Sein wie keine andere
Simone de Beauvoir:
Schriftstellerin und Philosophin
Paris, Boulevard du Montparnasse Nr.103. An den Außentischen des Café La Rotonde sitzen im Mai 2005 viele Menschen, trinken völlig überteuerten Kaffee und atmen die Abgase der unzähligen Autos ein, die hupend und oft mit quietschenden Reifen über die Kreuzung preschen. Die meisten der Gäste an den Tischen scheinen Touristen zu sein. Sie haben den typischen »Ich-will-was-erleben-Blick«; manche schauen in einen Stadtführer oder schreiben Postkarten. Vielleicht berichten sie den Daheimgebliebenen davon,dass sie gerade in einem echten Existenzialistencafé sitzen und sich fühlen wie Jean-Paul Sartre oder Simone de Beauvoir, damals, als sich in solchen Cafés entschied, ob und wie die Menschen frei sein können und wenn, wie diese Freiheit zu leben wäre.
In dem gleichen Haus, in dem das Café La Rotonde untergebracht ist, hat Simone de Beauvoir die ersten elf Lebensjahre verbracht. Damals allerdings waren noch die Pferdekutschen in der Überzahl und die Metro war 1908 erst wenige Jahre alt. Auf den Boulevards spazierten schon zu Beauvoirs Jugendzeit viele Menschen, die Männer fast immer mit Zylinder, Melone oder Mütze, je nach Stand. Feine Herren waren mit einem Cutaway bekleidet, einer Jacke mit abgerundeten Vorderschößen, und die langen Hosen hatten die Bügelfalte nur vorn. Außerdem trugen sie einen hohen steifen Kragen, Handschuhe und einen Stock. Die elegante Pariserin betonte die schmale Taille und den Busen, indem sie sich in ein Korsett zwängte. Große Hüte mit Blumen waren in Mode und das Haar hatte man kunstvoll hochgesteckt.
Die Eltern Simone de Beauvoirs sind gleich nach der Hochzeit im Dezember 1906 in dieses Haus gezogen. Beauvoirs Vater, Georges Bertrand de Beauvoir, stammt aus einem hoch angesehenen und dazu überaus vermögenden Geschlecht mit einem weit zurückreichenden Stammbaum. Ursprünglich lebte die Familie im Limousin im Südwesten Frankreichs. Georges Vater, Ernest-Narcisse de Beauvoir konnte sich nicht damit anfreunden, in den Tag hineinzuleben, ohne zu arbeiten, obwohl er es sich finanziell hätte leisten können. Aber er fühlte sich nicht für die Muße geschaffen und hätte nichts mit sich anzufangen gewusst, und so zog er mit seiner Frau Leontine nach Paris und nahm eine unbedeutende Stelle im Rathaus an. Man bezog eine riesige Wohnung am Boulevard Saint Germain. Alles lief nach strengen Regeln ab, wie bei allen Familien aus der Bourgeoisie, dem gehobenen Bürgertum. Die Wohnung war unterteilt in die Räume, in denen die Familie sich aufhielt, und die sogenannten Empfangsräume, zu denen auch der Salon gehörte. Hier empfing man Gäste, nichts Privates war erlaubt, nicht einmal Familienfotos durften an den Wänden hängen. Gleich und gleich traf sich an diesem Ort, und man bestärkte sich gegenseitig darin, »le grand monde« und »à la mode« zu sein, felsenfest überzeugt davon, dass dies absolut seine Richtigkeit habe und einem dieser Platz an der Spitze der Gesellschaft völlig zu Recht zustehe. Leontine liebte zwar das ruhige Dahinplätschern des Alltags und war nicht für rauschende Feste zu haben, aber da es sich nicht gehörte, sich abzuschotten, empfing sie in regelmäßigen Abständen gewisse Damen, die mit gewissen, natürlich standesgemäßen Herren verheiratet waren. Zu einem solchen Haushalt gehörten auch mehrere Dienstboten. Für sie galt, was für die Herrschaften unmöglich gewesen wäre: Sie hatten praktisch keine Privatsphäre. Meistens wohnten sie unter dem Dach in kleinen Mansardenzimmern. Ihr Umgang wurde genauestens beobachtet, ihre Briefe gelesen, bevor sie ihnen zugeleitet wurden. Dienstboten hatten selten Gelegenheit, nach draußen zu kommen, Menschen zu treffen, Freundschaften zu schließen, geschweige denn, einen Lebenspartner zu finden. Auch Urlaub hatten sie fast nie. Sie bekamen notgedrungen das meiste von dem mit, was in der Familie der Herrschaften vor sich ging, gehörten irgendwie dazu, wenn auch natürlich in einer untergeordneten Position. So blieben die meisten Bediensteten unverheiratet und kinderlos.
Georges wurde als das jüngste von drei Geschwistern von der Mutter verhätschelt. Er war als Kind schüchtern und oft krank. Am liebsten saß er für sich allein in einer stillen Ecke und las Abenteuerromane. Die Eltern schickten ihn auf das angesehene Collège Stanislaus. Er war ein hervorragender Schüler und entpuppte sich außerhalb des familiären Rahmens als junger Mensch mit einem besonderen theatralischen Talent. Er gefiel sich darin, seine Mitschüler mit kleinen Darbietungen zu unterhalten. Als Georges dreizehn Jahre alt war, starb seine Mutter an Typhus. Damit änderte sich fast alles für ihn. Der Vater konnte die leere Stelle nicht ausfüllen, obwohl er sich Mühe gab. Georges Leistungen wurden schlechter, er zog sich in sich zurück. Leontine hatte unter anderem auch auf eine religiöse Erziehung geachtet, aber da Ernest-Narcisse mit dem Katholizismus und dem Glauben überhaupt nichts anfangen konnte, löste sich für den jüngsten Sohn diese Frage von selbst: Fortan interessierte er sich für Religion nicht mehr. Mehr denn je liebte er das Theater, und als die Berufsfrage anstand, wäre Georges am liebsten Schauspieler geworden, aber das lag weit außerhalb dessen, was als statthaft galt für einen jungen Mann aus der Bourgeoisie. So studierte er notgedrungen und widerwillig Jura, machte ein ordentliches Examen und fand schnell eine Stelle in einer Anwaltskanzlei, zunächst als Sekretär, bis er sich später als Anwalt mit eigener Kanzlei niederließ. George ging bereits auf die dreißig zu, als es seinem Vater dämmerte, dass es endlich an der Zeit sei, diesen Sohn zu verheiraten. Der älteste Sohn und die Tochter waren bereits in guten Händen. Er machte sich auf die Suche nach einer geeigneten Kandidatin und fand sie schließlich auch aufgrund des weitverzweigten Beziehungsnetzes, in dem Leute wie er ihre Fäden zogen. Ein Mädchen aus der Provinz, Françoise Brasseur, schien ihm die Passende zu sein für Georges, der übrigens im Ruf eines Charmeurs stand.
