entsprungenen Strafgefangenen, der Wegelagerer und Halsabschneider, der Falschmünzer und Falschspieler. Die Stadt war für die Ganoven ideal gelegen: auf halbem Weg zwischen Paris und Brüssel, wo organisierte Verbrecherbanden ihre Hauptquartiere hatten; außerdem nicht weit von den nordfranzösischen und belgischen Seehäfen, in denen der Schmuggel blühte und die Beute der Piraten umgesetzt wurde.
Wer untertauchen oder dunkle Geschäfte machen wollte, kam gern nach Arras, weil er dort tausend Verstecke und Fluchtwege vorfand. Die Innenstadt war ein Labyrinth aus engen Gassen, schattigen Torbögen, Kellertreppen und unterirdischen Verbindungsgängen stillgelegter Befestigungsanlagen. Alle Wirtshäuser und Kellerlokale hatten Geheimtüren und Hintertreppen. Wenn Polizisten vorn am Eingang erschienen, waren die Galgenvögel durch die Hintertür längst ausgeflogen.
Gauner aus aller Herren Länder hielten sich hier verborgen. Sie stammten aus Frankreich und Belgien, aus Deutschland und Österreich, aus England und Holland, vom Balkan und aus der Türkei, vereinzelt sogar aus Indien und China. Bei schönem Wetter drängte es die lichtscheuen Gestalten manchmal hinaus aus dem Dunkel und dem Moder. Dann erschienen sie zögernd, scheu um sich blickend, auf dem Waffenplatz im Stadtzentrum. Dort standen sie in kleinen Gruppen zwischen spielenden Kindern und einkaufenden Hausfrauen herum, teils zerlumpt, teils überaus elegant gekleidet. Fremdländisch wirkten sie, fast exotisch, mit ihrem billigen, auffallenden Schmuck aus Kupfer, den Armketten und Ohrringen, mit ihren grellfarbigen Halstüchern. Sie unterhielten sich in einer eigenen Sprache: im internationalen Dialekt der Gauner, dem sogenannten Rotwelsch. Ihre Hände und Arme waren tätowiert. Ihre Gesichter zeigten Angst und Unruhe.
Das Tageslicht waren sie nicht gewohnt, es machte sie unsicher. Überall witterten sie Gefahr. Sie schienen stets auf der Hut zu sein, stets bereit zur Flucht. Und wenn Warnrufe oder Pfiffe das Nahen der Polizei signalisierten, dann huschten sie wie die Ratten davon, hinein in die Irrgärten der engen Gassen und Kellertreppen.
In den schmalen Fachwerkhäusern am Waffenplatz wohnten dagegen ehrsame Handwerker, die sich von der zweifelhaften Nachbarschaft zur Verbrecherwelt nicht beirren ließen. Sie arbeiteten viel und verdienten wenig, denn damals herrschte große Armut im Volk.
Einer dieser Handwerker war der Bäcker Jean Vidocq.
In der Nacht des 23. Juni 1775, um drei Uhr früh, flackerten noch zahlreiche Kerzen hinter den Fensterscheiben des Bäckerhauses: Madame Vidocq sah der Geburt eines Kindes entgegen.
Über Arras ging in dieser Nacht ein ungewöhnlich heftiger Wolkenbruch nieder. Selbst die ältesten Bewohner der Stadt konnten sich nicht erinnern, jemals ein ähnliches Gewitter erlebt zu haben. Schwarzes Gewittergewölk lastete über den Häusergiebeln. Regenfluten rauschten aufs Pflaster nieder, ergossen sich als Wasserfälle von den Dächern, bildeten Bäche in den Straßengräben. Blitz und Donnerschlag jagten einander und in der Ferne konnte man das Gebimmel einer Feuerglocke hören. Es war ein Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Tür jagte.
Nur eine alte Frau war draußen auf den Gassen: Demoiselle Lenormand, die Hebamme der Stadt, humpelte zur Wohnung des Bäckers Vidocq. Eine über Kopf und Schultern geworfene Pferdedecke schützte sie notdürftig vor dem Wolkenbruch. Es war stockfinster und nur die Blitze erhellten ihren Weg. Sie keuchte zum Waffenplatz und schlurfte, so schnell sie konnte, durch aufspritzende Pfützen zum Bäckerladen. Dort wurde die Tür sogleich aufgerissen. Schnell schlüpfte sie hinein, hinter ihr prasselte Regen in den Laden. Die Tür krachte ins Schloss.
»Gut, dass Sie da sind, Demoiselle Lenormand«, sagte der Bäcker. »Es ist höchste Zeit.«
Demoiselle Lenormand warf die durchnässte Decke ab und ächzte eilig eine schmale Treppe empor in den ersten Stock.
Der Raum, in dem Madame Vidocq lag, war klein; er wurde von dem Bett fast völlig ausgefüllt. Feuchtigkeit glänzte an den Wänden. Der Sturm rüttelte an den Fensterscheiben, sauste durch Ritzen herein, ließ die Kerzenlichter flackern.
