Manfred Stuhrmann-Spangenberg
In und um Russland herum
Reiseerlebnisse und Geschichten aus Russland und seinen Nachbarländern
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Platzkarte besorgen!
Die Route
Eine Begegnung in Sibirien: Auf zum Baikalsee
Das Projekt
Mit dem Zug von Berlin gen Osten
Warschau, Polen
Warminsko-Mazurskie, Polen
Kaliningrad, Russland
Eugen Zabel auf dem Weg nach Russland – Zwischenstopp in Königsberg
Reiseführer Sergej aus Kaliningrad, Russland
Auf der Kurischen Nehrung, Russland
Nida, Litauen
Kybartai, Litauen
Vilnius, Litauen
Weißrussland
Riga, Lettland
Dunte, Lettland
Tartu, Estland
Narva, Estland
Tallinn, Estland
Finnland
Sankt Petersburg, Russland
Petrosawodsk, Kischi und die Solowedzki Inseln, Russland
Murmansk, Russland
Norwegen
Mit der Bahn von Murmansk nach Sotschi, Russland
Sotschi, Russland
Rostow am Don/Starotscherkesk, Russland
Wolgograd, Russland
Saratow/Engels, Russland
Samara und Uljanowsk, Russland
Saransk und Nischni Novgorod, Russland
Moskau, Russland
Der Goldene Ring
Die Transsibirische Eisenbahn I
Kasan, Russland
Jekaterinburg, Russland
Die Transsibirische Eisenbahn II
Irkutsk, Russland
Am Baikalsee, Russland
Mongolei
China
Nordkorea
Wladiwostok, Russland
Chabarowsk und Birobidschan, Russland
Auf der Transsib und der kleinen BAM von Chabarowsk nach Tynda
Auf der BAM und der Transsib von Tynda nach Novosibirsk
Novosibirsk, Abschied aus Russland
Mit dem Zug nach Almaty, Kasachstan
Almaty, Kasachstan
Astana, Kasachstan
Auf Abwegen Teil 1: Zentralasiatische „Stans“
Kirgistan
Taschkent, Usbekistan
Samarkand, Usbekistan
Buchara, Usbekistan
Tadschikistan und Turkmenistan
Aserbaidschan
Georgien
Auf Abwegen Teil 2: Armenien
Von Armenien nach Moldawien
Moldawien
Ukraine
Ankunft in Berlin
Danksagung
Impressum neobooks
Es empfiehlt sich, seinen Platz mehrere Tage vorher zu bestellen, da die Züge namentlich im Frühling und Herbst, der besten Zeit für eine solche Reise, stark besetzt sind. Ein Platz in der ersten Klasse kostet für die sechzehntägige Fahrt von Berlin bis zum Stillen Ozean, nach Wladiwostok oder der neuen Stadt Dalny gegen sechshundert Mark.
Eugen Zabel, Auf der sibirischen Bahn nach China, 1904
Karte: hergestellt unter Verwendung einer OpenStreetMap-Vorlage
Ich sitze auf der Bank an der Plattform 9 des Irkutsker Busbahnhofes und warte auf den Kleinbus, der mich in 20 Minuten nach Listvianka zum Baikalsee bringen soll - da kommt er leicht schwankend auf mich zu: ein kleiner alter Mann mit zwei großen Plastiktüten. Unter dem Käppi hängen fettige Haare, die, wie der ganze Mann, wohl schon länger kein Waschwasser gesehen haben. Also genau die Sorte Gesprächspartner, auf die ich eher nicht gewartet habe.
„Fährt hier der Bus nach Listvianka?“ Was soll ich auf diese Frage denn antworten? Ich versuche es mit „wie bitte, ich spreche leider nur wenig Russisch.“ Und schon ist das Gespräch im Gange.
Als Nächstes kommt ein „do you speak English“, worauf mir nichts übrig bleibt, als diese Frage zu bejahen. Der Mann denkt ein wenig nach, schüttelt dann den Kopf und fährt auf Russisch fort: „Schade, ich habe alles vergessen. Früher konnte ich gut Englisch, das war auch wichtig.“ Mein fragender Blick ist Aufforderung genug. „Ich bin Maschinist und war viel auf Schiffen unterwegs.“
Ich erfahre, dass Vladimir, so heißt mein neuer Bekannter, in Wladiwostok an der Marineakademie gelernt hat und dann bei der Hochseefischereiflotte der UdSSR als Maschinist tätig war. Und während kaum einer meiner russischen Gesprächspartner überhaupt jemals im Ausland, bzw. in anderen Ländern gewesen ist als in ehemaligen Sowjetrepubliken oder in der Türkei, war der Seemann Vladimir zu Sowjetzeiten in Peru, Kuba, China, Japan, Korea, auf den Philippinen und in Australien.