Françoise Brasseur kommt aus einer sehr wohlhabenden und einflussreichen nordfranzösischen Familie. Ihr Vater, Gustave Brasseur, ist Bankier in Verdun und geht in diesem Beruf ganz auf. Seine Frau,Lucie Moret,stammt aus einem noch vermögenderen Haus, zeichnet sich aber durch eine große Zurückhaltung aus. Gustave hat sie sozusagen aus dem Klosterinternat heraus geheiratet. Was sie dort gelernt und verinnerlicht hat, hat sie an ihre Kinder weitergegeben. An erster Stelle hat der Glaube an Gott und der Dienst an der katholischen Kirche zu stehen, so hat man es ihr beigebracht. Dann hat man sich als Frau zurückhaltend und bescheiden zu benehmen und die Position des Mannes als des Oberhaupts der Familie zu respektieren. Niemals hätte Lucie die Grenzen der bestehenden Ordnung, des Standesbewusstseins und der Religiosität übertreten. Ihre ganze Hingabe und zärtliche Fürsorge verschwendete sie an ihren Mann. Für die Kinder blieb an Emotionalität nicht viel übrig. Françoise besuchte ebenfalls eine Klosterschule wie ihre Mutter. Sie lernte sehr gern, war eine konzentrierte, intelligente und wissbegierige Schülerin. Mit ihrer Lehrerin, der Äbtissin Mutter Bertrand, hat sie das große Los gezogen. Sie förderte das begabte Mädchen und Françoise hing an ihr mehr als an den strengen Eltern. Sie konnte sich sogar vorstellen, einmal selbst in dieser Klosterschule zu unterrichten, aber schon der Gedanke daran wurde von Lucie Brasseur unterbunden. Es war sozusagen bei der Geburt von Françoise bereits beschlossene Sache, dass ihr Lebenssinn einzig darin liegen würde, standesgemäß zu heiraten und Kinder zu bekommen. Georges de Beauvoir erschien den Eltern Brasseur eine angemessene Partie für ihre Tochter, und Georges wiederum konnte sich gut vorstellen, ein schüchternes Mädchen aus der Provinz zu heiraten, das noch dazu hübsch ist. Er würde es einfach haben mit ihr. Man arrangierte die erste Begegnung der beiden im Badeort Houlgate. Françoise war nicht allein, sondern mit anderen Klosterschülerinnen zusammen. Auch das entsprach den Gepflogenheiten. Allerdings scheint sich Françoise sogleich in den charmanten jungen Mann verliebt zu haben, denn es folgte eine Verlobungszeit, die ausgefüllt war mit freudiger Erwartung. Nach der Heirat bezogen sie die Wohnung am Montparnasse.
Vom Balkon aus kann man auf die verkehrsreiche und von Fußgängern überfüllte Kreuzung des Boulevard Raspail und des Boulevard du Montparnasse hinunterschauen. Die Wohnung liegt hoch oben, direkt über den Baumwipfeln. Sie ist prächtig ausgestattet. Da ist ein wunderbarer dicker, roter Teppich, das Speisezimmer ist in Rot gehalten, die Glastüren sind mit roten Seidenvorhängen verkleidet. Das Arbeitszimmer des Hausherrn hat ebenfalls rote Vorhänge an den Fenstern, aber die Möbel sind aus schwarzem Birnbaumholz. Alles ist so, wie es sein muss, standesgemäß, ordentlich, edel. Das weitere Leben scheint wie ein makelloser Teppich vor dem Ehepaar ausgebreitet zu sein. Man würde Kinder bekommen und sie in genau dem Geist erziehen, in dem man selbst erzogen wurde. Sie würden Eliteschulen besuchen und wie ihre Eltern standesgemäß heiraten. Sollten Jungs geboren werden, so würden die zudem hervorragende Berufe ergreifen.
Es ist eine abgeschlossene Welt, in die zwei Jahre nach der Hochzeit, am 9. Januar 1908, das erste Kind, ein Mädchen, geboren wird. Man tauft es auf den Namen Simone-Ernestine-Lucie-Marie-Bertrand de Beauvoir. Von Anfang an wird sie aber einfach Simone de Beauvoir genannt.
Die gesellschaftlichen Verpflichtungen und die Versorgung ihres Gatten nehmen Françoise sehr in Anspruch. Simone bekommt ihr weißes Gitterbettchen in das Zimmer des Dienstmädchens Louise gestellt. Diese versorgt das Kind, auch wenn die Mutter den Speiseplan selbst zusammenstellt, denn auf gesunde Ernährung legt sie großen Wert. Louise bringt Simone jeden Abend zu Bett. Danach bereitet sie deren Eltern das Essen. Es ist ein anstrengendes Arbeitspensum, das die Dienstbotin Tag für Tag zu bewältigen hat. Monsieur und Madame de Beauvoir genießen den Abend unbeschwert mit Sticken und Lesen.
Im Sommer 1909 macht Gustave Brasseurs Bank Pleite. Der Vater von Françoise muss sogar für 13 Monate in Untersuchungshaft. Danach zieht er mit seiner Frau und der Tochter Thérèse weg aus dem pompösen Haus in Verdun, das nun nicht mehr zu halten ist, nach Paris ganz in die Nähe der de Beauvoirs. Das bringt Veränderungen mit sich, in deren Genuss eine kleine Person ganz besonders kommt: Alles dreht sich nun um Simone. Jeden Donnerstag gibt es ein Essen bei den Großeltern. Köstliche Dinge wie Pudding mit Fruchtsaft stehen auf dem Tisch. Die Großmutter mag Süßes: Wie schön für ihre Enkeltochter. Beide Großeltern verhätscheln sie, während die Mutter alles tut,
um bei der Erziehung nur ja nichts falsch zu machen. Dabei darf die religiöse Komponente von Anfang an nicht zu kurz kommen. Regelmäßige Kirchenbesuche gehören zu Simones Kinderalltag. Um die Ecke liegt die Kirche Notre-Dame-des-Champs. »Sobald ich gehen konnte,hatte Mama mich in die Kirche mitgenommen«, erinnert sie sich, »sie hatte mir, in Wachs, aus Gips geformt, an die Wände gemalt, die Bilder des Jesuskindes, des Herrgotts, der Jungfrau Maria, der Engel gezeigt, von denen einer sogar ganz ähnlich wie Louise speziell meinem Dienste zugeteilt war.« (Tochter 11) Françoise ist bestrebt, das weiterzugeben, wovon sie selbst überzeugt ist, und da steht eben an erster Stelle die überragende Bedeutung der katholischen Kirche. Ihr Mann Georges hat in dieser Hinsicht wenig beizutragen. Mit seinen Ideen zum Individualismus und einer freidenkerischen Lebenseinstellung kommt er schlecht an bei Françoise. Im Übrigen gehört es in Frankreich zu dieser Zeit fast zum guten Ton, dass die Frauen sich um die Religion kümmern und die Männer nicht viel davon wissen wollen. Auch wenn Georges im Prinzip der Meinung ist, dass der Mann die Frau zu formen habe und dass diese keinerlei eigene Meinung zu haben brauche, zieht er sich im Bereich Religion dezent zurück und überlässt Françoise das Feld.