Hier, im Kerzenschein, sah die Hebamme aus wie eine Hexe: mit ihrem Kopftuch, den tiefen Augenhöhlen, einem eingefallenen, fast zahnlosen Mund und der Nase, die rot und spitz wie eine Karotte aus dem Gesicht vorragte. Demoiselle Lenormand hatte einen zweifelhaften Ruf. Außer den Diensten der Hebamme verrichtete sie auch allerlei schwarze Künste: Sie legte die Karten, bannte den bösen Blick, vertrieb Dämonen, las die Zukunft aus den Handlinien und trieb noch allerhand ähnlichen Hokuspokus für abergläubische Auftraggeber. Den Lebenslauf jedes Kindes, das mit ihrer Hilfe zur Welt kam, pflegte sie entsprechend der besonderen Vorkommnisse während der Geburtsstunde zu deuten. Und als das Kind des Bäckers Vidocq geboren wurde – ein Knabe, der den Namen François Eugène tragen sollte –, da wies sie theatralisch auf die klappernden Fensterläden und prophezeite mit düsterer Stimme: »Er wird ein stürmisches Leben haben, dieser François Eugène Vidocq!«
Über die Prophezeiung der Hebamme wurde später viel gelacht.
François Eugène Vidocq selbst pflegte als berühmter Mann diese Anekdote zu erzählen und hinzuzufügen: »Ich bin weit davon entfernt, zu denken, dass Petrus sich bemüßigt haben sollte, anlässlich meiner Geburt ein solches Feuerwerk zu veranstalten. Aber recht hat sie ja doch behalten, die alte Hexe: Mein Leben war in der Tat stürmisch wie kaum ein anderes.«
Dass François Eugène Vidocq ein stürmisches und abenteuerliches Leben hatte, war allerdings anders zu erklären als mit den Launen der Natur während seiner Geburt: Vidocq lebte in einer Zeit der politischen Umbrüche. Er wurde hineingeboren in das Chaos, das von der Verschwendungssucht der französischen Könige verschuldet war, in eine Welt ohne Ordnung und Gerechtigkeit. Als junger Mann erlebte er die Französische Revolution mit all ihrer Glorie und ihrem Schrecken. Aufstieg und Sturz Napoleon Bonapartes hatten auf sein Leben höchsten Einfluss. Der intrigante Polizeiminister Joseph Fouché – eine diabolische Gestalt der Weltgeschichte – sollte für ihn eine wichtige Rolle spielen. Und schließlich geriet er in das Ränkespiel, das die Zeit nach dem Sturz Napoleons kennzeichnete. Vidocq war nicht der Typ, der sich duckte, sondern einer, der mitmischen wollte im Spiel der Mächtigen. Bestehen konnte damals nur, wer sich durchzusetzen vermochte.
Und sich durchzusetzen, das lernte Vidocq schon als Kind, auf dem Waffenplatz vor dem väterlichen Ladengeschäft.
Dort spielte er mit den Söhnen und Töchtern der Gauner, die mit allen Gemeinheiten und Lastern der Unterwelt vertraut waren, die nichts anderes kannten als Hinterlist, Verlogenheit und Betrug. Es war eine rabiate, egoistische, auf den eigenen Vorteil bedachte Kinderschar, in der Vidocq heranwuchs. Zu prügeln oder geprügelt zu werden – das war das Gesetz der Kinder auf dem Waffenplatz von Arras, dem Spielplatz des kleinen Vidocq.
Der junge Bäckerssohn zog es vor, Prügel auszuteilen, statt einzustecken. Er war ein kräftiger Bursche, überdurchschnittlich groß, breitschultrig wie ein Bauer. Das blonde Haar, das sich auf seinem Kopf kräuselte, hatte einen Stich ins Rote. Seine Lippen waren aufgeworfen. Sein Kinn trug die Narbe eines Faustschlags und die Nase war etwas schräg: Folge eines Nasenbeinbruchs, den er sich bei einer Meinungsverschiedenheit zugezogen hatte.
Auffallend war, dass Vidocq seine Kräfte nie an Schwächeren maß, dass er sich für die Kleinen und Schwachen sogar einsetzte. Von Stärkeren ließ er sich nichts gefallen. Als Zehnjähriger bereits war er dafür bekannt, stets mit gleicher Münze heimzuzahlen. Wer ihm mit Heimtücke kam, den überlistete er. Wer ihn betrügen wollte, den betrog er selbst. Wer ihn zu berauben beabsichtigte, wenn er das Brot aus der väterlichen Bäckerei zur Kundschaft trug, der riskierte blaue Flecken. Und wenn es sein musste, wehrte Vidocq sich auch gegen Erwachsene. Manch schräger Vogel aus der Verbrecherwelt hatte seine Lektion von ihm bezogen und sann auf Rache.
