Buch
Es geschieht jeden Tag, überall und meist absichtslos: Gestresste Eltern kränken ihre Kinder, Chefs kränken ihre Mitarbeiter, und die Mitarbeiter machen sich gegenseitig durch üble Nachrede das Leben schwer. Politiker werden fortwährend gekränkt durch die Kritik in den Medien, durch ihre Parteikollegen oder -gegner. Frauen kränken Männer, Männer kränken Frauen, Ärzte kränken ihre Patienten, indem sie ihnen nicht zuhören. Die Autorin schildert, wie bewusst und unbewusst entwertet und gekränkt wird. Kränkungen können so subtil sein, dass sie kaum wahrgenommen werden. Dennoch wirken sie massiv auf unser Selbstwertgefühl. Wer sich gedemütigt fühlt, leidet und – schlägt häufig zurück. Barbara Strohschein zeigt anhand zahlreicher Beispiele aus der Praxis, wie es gelingt, den Teufelskreis zu durchbrechen: Indem wir Anerkennung als Lebensprinzip entdecken, Selbsterkenntnis fördern und Empathie für unser Gegenüber entwickeln, können wir zu einem gelingenden Miteinander finden.
Autorin
Barbara Strohschein ist promovierte Philosophin. Für Verlage und Zeitschriften arbeitete sie als Lektorin und Redakteurin, für den Rundfunk und das Fernsehen wurde sie als Moderatorin und Interviewpartnerin engagiert. Sie veröffentlichte Sachbücher zu wissenschaftlichen Themen, Erzählungen und Theaterstücke. Heute ist sie als Expertin für Werte-Philosophie in eigener Praxis als Coach, Beraterin und Autorin tätig. Barbara Strohschein lebt in Berlin.
Barbara Strohschein
Das gekränkte ICH
Was Kränkungen anrichten & wie Anerkennung glücklich macht
Gefördert durch die Heinz und Heide Dürr Stiftung.
Dieses Buch ist als gebundene Ausgabe unter dem Titel »Die gekränkte Gesellschaft« im Riemann Verlag erschienen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
1. Auflage
Taschenbuchausgabe Juli 2018
Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Copyright © 2018 dieser Ausgabe by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © 2015 der Originalausgabe by Riemann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Lektorat: Gerhard Seidl
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: FinePic®, München
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
KF · Herstellung: kw
ISBN: 978-3-641-22959-7
V002
www.goldmann-verlag.de
Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz
Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur Taschenbuchausgabe
Einleitung
Teil 1 Wie finden Entwertungen statt? Was sind Werte?
1 Entwertungen – wirksam und unbewusst
2 Werte – gefordert und verdrängt
3 Wie Werte und Entwertungen zusammenhängen
Fazit und Ausblick
Teil 2 Die Familie als Schlüssel: Wie Entwertungen wirken und wie Werte vermittelt werden
4 Wie und warum in Familien entwertet wird
5 Entwertungen als Ausdruck des Systems
6 Die ungewollten Ursachen der Entwertungen
7 Was in der Kindheit geschah, wirkt lange nach
Fazit und Ausblick
Teil 3 Die heutigen Schauplätze der Entwertungen
8 Schauplatz Spiegel – Wer bin ich? Und was bin ich wert?
9 Schauplatz Körper – Zwischen Selbstentwertung und Perfektionsstreben
10 Schauplatz Sex, Liebe und Ehe – Wer ist begehrenswert? Wer wird entwertet?
11 Schauplatz Arbeit – Entwertung durch Reduktion und Funktionalisierung
12 Schauplatz Wissenschaft – Die Überwindung von Krankheit und menschlichem Makel
13 Schauplatz Gott und Religiosität – Selbsterhöhung oder Selbsterniedrigung?
Fazit und Ausblick
Teil 4 Das Glück durch Anerkennung: Ideen, Anleitungen und konkrete Projekte
14 Was wir von den Philosophen lernen können – Selbstbestimmung
15 Ich in Beziehung zu mir – Selbstwert erfahren durch Selbsterkenntnis
16 Wir in sozialen Beziehungen – Anerkennung als Lebensprinzip
17 Empathie – Voraussetzung und Ziel für Wertschätzung und Glück
18 Gelebte Werte, konkrete Projekte
Fazit und Ausblick
Danksagung
Anmerkungen
Literatur- und Quellenverzeichnis
Vorwort zur Taschenbuchausgabe
Warum gekränkt? Und wie damit umgehen?