Simones Mutter liest natürlich vor allem religiös fundierte Bücher über Kindererziehung. So weiß sie, was von ihr als katholischer Mutter erwartet wird, und befolgt alle Regeln aufs Sorgfältigste. Spielzeug und Bilderbücher werden gezielt ausgesucht. Die Welt ist aufgeteilt in Gut und Böse, rechtschaffen und übermütig, ernsthaft und frivol. Ein Dazwischen gibt es nicht, man hat sich ein für alle Mal zu entscheiden, und das so früh wie möglich. Am besten, die Eltern entscheiden für ihre Kinder gleich mit, dann kann gar nichts schiefgehen.
Als am 9. Juni 1910 eine zweite Tochter, Henriette-Hélène, geboren wird, ändert sich für Simone nicht viel. Sie steht weiterhin im Mittelpunkt des Interesses. Hélène, die bald jeder Poupette nennt, ist von Anfang an ein stilles Kind, während ihre große Schwester schnell in Wut gerät und alles daransetzt, ihren Willen durchzusetzen.
Der Alltag der beiden Mädchen ist streng durchorganisiert. Jeden Sonntag geht die Familie zur Kirche. Simone kann schon selbst laufen, Poupette wird von der Mutter getragen. Danach ist ein Mittagessen bei den Großeltern Brasseur angesagt. Natürlich sitzen die Kinder anständig auf ihren Stühlen, es gibt kein Herumgezappel bei Tisch,sondern höfliche Zurückhaltung und perfektes Benehmen. Alles hat seine Zeit und seinen Ort und bei Tisch wird gegessen und sonst nichts. So ist das nun mal üblich.
All das gute Benehmen ist natürlich auch eine Maske. Kinder machen Entwicklungen durch und ihr erwachendes Ich will beachtet sein. Und so gehorcht Simone irgendwann nicht mehr jederzeit und erlebt die sogenannte »Trotzphase« in einer nicht gerade milden Form. Das ist nichts Besonderes und spricht für eine gesunde Psyche. Die Strenge der Eltern und der erhobene
Zeigefinger von Louise verlieren in gewissen Momenten alle Macht. Es kann sich um eine Kleinigkeit handeln, etwa eine Ermahnung bei Tisch. Simones Gesicht färbt sich rotviolett, sie wirft sich auf den Boden und brüllt mit aller Kraft. Niemand vermag sie zu stoppen, die anderen Leute im Raum schauen befremdet, bedenken die verantwortlichen Erwachsenen mit vorwurfsvollen Blicken. Sie scheinen zu denken, man habe dem armen Kind etwas zuleide getan. Dass Simone sich aber auch in der Öffentlichkeit so aufführen muss! Zu Hause kann es ja noch angehen, aber vor aller Augen, nein, wie peinlich! Den Eltern bleibt nichts anderes, als sich geschlagen zu geben. Der Vater reagiert sogar mit einem gewissen Stolz und interpretiert Simones Wutanfälle als Zeichen eines durchaus auch positiv zu wertenden Eigensinns. Eine standesgemäße Äußerung ist das natürlich nicht, aber man merkt, dass das Talent zum Schauspieler aus diesem Vater spricht. Die Trotzanfälle haben ja mit Sicherheit etwas von einer Inszenierung, auch wenn das Kind es nicht bewusst tut. Aber Françoise erzieht in der Hauptsache die Töchter und sie hat ganz entschieden etwas gegen Wutanfälle und jede Art von unangemessener Theatralik bei Kindern. Da hilft nur die Bestrafung: »… man packte mich, sperrte mich in die dunkle Kammer, wo sonst nur Besen und Staubwedel waren; ich stieß dann mit Händen und Füßen zum mindesten gegen wirkliche Wände, anstatt mit ungreifbaren Willensäußerungen in Konflikt zu geraten.« (Tochter 14)
Sich ein wenig austoben und ausgelassen sein dürfen die Großstadtkinder für ein paar Wochen im Sommer auf dem Landgut des Großvaters väterlicherseits in Meyrignac.Besonders Simone mag Ernest-Narcisse sehr gern. Sie schaut ihm fasziniert zu bei der Pflege des Gartens. Man erkennt sofort, dass der alte Mann mit seinen Pflanzen innig verbunden ist. Es macht ihm Freude, die Enkelinnen in die geheimnisvolle Welt der Bäume und Blumen einzuführen, sie lernen fantastische, fremd klingende Namen kennen, denn der Großvater macht sie bekannt mit den lateinischen Fachbegriffen.
Simone liebt die Natur und die Bewegung draußen. Sie genießt die Farben, den Blick aus dem Fenster ins Freie, die Spiele mit Vetter und Cousine. Schon die Fahrt mit der Kutsche vom Bahnhof zum Gut ist jedes Mal eine Wonne. Für ein Stadtkind gibt es hier in Meyrignac unendlich viel zu sehen: herrliche Bäume wie zum Beispiel Zedern, Trauerweiden, Zwergbäume, Blutbuchen, alle Arten von Blumen und Gebüschen, Pfauen, Goldfasane, künstliche Wasserfälle, Seerosen und Goldfische. Simone kann sich nicht sattsehen. Sie ist ein Augenmensch, das zeigt sich nicht nur in den Ferien auf dem Land.
So gehört es zu ihren Hauptvergnügen, in der elterlichen Wohnung in Paris vom Balkon aus die Fußgänger unten auf der Straße zu beobachten. Woher kommen diese Leute, wohin eilen sie? Was mag in all diesen Menschen vorgehen, woran denken sie gerade? In diesen ersten intensiven Blick auf die anderen wird sich einiges von dem mischen, was Simone in den Geschichten gehört hat, die die Mutter vorliest. Vielleicht denkt sie bereits jetzt darüber nach, was sich an Gutem oder Bösem zutragen könnte im Leben der Vorübereilenden. Vielleicht überlegt sie sich, ob die Männer und Frauen denn alle nach den Regeln leben, die sie durch die Kirche kennenlernt. Es werden bunte Bilder sein, die hinter der Stirn des Mädchens spielen, Mischungen aus dem direkt Gesehenen und den Vorstellungen und Fantasien eines Kindes.