Wie es der liebe Gott oder der Zufall will, sitzen wir im Kleinbus natürlich nebeneinander. Der strenge Geruch, den Vladimir abgibt, wird vom Fahrtwind nach hinten geweht, was durchaus mein Gefallen findet.
„Hast Du Durst?“ Vladimir holt eine Zweiliterflasche mit einer braunen Brühe aus einer der Plastiktüten, und beim Öffnen der Flasche wird mir schnell klar, dass in dieser kein Eistee ist. Dankend lehne ich ab, obwohl Vladimir noch mehrere Versuche unternimmt, mir das offensichtlich hochprozentige Gebräu anzubieten.
Natürlich sprechen wir beiden Freunde jetzt auch über unsere Familien und zeigen die üblichen Handy-Fotos. Vladimir ist stolz auf seine Enkeltochter und freut sich, dass die Frau seines einzigen Sohnes wieder schwanger ist. „Ich hätte ja gerne mehr Kinder gehabt, aber wenn man immer auf See ist, da geht die Ehe leider kaputt.“
Inzwischen ist Vladimir auf Betriebstemperatur, da fallen ihm auch einige englische und spanische Wörter (und Sätze) wieder ein, die ich im Sinne des Jugendschutzes hier aber lieber nicht wiedergebe. Der Mann war halt viel in Hafenkneipen unterwegs, da wird weniger Oxford-Englisch oder Salamanca-Spanisch gesprochen, und auch die Gesprächsthemen wären einer englischen Königin unbekannt (bei spanischen Königen bin ich mir da nicht so sicher).
Vladimir ist Burjate, gehört also der einheimischen Urbevölkerung an. „Leider spreche ich nur noch ein paar Wörter unserer Sprache, mein Sohn kann überhaupt nichts mehr. Unsere Sprache wird aussterben.“
Wir stellen noch fest, dass wir vor knapp 40 Jahren beide zur gleichen Zeit in Australien waren, aber als ich Vladimir mitteile, dass ich dort keine Hafenkneipen aufgesucht hätte, muss er lachen: „Damals war auch ich noch viel zu jung für so etwas!“ Und auf diese Weise erfahre ich, dass der alte Mann fast genau ein Jahr jünger ist als ich.
Die Fahrt vergeht leider viel zu schnell, denn die Straße nach Listvianka hat nichts mehr mit der Schlaglochpiste von vor 40 Jahren zu tun, auf der mein Kumpel Jockel und ich damals unterwegs waren. Am Ortseingang von Listvianka muss mein Freund aussteigen, denn von hier aus fährt die Fähre über die Angara nach Port Baikal. „Ich arbeite dort wieder als Maschinist, komm doch mal rüber!“, mit diesen Worten verabschiedet sich Vladimir von mir und drückt mit festem Druck meine Hand.
40 Jahre nach meiner ersten Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn mache ich mich am 1.Mai 2017 auf, Russland, das größte Land der Erde, erneut zu bereisen, von der Ostsee bis zum Pazifik, vom Polarmeer bis zum Schwarzen Meer. Im Gepäck: mein Tagebuch der eigenen Reise durch die Sowjetunion des Jahres 1977 und der Reisebericht des Berliner Schriftstellers und Journalisten Eugen Zabel, der 1903 als erster Deutscher auf der sibirischen Bahn nach China reiste.
Was ist geblieben vom Zarenreich des beginnenden 20. Jahrhunderts und der nach der Oktoberrevolution vor 100 Jahren entstandenen und 1991 untergegangenen kommunistischen Weltmacht Sowjetunion? Wie sieht es aus, das heutige Russland, und wie ticken seine Einwohner? Und was ist mit Russlands Nachbarn?
Um das herauszufinden bereise ich außer Russland auch alle 14 Länder, die eine Landesgrenze mit Russland haben, von Norwegen im Nordwesten bis Nordkorea im Südosten. Und dann gibt es ja noch einige Länder, die zwar nicht direkt an Russland angrenzen, die aber aus der Konkursmasse der Sowjetunion hervorgegangen sind. Diese ehemaligen Sowjetrepubliken vervollständigen das Projekt in und um Russland herum.