Es ist im Leben unvermeidbar, gekränkt zu werden. Wünsche werden nicht erfüllt, Erwartungen werden enttäuscht, und Bedürfnisse werden nicht befriedigt. Das schmerzt und macht wütend. Aber diese einfache Wahrheit, dass Kränkungen zum Leben dazugehören, will kaum jemand zur Kenntnis nehmen. Denn Kränkungen tun immer weh. Es ist eine große Kunst, den Schmerz, der auf jede Kränkung folgt, zu akzeptieren, ohne wütend zu werden. Und diese Kunst ist erlernbar. Ebenso wie man lernen kann, sich selbst, einen Menschen, eine Tatsache, eine andere Meinung oder eine Wahrheit anzuerkennen. Vor allem aus diesem Grund habe ich dieses Buch geschrieben, das 2015 unter dem Titel »Die gekränkte Gesellschaft« erschien. Ich wollte herausfinden und begreifen, wie Kränkungen zustande kommen, welche zerstörerischen Konflikte daraus entstehen und wie man mit Kränkungen konstruktiv umzugehen lernt. In meiner Beratung erlebe ich, wie weit und tief Kränkungen wirken und wie sehr sie das Selbstwertgefühl und das Wertempfinden beeinträchtigen.
Es geschieht jeden Tag, überall und meist absichtslos: Gestresste Eltern kränken ihre Kinder, in dem sie auf deren kindliche Bedürfnisse nicht eingehen können; in dem sie an dem Kind herummäkeln oder ihm vermitteln, den elterlichen Erwartungen nicht zu entsprechen. Nicht selten versuchen Kinder bis in ihr Erwachsenenleben, es ihren Eltern immer recht zu machen, um Kränkung zu vermeiden. Chefs kränken ihre Mitarbeiter, und die Mitarbeiter machen sich gegenseitig durch üble Nachrede das Leben schwer. Da wird an den Arbeitsergebnissen herumgemeckert. Da fehlt ein sehnlichst erhofftes Lob. Da wird eine besondere Leistung nicht zur Kenntnis genommen. Die Politiker werden fortwährend gekränkt durch die Kritik in den Medien, durch ihre Parteikollegen oder -gegner. Frauen kränken Männer, wenn es sexuell nicht klappt oder wenn der Mann nicht so »funktioniert«, wie Frauen es erwarten. Männer kränken Frauen, wenn sie sich mehr mit Pornos im Internet beschäftigen, als ihrer Partnerin gegenüber zärtlich und aufmerksam zu sein. Ärzte kränken ihre Patienten, indem sie ihnen nicht zuhören und sich nicht genug Zeit für sie nehmen. Nationen sind gekränkt, wenn sie sich von einer anderen Nation in ihrer Kultur und Geschichte – oder gar in ihrer Religion nicht geachtet fühlen. Und die Vertreter der Religionen kränken sich gegenseitig: die Muslime die Christen, die Christen die Muslime, die Muslime die Juden und umgekehrt.
Was geschieht beim Vorgang des Kränkens? Und warum entstehen daraus nicht nur individuelle Leiden, sondern auch gravierende Konflikte, die außer Kontrolle geraten, wie Gewaltakte auf der Straße, Terror und Kriege? Der Mechanismus ist zu verstehen, wenn man sich selbst fragt: Was fühle ich, und wie reagiere ich, wenn mich jemand abwertet, egal, ob absichtlich oder unabsichtlich. Werde ich wütend? Schlucke ich die Kränkung herunter? Schlage ich zurück? Schweige ich, aus Angst? Überlege ich mir, wie ich mich rächen kann? Die Kränkung erzeugt ein Ohnmachtsgefühl, das nicht eingestanden, aber kompensiert wird, und zwar aus einem verständlichen Grund: Wer zugibt, gekränkt zu sein, fühlt sich noch schwächer. Also muss das Gefühl der Schwäche durch den Versuch, Stärke zu zeigen, kompensiert werden: durch Abwertung des anderen, durch Intrigen und durch körperliche und seelische Gewalt. So entsteht eine Negativspirale: Wer sich gekränkt fühlt, kränkt im Gegenzug denjenigen, der gekränkt hat. Und so geht es immer weiter.