Für Simone steht das rege Treiben auf den Straßen in Kontrast zum Familienalltag. Hier herrscht eine seltsame Kargheit und Fantasielosigkeit. Alles, was den privaten Bereich betrifft, ist fast spartanisch: die bescheiden eingerichteten Zimmer, einfache Kleidung, die schönen Puppen unter Verschluss in Schränken, fast keine Spielsachen. Die beiden Schwestern müssen sich selbst etwas ausdenken. Sie machen aus fast nichts viel, erfinden eine Geheimsprache, um der Beobachtung durch die Eltern zu entkommen, und erfinden Spiele, die ohne Kulissen und andere Dinge auskommen. Den Stoff ziehen sie vor allem aus den Geschichten,die sie erzählt bekommen. Die Mutter bevorzugt Heiligenlegenden, ein spannender Stoff für die Einbildungskraft der Kinder. Simone übernimmt gern die Rollen von Märtyrern oder Heiligen. Ihre Schwester nutzt diese Situation manchmal aus, um sich ein wenig an der Lieblingstochter der Eltern zu rächen. Eine Märtyrerin kann man schon ein bisschen quälen, das gehört dazu. Im Spiel hat sie Macht über Simone. Richtig ernst wird es mit den kindlichen Machtspielchen aber nie. Die beiden halten zusammen und bilden ein Bollwerk gegen die Strenge des Elternhauses. Es gibt viele kleine Dinge, die man am besten vor den Erwachsenen geheim hält, auch wenn das bei einer Mutter wie Françoise mit ihrem Späherblick schwierig ist. Dass ihre Position die stärkere ist, weiß Simone gleichwohl: »Dank meiner Schwester – meiner Komplizin, meiner Untertanin, meinem Geschöpf – bestätigte ich mein unabhängiges Selbst. Es ist klar, dass ich ihr eigentlich nur eine Art von ›Gleichheit in der Andersartigkeit‹ zuerkannte, was ebenfalls eine Form ist, sich den Vorrang zu sichern.« (Tochter 45) Mit fünfeinhalb Jahren kommt Simone in die Schule. Es muss für ihre Eltern unbedingt eine Privatschule sein. Georges ist der Meinung, seine Töchter sollten davor bewahrt werden, mit Mädchen einer niedereren Gesellschaftsschicht in Kontakt zu kommen. Eigentlich sind staatliche Schulen nämlich auch in den höheren Kreisen mittlerweile anerkannt, aber nicht ausschließlich Kinder aus der Bourgeoisie besuchen sie, was Georges und Françoise Sorge bereitet. Die Eltern entscheiden sich für die Schule Cours Adeline Désir. Es ist keine Klosterschule, aber dennoch eine katholisch ausgerichtete Anstalt, die es sich zum Ziel gesetzt hat, den Mädchen eine hohe moralische Erziehung angedeihen zu lassen. Wissen und Bildung sind eher zweitrangig. Gerade danach aber sehnt sich die intellektuell schon sehr reife Simone. Von Moral hört sie zu Hause genug, jetzt sollte eigentlich etwas anderes im Vordergrund stehen. Sie möchte viel lernen, endlich ein paar Stunden allein sein können, um zu genießen, dass sie nun lesen und schreiben und einen Teil des Tages außerhalb des Elternhauses verbringen kann. Zwar überwacht die Mutter die Hausaufgaben und hört Simone ab, aber sie hat keine Macht darüber, wie ihre Tochter das Gelesene und Gelernte verarbeitet. Simone hat einen starken Sinn für die sichtbare Wirklichkeit. Sie ist keine Träumerin. Ihr Blick vom Balkon auf das Treiben entlang des Boulevards ist kein Blick in ein Traumreich oder eine fantastische Landschaft, sondern bezeugt ihre Neugierde nach Realität, ihren Hunger nach dem prallen alltäglichen Leben der Menschen. Das Wunderbare oder Übernatürliche, das sie aus den Geschichten der Mutter kennt, fordert ihren noch kindlichen Verstand heraus. Doch diese Geschichten genügen ihr nicht mehr, jetzt in der Schule ist sie begierig nach Lernen und nach dem Gespräch über den Lernstoff. Sie stellt unentwegt Fragen, schaltet nicht ab oder träumt vor sich hin, sondern ist beispielsweise fasziniert von den Karten im Atlas: »Die Einsamkeit der Inseln, die Kühnheit der Kaps, die Zerbrechlichkeit der Landzungen, die die Halbinseln mit dem Festland verbinden, machten tiefen Eindruck auf mich …« (Tochter 23)
Die Mutter ist weiterhin zuständig für die religiöse Erziehung. Nicht nur am Sonntag, sondern auch an den anderen Tagen geht es morgens zur Frühmesse, abends wird zu Hause gebetet. Dem Vater ist das zu viel des Guten und er spart nicht mit ironischen Bemerkungen. An den Mädchen geht sein Spott nicht spurlos vorbei: Die Eltern sind sich in diesem Punkt offensichtlich nicht einig und das lässt die beiden nicht unbeeindruckt. Sie wundern sich und beginnen, sich über den ihnen von der Mutter und den Lehrern verordneten Glauben erste kritische Gedanken zu machen. Ganz so eindeutig scheint das alles doch nicht zu sein.
Die Schwestern genießen die Lesestunden und Gespräche mit dem Vater, der sie ernster nimmt als die Mutter und nicht in jeder Hinsicht wie kleine Kinder behandelt. Er bringt ein wenig Leichtigkeit in ihren von Pflichten nahezu völlig ausgefüllten Alltag. Georges überarbeitet sich nicht in der Kanzlei, er trödelt gern herum, und da er selbst ein begeisterter Leser ist, erweitert er vor allem Simones literarischen Horizont entscheidend. Jules Verne und James Fenimore Cooper gehören zu den Autoren, die sie nun kennenlernt. Abenteuerbücher sind der frühe Lesestoff des Mädchens und sie machen Lesen zu etwas Lustvollem für sie. Es bedeutet, in eine Welt der Freiheit und Spannung zu versinken, die Simone aus ihrem Alltag nicht kennt. Da taucht etwas auf jenseits der engen vier Wände, ein Reich, in dem man die Arme weit ausbreiten kann, sich nicht in Demut und Pflichterfüllung zu üben hat und ungeahnte Erlebnisse auf einen warten. Jules Verne (1828–1905) hat in seinen Zukunftsromanen technische Errungenschaften des 20. Jahrhunderts vorweggenommen. Er verfügte über beträchtliche naturwissenschaftliche Kenntnisse und konnte sich deshalb denkerisch vorwagen in eine neue Zeit. Zudem war er ein unglaublich fantasievoller Mensch, und diese Verbindung von technischem Wissen und Fantasie machen seine Romane gerade für junge Leute zu einem großen Lesevergnügen. Er hat fast 100 Bücher geschrieben, darunter eine Reise zum Mond, worin die moderne Raumfahrt in Gedanken bereits Wirklichkeit geworden ist. Fenimore Cooper (1789–1851) ist vor allem durch seine Lederstrumpf-Geschichten berühmt geworden. Seine Bücher sind sozialkritisch. Er hat die Gesellschaft sehr genau beobachtet. Mit Lederstrumpf hat er eine Person geschaffen, die sittlich eigenständig handelt, unabhängig von den Regeln einer Zivilisation, die in seinen Augen kritikwürdig ist.
Georges gibt seinen Töchtern also keine Bücher, die eine Flucht aus der Wirklichkeit bedeuten. Es sind keine reinen Fantasiegeschichten, sondern Romane, die zwar in einer vergangenen Zeit spielen, aber diese Zeit kritisch beleuchten und Zukunftsvorstellungen entwickeln.
