Was weiß man vorher schon von Gefühlen?
Oder von deren Intensität?
Für meine so bewunderns-werte Mama.
Für meine so wunder-vollen Töchter.
In Liebe, immer
A.S.
Gefühle kann man nicht kaufen, nicht ausleihen, nicht bestellen und nicht selber basteln. Man kann sie nicht verschenken, nicht … Nein, warte mal … Doch, klar kann man Gefühle verschenken. Wenn man jemanden lieb hat, zum Beispiel. Dann ist dieses Gefühl in einem selber, und man macht damit gleichzeitig auch jemand anderen sehr glücklich. Wie mit einem Geschenk sozusagen.
Um ehrlich zu sein, sind Gefühle eine seltsame Sache. Manchmal sind sie völlig logisch: Wer traurig ist, der weint. Wer fröhlich ist, der lacht. Doch Gefühle können auch ein ziemliches Chaos veranstalten. Wenn sich Oma so doll freut, weil du ein Gedicht aufsagst, warum lacht sie dann nicht, sondern schluchzt plötzlich los? Oder warum schimpft Mama, statt einen Freudentanz zu veranstalten, als sie dich endlich im Supermarkt wiedergefunden hat, obwohl sie doch vor Sorgen eben beinahe verrückt geworden wäre? Und warum kannst du deine Geschwister lieb haben und gleich darauf total bescheuert finden und schließlich wieder supercool und plötzlich irre doof, und das alle paar Minuten abwechselnd?
Was das Ganze noch kniffliger macht, ist, dass es eine ganze Menge verschiedener Gefühle gibt. Manche machen Spaß, die nennt man deshalb positive Gefühle. Manche hat man überhaupt nicht gerne, das sind dann die negativen Gefühle wie Angst oder Traurigkeit. Doch selbst das stimmt auch nicht so ganz felsenfest. Denn es macht doch jede Menge Spaß, einen spannenden Film zu gucken, oder nicht? Und manchmal ist man sogar in der Stimmung für einen traurigen. Sehr seltsam …
Was, um Himmels willen, fragst du dich da, ist denn dann überhaupt der Sinn von all diesem Durcheinander?
Ganz einfach.
Mit der Zeit lernst du immer besser, deine eigenen Gefühle anderen Menschen mitzuteilen. Egal, wie kompliziert sie gerade sind. Deine Gefühle, nicht die anderen Menschen, natürlich. Dein Gegenüber kann dir dann helfen, dich trösten oder verstehen, warum du gerade so wütend oder so fröhlich bist. Je älter du wirst, desto leichter fällt es dir dann auch, Gefühle bei anderen zu erkennen. Stell dir vor, du begegnest einem knurrenden Hund. Du weißt sofort, dass dies eine Warnung ist, und bist vorsichtig.
Bei uns Menschen ist es ganz ähnlich. Okay, wir knurren nur sehr selten, aber auch unsere Emotionen (das ist ein anderes Wort für Gefühle) erkennt man am leichtesten im Gesicht.
Forscher haben früher gedacht, dass man auf Fotos ziemlich sicher sechs oder sieben verschiedene Gefühlsausdrücke unterscheiden kann. Das heißt, überall auf der Welt gucken die Leute ungefähr gleich, wenn sie ein tolles Geschenk bekommen.
Inzwischen hat die Wissenschaft jedoch herausgefunden, dass das Gehirn noch viel schlauer ist, als alle vermutet haben. Es sind nämlich über zwanzig verschiedene Gesichtsausdrücke, die wir unterscheiden können. Sogar Gefühlsmischungen wie freudig-überrascht oder unangenehm-überrascht. Und das Verrückteste ist, von den sechsundzwanzig Gesichtsmuskeln, die jeder Mensch hat, brauchen wir für unsere Gefühlsmimik nur ganze acht!
Trotzdem kann es sein, dass verschiedene Menschen dasselbe Gefühl ganz unterschiedlich wahrnehmen. Und auch unterschiedlich beschreiben würden. Wenn es in einer der Geschichten zum Beispiel um Angst geht, kann es sein, dass du in derselben Situation überhaupt kein bisschen Angst gehabt hättest. Du kannst es dir ungefähr so vorstellen wie mit dem Lachen. Menschen lachen über die unterschiedlichsten Dinge. Was für dich vielleicht zum Wegschmeißen komisch ist, findet deine Schwester zum Gähnen langweilig oder andersrum.