Unterwegs sammle ich Geschichten. Von Menschen, mit denen ich mich entweder vorher verabredet habe, oder die mir zufällig über den Weg laufen - so wie Vladimir auf dem Weg zum Baikalsee. Aber auch von Ländern, Landschaften, Städten, Gebäuden. So entsteht nach und nach ein Bild, harmonisch oder chaotisch? Lesen Sie selbst! Apropos Bild: Bilder zum Buch und Filme zur Reise finden Sie auf meiner Homepage www.stuhrmann-spangenberg.de.
Russland ist weit weg? Weit gefehlt. Von Berlin nach Kaliningrad, der westlichsten russischen Gebietshauptstadt, sind es gerade einmal 528 Kilometer Luftlinie, also nicht ganz so weit wie von Berlin nach Aachen (542 km). Und das westlichste Nachbarland Russlands, Polen, erreicht der Eurocity Berlin-Warschau bereits eine Stunde und 15 Minuten nach der Abfahrt vom Berliner Hauptbahnhof, denn länger dauert es nicht, bis die Brücke über die Oder überquert ist.
Kaliningrad war auch Eugen Zabels erste Etappe, als er sich im Sommer 1903 auf den Weg machte, um die kürzlich fertiggestellte transsibirische Bahn bis zum Pazifik zu bereisen. Nur hieß Kaliningrad damals noch Königsberg und Zabel hatte auf seiner Zugreise von Berlin, Zoologischer Garten, nach Königsberg in Ostpreußen keine einzige Grenze zu überqueren. Und nicht weit hinter Königsberg lag damals die Grenze zum russischen Zarenreich. Das Deutsche Reich war schließlich bis zum Ende des ersten Weltkrieges das westlichste Nachbarland Russlands.
Als sich im Sommer 1977 zwei West-Berliner Jungs (mein Schulfreund Jockel und ich) aufmachten, zwischen Abitur und Studium, auf Zabels Spuren per Bahn quer durch Sibirien bis zum Pazifik zu reisen, verlief die erste zu überquerende Landesgrenze mitten durch Berlin. Übergang Berlin-Friedrichsstraße, Ausreise aus Berlin (West), Einreise in Berlin (Ost), Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik (DDR, in einigen Zeitungen der Bundesrepublik Deutschland oder West-Berlins allerdings konsequent als sogenannte DDR bezeichnet oder mit Anführungszeichen versehen).
Vom Ostbahnhof ging dann der Zug Berlin-Moskau ebenfalls über Warschau, bevor er in Brest-Litovsk an der polnisch-weißrussischen Grenze komplett hochgehoben wurde, damit, natürlich mitten in der Nacht, kräftige Arbeiter mit lauten Hammerschlägen den Radabstand der Waggons verbreitern konnten. Danach wurde der Zug mit den nunmehr hellwachen Passagieren vorsichtig auf die spurbreiteren russischen Gleise heruntergelassen und die Einreise in die Sowjetunion (Union der sozialistischen Sowjetrepubliken, UdSSR) konnte beginnen. So gesehen hat sich seit 40 Jahren ja kaum etwas verändert: Polen war auch 1977 das westlichste Nachbarland der UdSSR.
Polen ist also Russlands westlichster Nachbar. Laut Wikipedia haben Polen und die Russische Föderation, wie Russland seit 1991 heißt, eine 206 Kilometer lange gemeinsame Landesgrenze, die fast in ganzer Länge seit Ende des zweiten Weltkrieges das alte Ostpreußen recht willkürlich trennt. Stalin zog 1945 einfach eine fast gerade Linie auf einer Karte Ostpreußens, dieses in einen nördlichen Teil, die heutige russische Exklave Kaliningrad, und einen südlichen Teil, die heutige nordpolnische Woiwodschaft Warminsko-Mazurskie (Ermland und Masuren), aufteilend.
Warschau
Besagter Eurocity Berlin-Warschau trifft (wenn es nicht zu außerplanmäßigen Verspätungen kommt) fünfeinhalb Stunden nach seiner Abfahrt aus Berlin auf dem Bahnhof Warszawa-Centralna ein. Warschau, da denkt ein fast 60-jähriger Deutscher vor allem an Dreierlei: an das Warschauer Ghetto, den Warschauer Aufstand und an den Warschauer Pakt (oder auch Warschauer Vertrag).