Mitten hinein in diese ersten jugendlichen Befreiungsversuche bricht der Erste Weltkrieg. Die beiden Schwestern genießen gerade einmal wieder ihre Sommerferien in Meyrignac. Ihre Eltern machen Ferien in Divonne-les-Bains und eilen so schnell wie möglich zu den Kindern. Es herrscht große Aufregung, Simone lauscht an den Türen und schnappt Worte auf, die heißen zum Beispiel »Besatzung«, »Feinde«, »Patriotismus«: eine bislang fremde Wörterwelt. Die damit verbundene Wirklichkeit ist zwar in Meyrignac nicht ganz nah, aber doch bedrängend genug für ein waches und fantasiebegabtes Mädchen. Und so spielen die Kinder unter Simones Regie Krieg. Sie selbst gefällt sich besonders in der Rolle des Präsidenten Raymond Poincaré. Er ist seit 1913 an der Regierung, aber schon seit 1887 in der Politik tätig. Er ist entschieden gegen Deutschland eingestellt und tritt für ein Bündnis mit Russland und England ein. Als wichtigstes Kriegsziel formuliert er die Rückgabe Elsass-Lothringens und die Einnahme des Rheinlands und des Saargebiets. Das weiß Simone mit ihren sechs Jahren natürlich noch nicht, aber sie bekommt die nationale, patriotische Stimmung mit. Die Franzosen rücken zusammen. Da passieren Dinge, die an die Abenteuer in den Romanen erinnern. Starke Stimmen sind zu hören, von Tapferkeit gegen den Feind ist die Rede, von einem Kampf für das Gute und Gerechte. Die Kinder kennen sich natürlich in der Politik nicht aus, aber sie spüren, welche Stimmungen herrschen, und hören, welche Parolen in der Luft herumschwirren.
Poupette und die Cousins und Cousinen akzeptieren beim Kriegspielen Simones Anführerinnen-Position. Sie beherrscht die Kunst, unter ihresgleichen selbstbewusst und kämpferisch aufzutreten, ist diszipliniert und vermag den Eindruck großer Strenge zu vermitteln. Das dramatische Talent hat sie vom Vater geerbt, und es ist ihr nicht fremd, sich als Schauspielerin und als Regisseurin zu betätigen.
Im Herbst muss auch Georges an die Front, wird aber bald wegen einer Herzattacke wieder nach Hause geschickt und verbringt einige Zeit im Krankenhaus. Nach seiner Entlassung Anfang 1915 arbeitet er im Kriegsministerium. Das Vermögen der Familie schrumpft in der Zeit der Inflation gewaltig, der gewohnte Lebensstandard ist nicht aufrechtzuerhalten. Hinzu kommt,dass Lebensmittel in Paris immer knapper werden. Françoise entwickelt eine große Begabung im Einteilen des Geldes. Sie ist permanent mit Handarbeiten beschäftigt und führt den Haushalt mit äußerster Sparsamkeit. Für Simone ist die neue finanzielle Situation nicht besonders schlimm. Sie konzentriert sich ganz auf »intellektuelle« Tätigkeiten. Ein Leben im Luxus kommt ihr sowieso nicht entgegen, da sie es fast schon wie eine Erwachsene vorzieht, diszipliniert ihren Arbeiten nachzugehen, keine Zeit zu vertrödeln mit Unwichtigem. »Ich glaubte, dass – nicht nur in unserer Familie, sondern überall – Zeit und Geld so knapp zugemessen seien, dass man sie mit größter Sorgfalt verwalten müsse: diese Vorstellung war mir ganz recht, da ich mir eine Welt ohne Extravaganzen wünschte.« (Tochter 64) Außerdem hat sie jederzeit die Möglichkeit, sich in ihre eigene innere Welt zurückzuziehen. Hier findet sie die Weite und Farbigkeit, die sie zum Leben braucht. Die äußere Realität zu vernachlässigen macht ihr keine Mühe.Was die Disziplin angeht, hat sie sehr viel Ähnlichkeit mit ihrer Mutter, nur bezieht sich diese streng kontrollierte Lebensweise bei Simone vorrangig auf die geistige Arbeit. Allerdings hat sie natürlich auch nicht die Verantwortung für die Familie. Diese immense Aufgabe setzt ihre Mutter unter einen gewaltigen Druck. Sie muss schauen, dass alle satt werden und etwas anzuziehen haben. Simone teilt ihren Tag auf die Minute genau ein, so dass keine unnötigen Pausen entstehen. Wissensvermehrung heißt das Zauberwort, nach dem auch zu dieser Zeit ihr Leben ausgerichtet ist. Dass das Schulfach Sport ihr nicht besonders liegt, begünstigt die etwas frühreif anmutende stark intellektuelle Ausrichtung Simone de Beauvoirs noch zusätzlich. Die Fantasie ermöglicht Ausflüge in abenteuerliche Welten, der Verstand schafft Ordnung. Diese beiden Möglichkeiten kennt und nutzt Simone. Während der Kriegszeit allerdings schätzt sie vorrangig die Schutzfunktion der Rationalität, also der Klarheit des Verstandes, und der Disziplin. Gerade weil sie eigentlich ziemlich dünnhäutig und von aufbrausender Emotionalität ist und wie jedes Kind ihres Alters überfordert mit der Unausgeglichenheit der Eltern in dieser schwierigen Zeit, braucht sie etwas, das eine Ordnung in ihren Alltag bringt. Der Schreibtisch mit seinem Tintenfass, den Stiften, Heften und Büchern hilft ihr, wenigstens einen Anschein von Stabilität aufrechtzuerhalten. Sie schafft sich eine kleine Oase, eine Idylle inmitten von Wirren, die schwer zu begreifen sind für ein Kind, denn das ist Simone ja immer noch. Von außen, aus der Welt der Erwachsenen, kommt keine Orientierungshilfe. Die sind so sehr mit sich und der Organisation des Kriegsalltags beschäftigt, dass sie fast vergessen, dass sie Kinder haben, die dabei sind, sich zu verirren in dem Durcheinander, das tagtäglich wächst. Über acht Millionen Männer sind als Soldaten im Krieg. An ihren Arbeitsplätzen und in den Familien fehlen sie.
