Die große Chance
Aus dem Spanischen von
Gabriele Stein
Originaltitel:
El amor: la gran oportunidad
© Enrique Rojas, 2011
© Ediciones Planeta Madrid, S.A., 2011
Für die deutsche Ausgabe:
© Adamas Verlag, Köln, 2016
Paulistraße 22, D-50933 Köln
www.adamasverlag.de
Umschlaggestaltung: Ignaz Brosa
eISBN 978 3 937626 87 1
Kapitel 1
Was heißt lieben?
Die Liebe als erster Lebensgrund
Die Wissenschaft von der Liebe, die Herzensbildung
Kapitel 2
Verliebtsein
Das Wesen des Verliebtseins
Sich-Verlieben als Wunsch nach Zweisamkeit
Um den Partner werben
Kapitel 3
Die richtige Wahl treffen
Liebe und Erkenntnis
Wie finde ich den geeigneten Partner?
Kapitel 4
Sieben Ratschläge für angehende Ehepaare
Nötige Hinweise
Erster Ratschlag: Die Liebe nicht verklären
Zweiter Ratschlag: Den anderen nicht verabsolutieren
Dritter Ratschlag: Verliebtsein ist keine Garantie für eine dauerhafte und glückliche Beziehung
Vierter Ratschlag: Das Eheleben schrittweise erlernen
Fünfter Ratschlag: In einer Beziehung kann es Krisen geben
Sechster Ratschlag: Man muss wissen, dass die Liebe erst mit der Zeit reift; sie ist die Verbindung zweier Menschen, die jedoch ihre Individualität behalten
Siebter Ratschlag: Wirklich lieben besteht mehr im Geben als im Nehmen
Kapitel 5
Die Alchemie der ehelichen Liebe: die sieben Prinzipien
Was erhält eine Beziehung aufrecht?
1.Gefühl
Liebe ist mehr als ein Gefühl
Die Phasen der Liebe
Die Kunst des Zusammenlebens
2.Sexualität
Lieben heißt, sich angezogen fühlen
Die Sexualität ist wichtig für die Beziehung
Wir sind unser Körper: Er ›verkörpert‹ uns
3.Gemeinsamer Glaube
Ähnliche spirituelle Grundlagen
Die christliche Perspektive
4.Wille
Die Liebe ist ein Gefühl und eine Entscheidung
Der Wille in der Liebe
Der Wille lässt deine Träume wahr werden
5.Verstand
Herz, Kopf und Kultur
Ein Wechsel der Perspektive verändert die Gefühle
6.Bindungsfähigkeit
Fast alles Große ist im Grunde einfach
Die tägliche Buchführung der Liebe
7.Fluss und Dynamik
Die Liebe ist nicht statisch, sondern dynamisch
Die Liebe als Hingabe und Verzichtbereitschaft
Kapitel 6
Lieben lernt man, indem man liebt (einige interessante Fälle)
Die Fähigkeit zu lieben als Indikator einer gesunden Gesellschaft
Die Pfeiler der Liebe in der Paarbeziehung
Die Liebe ist die Seele der Familie
Einige interessante Fälle
Ein typischer Fall von affektiver Unreife
Eine schwierige Geschichte mit glücklichem Ausgang
Eine traurige Geschichte über sehr unterschiedliche Glaubensüberzeugungen
Kapitel 7
Einige Verhaltensregeln zur Lösung von Ehekonflikten
Grundlegende Überlegungen
Die Fähigkeit zu vergeben
Kein Sündenregister führen
Unnötige Streitgespräche vermeiden
Lernen, den Vorfällen (in der Ehe und der Familie) die Bedeutung beizumessen, die sie wirklich haben
Wechselseitiger Respekt
Lernen, schwierige Momente, Situationen oder Tage durchzustehen
Kommunikationstechniken erwerben
Den Alltag mit Humor nehmen
Nie von Trennung sprechen
Die sexuellen Beziehungen sorgfältig pflegen
Eine verzerrte Wahrnehmung der Realität vermeiden
Den Drang unterdrücken, den Partner zu überwachen
Das Spirituelle nicht aus den Augen verlieren, um schwierige Situationen zu meistern
Ein Ende, das ein Anfang ist
Zehn Gebote für das eheliche Zusammenleben
Bibliographie
Sachregister
Die Liebe ist der erste Lebensgrund. Der Mensch braucht Liebe. Das Wort hat viele Bedeutungen, doch hier und jetzt wollen wir darunter die affektive Beziehung zweier Menschen verstehen, die sich lieben und sich entschließen, ihr Leben miteinander zu teilen. Die Liebe ist die beste Antwort auf alle existentiellen Fragen. In diesem Sinne wollen wir nach Definitionen suchen, die uns besser verstehen lassen, was dieses Wort Liebe wirklich bedeutet.