Doch was bewegt jemanden dazu, einen anderen zu kränken? Es ist ein Gefühl des Mangels. Ein Mangel an Wertschätzung und Anerkennung. Als ich diesen Mechanismus zu begreifen begann, habe ich mich an die Arbeit gemacht und in vielen konkreten Beispielen dargestellt, wie Kränkungen zustande kommen und wirken, und mir darüber Gedanken gemacht, wie man der Negativspirale entkommen kann.
Warum wir »Die gekränkte Gesellschaft« im Titel durch »Das gekränkte Ich« ersetzt haben? Die Gesellschaft ist ja keine diffuse Masse von Menschen, sondern setzt sich aus Einzelindividuen zusammen, die in ihrer Epoche vergleichbare Erfahrungen machen: durch die politischen Ereignisse, durch die Trends, den Zeitgeist, weitverbreitete Erziehungsstile und Ansichten über die Art und Weise, wie Kinder zu »funktionieren« haben. In der heutigen Leistungsgesellschaft, in der Perfektion, Erfolg und Makellosigkeit ganz oben auf der Werteskala stehen, ist es kein Wunder, dass Menschen, die meinen, diesen Maßstäben nicht gerecht zu werden, sich selbst nicht akzeptieren und sich nicht »wertvoll« fühlen. Das ist weitverbreitet, doch kaum jemand gibt es offen zu. Insofern teilen viele Menschen ein ähnliches Schicksal, ohne es zu wissen. Eine Gesellschaft also, die aus gekränkten Individuen besteht. »Das gekränkte Ich« meint jeden Einzelnen. Letztlich ist es eine Frage des Bewusstseins und des Bewusstwerdens, wie wir konstruktiv mit Kränkungen umgehen können. Ein Gedanke von Immanuel Kant, in einen einfachen Spruch gebracht, verhilft dazu: »Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füge keinem andern zu.« Wer verstanden hat, dass Kränkungen dazu herausfordern, über sich nachzudenken und nicht alles persönlich zu nehmen, kann souverän bleiben. Sich selbst lieben, die Vorzüge anderer sehen, Sinnvolles tun, Verantwortung übernehmen. Und das brauchen wir unbedingt in einer Zeit, in der wir Gefahr laufen, uns selbst zum Feind zu werden, und jeden dazu zu machen, der eine andere Meinung hat. Ein erster Schritt immerhin wäre getan, wenn wir von einer gekränkten Gesellschaft zu einer Gemeinschaft der Anerkennung werden könnten.
Berlin, im Frühjahr 2018
Einleitung
Überall geht ein frühes Ahnen dem späten Wissen voraus.
ALEXANDER VON HUMBOLDT
Es war ein Schock. Gräuel und Gewalttaten, mitten in Europa. In Jugoslawien. April 1999, Ostern. Nachbarn, die jahrelang friedlich nebeneinander gelebt hatten, schlugen sich tot. Von unvorstellbaren Grausamkeiten wurde in den Medien berichtet. Bilder von Männern mit Gewehren, die auf Frauen und Kinder schossen, Menschen, die marodierend in Häuser drangen und sie in Brand steckten.
Warum tun sich Menschen Gewalt an? Mit dieser Frage wachte ich eines Morgens in diesen Ostertagen auf. Und gleich einer Eingebung kam mir eine Antwort in den Sinn: Jedem Gewaltakt geht eine Entwertung voraus. Ein plötzliches Aufwachen und eine Eingebung in ein und demselben Augenblick. So selbstverständlich die Frage und so simpel die Antwort erschienen, so wenig konnte ich es dabei belassen.