Die unterschiedlichsten Situationen lösen also auch die unterschiedlichsten Gefühle aus. Dass man aus Freude weint oder aus Erleichterung ärgerlich wird, das habe ich schon erwähnt. Was du in diesem Buch bestimmt spüren wirst, wenn du es vorgelesen bekommst oder sogar selber liest, ist Mitgefühl. Eine tolle Sache, die wir Menschen da können. Du hörst eine Geschichte, liest ein Gedicht oder bekommst so einen Brief wie den am Ende des Buches, und dabei geschieht etwas mit dir. Du fühlst mit den Personen in der Geschichte, als wärest du an ihrer Stelle.
Oder du erinnerst dich daran, wie es für dich war, als du einmal ein ähnliches Gefühl hattest. Oder du erlebst das Gefühl gerade einfach mit, indem du eine Gänsehaut bekommst. Das Gleiche funktioniert übrigens auch bei demjenigen, der dir die Geschichten vorliest.
Bevor es losgeht, habe ich noch einen Bastelvorschlag für dich:
Wie wäre es, wenn du dir deinen eigenen Gefühlsausdruck-Katalog machst?
Dazu brauchst du einen Stapel Papier, auf den du ein großes Oval zeichnest. Das soll dein Gesicht sein. Dann nimmst du einen Handspiegel und versuchst dich an den Grundgefühlen: Freude, Wut, Ekel, Furcht, Traurigkeit und Überraschung. Zeichne in dein Oval-Gesicht, wie sich deine Augen und dein Mund bei jedem Gefühl verändern. Es braucht ein bisschen Übung. Dann kannst du deine Familie raten lassen. Mal sehen, wie viele Gefühlsausdrücke sie richtig erkennen.
In den folgenden Geschichten geht es also um Gefühle. Große und kleine, schöne und doofe, einfache und komplizierte. Und wenn sie sich manchmal auch noch so seltsam anfühlen: Jeder hat sie. Große und kleine Menschen, schöne und doofe, einfache und komplizierte.
Viel Spaß beim Lesen und Zuhören. Und ohne dass du es merkst, machst du gerade auch einen ganz bestimmten Gesichtsausdruck. Ich schätze, man könnte ihn neugierig-erwartungsvoll nennen.
Auf geht’s.
Tati hat Bauchschmerzen. Schon seit gestern Abend. Sie werden einfach nicht besser. Die ganze Nacht schon grummelt, zwickt und drückt es in ihrem Magen. Tati hat deswegen kaum geschlafen.
Draußen zwitschern bereits die Vögel, da fallen ihr erst die Augen zu. Doch als Mama ihr sanft über den Arm streichelt und einen Kuss auf ihre Stirn drückt, kommt es Tati so vor, als seien grade mal fünf Minuten vergangen.
»Hallöchen, meine Süße! Der Morgen ist aufgewacht, die Sonne durchs Fenster lacht, verschwunden ist die finst’re Nacht«, flötet Mama fröhlich dichtend vor sich hin und öffnet schwungvoll die bunten Vorhänge. Ein feiner, frecher Sonnenstrahl findet seinen Weg durch die kleinen Fenster des Wohnwagens und kitzelt Tati an der Nase. Sie muss niesen.
»Hoppla, bist du erkältet?«, fragt Mama besorgt. »Wäre gar nicht gut, heute, am ersten Schultag.«
»Ja!!!«, ruft Tati erleichtert. Der Nieser kam ihr gerade recht. »Ich bin sogar sehr erkältet. Und Bauchschmerzen habe ich auch. Schon die ganze Nacht.« Zumindest Letzteres entspricht der Wahrheit, und deswegen fühlt sich Tati beim Schwindeln auch nicht ganz so unwohl.
»Oh, du Arme«, meint Mama und fühlt Tatis Stirn. »Nö, nicht heiß«, stellt sie fest. »Hast du gestern Abend zu viele Süßigkeiten gemampft? Ich mache dir einen warmen Kakao, da verschwindet das Bauchweh ruck, zuck.« Mama klopft Tati aufmunternd auf den Rücken. Dabei klimpern ihre vielen Armreife gegeneinander.
Tati seufzt.
Natürlich ist sie nicht erkältet. Und das Bauchweh kommt auch nicht von den Süßigkeiten.
Nein, Mama ist schuld dran.