Im Laufe der Geschichte ist aus den verschiedensten Blickwinkeln – vonseiten der Psychologie, der Philosophie, der Literatur und Dichtung – vieles über die Liebe gesagt worden. Sie ist ein entscheidender Antrieb, der den Menschen dazu bringen kann, sich rückhaltlos für etwas zu begeistern. Der Liebe gebührt ein besonderer Rang, denn sie ist eine universelle Erfahrung, welche die menschliche Existenz grundlegend prägt. Sie ist eine gehaltvolle und facettenreiche Aufgabe. Eine intakte Liebe ist heute eine schwierige Angelegenheit, denn die Gesellschaft ist auf diesem Gebiet weitgehend desorientiert; vor allem hat sie offenbar vergessen, dass man der Liebe Tagfür Tag die nötige Aufmerksamkeit schenken muss, weil sie sonst schwindet oder verdunstet. Dass Liebe etwas derart Schwieriges ist, liegt unter anderem daran, dass sie sich nicht mit nur einem Blick oder Pinselstrich erfassen und auch nicht nur über eine einzige Bedeutung definieren lässt. Es gilt, der Liebe ihre eigentliche Funktion erneut zuzuerkennen: Sie kann jedem Menschen Kraft und Richtung geben – vorausgesetzt, man räumt ihr den gebührenden Stellenwert ein.
Die Liebe ist das Bedürfnis, aus sich selbst heraus- und auf einen anderen Menschen zuzugehen, um den Rest des Lebens mit ihm zu verbringen. »Liebe« ist ein Wort mit ganz unterschiedlichen Bedeutungen, weil sie aus so vielen verschiedenen Elementen besteht. Es ist ein ganzes Bedeutungsgefüge, das in ihr Gestalt annimmt und das wir in seinen Nuancen erfassen wollen. Deshalb werden wir auf Entdeckungsreise gehen und herausfinden, wie groß sie ist, wie tief, wie stark, wie schön – und wie anspruchsvoll. Wir werden sehen, dass man an ihr arbeiten muss wie an einer Aufgabe, die psychologisches Geschick erfordert. Es tut not, ihre Tiefe und ihr Geheimnis wiederzuentdecken. Alle wollen lieben und suchen nach einer Liebe, die dauerhaft, stark, fest und großherzig ist, die alle Dimensionen des Menschseins zu umfassen vermag.
Ein Merkmal ist der Liebe immer zu eigen: die Neigung sowie der Hang, sich zu jemandem hingezogen zu fühlen, den man für wertvoll, für gut und fähig hält, unserem Lebensentwurf – und damit uns selbst – einen Grund zu geben. Das zugehörige Wortfeld ist reich an Bedeutungen: Lieben, Gernhaben, Wertschätzen, Bevorzugen sowie Hinneigung, Begeisterung, Verzückung, Inbrunst, Bewunderung, Überschwang, Ehrerbietung ‒ und natürlich auch das magische Sich-Verlieben (dem das nächste Kapitel gewidmet ist): jene universelle Erfahrung, mit der jede Liebe beginnt, die diesen Namen verdient. Das magnetische Feld der Affektivität besteht aus einem Gewebe, in dem die verschiedenen Vorstellungen sich mischen, einander umkreisen, verschwinden und wieder erscheinen. Dies alles erzeugt ein engmaschiges Netz von Gefühlen, so dass jeder sein authentisches persönliches Liebesvokabular entwickelt. Dann gehen wir auf die Straße, mischen uns unter die Menschen und stellen fest, wie vielfältig die Lebensbedingungen und Standpunkte sind. Die Wirklichkeit ist wie ein dichter Wald, in dem wir uns zurechtfinden, uns ein klares Bild machen müssen und zu unterscheiden wissen, ob es um Sex oder um Liebe geht, ob wir jemanden bloß begehren oder gernhaben, ob wir uns zu einem Menschen hingezogen fühlen oder ob wir ihn einfach nur brauchen. Hier sind Ungenauigkeiten unvermeidlich, und diese Verwirrung führt dazu, dass so mancher die Orientierung und den Halt verliert.
Um ein reifes affektives Leben zu gewährleisten, braucht man Wissen und Bildung, das heißt, über die Liebe Bescheid zu wissen und eine Vorstellung davon zu haben, worum es bei einer so entscheidenden Sache geht … denn zu spät verstehen heißt gar nicht verstehen. Anders ausgedrückt: Wer die Wesensmerkmale der Liebe nicht kennt oder nicht richtig versteht, bekommt ein ernstes Problem, denn dieser Mangel an Kenntnis und Verständnis kann folgenschwer sein und sich in weitreichenden Konsequenzen und lebenslangem Leid äußern. Auf diesem trügerischen Untergrund sollte man die wichtigsten Landmarken kennen, damit man nicht irregeht oder auf Abwege gerät.
Ein Merkmal taucht in allen Beschreibungen der Liebe wieder auf: dass man sich nach der Gesellschaft des geliebten Menschen sehnt und das Beste für ihn will. Jemanden lieben heißt, ihm unter vielen anderen den Vorzug zu geben und ihn für geeignet zu halten, in unserem Leben an erster Stelle zu stehen. Jemanden lieben heißt, sich zu wünschen, mit diesem Menschen eins zu sein. Liebe und Einssein bedingen einander. Wir dürfen nicht vergessen, dass man nicht lieben kann, was man nicht kennt.