Ich fragte mich weiter und dachte nach: Lässt sich Gewalt immer auf Entwertungen zurückführen? Sicher nicht. Gewalt findet im Auftrag statt. Kriege sind kalkuliert und mit politischen und ökonomischen Zielen verknüpft. Bedeutet das, dass Gewalt auch zu rechtfertigen ist? Ist Gewalt unvermeidbar? Dass Letzteres sehr oft behauptet wird, wissen wir. Doch etwas musste an dieser meiner Antwort richtig sein. Der logische Umkehrschluss schien darauf hinzuweisen. Aus Anerkennung wird nie Gewalt ausgeübt. Anerkennung ist das Gegenteil der Entwertung. Folgerichtig ist demnach, dass die Entwertung dem Gewaltakt vorausgesetzt ist und zudem die Entwertung durch Gewalt stattfindet.
Doch was spielt sich in diesem Teufelskreis ab? Wer entwertet warum? Auf welchen Ebenen vollzieht sich Gewalt?
Wer anfängt, sich auf etwas zu konzentrieren, fängt an, mehr zu sehen. Dazu gehört, das so Selbstverständliche unter einem neuen Blickwinkel zu betrachten: Gewalt findet nicht nur in Kriegen statt, sondern auch im Alltag. Gewalt bedeutet nicht nur physische Gewalt, sondern auch psychische. Jemand macht jemand anderen mit Worten fertig, schneidet ihn, missachtet ihn. Etwas wird zerstört, oder jemand wird vernachlässigt, weil es oder er/sie nicht – mehr – für wert erachtet wird. Jemand oder etwas wird nicht beachtet, nicht gesehen und existiert deshalb nicht.
Diese Entwertungsphänomene finden wir überall. In Kriegen wie im Alltag. Im alltäglichen Leben ist die Entwertung von Menschen durch Menschen auf den ersten Blick oft gar nicht sichtbar und als solche bewusst. Diese Gewalt- und Zerstörungsakte sind subtil, folgenreich, ohne dass dies erkannt wird.
Diese alltäglichen Entwertungen finden jedoch überall statt, akut und aktuell. Der Rechtsradikalismus und der Terrorismus zeugen davon, nicht nur mit Totschlagargumenten, sondern auch mit Totschlägen. Die Sozialarbeiter berichten von der beängstigenden und zunehmenden Gewalt in den Familien. Wer ins Theater geht, kommt nicht umhin, mit ansehen zu müssen, wie sich die Protagonisten auf der Bühne beschimpfen, demütigen und umbringen. Kein Fernsehabend ohne Mord und Totschlag oder Diffamierungen. In den Schulen und am Arbeitsplatz wird gemobbt. Der lieblose und respektlose Umgang mit Alten, Kranken und Behinderten ist eine Ausdrucksweise der Entwertung. Doch auch die Funktionalisierung von Kindern zu Leistungsträgern und Konsumenten lässt sich unter diesem Begriff fassen. In Partnerschaften und Ehen ist gegenseitiges Entwerten ein probates Mittel, sich über den anderen Macht verschaffen zu wollen.
Dieses Panorama an Entwertungsschauplätzen ließe sich fortsetzen. Und es folgten für mich daraus konsequenterweise die Fragen: Wer ist warum so gekränkt, so entwertet worden, dass das Zurückschlagen unvermeidlich wird? Was geschieht hier unbewusst und unvermeidlich? Wie ließe sich dieser Teufelskreis bewusst machen und aufbrechen? Welche Ideen und Anleitungen brauchen wir, um diese Prozesse zu erkennen und damit aufzuhören?
Diese Fragen betreffen ebenso die Gewaltakte in Kriegen wie auch die vielen Entwertungsereignisse in unserer Gesellschaft.