Georges und Françoise streiten immer häufiger, der Vater hat kein Ohr mehr für die wissbegierige Simone, die zudem gerade jetzt beginnt, sich äußerlich zu verändern. Sie macht keinen sehr gesunden Eindruck, was natürlich mit der schlechten Kriegskost zusammenhängt, durch ihre zusätzliche Mäkeligkeit beim Essen aber noch begünstigt wird. In ihren Bewegungen wird sie linkischer. Das klassische Bild der werdenden Intellektuellen, könnte man sagen: sensibel, eigenwillig, unsportlich, Leseratte. Simone scheint diesem Klischee, zumindest als Heranwachsende, zu entsprechen. Es sind zudem einsame Zeiten für sie, weil fast alle Schülerinnen des Cours Désir aus Sicherheitsgründen aufs Land gezogen sind. Simone sitzt mit einem anderen Mädchen allein im Klassenzimmer und erhält so praktisch Privatunterricht, was sie sogar genießt. »Ein Teil meiner Schule, des Cours Désir, war in ein Lazarett umgewandelt worden. In den Korridoren vermischte sich ein erbaulicher Duft nach Medikamenten mit dem Geruch von Bohnerwachs.« (Tochter 29) Zu Hause gestaltet sich der Alltag immer schwieriger. Hauptstreitpunkte zwischen den Eltern sind nun der Vorwurf der Mutter an den Vater, den Juristenberuf völlig an den Nagel gehängt zu haben, und der Vorwurf des Vaters an die Mutter, dass deren Mitgift noch immer nicht ausbezahlt wurde. Gegenseitige Verletzungen und lautstarker Streit sind an der Tagesordnung. Wenn da nicht wenigstens in der Lust am Denken und Lernen eine Sicherheit bestünde, wäre alles noch schlimmer. So schwebt Simone zwischen den Unsicherheiten ihres familiären Umfelds und der Sicherheit der geistigen Arbeit. Der Boden, der früher einen festen Grund bildete, ist nicht mehr verlässlich, er hat Risse bekommen. Die Familie bietet keine absolute Sicherheit und Geborgenheit. Simone muss sich wirklich ziemlich am Riemen reißen, um das Vertrauen in die grundsätzliche Harmonie der Welt nicht zu verlieren. Das Glück hängt an einem seidenen Faden, draußen geschieht vieles,was das Weltbild eines wachen Mädchens zwischen dem siebten und zehnten Lebensjahr ordentlich durcheinanderbringen kann. Menschen gehören einander nicht für immer, sie entziehen sich manchmal auf rätselhafte Weise und können fremd werden. Diese Erfahrung macht Simone sehr früh. Als sie bei Kriegsende zehn Jahre alt ist, erlebt sie die Kindheit schon längst nicht mehr als ein Paradies.
Mit dem Ende des Krieges bessert sich längst nicht alles sofort. Etwa zehn Prozent der männlichen Bevölkerung sind gefallen oder werden vermisst. Ehemals fruchtbare Landstriche sind verwüstet. Der Staat ist restlos verschuldet. Das hat seine Auswirkungen auf den Lebensalltag der Bevölkerung.
Durch den Krieg hat Georges de Beauvoir nahezu sein gesamtes Vermögen verloren. Er hatte in russische Bergbau- und Eisenbahnaktien investiert. Simone bewundert die Art, wie ihr Vater mit dem gesellschaftlichen Abstieg umgeht. Sein offen zur Schau getragener Gleichmut fasziniert sie und sie leidet mit ihm, wenn er zu Hause die Maske fallen lässt und traurig vor sich hin schaut. Georges spielt nach außen die Rolle des »neuen Armen«, wie er sich selbst bezeichnet. Dieser Mann hat die Fähigkeit, »jemand« zu sein, obwohl ihm der Boden unter den Füßen eigentlich weggerutscht ist. »… es bewegte mich tief, dass ein so überlegener Mann sich derart selbstverständlich mit seiner bedrängten Lage abfand.« (Tochter 69) Eine Zeit lang arbeitet er bei seinem Schwiegervater, der gerade eine Glückssträhne hat. Seinen Töchtern gegenüber äußert er, dass sie später für sich selbst zu sorgen hätten und nicht auf Heirat aus sein sollten, da an eine Mitgift nicht zu denken wäre. Françoise quittiert solche Bemerkungen mit einem Herabziehen der Mundwinkel. Simone denkt mit dem Gefühl der Freiheit an ihre Zukunft, denn nichts kann sie sich weniger vorstellen, als die Kinder-Küche-Kirche-Existenz ihrer Mutter. Simone liest gerade einen Kinderroman aus dem 19. Jahrhundert, der sie stark beeindruckt: Little Women von Louisa May Alcott. Mit Jo, der selbstbewussten, fantasievollen und dabei äußerlich nicht sehr hübschen March-Tochter kann sich Simone sofort identifizieren. Sie entscheidet meistens sehr spontan und setzt dann auch in die Tat um, was sie sich in den Kopf gesetzt hat. Dabei richtet sie sich selten nach den Maßstäben ihrer Umgebung. Für eine katholisch erzogene, nach strengen Regeln aufwachsende Beauvoir-Tochter klingt das beängstigend und gleichzeitig befreiend revolutionär. Es bedeutet, dass man nicht unbedingt auf ausgetretenen Pfaden durchs Leben gehen muss. Man kann etwas wagen, versuchen, einen eigenen Willen zu entwickeln, ohne dass man sich völlig außerhalb von Familie und Gesellschaft stellt. Jo nämlich hat ein gutes Verhältnis zu ihrer Mutter und den Schwestern. Der Vater ist tot. Auch die drei Schwestern von Jo sind eigensinnig, musisch begabt und zeigen keinen Hang zum Hausfrauendasein. So könnte sich Simone ihre Zukunft auch vorstellen. Mit Françoise kann sie darüber nicht sprechen. Offene Diskussionen gehören nicht zu dem, was Simones Mutter unter Familienleben versteht. Ihre älteste Tochter aber sehnt sich nach ausgiebigen Gesprächen über all das, was sie erlebt, liest, denkt.
Zum Glück gibt es in der Klasse ein Mädchen, mit dem sich Simone unterhalten kann: Elizabeth Mabille, genannt Zaza. Simone lernt sie mit fast zehn Jahren kennen. Bald schon wird sie ihre Freundin. Zaza hat acht Geschwister und kommt aus der Bourgeoisie wie Simone. Allerdings sind ihre Eltern viel reicher. Die Mutter erzieht ihre Kinder nicht so streng wie Françoise. Simone erschrickt fast, als sie das Haus der Mabilles zum ersten Mal betritt, so fremdartig kommen ihr das Kindergewusel und der Lärm fröhlicher Stimmen vor. Zazas Mutter lässt sich dadurch in der Arbeit nicht stören.
