DIE NEUEN FÄLLE DES MEISTERDETEKTIVS
SHERLOCK HOLMES
In dieser Reihe bisher erschienen:
3001 – Sherlock Holmes und die Zeitmaschine von Ralph E. Vaughan
3002 – Sherlock Holmes und die Moriarty-Lüge von J. J. Preyer
3003 – Sherlock Holmes und die geheimnisvolle Wand von Ronald M. Hahn
3004 – Sherlock Holmes und der Werwolf von Klaus-Peter Walter
3005 – Sherlock Holmes und der Teufel von St. James von J. J. Preyer
3006 – Dr. Watson von Michael Hardwick
3007 – Sherlock Holmes und die Drachenlady von Klaus-Peter Walter (Hrsg.)
3008 – Sherlock Holmes jagt Hieronymus Bosch von Martin Barkawitz
3009 – Sherlock Holmes und sein schwierigster Fall von Gary Lovisi
3010 – Sherlock Holmes und der Hund der Rache von Michael Hardwick
3011 – Sherlock Holmes und die indische Kette von Michael Buttler
3012 – Sherlock Holmes und der Fluch der Titanic von J. J. Preyer
3013 – Sherlock Holmes und das Freimaurerkomplott von J. J. Preyer
3014 – Sherlock Holmes im Auftrag der Krone von G. G. Grandt
3015 – Sherlock Holmes und die Diamanten der Prinzessin von E. C. Watson
3016 – Sherlock Holmes und die Geheimnisse von Blackwood Castle von E. C. Watson
3017 – Sherlock Holmes und die Kaiserattentate von G. G. Grandt
3018 – Sherlock Holmes und der Wiedergänger von William Meikle
3019 – Sherlock Holmes und die Farben des Verbrechens von Rolf Krohn
3020 – Sherlock Holmes und das Geheimnis von Rosie‘s Hall von Michael Buttler
3021 – Sherlock Holmes und der stumme Klavierspieler von Klaus-Peter Walter
3022 – Sherlock Holmes und die Geheimwaffe von Andreas Zwengel
3023 – Sherlock Holmes und die Kombinationsmaschine von Klaus-Peter Walter (Hrsg.)
Andreas Zwengel
SHERLOCK HOLMES
und die Geheimwaffe
Basierend auf den Charakteren von
Sir Arthur Conan Doyle
Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!
Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung
ohne Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.
Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de
© 2018 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck
Redaktion: Jörg Kaegelmann
Titelbild: Mark Freier
Umschlaggestaltung: Mark Freier
Satz: Harald Gehlen
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-95719-221-9
Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!
London 1851
Der erwartungsvolle Besucher, der sich im Mai 1851 durch das überfüllte London gequält hatte, vorbei an Schlangen voll besetzter Kutschen und dem endlosen Fußgängerstrom, stand mit einem Mal im Hyde Park vor dem größten Gebäude der Welt.
Der Kristallpalast war ein Meisterwerk, das in der Welt seinesgleichen suchte. Ein lichtdurchfluteter Glaskasten, dessen Erbauer seine Vergangenheit als Konstrukteur von Gewächshäusern nicht verbergen konnte. Die gesamte Weltausstellung war darauf ausgelegt, bestehende Rekorde zu brechen und neue aufzustellen. Schon die Eröffnung mit Händels Hallelujah, vorgetragen durch 600 Mitglieder aller Londoner Sängerchöre, hatte Maßstäbe gesetzt. Kaum bescheidener war der Anspruch der Veranstalter. Die umfassende Darstellung menschlichen Schaffens und eine Inventarisierung der Welt. Karl Marx dagegen verspottete die Weltausstellung als pompöse Selbstinszenierung des Kapitalismus. Beide Seiten hatten recht.
Natürlich verlief eine Veranstaltung dieser Größenordnung nicht völlig ohne Reibereien. Der deutsche Zollverein unter preußischer Führung feindete sich vom ersten Tag mit der bayerischen Delegation an, bis ein Gegner von außen sie dazu brachte, sich zu verbünden. Ausgerechnet der Gastgeber weckte den gemeinsamen Missmut der Deutschen. Denn die Briten rühmten sich bei jeder Gelegenheit großspurig mit den Leistungen ihrer Kolonien, obwohl sie selbst wenig dazu beigetragen hatten.
Das deutsche Gemüt empfand dies als Demütigung, weil das eigene Land bei der Erlangung von Kolonien so kläglich gescheitert war. Bis zum Ende der Weltausstellung im Oktober würden also noch genug Gesprächsstoff und Anlass für Konflikte vorhanden sein.