Zwei Männer jedoch gab es, gegen die Vidocq sich nicht wehrte.
Der eine war sein Vater, geizig und jähzornig, freigebig nur mit Ohrfeigen. Undenkbar für seinen Sohn, gegen ihn die Hand zu erheben, auch wenn er noch so ungerecht behandelt wurde.
Der zweite war ein gewisser Jacques de Payant, zehn Jahre älter als der junge Vidocq, ein Dieb und Betrüger, dabei klug, gebildet und vornehm erzogen, denn er stammte aus adliger Familie. Vor einigen Jahren war er aus dem Schloss seiner Eltern in der Nähe von Paris davongelaufen. Hier, bei dem Gesindel, genoss er dank seiner Herkunft und Bildung hohes Ansehen.
Auch Vidocq bewunderte ihn. Vor lauter Begeisterung dachte er kaum noch daran, dass Jacques de Payant ein Verbrecher war. Er ließ sich blenden von dem Auftreten des Aristokraten, der auch in der Gosse von Arras noch den Glanz der vornehmen Welt verkörperte, mit seinen Manieren, seiner Gewandtheit, seiner Bildung. Jacques de Payant beherrschte mehrere Sprachen, er konnte lesen, schreiben und rechnen, ja sogar fechten – seltene Künste in einer Zeit, in der es für die Kinder der Armen keine Schulen gab und nur junge Adlige von Privatlehrern erzogen wurden. Payants Beispiel bewies Vidocq, dass nur Erfolg haben konnte, wer anderen an Wissen und Bildung überlegen war – mit anderen Worten: wer etwas gelernt hatte.
Vidocq wollte Erfolg haben und deshalb beschloss er, Unterricht zu nehmen. Seine Lehrer allerdings musste er sich selbst suchen.
Er begann mit Fechten. Wer Säbel und Florett beherrschte, konnte sich selbst verteidigen. Außerdem war es eine Voraussetzung dafür, von der guten Gesellschaft anerkannt zu werden.
In Arras gab es einen Fechtboden, wo die angehenden Offiziere aus adligen Häusern der Umgebung ihren Unterricht erhielten. Dorthin ging Vidocq, als er zwölf Jahre alt war, im Sommer 1787. Niemand hatte etwas dagegen, dass der Junge mit seiner geflickten Hose und dem zerrissenen Hemd herumstand, zuschaute und aufmerksam verfolgte, was der Fechtlehrer da alles zeigte und erklärte: Schlagabtausch, Körperdrehung, Paraden und Kontraparaden, Schrittwechsel und Scheinangriffe. Vidocq erfuhr, dass die einzelnen Säbelhiebe genau vorgeschrieben waren und besondere Namen hatten: Cercle, Prim, Sekond, Terz, Quart, Quint. Eine Quint beispielsweise war der gezielte Hieb oder Stich aus einer Linksdrehung heraus auf eine von der linken Hüfte zur rechten Schulter des Gegners führende Linie.
Eines Tages ergriff Vidocq einen der umherliegenden Säbel. Er ließ ihn durch die Luft sausen, scheinbar spielerisch und beiläufig, tatsächlich aber führte er exakte Hiebe aus, ganz nach den Vorschriften der Fechtkunst. Zum Spaß forderte er nach einiger Zeit den Fechtmeister zu einem Schlagabtausch heraus. Dieser Mann, ein älterer Offizier, ging nachsichtig lächelnd auf die Herausforderung ein, um dem armen Jungen eine Freude zu machen.
Die beiden stülpten Fechtmasken aus Drahtgeflecht über die Köpfe, zogen lederne Fechtjacken aus schwerem Büffelleder an, Ellenbogenschützer und Fechthandschuhe, damit sich keiner verletzte, und dann ging es los.
Der Fechtmeister gebrauchte den Säbel zunächst nur höchst nachlässig. Doch plötzlich merkte er, dass dieser Knabe Säbelhiebe führte, eine Quint schlug, eine Terz, geschickt und sicher. Erstaunt sah er, wie sein Gegner, der um einen Kopf kleiner war als er, ihn mit Scheinangriffen verwirrte, und ehe er sich’s versah, krachte ihm die Klinge zweimal gegen die Fechtmaske.
»Bravo!«, rief der Fechtmeister. »Du bist ja ein Talent! Wo hast du denn das gelernt?«
»Bei Ihnen.« Vidocqs Stimme tönte dumpf unter der Fechtmaske.
»Das gibt es doch nicht!«, rief der Fechtmeister, der Mühe hatte, weitere Schläge zu parieren. »Du bist doch hier nur herumgestanden. Du musst irgendwo Unterricht genommen haben!«
»Ich habe eben aufgepasst, was Sie gesagt haben, das war alles«, erwiderte Vidocq.