Heute ist Warschau eine attraktive Großstadt mit wohl deutlich mehr Wolkenkratzern als Berlin (was freilich keine Kunst ist, welche Großstadt hat das nicht?), aber auch einer – wieder aufgebauten – Altstadt, die das Prädikat UNESCO-Weltkulturerbe hoch verdient hat. Wäre das hier ein Reiseführer, dann müsste jetzt eine Aufzählung der vielen Sehenswürdigkeiten Warschaus folgen. Aber, um das mal gleich am Anfang klarzustellen, damit will ich mich nun wirklich nicht aufhalten. Natürlich wird die geneigte Leserschaft viele, viele Sehenswürdigkeiten, die ich auf dieser Reise besichtige, näher beschrieben bekommen. Doch für die Darstellung der unzähligen touristischen Attraktionen sei auf die klassischen Reiseführer und das Internet verwiesen.
Warschau also, an einem sonnigen, aber recht kühlen 2. Mai. Die Stadt ist mit unzähligen polnischen Fahnen und Wimpeln geschmückt, Feiertag. Die Menschen zieht es, wie auch mich, hinaus in die Parks. Der Eintritt in die Alte Orangerie im Lazienki Park ist heute frei, entsprechend lang ist die Warteschlange. Neugierig vorbei stolzierende Pfauen verkürzen die Wartezeit, aber die Sonne scheint ja, was sich noch als besonders angenehm erweist, als ich später die Liegestühle hinter dem Belvedere entdecke. Prima, so kann es weitergehen.
Ein langer Spaziergang (na, ich habe ja Zeit und bin gut zu Fuß) führt mich am Botanischen Garten und am Chopin-Denkmal vorbei zurück in die Innenstadt, immer die mit vielen Cafés, Restaurants und Kneipen gesegnete Nowy Swiat entlang zur Stare Miasta, der Altstadt. Nach einem Blick zum Marktplatz kehre ich zurück zum Schlossplatz mit der Säule und den Hundertschaften chinesischer Touristen (nein, die langen Stäbe werden von meinen asiatischen Mitbesuchern Warschaus nicht zum Freikämpfen der Wegstrecke, sondern zum Montieren der Kameras für die Milliarden von Selfies genutzt, die offenbar von den Zuhausegebliebenen schon mit Spannung erwartet werden, oh, jetzt schweife ich aber ab).
An der Säule also wende ich mich nach links und überquere die Weichsel, recht zugiger Wind, aber schöner Blick nach rechts zum Stadion, das für die Fußball-Europameisterschaft 2012 neu errichtet wurde und nach links zum vor dem Zoo befindlichen sandigen Weichselstrand, der herrlich in der Sonne gelegen gerade recht kommt, um dort windgeschützt Pause zu machen und die beeindruckende Kulisse der Altstadt am anderen Weichselufer zu bestaunen.
Jetzt noch ein kurzer Spaziergang durch den Park und dann bin ich auch schon in der Galeria Wilenska, einem modernen Einkaufszentrum im Stadtteil Praga. Hier bin ich in der zweiten Etage vor einem Kebab-Stand mit Krzysiek verabredet, der auch punktgenau auftaucht.
Krzysiek, Jahrgang 1992, kommt direkt von seiner Arbeit im Ingenieurbüro, in dem er schon angestellt ist, obwohl seine Masterarbeit noch nicht fertiggestellt ist. Wie alle jungen Männer hat Krzysiek erst einmal Hunger und lädt mich zum Kebab ein. Meine Versuche, die Rechnung zu übernehmen, scheitern kläglich. Zwar war ich es, der über den Freund eines Freundes… um das Treffen gebeten hat, aber schließlich sind wir ja in Polen, unmöglich also, dass ich das Essen zahle. Gut gestärkt ziehen wir weiter in eine Kneipe, und bei Bier aus der Flasche geht unser Gespräch in die zweite Runde: nach der Aufwärm- und Vorstellungsphase kommen wir nun zum Thema Polen und Russen, dem Anlass unseres Treffens.