Zaza selbst lebt sehr spontan in den Tag hinein, versucht sich in vielen verschiedenen Dingen: Sie stellt eine Zeitung her, kreiert eigenes Konfekt, liest viel und spielt Klavier. Auch ihr äußeres Erscheinungsbild zeugt von einem freien Umgang mit gesellschaftlichen Normen. Zaza trägt das Haar kurz und gibt sich lässig. Sie legt nicht viel Wert auf übertriebene Zurückhaltung und die strengen Gesetze der Höflichkeit. Einmal wird der freie Umgang zwischen Mme Mabille und dieser Tochter besonders deutlich: Im Cours Désir findet ein Klaviervorspiel statt, bei dem Zaza ein Stück spielt, das ihre Mutter für zu schwer hält. Zaza, die in der Tat beim Üben zu Hause oft Fehler gemacht hat, spielt nun völlig fehlerfrei. Zum Zeichen ihres Triumphs streckt sie der Mutter vor allen Leuten die Zunge heraus. Man stelle sich all die wohlerzogenen Mädchen mit den gestärkten Blusen und kunstvoll zurechtgemachten Haaren vor, die sich nicht einmal trauen, beim Sitzen die Beine übereinanderzuschlagen. Ein sich anbahnender Skandal, der von Mutter und Tochter bravourös in den Wind geschlagen und mit Humor getragen wird. Ein Küsschen für Mme Mabille versöhnt sogar das aufgebrachte Publikum. Niemals würde Simone sich so etwas erlauben. Sie bewundert ihre Freundin dafür. Simone steckt in einem zu dicken Panzer, um derart unbefangen sein zu können. Sie kennt nur die Freiheit der Gedanken, der Vorstellungen und findet Menschen toll, die das in die Tat umsetzen, was sie sich lediglich ausdenkt. Eigenständig zu sein, eine selbstbewusste Person, die ihre Ideen ausführt, spontan reagiert und keine Scheu vor der Intoleranz und Sturheit der Leute kennt, so sieht ihr Ideal von sich selbst aus. »Obwohl ich selbst mich den Gesetzen, den Klischees, den Vorurteilen unterwarf, liebte ich doch, was neu, was spontan war und von Herzen kam. Die Lebhaftigkeit und Unabhängigkeit Zazas sicherten ihr meine Ergebenheit.« (Tochter 89) Der Weg zur eigenen Befreiung scheint allerdings noch unermesslich weit zu sein. In dieser Lebensphase steckt Simone fest in ihrem wenig anmutigen, ungelenken Körper und versteckt sich hinter Strenge und Humorlosigkeit.
Zaza ist übrigens die einzige Freundin, die sich Simone selbst ausgesucht hat. Mit anderen Mädchen aus der Bourgeoisie pflegt sie einen eher oberflächlichen Kontakt,was ihre Mutter begrüßt. Aber Zaza und sie sind unzertrennlich. Von Zaza bekommt Simone Anregungen, mit ihr kann sie über Bücher sprechen und beide sind ehrgeizige Schülerinnen. Dabei bleiben die zwei Mädchen unterschiedlich stark integriert in ihr jeweiliges Familienleben: Zazas Mutter hat auf ihre eigene Geistesbildung nie viel Wert gelegt. Trotzdem erfüllt sie Zazas Lerneifer mit einem gewissen Stolz, aber sie erwartet auch von ihr, dass sie lernt, einem großen Haushalt vorzustehen mit allem, was dazugehört, und zudem soll sie auf die jüngeren Geschwister aufpassen. Zaza ist gespalten: Einerseits liebt sie ihre Mutter sehr und möchte sie nicht enttäuschen, andererseits wünscht sie sich fürs Lesen und Lernen mehr Freiraum. Die Regeln, die zu Hause herrschen, gelten für Zaza allerdings absolut. Sie käme nie auf die Idee, ernsthaft daran zu rütteln. Auch den Katholizismus hat Zaza völlig verinnerlicht. Sie käme nicht auf die Idee, grundsätzliche Moralvorstellungen der Kirche zu hinterfragen. Das sieht für Simone ganz anders aus. Ein Stachel treibt sie an, der sie unaufhörlich bohrende Fragen stellen lässt. Gern würde sie mit Zaza auch über den Glauben und andere existenzielle Fragen reden, aber Zaza macht in dieser Hinsicht dicht. Der Unterschied zwischen den beiden Freundinnen wird deutlich. Zaza ist zwar forsch im Reden und Auftreten, aber ihre Gedanken sprengen den Rahmen ihrer Herkunft nicht. Simone hingegen hat aufrührerische Gedanken, traut sich aber nicht, in selbstbewusstem Auftreten auch nach außen hin dafür einzustehen. Mittlerweile hat sie sich damit abgefunden, die anderen nicht durch ein besonders anmutiges Äußeres zu bezaubern. Immer dann, wenn sie auf Garderobe oder Frisur angesprochen wird, tut sie kund, sie arbeite den ganzen Tag und habe absolut keine Zeit, sich um solcherlei Nebensächlichkeiten zu kümmern. Françoise hat zu allem Unglück keinerlei Sensibilität für das Körpergefühl eines pubertierenden Mädchens und steckt Simone in unmögliche Kleider, aus denen sie längst herausgewachsen ist. Niemals käme sie auf die Idee, ihre Tochter zu unterstützen, mit den körperlichen Veränderungen besser umzugehen. Simones Pickel und ihr linkischer Körper reizen selbst den geliebten Vater zu bissigen Bemerkungen und er bevorzugt nun Spaziergänge mit Poupette, die weiterhin süß und putzig aussieht. »Ohne böse Absicht, aber auch ohne Schonung, machte er über meinen Teint, meine Akne, meine Tollpatschigkeit Bemerkungen, durch die mein Unbehagen und meine Manien auf die Spitze getrieben wurden.« (Tochter 97)
Zu all diesen Problemen kommt erschwerend hinzu, dass die Beauvoirs umziehen müssen. Die teure Wohnung ist nicht mehr zu halten, die Familie muss in eine kleinere Wohnung in einem Mietshaus in der Rue de Rennes 71 ziehen, noch dazu in den fünften Stock. Simone leidet besonders unter dem Verlust des geliebten Balkons. Nun kann sie ihrer Lust an der Beobachtung des Lebens auf der Straße nicht mehr so ausgiebig frönen wie bisher. Aber auch sonst hat sich einiges zu ändern. Die Enge der Räumlichkeiten zwingt die beiden Mädchen dazu, in einem Zimmer zu schlafen, in dem man sich kaum drehen kann. Es klingt absurd, aber Georges hat auch jetzt ein eigenes Arbeitszimmer, wozu, weiß eigentlich keiner. Natürlich lehnt sich Simone nicht offen auf, aber ihr fehlt ein Platz zum ungestörten Alleinsein. Es wird an allen Ecken und Enden gespart. Das Dienstmädchen Louise gibt die Stellung auf, heiratet, bleibt aber im Haus und zieht mit ihrem Mann ins Dachgeschoss. Weitere Versuche mit Dienstmädchen scheitern nach kurzer Zeit an der Überempfindlichkeit von Françoise. Das Dienstpersonal lässt sich nicht mehr alles gefallen wie früher und ist forscher geworden im Auftreten. Da verzichtet die Mutter lieber auf Personal, hat also den Haushalt allein zu versorgen, was ihre Stimmung nicht gerade aufhellt. Ein weiteres Symbol für einen gehobenen Lebensstandard ist damit verloren gegangen. Es liegt eine permanente Gereiztheit in der Luft, eine Stickigkeit, die jede Fröhlichkeit erdrückt und die Fantasie einengt. Das Leben der Mädchen ist spartanischer denn je. Selbst als der Vater ihnen Fahrräder schenken möchte, wird das von Françoise vereitelt mit dem Argument, eine solche Anschaffung sei Ausschweifung und unnötiger Luxus. Es kommen auch nicht mehr häufig Gäste, denn es könnte bekannt werden, dass es den Beauvoirs schlecht geht. Nach außen wird so getan, als sei alles wie früher.