Lieben und Kennen gehören zusammen. Zuerst lernen zwei Menschen mehr und mehr einander kennen; sie erfahren das Wichtigste über den anderen, akzeptieren seine Vergangenheit, stellen fest, dass der andere ihm viel bedeutet, und entscheiden sich schließlich, nicht mehr und nicht weniger als die eigene Gefühlswelt mit ihm zu teilen. Danach kommt die Liebe, die sich in dieser Phase als Verliebtsein zeigt.
Der christliche englische Schriftsteller C. S. Lewis1 spricht von vier verschiedenen Arten der Liebe: Zuneigung, Freundschaft, Eros und Agape. Er schreibt: »Die menschliche Liebe verdient Liebe genannt zu werden, wenn sie der Liebe gleicht, die in Gott ist.« Außerdem zitiert er Thomas a Kempis mit dem Satz: »Das Höchste kann nicht bestehen ohne das Niedrigste«, womit zum Ausdruck gebracht wird, dass die höchste Liebe nicht ohne ihre alltäglichen Ausdrucksformen erreicht werden kann. Von der Freundschaft heißt es darüber hinaus: »Menschen mit echten Freunden sind weniger leicht zu beeinflussen«2. Bei Descartes sind es dagegen drei Elemente: liebende Zuwendung, also eine Beziehung zwischen zwei Personen, die zu einer größeren gegenseitigen Wertschätzung führt; Freundschaft, die in einer Liebe ohne Sexualität besteht und gekennzeichnet ist von Harmonie, Vertrauen und Vertrautheit; und drittens Verehrung, die den anderen überschätzt und über den eigenen Wert erhebt. Descartes definiert die Liebe als eine Gefühlsregung der Seele, sich auf Antrieb des Geistes willentlich Dingen oder Menschen zuzuwenden, die sie als angenehm empfindet.3
Die Liebe ist letztlich der erste Lebensgrund, das Wichtigste, das allem anderen Sinn gibt. Sie ist wie ein Fluss, der mit seinem Wasser alle Gegenden bewässert, durch die er strömt. Sie durchdringt jede Faser des menschlichen Seins und verleiht dem menschlichen Leben – wenn es ihr gelingt, es in seiner Tiefe zu erfassen – einen hohen Wert und eine enorme Kraft. Wir sprechen hier von der Liebe zweier Menschen, die von dem Wunsch beseelt sind, alles miteinander zu teilen und ein dauerhaftes gemeinsames Projekt durchzuführen. Die Liebe ist immer etwas Persönliches zwischen zwei Menschen, die einander bedürfen und Seite an Seite leben. Sie richtet uns aus und prägt unsere Lebensweise. Tiere leben geschützt in Herden und Familien; sie besitzen auf ihre Weise gewisse vernunftartige Instinkte. Computer können ›denken‹ und intelligente Operationen vollziehen. Doch nur vom Menschen lässt sich sagen, dass er im wahrsten Sinne des Wortes fähig ist zu lieben.
Die Liebe gibt dem Menschen seinen eigentlichen Sinn. Sein Verständnis von Liebe wird für ihn zu einer alles umfassenden Erfahrung, weil sie sowohl das Tiefste in ihm als auch das Alltäglichste und Banalste prägt. Nichts in diesem Leben ist so wichtig wie die Liebe. Doch sie ist kein Bonbon, um uns das Leben zu versüßen; denn authentische Liebe, die das eigene wie auch das Wohl des anderen sucht, kommt ohne Mühe nicht aus.
Dieses Buch möchte die Bedeutung der Liebe im Leben des Menschen aufzeigen. Wir wollen betonen, dass die Liebe ein grundlegendes Gefühl ist; wir dürfen sie nicht auf einen Affekt reduzieren, denn sie besteht aus vielen Komponenten und muss, wenn sie richtig funktionieren soll, in all ihren Aspekten gepflegt werden. Viele Paarbeziehungen scheitern – das soll im vorliegenden Text deutlich werden –, weil die beiden Partner die reichen und vielfältigen Komponenten der Liebe nicht richtig verstanden haben. Wir wollen uns zunächst einen Überblick verschaffen; erst dann kann die praktische Anwendung erfolgen.
In unserer heutigen Welt muss alles sehr schnell gehen. Nur wenige halten inne, um über die Gründe dieses so häufigen affektiven Scheiterns und über die wirksamsten Gegenmittel nachzudenken, die wir anwenden können, damit sich diese Situation in den künftigen Generationen nicht wiederholt. Wenn die Liebe der erste Lebensgrund ist, muss man sie kennen, bevor man sie unkritisch überhöht. Die Fähigkeit zu lieben muss aus einer angemessenen Kenntnis dessen erwachsen, was im Inneren einer Liebesbeziehung vonnöten ist, damit sie hält und bis zum Ende die erhofften Früchte bringt.
Wenn wir uns im Freundeskreis umhören und uns auch selbst fragen, wie viele wahrhaft liebesfähige Menschen wir kennen, dann werden wir feststellen, wie wenige Menschen um die wahre Liebe wissen, sie kennen und praktizieren, sie hegen und pflegen. Und wir werden beobachten, dass so manche beginnende Liebe wenig Zukunft hat, weil wir, wenn wir die Betreffenden etwas besser kennen, sehen werden, dass sie nicht vorbereitet sind und letztlich nicht zu lieben gelernt haben.