Die Italiener schräg gegenüber schienen abzuwarten, wie sich die Lage entwickelte, bevor sie eindeutig Stellung bezogen. Bis dahin begnügten sie sich mit sizilianischem Rotwein. Die Franzosen machten wiederholt abfällige Bemerkungen über die Qualität aller anderen Stände und zogen es nicht einmal in Erwägung, dass einer der Anwesenden der französischen Sprache mächtig sein könnte. Oder es interessierte sie nicht, ob man sie verstand.
Seit Tagen war der Stand von Van-Diemens-Land das Hauptgesprächsthema unter den Nationen. Zum einen fragte man sich, was eine Sträflingskolonie Erwähnenswertes hervorzubringen vermochte, zum anderen hätte man gerne erfahren, wann der Stand endlich eröffnet wurde, denn bisher hatte niemand einen Blick hinter die Plane werfen können, die ihn auf allen Seiten fest umschloss. Was allerdings nicht bedeutete, dass es niemand versucht hätte.
Es brauchte nur ein paar Kannen des lächerlichen englischen Bieres, damit sich die jüngeren Mitglieder der deutschen Delegationen des Nachts aufmachten, um das Geheimnis zu lüften. Natürlich waren sie viel zu betrunken gewesen, um erfolgreich zu sein oder auch nur unbemerkt zu bleiben.
Professor Kleinlein hatte den drohenden Eklat in letzter Minute verhindern können. Er wollte allerdings nicht das Kindermädchen für die jungen Delegationsmitglieder spielen und schon gar nicht für ihre Taten verantwortlich gemacht werden. Deshalb wies er seinen Assistenten Adrian an, ein Auge auf die Burschen und den Stand zu haben.
Fortan wurde Adrian Panofsky regelmäßig gescholten, wenn er nach durchwachter Nacht übermüdet seinen Dienst beim Professor antrat.
„Um Herrgottswillen, Adrian! Liegen Sie hier doch nicht unnütz herum!“
Er war wieder eingeschlafen. Die Weltausstellung dauerte noch mehrere Monate und so lange würde Adrian diese Doppelbelastung nicht durchhalten. Sein Körper hatte wohl aufgehört, an seine Vernunft zu appellieren, und nahm sich stattdessen die Auszeiten, die er benötigte.
Überhaupt erweckte sein hoch aufgeschossener, dürrer Körper nicht den Eindruck, für größere Anstrengungen ausgelegt zu sein. Wie ein wesentlich älterer Mann brachte er mühsam die Beine auf die Erde und stützte die Unterarme auf seine Knie. Das glatte schwarze Haar fiel ihm in die Stirn, sobald er den Kopf senkte, und wurde nur von der gewaltigen Nase geteilt.
Sein Mentor stellte das genaue Gegenteil dar. Professor Kleinlein war ein riesiger Kerl, der alle anderen in einer Runde überragte. Und zwar in jeder Runde. Wenn er irgendwo stand, zog er automatisch alle Blicke auf sich. Dazu kamen eine laute, befehlsgewohnte Stimme und ein dröhnendes Lachen.
Was die Geisteskräfte betraf, war Adrian allerdings ein fast ebenbürtiger Konkurrent des Professors. Natürlich würde er aufgrund seiner Herkunft niemals einen ähnlichen Titel erlangen. Adrian hatte weder eine höhere Schule noch eine Universität besucht, sondern war ein reiner Autodidakt. Professor Kleinlein empfand die hohe Arbeitsbelastung seines Assistenten gerechtfertigt, als Gegenleistung für die unbezahlbare Ausbildung an seiner Seite.
„Wischen Sie sich den Speichel aus dem Gesicht und richten Sie Ihre Kleidung, wir haben hohen Besuch.“
Als Adrian den Blick hob, erkannte er Lord Morrissey, dessen Tochter Olivia und einen preußischen Offizier, der sich offensichtlich sehr langweilte. Seine Lordschaft musterte den verschlafenen Adrian geringschätzig, seine Tochter schaute amüsiert und der Offizier blickte auf seine Taschenuhr.
„Lord Morrissey und seine Tochter kennen Sie ja bereits, Adrian, und das ist Hauptmann Salinger aus Potsdam.“
Der Hauptmann drückte Adrians Hand, als wolle er Wasser aus einem Stein quetschen. Der schneidige Hauptmann war ohne jeden Zweifel ein pflichtbewusster Offizier, der die militärische Disziplin an oberste Stelle in seinem Leben gestellt hatte. Salinger musste in den Augen von Olivias Eltern ein reizvoller Schwiegersohn sein. Umgekehrt war eine Dame aus dem höheren Stand vorteilhaft für Salingers gesellschaftliches Ansehen.