Kritisch gesehen sprach alles dagegen, dass ich mich mit diesem Thema weiter befassen sollte. Als Philosophin war ich weder erklärtermaßen eine Friedens- oder Konfliktforscherin, noch war ich in der Mediation bewandert oder in irgendeiner fachspezifischen Weise auf diese Aufgabe vorbereitet, die sich hier auftat. Und so fragte ich mich, woher ich die Mittel und den Mut nehme, mich diesem Thema zu widmen. Von gut meinenden Kollegen und Freunden wurde ich gewarnt: »Viel zu weit gefasstes Thema!« »Das ist nicht zu bewerkstelligen.« »Dazu bräuchte man ein Institut und Forschungsgelder.« Soweit war das richtig, aber auch begrenzt gedacht. Kann jemand, der eine existenzielle Frage hat, sich schon absichern und eingrenzen, bevor er anfängt zu fragen und zu forschen? Eines wurde mir im Laufe meiner weiteren Arbeit klar: Die Philosophie befasst sich in der Regel weitaus häufiger mit Bewusstheit, mit Erkenntnis und mit dem Normativen als mit dem Unerkannten. Warum sollte sich Philosophie nicht ebenso mit dem Unbewussten auseinandersetzen? Die Erforschung des Unbewussten ist ja nicht nur ein Thema für Psychologen und Psychoanalytiker. Zudem gibt es Philosophen, für die das Unerkannte und Nichtbewusste von zentralem Interesse war, wie wir sehen werden. Ermutigt hat mich der Mut der Philosophen, die genau dies getan haben und deshalb in diesem Buch eine Rolle spielen werden. Diese vier Philosophen gingen an die »Wurzel«, waren radikal, haben nicht »normativ« gedacht, sondern die menschliche Natur ergründet, durch Erfahrungen an und mit sich selbst: Søren Kierkegaard, Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche und Ernst Bloch. Sie haben etwas zu denken gewagt, ohne auf Gewinn, Lob und Erfolg zu spekulieren. Keiner von ihnen hatte ein Institut hinter sich. Keiner von ihnen wäre auf die Idee gekommen, für ihre philosophischen Fragestellungen Forschungsgelder zu beantragen. Keiner von ihnen hatte eine sichere, gut dotierte, lebenslange Professorenstelle. Sie lebten in einer durchaus gefährlichen Freiheit. Ihr Philosophieren war angetrieben von eigenen Erfahrungen, von der Lust und dem Leid des Forschens und dem unbedingten Drang, einer Sache auf die Spur zu kommen.
Søren Kierkegaards Leiden und Denken kreiste um das Menschheitsthema Schuld und Gewissen. Arthur Schopenhauer wollte den blinden Willen überwinden und kämpfte um Selbstbeherrschung. Friedrich Nietzsche rang um seine existenzielle und geistige Selbstbestimmtheit. Ernst Bloch rief auf, die Hoffnungslosigkeit zu überwinden und das richtige Hoffen zu erlernen. Ur-Menschheitsfragen, modern und psychologisch-philosophisch weitergedacht. Das sind die Aspekte, die mich hier interessieren. Sie haben durchweg etwas mit der Frage zu tun, wie wir Kränkungen erkennen und überwinden.
Diese Philosophen begriffen, wie und warum Menschen gekränkt werden, auch, weil sie selbst gekränkt wurden – so wie andere Menschen auch.
Nicht um die Philosophie im fachakademischen Sinn geht es mir hier, sondern um Philosophie als Lebenshaltung und Lebensweisheit. Doch wie in diesem Buch zu sehen sein wird, interessieren mich außer den wegweisenden Philosophen von gestern die engagierten Pioniere von heute, also Männer und Frauen, die sich in konkreten Projekten für andere Menschen einsetzen.
In Folge dieses Entschlusses, mich mit Entwertungen zu befassen, begann ich, im Auftrag des Hamburger Instituts für Friedens- und Konfliktforschung eine Studie zu schreiben über den »Wert des Menschen in der Globalisierungsdebatte, in der Humankapitaldebatte, in der Genforschung und den Medien«. Nach Beendigung der Studie hielt ich Vorträge zu diesen Themen und führte weitere Untersuchungen durch. Manager und Unternehmer, die ich kennenlernte, hielten meine ersten Ergebnisse über die Erkundung der Werte und Entwertungen für relevant und neu. Sie spornten mich an, ein Wertekonzept für Unternehmen und Einzelpersonen zu entwickeln. Aus dieser Konzeptarbeit entstand meine »Philosophische Praxis für Werte«, in der ich seit mehr als zehn Jahren berate.
Meine Methoden: Hinschauen, Deuten, Erklären und Anregen
Ein Thema zu bearbeiten, das einerseits noch nicht erforscht ist und andererseits alle möglichen Themen- und Wissenschaftsbereiche tangiert, die fachspezifisch abgehandelt werden, ist nicht einfach.