Wir leben im Informationszeitalter: Täglich erreichen uns von überallher Nachrichten über die neuesten Ereignisse in der Welt. Sie werden detailreich vor uns ausgebreitet und sind doch rasch wieder vergessen, denn unsere Gesellschaft leidet an Informationsbulimie: Die eben konsumierten Meldungen werden sofort wieder ausgespien, um für Neues Platz zu machen. Natürlich ist es wichtig, informiert zu sein, was um uns herum – im eigenen Land und in unserer globalisierten Welt – geschieht. Doch wirklich entscheidend und viel wichtiger ist die Bildung, die weit mehr ist als Information. Bildung bedeutet unter anderem, Urteilsvermögen zu besitzen, zu wissen, woran man sich halten muss, die Zeichen der Zeit zu verstehen, sich von der Flut der Ereignisse nicht überrollen zu lassen und in diesem Dickicht nicht die Orientierung zu verlieren.
Ähnlich verhält es sich auch mit der Liebe. Immer wieder hören wir von gescheiterten Liebesbeziehungen. Für viele sind sie nur ein Zeitvertreib, und sie beschäftigen sich, wie mit einem zerbrochenen Spielzeug, stundenlang mit den Scherben eines fremden, aber berühmten Lebens. Denken wir nur an die Klatschblätter oder an neue Fernsehformate: Tag für Tag erzählen dort Menschen von ihren Liebeswirren mit einer Frivolität, die ans Groteske, Komische, Geschmacklose grenzt … und die Dramatik dient dabei als Silbertablett. Bildung in der Liebe indes ist etwas anderes. Um sie soll es im Folgenden gehen, so dass der Leser am Ende eine klare Vorstellung davon hat, was wahre Liebe ist.
Die Liebe ist eine Wissenschaft, die man mit der Zeit erlernt. Sie erfordert Wissen und Energie. Sie verlangt sowohl Leidenschaft als auch Geduld. Sie braucht Bildung und Geschick. Wenn eine Liebesbeziehung zerbricht, wird oft deutlich, dass es an einem soliden Fundament gefehlt hat. Äußeren wie inneren Erschütterungen ausgesetzt (die mit Sicherheit kommen werden), wankt sie und bricht schließlich zusammen wie ein Kartenhaus.
Es kommt letztlich auf die Herzensbildung an. Diese besteht nicht so sehr darin, die verschiedenen Gefühlslagen zu identifizieren und zu klassifizieren, als vielmehr sie zu verstehen. Denn wir sollten nicht vergessen: Unser erster Kontakt mit der Wirklichkeit ist gefühlsbestimmt. Das Herz geht dem Kopf voraus. Deshalb brauchen wir emotionale Intelligenz, die Fähigkeit, uns eigene und fremde Gefühle bewusst zu machen und sie zu deuten. Außerdem ist jedes affektive Geschehen durch zweierlei gekennzeichnet:
1.Durch unsere persönlichen Umstände: was wir tun, wo wir sind, wie unser Leben in großen Zügen verläuft. Mit einem Wort: durch die reale Situation, in der wir uns befinden, die jeweilige Konstellation, die unsere äußere Lebenssituation bestimmt.
2.Durch die Deutungsweise der Wirklichkeit, die jedem eigen ist. Sie ist die architektonische Festigkeit unseres eigenen Gebäudes, unsere innere Struktur oder, wenn man so will, unsere Innenausstattung.
Aus der Mischung von beidem, der Legierung aus Wirklichkeit und Deutungsweise, entstehen und erwachsen die affektiven Reaktionen.
In der Flut von Büchern, die sich mit der Welt der Gefühle, ihrer Wirklichkeit und ihrem Zauber, ihren süßen und ihren bitteren Früchten beschäftigen, kann man schnell Schiffbruch erleiden. Es gilt, ihre wahre Bedeutung wiederzuentdecken. Da die Liebe zum Erlesensten im menschlichen Leben gehört, muss man die Spreu vom Weizen trennen. Für viele bedeutet Liebe Sex und nur Sex; solche Leser werden sich mit diesem Buch schwertun.4 Die Verbindung zwischen der Liebe und den anderen großen menschlichen Lebensgründen ist wiederzuentdecken. Viele glauben nicht mehr an das Wort »Liebe«, weil es so oft gebraucht und missbraucht, verfälscht und manipuliert wird – denn alles und jedes wird Liebe genannt. Deshalb ist es wichtig zu begreifen, worin das ganze Panorama der Liebe besteht. Denn wer in der Liebe begriffsstutzig ist, zahlt einen hohen Preis.