„Irgendwelche Vorkommnisse in der letzten Nacht?“, fragte Kleinlein seinen Assistenten.
Salinger betrachtete Adrian mit neu erwachtem Interesse.
„Der Professor hat erzählt, Sie bewachen den verlassenen Stand. Wissen Sie denn, was sich hinter der Plane verbirgt?“ Salingers Englisch klang so ungewöhnlich, dass es einen Moment dauerte, zu erkennen, welche Sprache er eigentlich verwendete.
„Das weiß niemand.“
„Vielleicht gibt es dort gar nichts, was sich zu bewachen lohnt.“
„Das glaube ich kaum, Herr Hauptmann“, sagte Adrian, „die Ausstellungszellen waren sehr begehrt. Jede Nation versucht, sich auf die bestmögliche Weise zu präsentieren, da setzt man den guten Ruf seines Landes nicht leichtfertig aufs Spiel. Aber solange keiner der Besitzer auftaucht, müssen wir unsere Neugier beherrschen.“
Salinger bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick, als sei Neugier eine Regung, die nur in den niederen Schichten vorkam.
Vielen jungen Männern, die sich fernab der Heimat auf der Weltausstellung aufhielten, wurde schlichtweg langweilig und so suchten sie sich Ablenkung. Wo sich die Delegierten von Van-Diemens-Land aufhielten, war kein Geheimnis. Der Trinkwettbewerb hatte zwei Delegierte ins Krankenhaus gebracht und den Rest ins Gefängnis. Ihre Ablösung war auf dem Schiffsweg aufgehalten worden, weil Stürme sie am Kap der guten Hoffnung festsetzten. Niemand konnte also zu diesem Zeitpunkt vorhersagen, wann der Stand eröffnet werden würde.
Olivia räusperte sich ungeduldig. „Ich muss noch einige Besorgungen machen, bevor für heute die Pforten schließen. Könnte einer der Herren mir dabei unter die Arme greifen?“
„Mein Assistent wird Sie gerne begleiten, nicht wahr, Adrian“, versicherte der Professor.
„Aber ich muss doch noch ...“
„Keine Widerrede, Sie werden einer jungen Dame doch nicht Ihre Unterstützung verweigern?“
„Wenn er verhindert ist, kann ich gerne ...“, sagte Olivia.
„Du hast doch gehört, was der Herr Professor gesagt hat“, unterbrach ihr Vater sie. „Sein Assistent wird dir gerne zu Diensten sein.“
Die beiden älteren Männer nickten sich verständig zu. Adrian seufzte ergeben und folgte Olivia Morrissey.
Er ging immer noch jeden Tag staunend an den Ständen entlang, wo technische Erfindungen und neuartige Maschinen vom Stolz der Hersteller zeugten. Es gab so viel zu sehen und seine freie Zeit war sehr begrenzt. Die gesamte bekannte Welt hatte sich hier unter einem einzigen Dach versammelt. Die Gegenstände des alltäglichen Lebens stellten dar, was diese Welt zu bieten hatte, und überall gab es faszinierende Neuheiten zu bestaunen. Eine Mähmaschine, ein Telegraf und vulkanisierter Kautschuk, was immer das sein sollte. Ein vierseitiges Piano für Quartetts, der weltgrößte Spiegel und der Hope-Diamant.
Adrian und Olivia spazierten einträchtig im Strom der Besucher, wie zwei junge Menschen, die von ihren Eltern dazu genötigt wurden, Zeit miteinander zu verbringen. In ihrem Fall allerdings keineswegs zur Anbahnung einer Ehe, sondern um Olivia auf möglichst harmlose Art zu beschäftigen. Deutlich zeigten sie geheucheltes Interesse und kaum überspielte Langeweile, bis sie den orientalischen Bereich erreichten. Die Kreuzung von Langschiff und Querschiff war von einem durchsichtigen Bogen überspannt. Dort stand ein Brunnen mit Fontäne vor hundertjährigen Ulmen. Unter deren Ästen standen Palmen und tropische Gewächse. Mittendrin Statuen der Königin und des Prinzen Albert.
„Glauben Sie, man hat etwas bemerkt?“, fragte Adrian.