Der Begriff »Entwertung« beinhaltet das Wort »Wert«. Aber was haben Entwertungen denn nun mit Werten zu tun? Welche Werte werden in der Entwertung entwertet?
Der Zusammenhang zwischen Entwertungen und Werten ist bis jetzt kaum untersucht worden. Mit Moral und Ethik, Überbegriffe für Werte, befasst sich die Geisteswissenschaft. Gefühle, mittels derer bewertet wird, sind Untersuchungsgegenstand der Neurowissenschaftler und Psychologen. Mit gewalttätigen Konflikten setzen sich Konfliktforscher, Soziologen und Politologen auseinander. Die verschiedenen Forschungsansätze stehen nebeneinander, ohne dass große Zusammenhänge in Augenschein genommen und erklärt werden. Das ist nicht verwunderlich in der heutigen Welt der Wissenschaft, in der die Disziplinen sich mit sich selbst befassen, aber nicht unbedingt mit existenziellen Fragen der Menschheit.
Das ist niemandem vorzuwerfen, sondern liegt im wissenschaftlichen System: spezialisieren, objektivieren, messen. Aber mit diesen Methoden ist das Entwertungsproblem nicht zu erforschen. Worauf sollte man sich hier spezialisieren? Soziale Werte sind nicht messbar. Gefühle sind nicht objektivierbar.
Auf welche wissenschaftlichen Erklärungsmodelle sollte ich mich also beziehen? Meine Entscheidung: nur auf diese, die Antworten geben auf die Fragen, die hier relevant sind. Um einen wissenschaftlich-theoretischen Abriss geht es hier also nicht.
Mich interessieren die von Entwertung Betroffenen selbst. Beobachtung, Mitgefühl, Analyse und Erklärung sind meinem Dafürhalten nach notwendig, um Entwertungen zu erfassen: durch Alltagsbeobachtungen, Interviews und durch Erfahrungen aus meiner Beratungspraxis. Auch Auszüge aus Biografien, Reportagen und Dokumentationen liefern den Stoff für meine Fallbeispiele und deren Analysen. So erzähle ich Geschichten von Menschen heute. Um die Anonymität zu bewahren, habe ich die Inhalte, die Bezugsdaten und Aussagen verfremdet und beispielhaft fiktive, aber symptomatische Geschichten daraus zusammengefasst. Es werden sich viele in diesen Fallbeispielen wiedererkennen, ohne dass jemand Bestimmtes gemeint oder beschrieben wird.
Wissenschaftliche Theorien, Statistiken, Studien dienen hier allenfalls dazu, die Erklärungen zu fundieren.
In Bezug auf meine Fragestellung ist es wenig sinnvoll, Befragungen mit anonymen Fragebögen durchzuführen und auszuwerten. Das Argument, erst durch umfangreiche Erhebungen könnten stichfeste Aussagen gemacht werden, ist meines Erachtens hier irrelevant. Gefühle und Erfahrungen sind nicht einfach so »abfragbar«, schon gar nicht durch Multiple-Choice-Verfahren.
Wo überall entwertet wird und warum ich eine Auswahl treffe
In diesem Buch werde ich mich auf die Schauplätze des Alltags konzentrieren: auf die abwertende Selbstwahrnehmung im Spiegel, auf die Entwertung des Körpers, die Entwertungen in Sachen Sex und Partnerschaft, die Entwertungen am Arbeitsplatz. Auch auf die nicht offensichtlichen Bewertungen des Menschen in der Wissenschaft werde ich eingehen, die durch Reduktion und Abstraktion zustande kommen, in denen der »Mensch an sich« keine Rolle spielt, obgleich es um den Menschen geht. Schauplatz der Entwertungen und Aufwertungen ist auch die Religion, mittels derer sich Menschen erniedrigen oder erhöhen.