Weil Simone nun keine Möglichkeit mehr hat, vom Balkon aus das bunte Treiben auf der Straße zu beobachten, erstreckt sich ihre Neugierde auf die Nachbarn im Haus. Da allerdings gibt es nicht viel Erfreuliches zu entdecken. Zuerst stirbt das Kind von Louise an Lungenentzündung. In der kleinen Kammer, in der das ehemalige Dienstmädchen mit ihrer kleinen Familie untergebracht ist, kann man sich kaum bewegen und wohnen schon gar nicht. Es ist ein jammervolles Dasein. Auch das Kind der Hausmeisterin wird krank. Es bekommt Tuberkulose und siecht dahin.
Im ganzen Haus riecht es nach Krankheit, alle bewegen sich auf Zehenspitzen durchs Treppenhaus und Simone beginnt, an den eigenen Tod als etwas zu denken, was auch sie jederzeit treffen könnte. »Eines Nachmittags in Paris wurde mir mit einem Male klar, dass ich zum Tode verurteilt sei.« (Tochter 132) Abends im Bett redet sie mit Hélène darüber, dass man nie wissen könne, wann es einen treffe, vielleicht seien sie schon morgen dran. Sie denkt nach über Gott und die Kirche und das, was sie bisher darüber gehört hat. Sie fängt an, daran zu zweifeln, dass dieser Gott es immer nur gut meint mit den Menschen. Wie sonst könnte er solch grauenvolles Sterben kleiner Kinder zulassen. Es zeigen sich deutliche Risse in dem harmonischen Weltbild, das Simone bisher akzeptiert hat und das ihr fast selbstverständlich geworden war. Sie fühlt sich einsam, zumal die Schwester diese Zweifel nicht hat oder sich einfach nicht dazu äußert. Simone schläft nicht mehr so gut wie früher, sie hat das Gefühl von Leere und Kälte. Langsam schleicht sich der Zweifel ein an einer grundsätzlichen Geborgenheit in der Welt. Simone wird ungeduldiger, reizbarer, unberechenbarer. Man merkt ihr mehr als früher an, wie sie die Familienfeste und Verwandtenbesuche nerven. Sie möchte viel lieber ihre Ruhe haben. Damit die anderen nicht merken, wie es in ihr aussieht, beginnt sie, sich eine Maske zuzulegen. Ihr Wunsch nach Sicherheit steht ihrer Sehnsucht nach Freiheit entgegen. Nach außen bewegt sie sich wie gewohnt, versucht, die Reizbarkeit zu verstecken. Innerlich kämpft sie mit sich und all den angelernten, jahrelang eingeübten Ritualen.
Einen Menschen gibt es in der Verwandtschaft, den Simone sehr bewundert, ja regelrecht anschwärmt: Jacques Champigneulle, ein Vetter. Mit 13 Jahren hat er bereits eine große innere und äußere Selbstständigkeit. Er lebt allein mit seiner Schwester am Boulevard du Montparnasse und besucht als Externer das Collège Stanislas. Jacques liebt wie Simone die Literatur, er hilft ihr bei den Latein-Hausaufgaben und erzählt ihr vom Leben im skandalumwitterten Quartier du Montparnasse. Zunächst aber ist Jacques ein Gesprächspartner für Georges de Beauvoir. Seit seine älteste Tochter in der Pubertät ist und nicht mehr den kindlichen Zauber versprüht, den er offensichtlich an jungen Mädchen schätzt, bevorzugt er andere, mit denen er über das Leben und die Kunst sprechen kann. Jacques will aber nicht nur mit Georges sprechen, sondern zeigt sich durchaus beeindruckt von der Intelligenz Simones. Er unterhält sich gern mit ihr, und sie lernt durch ihn Autoren kennen, von denen sie bisher nichts wusste. Das Collège Stanislas muss geniale Lehrer haben, mutmaßt Simone. Im Kontrast dazu erscheint ihr der Cours Désir schal, bieder und langweilig: »… ich sah eine Klasse von Knaben vor mir, während ich selbst mich in der Verbannung fühlte. Sie hatten als Lehrer Männer von glänzender Intelligenz, die ihnen das Wissen in seinem ungetrübten Glanz vermittelten. Meine alten Lehrerinnen teilten es mir nur in gereinigter, verwässerter, abgelagerter Form mit. Man nährte mich mit Ersatz und hielt mich im Käfig gefangen.« (Tochter 116)
Einzig Zaza kann dieses Gefühl des Biederen, Schalen ein wenig auflockern. Dennoch verhält es sich keineswegs so, dass sie in wichtigen lebensanschaulichen Fragen einer Meinung ist mit Simone, im Gegenteil. Was zum Beispiel das Verhältnis zum anderen Geschlecht angeht, muss man sich wundern über Simones rigide Ansicht. Die Liebe ist in ihrer Vorstellung entweder absolut oder gar nicht. Unter dieses Diktat des Absoluten haben sich Frauen und Männer zu stellen. Simone akzeptiert – und hier ist sie ganz und gar konsequent – die gängige Meinung nicht, die es Männern erlaubt, sich »die Hörner abzustoßen«, sprich, vor der Ehe in freier Wildbahn Jagd auf Frauen zu machen, um dann, gereift und müde, geläutert in den Hafen der Ehe mit einer braven Frau einzulaufen. Dieser Ansicht widerspricht Simone heftig.
Mit ihrer hehren Vorstellung von der großen, absoluten Liebe fordert sie Zazas Spott heraus. Simone erduldet das, bleibt aber bei ihrer Sicht der Dinge. Sie scheint die Sicherheit und Geborgenheit, die sie zu Hause und in der katholischen Kirche nicht mehr findet, anderswo zu suchen. Etwas Großes und Allumfassendes muss es im Leben geben, davon ist Simone überzeugt. Zwar existiert Gott für sie noch immer, doch erlebt sie seine Gegenwart nicht mehr am Sonntag in der Kirche, sondern weit eher in der Liebe und in der Natur, in Meyrignac zum Beispiel. Als sie mit 16 wieder einmal Ferien auf dem Gut des Großvaters macht, wird ihr klar, wie mächtig die Anwesenheit Gottes in der Natur ist. Die Bäume, Wiesen und Wolken, alles trägt Spuren des göttlichen Ursprungs in sich. Der Zugang zu ihm ist direkter als in der Stadt, unter Menschen, zwischen Häusern auf den Straßen, in der Abgeschlossenheit ihres engen Zimmers. »Je mehr ich mich an den Boden heftete, desto näher kam ich ihm, so dass jeder Spaziergang zu einem Akt der Anbetung wurde.« (Tochter 120)
Hinzu kommt etwas Neues, ungeheuer Spannendes: Simone hat den Eindruck, es ist nicht unerheblich für die Wirklichkeit der Natur, dass hier ein Mensch steht, der sie wahrnimmt, die Sinne öffnet, sie in der Wahrnehmung erst richtig real sein lässt. Die Natur scheint verlassen zu sein, undeutlich, verschwommen, wenn da nicht der schauende, riechende, empfindende Mensch ist.»Von Neuem war ich einzig und fühlte,dass alles nach mir verlangte: mein Blick war nötig, damit das Rot der Buche sich vom Blau der Zeder und dem Silberton der Pappel unterschied.« (TochterTochter