„Warum sollte jemand Verdacht schöpfen?“, antwortete Olivia amüsiert. „Sie waren das ganze Gespräch über rot angelaufen und konnten nicht einmal in meine Richtung sehen, warum sollte jemand etwas bemerken?“
Um die Kreuzung hatten sich die Stände Ägyptens, der Türkei, Indiens und Chinas angesiedelt, und sie betraten eine völlig fremde Welt. Adrian machte einige weitschweifige Bewegungen, während er sich um die eigene Achse drehte, als würde er all die Teppiche und Vorhänge um sie herum erklären. In Wahrheit kontrollierte er aufmerksam, ob ihnen jemand gefolgt war oder sich ein Bekannter in ihrer Nähe aufhielt.
Dann fasste er Olivia am Handgelenk und zog sie rasch zwischen zwei farbenprächtigen Vorhängen hindurch in ein Beduinenzelt. Kaum im Inneren, lag sie bereits in seinen Armen.
*
Adrian und Olivia begegneten sich zum ersten Mal kurz nach der Eröffnung am Stand der indischen Delegation. Er hatte sich von ihr eingeschüchtert gefühlt und sein unbeholfenes Gestammel musste ihn geistig minderbemittelt erscheinen lassen.
Sie fand ihn zwar nett, aber zu schüchtern. Olivia machte sich nicht viel aus ihrer gesellschaftlichen Stellung und noch weniger aus den Verpflichtungen, die sich daraus ergaben. Sie sah den Sinn ihres Lebens nicht darin, einen reichen Mann zu erobern und ihm Stammhalter zu schenken. Stattdessen war sie jeden Tag auf der Weltausstellung. Hier fand sie Menschen, mit denen sie reden konnte und wollte. Die Techniker, Ingenieure und Wissenschaftler nahmen sie alle anfangs nicht ernst und belächelten die junge Dame. Für etwa zehn Minuten, dann erkannten sie ihren Sachverstand.
Nach einigen kurzen, unbeobachteten Augenblicken verließen die beiden Verliebten das Zelt und schlenderten durch das Längsschiff.
„Wenn mein Vater uns erwischt, wird er dich zur Jagd freigeben“, sagte Olivia.
„Warum habe ich das Gefühl, dass dir die Idee gefällt?“
Adrian verdächtigte sie, ihn gerne in peinlichen Situationen zu beobachten. Bei seinem ersten Zusammentreffen mit ihrem Vater hatte er Lord Morrissey zögernd die Hand geschüttelt und dabei die ganze Zeit gefürchtet, dieser könne Adrian seine unsittlichen Absichten von der Stirn ablesen. Aber Olivias Vater beachtete den Assistenten überhaupt nicht. Er schien keinen Verdacht zu schöpfen und war sicher zu arrogant, um zu glauben, seine Tochter könne sich mit einem solchen Kerl abgeben.
Ob es Zufall war oder eine unterbewusste Entscheidung, vermochte keiner von beiden zu sagen, jedenfalls endete ihr Spaziergang an diesem Tag vor dem Stand von Van-Diemens-Land.
Die Kerle, die anfangs mit grimmiger Miene den Stand bewacht hatten, waren so abschreckend gewesen, dass die Wachen am Buckingham Palace gegen sie wie betrunkene Clowns wirkten.
Olivia und Adrian gingen unauffällig um den Stand herum. Die Form der Plane ließ keine Rückschlüsse auf den Inhalt zu. Sie war gut gesichert. Auf der Rückseite, verdeckt durch den Nachbarstand, drehte Adrian eines der Schlösser in seiner Hand und schüttelte den Kopf. „Sie gehen kein Risiko ein.“
Olivia ließ das Schloss in ihrer Hand aufschnappen und drehte eine Haarnadel zwischen den Fingern.
„Wieso kannst du so etwas?“, fragte Adrian erstaunt.
„Mein Vater hat auf vielen Wegen versucht, mich zu einer anständigen Dame der Gesellschaft zu erziehen. Dazu gehörte auch, Dinge vor mir wegzuschließen und mich einzusperren.“
Adrian lächelte. Er liebte es, die gut situierten Gentlemen aufgeregt nach Luft schnappen zu sehen, wenn sie Olivia erlebten. Sie blieb stets ruhig und sachlich, ließ die Männer mit hochrotem Kopf toben und steckte jede abwertende Bemerkung weg. Sie kannte ihren Wert und wusste genau, wessen Anerkennung ihr wichtig war und wessen nicht.