Das Wissen um die Liebe ist wie ein Fass ohne Boden, ein Meer ohne Ufer, kurz, ein unerschöpfliches Thema. Je mehr man über die Liebe sagt, desto mehr bleibt noch zu sagen. Das Wissen um die Liebe macht Appetit auf mehr, erhöht die Lust, sich in ihren Verästelungen zu verlieren, rührt sie doch an den innersten Kern der Person. Die Liebe ist das A und O des Menschseins. Deshalb ist es so wichtig, sie zu verinnerlichen und immer besser kennenzulernen. Nahezu jegliches menschliche Unterfangen gründet in der Liebe. Und die Gesellschaft dieses beginnenden 21. Jahrhunderts scheint sehr wenig von ihr zu wissen.5 Deshalb geschieht es so oft, dass sich Menschen in ihren eigenen Affekten verirren. Man möchte geradezu von Gefühlsanalphabeten sprechen, denen es im Fach »Liebe« an den elementarsten Kenntnissen fehlt.
1Was man Liebe nennt, Basel 2004, 7. Auflage, S. 8.
2Ebd. S. 85.
3Vgl. Die Leidenschaften der Seele, II. Teil, art. 79, Hamburg 1984, S. 123.
4Die Liebe prägt alle Dimensionen des menschlichen Lebens. Will man verstehen, wie sehr die Liebe den Menschen in seiner Komplexität prägt, braucht man die richtigen Koordinaten. Deshalb werde ich nicht müde zu betonen, dass Liebe nicht nur ein Gefühl, sondern auch eine Entscheidung bedeutet. Ich werde später noch ausführlicher darauf zurückkommen.
5Es gibt keine Ehekrisen, sondern nur persönliche Krisen. Die Gesellschaft des beginnenden 21. Jahrhunderts bringt immer mehr fragile Persönlichkeiten hervor: Menschen ohne tragfähige Kriterien, die nicht wissen, für welchen Weg sie sich entscheiden sollen. Unter diesen Umständen kann es nicht überraschen, dass so viele Beziehungen scheitern.
Verliebtsein gehört zu den aufregendsten Abenteuern, die ein Mensch erleben kann. Es ist eine unvergessliche Erfahrung, und vor allem, wenn es gut ausgeht, ein Genuss, alles Geschehen, was dazu geführt hat, noch einmal Revue passieren zu lassen. Unter welchen Voraussetzungen verliebt man sich? Und was heißt das überhaupt, sich zu verlieben?
Das Verliebtsein ist ein emotionaler Zustand, den die Genugtuung und Freude darüber prägt, dass wir jemanden gefunden haben, der uns versteht und mit dem wir die vielen Dinge und Erfahrungen des Lebens teilen können. Verliebtsein ist eine Spielart der Liebe – nicht irgendeine, sondern die erhabenste, die Menschen auf einer natürlichen Ebene erfahren können.
Wir wollen uns nun mit den verschiedenen Phasen des Verliebtseins befassen. In der Regel stellt sich dieser Zustand nicht unmittelbar oder abrupt ein; eine Ausnahme bildet die Liebe auf den ersten Blick, die wie eine plötzliche Eingebung mit einem Mal das ganze Leben eines Menschen erhellt und ihn entdecken lässt, dass er gerade einen ganz besonderen Menschen getroffen hat (ein Eindruck, der sich normalerweise binnen kurzem bestätigt). Es handelt sich um eine einzigartige Begegnung zwischen einem Mann und einer Frau, die aufeinander aufmerksam werden. Sie halten inne und fragen sich, ob sie ihr Leben miteinander teilen können.
Doch wie verliebt man sich normalerweise? Ist es an bestimmte Bedingungen geknüpft? Verliebt sich jeder mehr oder weniger gleich? Gibt es feste Regeln? Geht man immer von denselben Voraussetzungen aus?
Es gibt zwei Grundbedingungen für das Verliebtsein:
• Die Bewunderung: Bestimmte Werte wecken unsere Aufmerksamkeit: konsequente Lebensführung, die Tatsache, dass der Betreffende Schwierigkeiten und Probleme gemeistert hat, sein Werdegang, eine zutiefst sinnvolle und in mancher Hinsicht beispielhafte Existenz … Wir alle kennen das: Man ist einfach hingerissen. Bewunderung ist die Fähigkeit, sich von jemandem beeindrucken zu lassen, der es wert ist und der uns neue Horizonte eröffnet. Das ist das Klima, in dem die Verliebtheit gedeihen kann.
• Die Anziehung: Sie ist bei Männern meist physischer, bei Frauen eher psychischer Natur.1 Für die westlichen Gesellschaften gilt, dass Männer sich mit den Augen und Frauen mit den Ohren verlieben. Der Mann reagiert zunächst auf die äußere Schönheit der Frau und fühlt sich stark angezogen. Die Frau dagegen wird auf die innere Schönheit des Mannes aufmerksam: auf das, was sie über ihn hört oder was er tut, seine Persönlichkeit, seine Qualitäten (oder die Kombination aus alledem) beeindrucken sie. Frauen wissen mehr über Gefühle als Männer, und deshalb geht ihr Blick tiefer, bleibt nicht an der Oberfläche, sondern dringt ins Innere vor. Männer wissen weniger und empfangen eher direkte Signale.