Natürlich ließe sich einwenden, andere, wichtige Schauplätze würden hier fehlen. Auch könnte gefragt werden, warum ich mich nicht ausführlich mit den sichtlichen Entwertungen auf Kriegsschauplätzen und durch Attentate befasse. Die gravierendsten Entwertungen des Menschen durch den Menschen thematisiere ich aus mehreren Gründen hier nicht: den Holocaust und die Genozide, die Vernichtungskampagnen in Diktaturen, den Krieg im Irak, die gewalttätigen Auseinandersetzungen in Israel und Palästina, die Vergewaltigung von Frauen in Indien und anderen Ländern, die Ausbeutung von Kindern in den Bergwerken Afrikas, den Menschenhandel, die Foltermethoden in Diktaturen, die Gewalt durch den Terrorismus, die Lebenssituation der vielen Entrechteten, die es auf der ganzen Welt gibt.
Diese Entwertungen in Form von Verachtung, Missbrauch, Misshandlung, Gewalt und Tötung sind die sichtbaren Spitzen des Eisbergs. Diese Entwertungen sind mehr als offensichtlich. Die Chancen, hier etwas bewirken zu wollen, sind weit weniger vorhanden als in den Zusammenhängen, in denen jeder Mensch selbst wirksam werden kann. Trotz der erdrückenden Fülle von Gewalttaten und Entwertungen sei eines nicht vergessen: Durch die Bemühungen vieler Menschen, für Anerkennung und Glück auch in einem politischen Sinn tätig zu werden, können langfristig durchaus Fortschritte erzielt werden.
Ich möchte Sie anregen, selbst auf Spurensuche zu gehen und neugierig zu werden auf das Glück durch Anerkennung.
Wie der Selbstwert eines Menschen korrespondiert mit der Akzeptanz der Welt und der anderen Menschen, wusste Goethe dem jungen und eigensinnigen Arthur Schopenhauer mitzuteilen:
»Willst du dich deines Wertes freuen,
So musst der Welt du Wert verleihen.«
Teil 1
Wie finden Entwertungen statt? Was sind Werte?
Wer ethisch sich selbst gewählt und gefunden hat, hat sich bestimmt in seinem ganzen konkreten Sein. Er besitzt sich also als dies Individuum, welches diese Fähigkeiten, diese Leidenschaften, diese Neigungen, diese Gewohnheiten hat, welches unter diesen äußeren Einflüssen steht, welches in der einen Richtung diese, in der anderen jene Einwirkung erfährt. Hier hat er sich selbst also als Aufgabe in dem Sinne, dass diese zuallernächst darin besteht, zu ordnen, zu bilden, zu mäßigen, zu entflammen, zurückzudrängen, kurz, ein Ebenmaß in der Seele, eine Harmonie zustande zu bringen, welche Frucht der persönlichen Tugenden ist.1
SØREN KIERKEGAARD
Einstimmende Gedanken
Wie gelingt es, sich selbst etwas wert zu sein? Søren Kierkegaard schlägt vor, einen selbstbestimmten Weg durch ethisches Handeln anzusteuern. Ethisches Handeln orientiert sich an der Frage, was für einen selbst und für alle rechtens ist. In Kierkegaards Sinne heißt dies: Wer ethisch lebt, lebt selbstbestimmt.
Aber woher wissen wir, was Recht beziehungsweise was Unrecht ist? Woher wissen wir, um unseres Selbstwerts willen, welche Werte wir haben und haben sollen, um anerkannt zu werden und glücklich zu sein? Schopenhauer meint, dass wir uns dazu an etwas orientieren müssen. »Kein Charakter ist so, dass er sich selbst überlassen bleiben und sich ganz und gar gehn lassen dürfte; sondern jeder bedarf der Lenkung durch Begriffe und Maximen.«2
Daraus ließe sich der Schluss ziehen, dass wir, um unserer positiven Selbstbewertung willen, uns an Werten orientieren. Und zwar an den Werten, die anderen Menschen auch wichtig sind.
Denn wer will riskieren, ausgeschlossen zu werden, den sozialen Tod in Kauf zu nehmen, weil seine Werte nicht kompatibel mit den allgemein anerkannten Werten sind?
Schon allein stehen jeden Tag Fragen wie diese an: Was soll ich wie tun? Was ist mir wichtig? Und an welche Regeln soll ich mich halten und warum? Und wie erreiche ich, dass mich andere Menschen anerkennen?