Die beiden griffen die Plane an beiden Enden und hoben sie an. Das Erste, was sie erblickten, waren Gitterstäbe, so dick wie ein kräftiger Unterarm. Als sich ihre Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, sog Olivia überrascht die Luft ein und Adrian blinzelte ungläubig.
Sie betrachtete das gewaltige Wesen, das zusammengerollt in dem Käfig lag. Die Bestie war eine Chimäre aus Löwe, Drache und noch ein, zwei Lebewesen mehr. Sie war größer als ein Elefant, hatte die Haut eines Krokodils, das Maul eines Hais und den Schwanz einer Echse. Das Maul schien ausreichend groß, dass ein Zehnjähriger aufrecht darin stehen konnte.
„Was ist das für eine groteske Kreatur? Es sieht künstlich aus“, fragte Olivia.
„Eine Puppe? Warum wählt man dann so eine unvorteilhafte Pose? Ein schlafendes Monster. Ist es nicht peinlich, mit so einem Riesen-Wolpertinger Eindruck schinden zu wollen? Das Land muss doch noch etwas anderes zu bieten haben, als solch ein Schreckgespenst.“
„Vielleicht ist es nach einer alten Insel-Sage gestaltet? Oder ist das einer dieser sagenumwobenen Dinosaurier, von denen dieser Anatom namens Owen schreibt?“
Adrian strich sich das Haar aus der Stirn und beugte sich dichter an die Gitterstäbe heran, um besser sehen zu können. „Wenn niemand einen Märchendrachen mit einem Mammut gekreuzt hat, kann ich mir die Existenz dieses Wesens hier jedenfalls nicht erklären. Trotzdem werde ich nicht in den Käfig kriechen, um herauszufinden, ob diese Bestie einen Puls hat.“
„Was sollen wir jetzt tun?“
Ein Geräusch ließ sie zusammenzucken. Rasch senkten sie die Plane herab. Professor Kleinlein, Hauptmann Salinger und eine Handvoll Grenadiere traten kreisförmig auf sie zu. Die Grenadiere waren die Ordnungshüter auf der Weltausstellung und hatten ihre Wachstube in einem großen Zelt vor dem Kristallpalast. Bisher hatten sie nicht sonderlich viel zu tun gehabt.
Der Professor konnte seine Wut nur mühsam zügeln, deshalb übernahm Salinger das Reden.
„Miss Olivia, Ihr Vater hat sich große Sorgen gemacht und wünscht, dass Sie sofort nach Hause zurückkehren. Wenn Sie mir bitte folgen würden, draußen wartet eine Kutsche.“
Olivia sah zu Adrian hinüber, doch der Professor schob sich vor ihn und verdeckte die Sicht.
„Bitte entschuldigen Sie das ungebührliche Verhalten meines Assistenten, es wird keinen weiteren Zwischenfall dieser Art geben, das versichere ich Ihnen.“
Sie protestierte nicht, denn der Professor kannte die Wahrheit genau und wahrte nur die Etikette. Wenn sie sich allerdings störrisch verhielt, würde er sicher nicht zögern, deutlicher zu werden. Die negativen Folgen würde hauptsächlich Adrian tragen müssen, deshalb fügte sie sich und begleitete den Hauptmann ohne ein weiteres Wort.
Der Professor sah ihr und Salinger hinterher, wie sie von zwei Grenadieren zum nächsten Ausgang geführt wurden, dann drehte er sich langsam zu seinem Assistenten herum. „Es ist sonst nicht meine Art, mich in das Liebesleben meiner Mitmenschen zu mischen, Adrian. Aber in Ihrem Fall muss ich eine Ausnahme machen, weil diese kleine Affäre höheren Interessen im Wege steht.“
„Mit höheren Interessen meinen Sie sicher Ihre eigenen?“
Professor Kleinleins Kopf nahm eine alarmierende Röte an. „Was erlauben Sie sich? Sie wurden gerade in flagranti ertappt. Wollen Sie noch etwas Konstruktives zu Ihrer Verteidigung vorbringen oder beschränken Sie sich auf Unverschämtheiten?“
Adrian schwieg, was den Professor nicht beschwichtigte. Kleinlein packte das untere Ende der Plane neben sich und hob es in die Höhe, um Adrian sein schändliches Verhalten deutlich vor Augen zu halten. „Sie sollten Sich schämen, diese junge Dame zu solchem Unfug anzustiften.“
Was keiner von beiden zu diesem Zeitpunkt wusste: Einer der Vertreter von Van-Diemens-Land, der durch das Besäufnis im Krankenhaus gelandet war und erst Tage später das Bewusstsein wiedererlangte, war für die Medikation der Bestie verantwortlich.