Anziehung ist eine starke Hinwendung zweier Personen zueinander: Man sucht die Nähe des anderen und das Gespräch mit ihm, versucht ihn besser kennenzulernen und sein Innerstes zu entdecken. Auf die physische folgt die psychische Anziehung, an deren Stelle später die spirituelle (oder, im Falle einer wenig oder gar nicht entwickelten Spiritualität, die kulturelle) Anziehung tritt. Diese Dreiheit bildet eine persönliche, wichtige Landkarte, die die Schrittfolge für die weitere Entwicklung des Verliebtseins festlegt. Die äußere Schönheit ist leicht auszumachen. Sie steht uns vor Augen. Um indes die innere Schönheit zu erfassen, muss man in das Innere des betreffenden Menschen vordringen und den verborgenen Schatz seiner Tugenden entdecken: Harmonie, Gelassenheit, Konsequenz, innere Ordnung, Freude und weitere positive Eigenschaften, die dazu anspornen, uns auf diesem Gebiet noch weiter vorzuwagen. Da ist etwas, was nach außen durchschimmert und uns anzieht und dazu drängt, das im Inneren Verborgene genauer kennenzulernen. Die innere Schönheit ist ein gewisser Zustand der Vollendung, eine ausgewogene Persönlichkeit, eine eigene private Ästhetik.
Die physische Schönheit zeigt sich vorwiegend im Gesicht. Der gesamte Körper ist vom Gesicht abhänig. Das Gesicht ist der Spiegel der Seele, sagt ein spanisches Sprichwort. Es reflektiert die Landschaft der Seele. Deshalb zeigt sich im Gesicht ein Programm, eine Art Lebensmanifest des Gegenüber; es verrät uns, was im Inneren vor sich geht. Hier lassen sich drei Aspekte unterscheiden: zunächst das Gesicht als Ganzes. Es weckt unsere Aufmerksamkeit mit seiner Harmonie, es ist der erste Eindruck einer präzisen und zugleich ungenauen, klaren und doch verschwommenen, konkreten und dennoch schwer greifbaren Ästhetik. Dann übernehmen die Augen die Hauptrolle; sie haben ein eigenes Alphabet: Sie sprechen, verraten unsere Gedanken, drücken Zustimmung oder Ablehnung aus, sie sind eben vielsagend. Wenn wir uns in ein Gesicht verlieben, liegt das vor allem an den Augen. Das haben wir alle schon einmal erlebt, dass uns an einem Menschen seine schönen Augen aufgefallen sind, uns in ihren Bann gezogen, gefangengenommen, geradezu magnetisch angezogen haben. Wir mussten immer wieder hinschauen. In der ersten Phase des Verliebtseins spielen die Augen also eine wichtige Rolle. Und dann folgt der Mund: seine Lippen, sein Lachen oder feines Lächeln, sein Ernst und seine Nachdenklichkeit, oder ein Witz, eine überraschende Bemerkung … Vom Mund geht eines der wichtigsten Dinge überhaupt aus: die Kommunikation. Die äußere Schönheit der Frau ist von ätherischer Natur, andeutend, unbestimmt, flüchtig, als könnte sie jeden Moment entschwinden, und niemand weiß wohin. Wer sich verliebt, stellt sich auf das Gesicht des anderen ein, macht es sich zu eigen, zu etwas Vertrautem, Nahem, Unmittelbarem. Dabei werden die Augen zum Zentrum der Aufmerksamkeit, denn sie sind der prägendste Teil des Gesichts.
Bewunderung und Anziehung – diese beiden Phänomene sind die unentbehrlichen Voraussetzungen des Sich-Verliebens. Sie bedingen einander. Später dann – in den folgenden Tagen, Wochen oder Monaten – kommen weitere Anzeichen hinzu. Wir wollen sie nach und nach entschlüsseln.
Eines der bemerkenswertesten Anzeichen des Verliebtseins ist eine gewisse Aufmerksamkeitsstörung. Aufmerksamkeit bedeutet, dass wir unsere Psyche in diese oder jene Richtung lenken, dass wir etwas präzise und konkret anvisieren. Sie ist wie ein Lichtstrahl, der auf einen bestimmten Gegenstand fällt und alles andere ausblendet. Aufmerksamkeit bedeutet Konzentration. Man wird gleichsam absorbiert und ist mit Kopf und Herz ständig beim geliebten Menschen.
Es gibt mehrere Texte mit wichtigen Aussagen zu diesem Thema. In seinem Buch Betrachtungen über die Liebe schreibt Ortega y Gasset2, dass Verliebte an einer »Aufmerksamkeitsstörung« leiden, dass sie viele mögliche Inhalte, die sich ihnen darbieten, außer Acht lassen, so dass in diesem Zustand alles verschwommen erscheint und seine festen Konturen verliert. Normalerweise nimmt unsere Aufmerksamkeit mehrere Dinge gleichzeitig wahr, wendet sich einer Vielzahl von Objekten zu, die vor ihr liegen, und richtet sich auf ganz unterschiedliche Aspekte und Ebenen. Doch nun ist das Gegenteil der Fall. Dieses Phänomen, das Ortega erwähnt, hat zwei Seiten: Man fühlt sich absorbiert, und man fühlt sich verzaubert. Ersteres ist eher intellektuell, letzteres eher emotional. Verzauberung bringt es mit sich, dass man in Gegenwart des betreffenden Menschen sich glücklich und zufrieden fühlt: Man unterhält sich, tauscht Erfahrungen aus, schaut sich in die Augen und teilt eine gemeinsame Auffassung vom Leben. In solchen Momenten gerät alles ins Stocken, hält inne, verharrt bewegungslos, und wir wünschen uns, dass das Flüchtige ewig währt und die Zeit stillsteht, damit wir diesen wunderbaren Augenblick in unserem Inneren auskosten können. Diese positiven und betörenden Gefühle schaffen nach und nach die Grundlage für eine Beziehung.