»Alle Achtung! Ich wollte, ich hätte mehrere solcher Schüler.«
Bei diesen Worten ging der Fechtmeister zum Angriff über, doch Vidocq wehrte die Säbelhiebe ab, er tänzelte einige Schritte zurück, ganz vorschriftsmäßig, dann schnellte er überraschend vor – und der Fechtmeister musste wieder einen Hieb einstecken.
Inzwischen waren einige Fechtschüler hinzugetreten. Sie standen im Kreis um die Kämpfer herum, tuschelten, staunten. Der alte Offizier begriff, dass es hier um sein Ansehen als Lehrmeister ging. Er nahm all seine Kunst, die Erfahrung eines jahrzehntelangen, duellerprobten Offizierslebens zusammen und attackierte den Jungen mit einer Serie von Schlägen. Vidocq wehrte sich meisterhaft, er parierte Schlag um Schlag, die Klingen pfiffen durch die Luft, klirrten aneinander, blinkten in den Sonnenstrahlen, die durch das Fenster fielen. Der Fechtlehrer atmete schwer. Nur allmählich gelang es ihm, die Oberhand über diesen Jungen zu gewinnen. Vidocq steckte eine Serie von Hieben ein, fand sich plötzlich in eine Ecke gedrängt und musste aufgeben.
Nach dem Kampf nahmen beide die Fechtmasken ab, die Gesichter erhitzt, rot, schweißüberströmt. Der Fechtlehrer nickte anerkennend, zog die Handschuhe aus und strich sich das graue Haar aus der Stirn.
»Fabelhaft«, sagte er und klopfte Vidocq auf die Schulter. »Aus dir kann ein großer Säbelfechter werden. Wenn es wahr ist, dass du noch nie geübt hast, dann bist du das größte Talent, das ich kenne. Ich werde dich ausbilden. Du kommst jetzt täglich hierher und nimmst an den Übungen teil. Ab sofort.«
Gleichzeitig mit dem Fechten versuchte Vidocq auch Fremdsprachen zu erlernen. Vorerst beherrschte er außer seiner Muttersprache Französisch nur das in Nordfrankreich übliche Flämisch. Das war ihm zu wenig. Er wollte noch Deutsch, Englisch und Holländisch sprechen, wie Jacques de Payant, sein Vorbild. Ein Lehrer für den Bäckerssohn ließ sich freilich nicht finden. Aber es gab Leute aus fremden Landen zur Genüge in Arras – in der Unterwelt.
Also pirschte Vidocq in die Unterwelt und dort wurde er fündig. Es waren Männer mit dunkler Vergangenheit und seltsamen Namen: »Dragonerfranz« aus Wien beispielsweise brachte ihm Deutsch bei – genau genommen Wiener Dialekt. Holländisch lernte er von einem Schwindler, der von allen der »Lügende Holländer« genannt wurde. Mit »Ebbe-Jack« – einem ehemaligen Freibeuter aus England, in dessen Geldbörse ewige Ebbe herrschte – sprach er Englisch.
Und eine weitere Sprache lernte Vidocq von den Ganoven: das Rotwelsch – auf Französisch Argot –, den seltsamen Dialekt der Gauner und Bettler. Es war ein internationales Kauderwelsch, das sich aus Wörtern alter und neuer, abendländischer und orientalischer Sprachen zusammensetzte. Gewisse Vokabeln dieser Gaunersprache sind noch in der Umgangssprache unserer Zeit erhalten: »berappen« zum Beispiel, »foppen«, »mogeln« oder »verscherbeln«. Für den Bürger jener Tage war das Rotwelsch kaum verständlich. »Für ein Butterbrot arbeiten« hieß in der Gaunersprache: »For an Knacken trafaken.« »Friss, Vogel, oder stirb« hieß: »Schnapp, Flattrer, zi stieb ab.« »Ohne bezahlen abhauen« hieß: »Kretschmer filutiern.« Kein Wunder, dass dieses Kauderwelsch Geheimsprache und Erkennungszeichen der Gauner war. Wer Rotwelsch sprach, genoss sofort ihr Vertrauen, denn er bewies, dass er einer der ihren war. Wer Rotwelsch verstand, konnte belauschen, was sie miteinander sprachen, berieten und planten, konnte erfahren, wo und wann ein Gaunerstreich verübt werden würde.
Um Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen, wandte sich der junge Vidocq an Abbé Constantin, einen grauhaarigen Geistlichen, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den Gaunern das Wort Gottes zu verkünden und sie zum Guten zu bekehren. Da sie nicht zu ihm in die Kirche kamen, kam Abbé Constantin zu ihnen, in ihre Schlupfwinkel und Elendsquartiere. Wenn der Abbé durch die Straßen schritt oder eine Verbrecherkneipe betrat, dann wurde er von allen Seiten belächelt und verspottet. Er trug es mit Gottergebenheit. Seine Mühen, das wusste er wohl, waren so gut wie umsonst, denn er predigte tauben Ohren und nur ganz selten gelang es ihm, eines der schwarzen Schafe seiner Herde auf den richtigen Weg zurückzuführen. Diese seltenen Erfolge aber machten ihn stolz, sie gaben ihm Mut und Hoffnung für sein Werk.