„Was ist los?“, fragte der Professor wütend, als er bemerkte, dass Adrian an ihm vorbeistarrte. Er drehte sich um und zuckte heftig zusammen. Das Auge der Bestie stand offen.
London 1891
Im Mai des Jahres 1891 hatte sich die gesamte Londoner Presse vor dem Hauptquartier von Scotland Yard versammelt, um aus erster Hand Informationen über jenen Fall zu erlangen, der seit Wochen die Öffentlichkeit in Atem hielt.
Das milde Frühlingswetter, beziehungsweise die Londoner Entsprechung davon, hatte die Behörde veranlasst, die Veranstaltung ins Freie zu verlegen. Auch deshalb, weil man befürchtete, für den erwarteten Ansturm keine ausreichenden Räumlichkeiten zu besitzen.
Die Reporter schrieben eifrig mit, und Inspektor Lestrade genoss die Aufmerksamkeit und das Interesse. Diejenigen, die den Inspektor von früheren Fällen und Auftritten kannten, waren verwundert über die plötzlich überragende Kombinationsgabe des Polizeibeamten. Bisher waren seine Erläuterungen meist von haarsträubenden Schlüssen geprägt gewesen, und er selbst war bei jeder Nachfrage ins Stottern geraten und hatte alle verfügbaren Informationen noch ein zweites und drittes Mal erzählt, anstatt die gestellten Fragen zu beantworten.
Nicht so dieses Mal. Lestrade stand mit stolzgeschwellter Brust auf dem Podium und gab bereitwillig und souverän Auskunft. Auf jede Frage besaß er die passende Antwort, berichtete präzise und prägnant.
Manchen Reportern mochte auffallen, dass der Inspektor gelegentlich vor einer Antwort den Blick eines hochgewachsenen Mannes in der ersten Reihe suchte, der ihn mit kaum wahrnehmbarem Nicken oder Kopfschütteln zu dirigieren schien. Aber sie kümmerten sich nicht weiter darum, aus Sorge, eine wichtige Information aus dem Mund des Inspektors zu verpassen.
Der Triumph von Lestrade hatte seinen Ursprung im Verschwinden eines ägyptischen Artefakts aus dem Londoner Nationalmuseum. Plötzlich hatte sich die überforderte Polizei im Zentrum einer internationalen diplomatischen Krise befunden, die selbst in den obersten Regierungskreisen gehörigen Druck ausübte, der bis ganz nach unten weitergegeben wurde. Sogar eine Belohnung für Informationen aus der Öffentlichkeit wurde zeitweise in Erwägung gezogen.
Doch dann war dieser kleine Inspektor aufgetaucht, mit dem Artefakt in Händen und den Dieben im Schlepptau. Lestrade war der Held der Stunde und als die Pressekonferenz endete, spendeten einige der anwesenden Reporter Applaus und meinten es ausnahmsweise einmal nicht ironisch.
Als die Veranstaltung endlich endete, war Lestrade erschöpft, aber auch sehr zufrieden. Er verließ das Podium mit all seinen Zuhörern im Schlepptau. Gerne stand er für weitere Fragen, Fotografien oder Porträtzeichnungen zur Verfügung.
Der hochgewachsene Mann in der ersten Reihe, bei dem es sich natürlich um niemand anderen als Sherlock Holmes handelte, und Doktor John Watson blieben auf ihren Plätzen, bis sich die übrigen Sitze gelehrt hatten.
„Eine beachtliche Leistung von unserem Freund Lestrade“, sagte Watson schmunzelnd. „Er hat sich alle Details gemerkt und sie souverän präsentiert.“
Sherlock Holmes erhob sich. „In der Tat. Für seine Verhältnisse eine ganz passable Vorstellung.“
„Sie sollten ihm das bei Gelegenheit einmal sagen. Allerdings mit Worten, die tatsächlich wie ein Lob klingen.“
Holmes wollte eine amüsante Erwiderung vorbringen, als er bemerkte, dass sie beide sich nicht allein in den Sitzreihen befanden. In der vorletzten Reihe saß noch eine ältere Dame von etwa Anfang sechzig und schaute den Detektiv unverwandt an. Ihr Blick irritierte ihn für einen kurzen Moment, und die Tatsache, dass er sich davon irritieren ließ, schaffte noch mehr Irritation.