Sich zu verlieben heißt, sich selbst außerhalb seiner selbst wiederzufinden, mit anderen Worten, jemanden zu haben, der uns erfüllt. Es ist eine ganz bestimmte Schrittfolge, die zu diesem so wichtigen Erlebnis führt und die uns nun helfen soll, diese unvergessliche und erwartungsfrohe Zeit näher zu bestimmen.
Sich-Verlieben geschieht in mehreren Etappen, und wenn man sie ganz durchläuft, wächst daraus allmählich etwas Unvergessliches, das sich dem Gedächtnis unauslöschlich einprägt. Alsbald meldet sich der gebieterische Wunsch nach Zweisamkeit – eine Folge dessen, was wir im vorangegangenen Abschnitt beschrieben haben. Jetzt kommen die verschiedenen Ausdrucksformen ins Spiel wie Zärtlichkeiten, Küsse, ein heiteres Schweigen, vertrauliche Zwiesprache, ein gemeinsamer Wortschatz und persönlicher Diskurs, der ein ganz privates, nur den Verliebten zugängliches Vokabular erzeugt: eine kostbare Sprache, unterschwellig, voll Nuancen und konkreter Augenblicke, die sich der Erinnerung tief eingraben.
Verliebt zu sein ist der Wunsch, den anderen ohne Vermittlung Dritter ausschließlich für sich zu besitzen. Du und ich, wir sind uns selbst genug, ich brauche dich an meiner Seite, sagen wir uns. Niemand sonst soll bei uns sein, denn du bist der Mittelpunkt meines Lebens. Du bist das Zentrum meiner persönlichen Weltkarte. Du bist die Achse, um die mein Dasein hier und jetzt kreist.
Die Verliebtheit macht dem Gefühl der Zusammengehörigkeit Platz: Du bist mein Leben, du bist meine Liebe, und ich brauche deine Nähe. In dieser Phase wird die Ausschließlichkeit überschwänglich: Ich möchte dich mit niemandem sonst teilen müssen. Entsprechend charakteristisch ist auch das, was man in dieser besonderen Phase zueinander sagt: das Vergängliche möge ewig währen, damit wir dieses Jetzt voller Zuneigung und Zärtlichkeit auskosten können. Wenn wir könnten, würden wir die Zeit anhalten.
Das Liebeswerben ist in der europäischen Romantik ein beliebtes Romanthema. Es handelt sich um ein ambivalentes Spiel aus Annäherung und Ferne, Interesse und Gleichgültigkeit. Eine von wechselseitiger Anziehung geprägte Übung des Sich-Erkundens. Man möchte sich genauer kennenlernen, um herauszufinden, wie es im Inneren des jeweils anderen aussieht. Das ist eine der aufregendsten Erfahrungen überhaupt. Tricks, Manöver und Taktiken spinnen ein Gewebe aus Überraschungen und unerwarteten Wendungen. Doch noch ist es keine Liebe.
Betörung ist ein Mechanismus, der den anderen anlockt und mitreißt und oft mehr auf dem Schein als auf der Wirklichkeit beruht. Es ist ein reizvoller und angenehmer Zeitvertreib, ein übermütiger Wettkampf ohne Regeln, ein wirres Geflecht aus Zerwürfnissen und Bündnissen, ein Spiel mit verbaler und nonverbaler Sprache (Worten und Gebärden) … kurz: ein Flirt. Diese Kunst der Betörung ist zweideutig. Genau das macht sie ja – unter anderem – so interessant, denn sie wirft die Frage auf, ob der andere sich angezogen fühlt oder nicht. Diese mangelnde Klarheit führt dazu, mehr über unser Gegenüber erfahren zu wollen.
Jedes Liebeswerben schließt eine gewisse Leidenschaft für das Risiko ein, die im Triumph einer geschickt eingesetzten psychologischen Technik gipfelt. Es führt von einer gewissen Apotheose des Scheins zu einer immer ehrlicheren Begegnung der Partner, bis schließlich die Wahrheit über beide zutage tritt. Betörung ist eher heidnisch, Liebe dagegen in der Hauptsache christlich. Erstere spielt mit der äußeren Erscheinung, letztere achtet auf das Äußere und das Innere.