Eines Abends saß er im Wirtshaus »Zum Henker« an einem Tisch und sprach auf einen alten Mann ein, den die Unterwelt »Gurru« nannte. »Gurru« war ein ehemaliger Taschendieb, dessen zittrige Hände nicht mehr zum Griff in fremde Geldbörsen taugten und der sich nun als Schmierensteher, als Aufpasser bei Einbrüchen, ein Gnadenbrot verdiente. Er ließ die Worte des frommen Mannes zu einem Ohr hinein- und zum anderen hinausgehen und trank gelegentlich einen Schluck Rotwein aus einem Becher.
In diesem Augenblick trat der junge Vidocq an den Tisch heran. »Guten Abend, Abbé Constantin, ich habe eine Bitte.«
Der Priester wandte den Blick von dem Greisengesicht ab und schaute auf den armselig gekleideten Jungen, der da vor ihm stand. »Du bist doch der Sohn des Bäckers«, sagte er bestürzt. »Was machst du hier in dieser verrufenen Kneipe?«
»Ich habe eine Bitte, Abbé.«
»Wenn die Erfüllung dieser Bitte in meiner Macht steht, will ich dir gern helfen, mein Sohn. Sprich!«
»Ich möchte von Ihnen lesen, schreiben und rechnen lernen.«
Der alte »Gurru« kicherte hämisch und setzte den Becher an die Lippen. Rotwein lief ihm übers Kinn und tropfte auf den Tisch.
Abbé Constantin blickte Vidocq fassungslos an. »Du machst dich doch nicht etwa lustig über mich?«
»Nein, Abbé Constantin.«
»Aber …«, der Priester schüttelte sein graues Haupt, als hätte er etwas vernommen, was er nicht glauben konnte, »… hier will doch keiner etwas Anständiges lernen.« Er fasste Vidocq scharf ins Auge. »Ist das dein Ernst?«
»Ja.«
»Man lernt nicht so schnell lesen und schreiben – das ist mühevoll und langwierig.«
»Das macht nichts. Es ist mein fester Wille.«
»Hm. Also gut. Ich will dir gern helfen. Komm, setz dich hier an den Tisch – oder nein, es ist besser, wir gehen von hier fort. Komm mit, in die Sakristei meiner Kirche, dort sind wir ungestört.« Der Abbé erhob sich und verließ an der Seite des jungen Vidocq das Wirtshaus »Zum Henker«.
François Eugène Vidocq wurde im Laufe der nächsten zwei Jahre die Freude des Abbé Constantin. Der alte Priester hatte endlich einen Menschen gefunden, der ihm aufmerksam lauschte – wenn es auch nicht das Wort Gottes war, das er verkündete, sondern das Abc und das Einmaleins.
Vidocq nahm die Mühe des Unterrichts auf sich, weil er der Armut und dem Elend entkommen wollte, in die er hineingeboren worden war. Zum Ende des 18. Jahrhunderts war der französische Staat bankrott, mit 4000 Millionen Francs verschuldet. König Ludwig XVI. versuchte sich durch gnadenlose Steuerforderungen zu retten. Der sogenannte »dritte Stand« – die Handwerker, Bürger und Bauern – musste viele verschiedene Abgaben zahlen: Grund- und Vermögenssteuern, Kopfsteuern, Zölle, Salzauflagen und dergleichen mehr. Die geschröpften Handwerker, Bauern und Bürger behielten kaum mehr das Brot zum Leben. Polizei, Gendarmerie, ja sogar Militär wurden eingesetzt, um ihnen auch die letzten Francs abzunehmen. Im Namen des Königs drangen schwer bewaffnete Miliztruppen in die armseligen Häuser der kleinen Leute, auf der Suche nach den Spargroschen, und wenn sie kein Geld fanden, dann rafften sie zusammen, was sie sonst so finden konnten: Teller, Bestecke, Betttücher und Kleider. Gab es auch keine Wertgegenstände mehr, dann nahmen sie den Familienvater mit, steckten ihn ins Gefängnis, in die Schuldtürme und Kettenhäuser, so lange, bis seine Frau auf irgendeine Weise einige Francs zusammengekratzt hatte, um die Steuern für den König zu zahlen und den Ernährer auszulösen. Die Armen wurden immer ärmer – und die Reichen immer reicher.
Die Zeit war reif für eine Revolution.
Vidocqs Vater zahlte, zähneknirschend wie alle anderen Handwerker auch, die Steuern an den König. Büßen mussten dafür in erste Linie seine Frau und die Kinder. Sie gingen in Lumpen gekleidet und hatten Hunger. Obwohl es täglich frisches Brot gab in der Bäckerei, erhielten sie nur spärliche Rationen. Madame Vidocq sparte sich für die Kinder das Essen vom Munde ab und deshalb war sie immer blass und kränkelnd. Der Bäcker selbst allerdings gönnte sich einiges. Er wirkte wohlgenährt und war immer gut gekleidet, kaufte sich auch hin und wieder eine neue Hose oder einen Gehrock, weil er – wie er sich auszudrücken pflegte – in seinem Laden einen ordentlichen Eindruck machen müsse.