Tati kriegt vor Entsetzen einen Schluckauf. Hat sie das jetzt wirklich gedacht? Erschrocken schüttelt sie den Kopf.
»Was ist los?«, fragt Mama und nimmt den Topf mit der Milch von der kleinen Kochplatte.
»Nix«, murmelt Tati und zieht die Tür zu dem winzigen Bad hinter sich zu. Dabei macht sie sich ganz schmal.
Tati liebt ihren Wohnwagen, es ist nämlich so gemütlich da drin, und man fühlt sich immer wie in einer warmen, kuscheligen Höhle. Aber wenn der Zirkus weiterzieht, muss Tati wieder mal die Schule wechseln, und dann wünscht sie sich manchmal, sie würde wie jedes andere Kind auch in einer ganz normalen Wohnung leben, mit einem Treppenhaus und einem kleinen Balkon. Oder vielleicht in einem Haus mit Garten, in dem Tomaten wachsen und Sonnenblumen. Doch es ist nicht das Zirkusleben, das ständige Wechseln der Schule und die immer neuen Freundschaften. Nein! Tati ist schließlich ein echtes Zirkuskind, sie findet ratzfatz neue Freundinnen, auch wenn sie hin und wieder gerne mit ihnen tauschen würde.
»Schatz, die Karten meinen es heute gut mit dir«, sagt Mama, als Tati sich in die kleine Essnische schiebt, wo ein großer Becher Kakao vor sich hin dampft.
Und das ist genau das Problem. Nein, nicht der Kakao. Auch nicht die neue Schule oder die Karten, sondern, wie gesagt Mama.
Tati findet, sie hat die peinlichste Mutter der Welt. Reicht es nicht schon, dass sie bei jeder Zirkusvorstellung die gruseligste Wahrsagernummer vorführt, die man sich nur denken kann? Mit einer schaurig beleuchteten Kristallkugel, jeder Menge waberndem Rauch und geheimnisvollen Karten, die sich wie von Zauberhand aufblättern? Und natürlich hat Mama auch einen Künstlernamen. Sie nennt sich Madame Vera Veritatis und liest jedem Zuschauer, der sich traut, die Zukunft aus der Hand. Außerdem kann Mama natürlich auch Gedanken lesen und weiß immer genau, was sich in den Handtaschen der Frauen in der ersten Reihe befindet. Doch muss Mama denn auch noch genauso aussehen wie Madame Vera? Also den ganzen Tag? Nicht nur bei ihrem Auftritt?
Hoch aufgetürmte schwarze Haare, die mit mindestens drei bunten Tüchern geschmückt sind. Eine Wallebluse mit einem Muster, dass einem vom Hingucken ganz schwindlig wird, und ein glitzernder Rock, der beim Gehen auf dem Boden schleift und den sich Mama, damit sie nicht andauernd drüber stolpert, ständig an einer Seite in den Bund ihrer Unterhose steckt. Was sie natürlich regelmäßig vergisst und oft auch so nach draußen geht, wenn Tati sie mal nicht dran erinnert. Dazu trägt Mama so viel schwarzen Schminkstift um die Augen, dass Tati manchmal denkt, sie habe eine dunkle Sonnenbrille auf. Dazu wählt Mama meistens kirschroten Lippenstift, der einen an Marmelade erinnert, oder den babyrosafarbensten, den man sich nur vorstellen kann. An den Ohrläppchen baumeln Federn, und die Finger sind mit unzähligen Ringen geschmückt. Sogar die Daumen! Mama sieht aus wie ein falscher Weihnachtsbaum, findet jedenfalls Tati.
Doch das Schlimmste an der ganzen Sache ist: Ganz genau so wird Mama ihre Tochter auch heute in die Schule bringen. In Tatis Bauch zwickt es erneut. Sie kann alles schon ganz genau vor sich sehen. Es läuft bei jeder neuen Schule ähnlich ab. Mama, die große Auftritte gewöhnt ist, wird mit großen Gesten und rauchiger Madame-Vera-Stimme von Tati und ihren Erfolgen in der letzten Klasse erzählen, um die Klassenlehrerin davon zu überzeugen, welch eine große Bereicherung ihre Tochter sein wird. Die Lehrerin wird verzweifelt so tun, als wäre es nun wirklich nichts Außergewöhnliches, dass die neue Schülerin von einer waschechten Zirkushexe zum Unterricht gebracht wird, während die Mitschüler Tati und ihre Mutter anstarren, umringen, miteinander tuscheln, lachen, kichern und hunderttausend Fragen stellen werden. Und leider sind die nicht immer nur neugierig und freundlich. Kaum ist Mama weg, geht es nämlich erst richtig los.