So kommt es zu einer Flut affektiver Ausdrucksformen; auf Bewunderung und Anziehung folgt das Interesse für die andere Person; man entdeckt Gemeinsamkeiten und man sucht ihre Nähe und das Gespräch mit ihr. In diesem Stadium zeigt sich ein wichtiges Symptom, das ich hier einmal als Kopfenteignung bezeichnen möchte: Man muss ständig an den anderen denken, man fragt sich – wie in einem inneren Monolog – immerzu, wo er oder sie wohl gerade ist, was er oder sie gerade tut … und man fragt sich bei allen möglichen Themen, was er oder sie wohl dazu sagen würde.3
In diesem Zusammenhang möchte ich einige Gedanken vortragen. Ortega y Gasset sagt, wie schon erwähnt, die Verliebtheit sei eine Aufmerksamkeitsstörung, weil unsere Aufmerksamkeit, die normalerweise für vieles offen ist, sich jetzt nur auf ein einziges Ziel richtet. Stendhal spricht in seinem Buch De l’amour4 von Kristallisierung und erklärt dies folgendermaßen: Wenn wir eines der Salzbergwerke in der Nähe von Salzburg besuchen, dort einen Zweig zurücklassen und nach einigen Tagen wiederkommen, haben sich an diesem Zweig kleine Kristalle gebildet. Er überträgt nun dieses physikalische Phänomen auf die Welt der Gefühle: Sich-Verlieben ist wie ein Kristallisierungsvorgang, bei dem wir jemanden idealisieren, ihm aus typisch menschlicher Liebessehnsucht mehr positive Eigenschaften zuerkennen, als er tatsächlich besitzt. Ich verliebe mich somit nicht in eine wirkliche Person, sondern in eine Idealvorstellung. Das ist nur normal, und mit der Zeit kommt alles wieder an seinen Platz. Francesco Alberoni beschreibt die Verliebtheit in seinem Buch Verliebt sein und Lieben5 als einen besonderen Zustand der Faszination, der die persönliche Perspektive in einem anderen, kraftvollen Licht erscheinen lässt. Andere Autoren (Lord Byron, André Maurois, Somerset Maugham) sprechen in diesem Zusammenhang von Begeisterung, Überschwang, überbordendem Glück, affektiver Ekstase. Ich selbst möchte diese Erfahrung als Offenbarungserlebnis bezeichnen, das uns über vieles Vergangene und Gegenwärtige aufklärt.
In allmählichen Schritten, deren Übergänge fließend sind, erreicht das Paar verschiedene Gemütszustände, die sich wie folgt darstellen lassen: Da ist zum einen der Wunsch, dem anderen nahe zu sein; man fühlt sich zu einander hingezogen und hat gleichzeitig das Gefühl, dass die Zeit rast.6 Die Stunden vergehen wie im Flug, und die Zeit, die wir mit dem anderen verbringen, ist immer zu kurz; die innere Uhr läuft schneller als sonst, und genau das erzeugt ein ganz besonderes Glücksgefühl. Dieses Anzeichen scheint mir überaus wichtig, denn es zeigt, dass das Sich-Verlieben in einem festen und stetigen Schrittmaß erfolgt und an Boden gewinnt … Dabei geschieht etwas Geheimnisvolles: Zwei Menschen erkunden, analysieren und erforschen einander, und sie genießen es, wenn sie dabei feststellen, dass sie sich in der Gegenwart des anderen froh und zufrieden fühlen. Es ist eine Art Verzauberung, die wie von allein zur Liebesentscheidung führt.
»Man kann nicht lieben, was man nicht kennt«, sagten die Griechen. Das ist eine Grundvoraussetzung. Wenn Mann und Frau einander kennenlernen, dann werden die Eigenschaften des jeweils anderen zu Angelhaken. Es ist eine stimulierende Reise: Man erobert und lässt sich erobern. Die Facetten und Aspekte sind so vielfältig, dass sie sich auch mit allen uns zur Verfügung stehenden Schattierungen kaum hinreichend beschreiben lassen. Josef Pieper bringt es auf eine einfache Formel: »Gut, dass du da bist; gut, dass es dich gibt!«7
1Der Mann ist eher direkt, elementar und basal, die Frau dagegen eher indirekt, vielschichtig und sensibel (vielleicht unter anderem deshalb, weil sie das Leben weitergibt).
2Die deutsche Ausgabe ist erschienen unter dem Titel: Betrachtungen über die Liebe, Gesammelte Werke, Stuttgart 1956, Bd. IV, S. 288.
3Der Protagonist in Cervantes’ Don Quijote nennt Dulcinea (seine platonische Liebe) la dama de mis pensamientos, die Dame meiner Gedanken. Wenn wir ständig an den Menschen denken müssen, den wir bewundern und der uns anzieht, dann ist das ein Hinweis darauf, dass wir im Begriff sind, uns zu verlieben. Diese Tatsache ist aussagekräftig, und wir sollten ihr Beachtung schenken.
4Ersterscheinung 1822. Zahlreiche Übersetzungen ins Deutsche.
5Stuttgart 1993 (Innamoramento e Amore, 1979).
6Es gibt verschiedene Arten von Zeit: die physische Zeit, die von der Uhr angezeigt wird und sich in keiner Weise modifizieren lässt; die psychologische