Man schrieb Ende Juni 1789 und François Eugène Vidocq war gerade vierzehn Jahre alt geworden, als er eines Nachmittags allein zu Hause war. Da sah er in der Backstube neben den noch glühenden Backöfen an der sonst stets sorgfältig verschlossenen, eisenbeschlagenen Truhe den Schlüssel stecken. Vater hatte wohl vergessen, ihn abzuziehen.
Von Neugier gepackt, drehte er den Schlüssel. Das Schloss knirschte, schnappte und sprang auf. Er hob den Deckel und prallte zurück. Vor ihm schimmerten Münzen, viele silberne Münzen! Er ließ sie durch die Finger laufen. Rasselnd und klingelnd fielen sie in die Truhe zurück. Es mussten Hunderte, vielleicht sogar Tausende von Francs sein, die da in der Truhe lagen – ein Vermögen für einen Handwerker!
Vidocq ließ den Deckel zufallen und schloss ab. Dann taumelte er hinaus auf den Platz. Fragen stürmten auf ihn ein. Woher kam das viele Geld? Warum gab der Vater seiner Familie kaum etwas zu essen, obwohl er diesen Schatz besaß? Warum war die Mutter krank und schwächlich, obwohl Vater so viel Geld hatte? Warum mussten sie und die Kinder wie Bettler gekleidet herumlaufen, wenn Vater ein reicher Mann war?
Er musste mit Abbé Constantin sprechen. Ihm wollte er seine Fragen und Zweifel anvertrauen.
Vidocq lief zur Kirche. Sie war verschlossen. Also musste sich der Priester irgendwo in einer verrufenen Kneipe befinden, wo er sicherlich wieder einmal bemüht war, einen Verbrecher von der schiefen Bahn abzubringen. Auf der Suche nach dem Abbé verschwand Vidocq im Schatten der engen Gassen. Immer tiefer drang er in das Verbrecherviertel von Arras ein.
»He, Vidocq!« Eine Stimme schreckte ihn aus seinen Gedanken. Er fühlte sich am Arm gepackt. Neben ihm stand Jacques de Payant, der Adlige unter den Gaunern, flott gekleidet mit blauen Pantalons, weißen Gamaschen, gelbem Frack, violettem Hemd und roter Krawatte. Er wirkte in seiner Farbenpracht wie ein Papagei. Ein elegantes Spazierstöckchen wirbelte in seiner Hand. »Wohin gehst du, Vidocq? Du blickst ja weder nach links noch nach rechts. Träumst du?«
»Lass mich in Ruhe!« Vidocq riss sich los und ging weiter.
Jacques de Payant blieb ihm auf den Fersen. »Komm«, sagte er, »ich spendiere ein Glas Wein.«
»Scher dich zum Teufel!«
»Warum so unwirsch, Vidocq? Ich dachte immer, du seist mein Freund. Jedenfalls warst du immer freundlich zu mir.«
»Ich will zum Abbé«, sagte Vidocq leise, Verzweiflung in der Stimme.
Jacques de Payant zog die Augenbrauen erstaunt hoch. Er betrachtete den düster vor sich hin schreitenden Vidocq von der Seite. Der Wunsch des Jungen nach einem Seelsorger verriet, dass er in trostloser Stimmung war. Und trostlose Stimmungen, das wusste ein Typ wie Payant sehr wohl, ließen sich irgendwie ausnützen. Er beschloss, dem jungen Vidocq seine besondere Form von »Seelsorge« angedeihen zu lassen. Zwar konnte er sich noch nicht vorstellen, was dabei herauskommen würde, aber er witterte einen Vorteil für sich.
»Komm, mein Junge«, sagte er, scheinbar besorgt, »du bist traurig, das sehe ich dir an, du brauchst einen Freund und ich fühle mich verpflichtet, dir zu helfen. Wer weiß, ob du den Abbé jetzt überhaupt findest. Du kannst ihn ja später noch suchen. Jetzt brauchst du einmal was Kräftiges in den Magen.« Mit diesen Worten zog er Vidocq durch die geöffnete Tür eines Wirtshauses, ins »Café Bellevue«.
Vidocq leistete keinen Widerstand mehr. Er war plötzlich sogar dankbar, jemanden zu haben, mit dem er sprechen konnte.