»Wenn meine Mutter so peinlich wäre wie deine«, hat einmal ein Mädchen zu Tati gesagt, »würde ich nirgendwo mit ihr hingehen.« Wie oft hat sich Tati in dieser Situation schon geschworen, endlich mit Mama zu reden und sie zu bitten, sie beim nächsten Mal einfach nur vor der Schule abzusetzen.
Doch bis jetzt hat sie sich um diese Aussprache immer gedrückt. Denn sie will Mama ja nicht wehtun. Außerdem fühlt es sich überhaupt nicht gut an, wenn man sich für die eigene Mutter schämt, und das würde man ja mit einem solchen Gespräch zugeben. Und Tati liebt ihre Mama doch. Ob sie nun peinlich ist oder nicht. Tati schluckt die aufkommenden Tränen hinunter.
»Auf geht’s, Maus«, sagt Mama in diesem Moment und greift nach ihrer blau-grün verspiegelten Sonnenbrille. Auch das noch. Wie obermegapeinlich. Obermegamaxipeinlich! Damit sieht Mama aus wie eine kunterbunte Überraschungsei-Figur.
»Mama!!!«, japst Tati. »Kannst du nicht wenigstens …«
»Beeilung!« Mama steht schon in der geöffneten Wohnwagentür und winkt mit dem Schulranzen.
Und plötzlich ist in Tatis Magen nichts als Wut. Aber wenn sie jetzt anfängt, mit Mama zu diskutieren, muss sie bestimmt weinen. Und mit verquollenen Heulaugen in der neuen Klasse zu erscheinen, ist fast noch schrecklicher als alles andere.
Also schlängelt sich Tati zwischen den Möbeln hindurch und schleicht bedrückt die Stufen hinunter. Draußen nieselt es. Auch das noch. Bis sie bei den Autos sind, die am Rand der Wiese auf dem Parkplatz stehen, sind ihre neuen Schuhe bestimmt total durchweicht.
»Ups, ich hab was vergessen«, sagt Mama und reicht ihrer Tochter den Autoschlüssel. »Geh schon mal vor.«
»Mann, Mama!«, erwidert Tati missmutig. Mamas Stiefel mit den goldenen Klimpertalerketten übertönen sogar die Regengeräusche. Schlecht gelaunt stapft Tati los und versucht, möglichst nicht auf besonders nasse Stellen zu treten. Dann setzt sie sich ins Auto, steckt den Schlüssel ins Zündschloss und dreht ihn bis zur Eins. Jetzt kann sie den Scheibenwischer anmachen und ein wenig Radio hören.
Langsam hört der Regen auf. Tati summt ein Lied mit und reibt an ihren Schuhen herum. Wo bleibt Mama denn nur? Tati sieht auf die Uhr. Sie will nicht auch noch zu spät kommen. Das wäre sozusagen die alleroberste Kirchturmspitze der extremsten Superpeinlichkeit, die sich Tati vorstellen kann.
Gerade als Tati beschließt, einmal kräftig auf die Hupe zu drücken, eilt eine fremde Frau aufs Auto zu. Ihr langer Pferdeschwanz wippt beim Laufen hin und her, und sie strahlt übers ganze Gesicht. Sie trägt ein weißes T-Shirt und eine Jeans. Irgendwie kommt sie Tati bekannt vor.
»Äh, Moment«, protestiert Tati, als die Frau plötzlich die Autotür aufreißt und sich japsend hinter das Steuer klemmt.
»Jetzt aber flottikarotti«, sagt Mama und legt den Rückwärtsgang ein. »Sich als Stinknormali zu verkleiden, macht fast noch mehr Arbeit, als sich in Madame Vera zu verwandeln.«
»Äh«, sagt Tati wieder und weiß gar nicht, wohin sie zuerst schauen soll. Die Frau ist ihre Mutter! Mama sieht aus wie nagelneu! Tati hatte schon ganz vergessen, wie Mama unter all der Farbe und den seltsamen Klamotten aussieht. Wunderhübsch nämlich.
»Mama, du siehst total schön aus«, sagt Tati endlich.