Das Café trug den Namen »Bellevue« – »Schöner Blick« – wahrlich zu Unrecht. An den schmutzigen Fenstern hingen Spinnweben, das Gebälk war verräuchert und auf den Tischen zeichneten sich die Spuren vertrockneter Rotweinflecken wie die Umrisse einer Landkarte ab. Das Lokal war leer, denn zu dieser Stunde pflegten die meisten Gauner zu schlafen. Es roch nach kaltem Pfeifenrauch, nach säuerlichem Wein und angebrannten Kartoffeln.
Payant drängte den Jungen hinter einen Tisch auf eine Bank. Beide setzten sich. Vidocq stützte den Kopf in die Hände.
Eine fette Frau kam aus der Küche gewatschelt. Ihr ehemals elegantes langes Kleid mit dem gefältelten Rock und den weiten Ärmeln – Diebesgut eines Einbruchs bei Aristokraten sicherlich – starrte vor Schmutz und passte nicht zu ihrem schwammigen Gesicht, in das die Haarsträhnen hingen.
»Guten Tag, Herr Graf«, sagte sie mit einem Bückling zu Jacques de Payant, den sie offensichtlich als Stammkunden schätzte, »was darf’s denn sein?«
»Zwei Brote, mit Fleisch belegt, und zwei Becher Wein, vom besten.«
»Sofort, Herr Graf.« Sie schlurfte davon.
Jacques de Payant legte Spazierstock und Zylinder vor sich auf den Tisch und holte eine silberne Schnupftabakdose aus seinem gelben Frack. Er bot Vidocq eine Prise an.
Vidocq schüttelte den Kopf.
Umständlich nahm Payant selbst eine Prise, dann beugte er sich vor. »Also, mein Freund«, flüsterte er, »du hast doch etwas auf dem Herzen – sprich dich aus. Mit mir kannst du reden.«
Vidocq schwieg.
Jacques de Payant wusste, dass er jetzt warten müsse. Irgendwann würde Vidocq den Mund auftun.
Die Zeit verstrich. Fliegen summten durch den Raum. Aus der Küche hörte man das Klappern von Geschirr.
Kurz darauf kam die Wirtin mit dem Wein und den Broten.
»Noch etwas, Herr Graf?«
»Wir wollen nicht gestört werden, Madame, wir haben zu reden.«
Die Wirtin zog sich zurück. Payant setzte den Becher an den Mund und trank in kleinen Schlucken.
Vidocq ergriff ein Brot, biss hinein, offensichtlich ohne rechten Appetit, denn er kaute lange an dem Bissen herum. Dann sagte er: »Jacques, du kennst doch meinen Vater.«
»Gewiss.«
»Wir haben daheim kaum zu essen, kaum etwas anzuziehen.«
»Ja, das ist ganz natürlich – denn dein Vater ist dumm genug, von ehrlicher Arbeit zu leben. Dabei kann man keine Reichtümer erwerben.«
»Er ist reich.«
Payant stutzte. Nun schien es ihm ratsam, vorsichtig zu sein und Vidocq nicht mit Fragen zu irritieren. Er beschloss zu warten, bis der Junge von sich aus weiterreden würde.
»Hör zu, Jacques, ich will dir etwas anvertrauen. Wenn du versprichst, dass du es niemandem erzählst.«
»Ich verspreche es.« Payant hob die Rechte zum Schwur.
»Mein Vater hat viel Geld.«
»Wo?«
»In der Bäckerei, in einer Truhe, neben den Backöfen.«
»Bist du sicher?«
»Ich hab es selbst gesehen. Viel Geld, ein paar Hundert oder ein paar Tausend Francs, ich weiß es nicht genau.«
Beide schwiegen. Jacques de Payant überlegte, wie er an dieses Geld herankommen könnte.
Vidocq riss ihn aus seinen Gedanken. »Was glaubst du wohl, woher er das Geld hat? Hältst du es für möglich, dass er es auf unehrliche Weise …«
»Nein«, schnitt ihm Payant das Wort ab, »wenn dein Vater krumme Geschäfte machen würde, wüsste ich das. Hier in Arras entgeht mir nichts.« Er lächelte überlegen.
»Wie kann er dann so viel Geld besitzen?«
»Nun, er wird es gespart haben. Jahrelang gespart, auf deine Kosten. Auf Kosten deiner Mutter …« Payant merkte, dass Vidocq bei diesen Worten den Mund zusammenkniff. Er fühlte, dass er den schwachen Punkt des Jungen getroffen hatte und dass es ratsam war, weiter in diese Kerbe zu schlagen. »Schau dir deine Mutter an«, fuhr er leise fort, »sie ist eine schöne Frau. Dein Vater lässt sie im Kittel und einer geflickten Bluse herumlaufen, als ob sie zum Gesindel gehören würde. Sie schaut aus, als ob sie am Verhungern wäre, blass und müde und mager. Krank ist sie auch. Und dabei hat dein Vater so viel Geld, er hat einen dicken Bauch und ist immer fein gekleidet …«
»Ja, das wundert mich, er ist besser angezogen als die anderen Handwerker.«
»Die haben auch weniger Geld als dein Vater.«
»Wieso?«
»Überlege doch einmal: Als Bäcker hat er einen Vorteil gegenüber allen anderen Handwerkern. Wenn die Kunden kaum noch Geld haben, dann sparen sie an den Kleidern, am Küchengeschirr, an den Möbeln, dann verdienen der Schneider, der Töpfer und der Schreiner nichts. Der Bäcker aber verkauft trotzdem. Brot braucht man immer. Dafür werden die letzten Francs lockergemacht. Dein Vater – er hat stets gut verdient! Nur ihr habt nichts davon gehabt. Deine Mutter nicht und du selbst auch nicht. Und so ist es ihm gelungen, eine Truhe voll Geld zu sparen, für seine persönlichen Vergnügen. Komm, trink.« Er schob Vidocq das Weinglas zu.
»Dieser Schuft!«, stieß Vidocq hervor. »Ich schäme mich, sein Sohn zu sein. Am liebsten würde ich ihm …« Er brach den Satz ab.
Jacques de Payant grinste. »Sprich leise. Was würdest du am liebsten tun?«
»Offen gestanden, ich würde ihm am liebsten das Geld nehmen und dafür meiner Mutter schöne Kleider kaufen, Fleisch, Gemüse, Obst, damit sie sich ordentlich satt essen kann und sich erholt.«
Eine Schmeißfliege kroch über den Tisch. Jacques de Payant ließ die Rechte niedersausen. Als er die Hand hob, war ein neuer Fleck auf dem Tisch.
»Du bist«, sagte der Gauner, während er die Reste der zerquetschten Fliege von der Hand wischte, »ein elender Schwätzer. Du machst zu viele Worte. Tu’s doch! Nimm ihm das Geld – und gib’s deiner Mutter. Ich helfe dir dabei.«
»Du bist wohl verrückt – he?« Vidocq blickte auf Payant. »Denk bloß nicht daran, meine Eltern zu bestehlen.«
»Wir bestehlen doch deine Eltern nicht. Wir nehmen ja deiner Mutter nichts weg, sondern nur deinem Vater, dem alten Geizkragen.«
Vidocq griff zum Becher. »Jacques«, sagte er nach einer Weile, »ich wollte dich schon immer etwas fragen. Warum verdienst du dir dein Geld durch Gaunereien? Ich begreife das nicht. Du hättest es doch nicht nötig. Deine Familie ist reich. Du könntest in einem Schloss wohnen – aber du reißt von zu Hause aus, lebst hier in der Gosse von Arras. Und verübst Verbrechen, die dich aufs Schafott bringen können. Warum tust du das?«
»Weil’s Spaß macht.«
Vidocq blickte ihn verwundert an.
»Ja, weil’s Spaß macht«, wiederholte Jacques de Payant. »Glaube mir, es gibt nichts, was langweiliger ist, als das Geld reicher Eltern auszugeben, ein geruhsames Leben zu führen, ohne Risiko und ohne Abwechslung. Es ödet mich an, in Gesellschaft geistloser und witzloser Leute die Zeit totzuschlagen. Ich habe das lange genug mitgemacht. Jetzt, in Arras, plagt mich keine Langeweile. Bei jedem Einbruch riskiere ich, in Ketten geschmiedet zu werden oder den Kopf abgeschlagen zu bekommen. Das ist ein Nervenkitzel, der mich munter hält. Der Polizei ein Schnippchen zu schlagen – das macht Spaß. Und hier unter diesem Gesindel zu leben, unter den Halsabschneidern und Wegelagerern, Taschendieben und Falschspielern, unter diesen Bestien, die einen jeden Augenblick hinterrücks anfallen können – das vermittelt mir den Reiz des Risikos, den vielleicht ein Tierbändiger so herrlich findet. Verstehst du jetzt, warum ich aus dem Schloss meiner Eltern ausgerissen bin?« Er blickte auf Vidocq und fügte hinzu: »Nein, ich sehe schon, du verstehst das nicht.«
»Ich könnte verstehen«, sagte Vidocq, »wenn einer wie ich ausreißt von zu Hause und die Brücken hinter sich abbricht, wenn einer wie ich davonläuft und den Dreck von Arras zurücklässt, dieses Elend und diese Armut. Wenn einer wie ich ein neues Leben sucht, das könnte ich verstehen, aber …«
»Ich hab’s schon gesagt, du bist ein Schwätzer. Tu’s doch. Reiß aus. Jetzt bietet sich die Möglichkeit …« Im Eifer des Gesprächs verfiel Jacques de Payant in die Gaunersprache: »Wenn dein Herksplag – dein Vater – nicht daheim ist, stieren wir seinen Zaster ab und machen halbe-halbe. Dann gibst du deiner Gatschn – deiner Mutter – einen Teil und verschwindest mit dem Rest.«
»Meine Mutter würde dieses Geld niemals nehmen. Und mein Vater würde mich totschlagen.«