Ich erzähle Krzysiek, dass ich am Vortage im Museum des Warschauer Aufstandes etwas überrascht war, wie schlecht die Sowjetarmee dort dabei wegkommt, wenn es um die Darstellung ihrer Rolle beim Warschauer Aufstand geht. Immerhin stand ja diese Armee schon im Juli 1944 in Praga, als die polnische Heimatarmee den offenen Aufstand gegen die deutschen Besatzer anstrebte.
„Ja, vielleicht ist das ja auch nicht meine eigene Meinung, sondern die meiner Lehrer. Es gab immer zwei oder mehr Meinungen. Also, als die Russen näher kamen, hatten viele Polen die Idee, dass wir zuerst selber etwas machen müssen, einen Aufstand, sonst können wir nicht unser Land befreien. Ja, wir müssen die großen Städte selber befreien, und wenn dann die Russen kommen, könnten wir sagen: hier, das ist unser Land, geht weiter nach Deutschland, wir sind schon frei! Der russische General oder so, der hat dann aber verboten, dass wir uns selber befreien, es gab keine Hilfe, nur Behinderungen durch die Russen. Ich habe auch die Meinung, dass – wenn diese russische Armee nicht gewartet, sondern uns geholfen hätte - dann wäre Warschau nicht komplett zerstört worden.“
Dieser Groll gegen die Russen ist auch im Museum überall greifbar, auch wenn es ja schließlich die Deutschen waren, die den Warschauer Aufstand nicht nur niedergeschlagen, sondern die ganze Stadt völlig zerstört haben (wovon man sich im Museum mit einem 3D-Film - ein Flug über die Ruinenlandschaft Warschaus - ein verstörendes Bild machen kann).
Mit dem Ende des zweiten Weltkrieges hatte sich die Lage Polens mal wieder gründlich verändert. Polen war natürlich ein eigener Staat und nicht völlig von der Landkarte verschwunden wie nach der dritten polnischen Teilung 1795, als Warschau nach Moskau und St. Petersburg zur drittgrößten „russischen“ Stadt wurde, aber „viele Polen, ich auch, sind der Ansicht, dass damals der eine Besatzer durch den nächsten Besatzer ersetzt wurde“, so Krzysiek.
„Nach den 90er Jahren haben wir uns gefreut, dass wir jetzt frei sind. Vorher war das nicht so. Aber ich kann nicht so viel dazu sagen, ich bin ja erst danach geboren. Ich habe aber viel gelesen. Und das war zwar eine polnische Regierung, aber die war von Russland bestimmt.“ Als ich einwerfe, dass Polen ja in der Geschichte immer wieder von Deutschen von der einen und Russen von der anderen Seite angegriffen und nach etlichen Teilungen sogar als Staat verschwunden war, gibt mir Krzysiek zwar Recht, verweist aber sogleich darauf, dass „in Polen aber auch viele Leute an die Zeiten denken, als Polen sehr groß war, an Zeiten, als Polen vielleicht das größte Land in Europa war. Auch jetzt gibt es ein paar Leute, die immer nur sagen, dass wir dahin zurück kommen müssen, das ist aber verrückt.“
Krzysiek ist angesichts der Brüsseler Bürokratie eher skeptisch, was die EU angeht und kritisiert die zu großen Einflüsse Deutschlands in der EU und die der USA in der NATO: „Wir müssen mit den anderen kleinen Ländern wie Ungarn zusammen arbeiten und auch mit den USA ist das Verhältnis nicht so einfach. Donald Trump will, dass wir 2% unseres Bruttoinlandsproduktes für Rüstung ausgeben, aber das ist zu viel. Wir brauchen nicht so viele Soldaten, auch nicht mehr Amerikaner. Jetzt sind viel mehr amerikanische Soldaten gekommen, aber mir ist das egal. Als der Konflikt mit der Ukraine war, habe ich gedacht, dass es nicht gut für Polen ist, dass Russland die Ukraine begraben wollte. Nun, viele Polen sagen, dass die Ukrainer damals, im zweiten Weltkrieg, die schlimmsten waren. Aber für mich persönlich ist das anders. Die Ukraine ist ein großes Land und ich meine, ein Teil davon ist wie Polen und ein Teil wie Russland.“
Krzysiek hat jedenfalls keine Angst davor, dass die Russen kommen könnten. „Wenn ich über Kaliningrad nachdenke, habe ich keine Assoziationen mit Russland. Viele Polen denken sogar, dass wir keine richtige Grenze mit Russland haben, nur zum Gebiet Kaliningrad, aber da haben wir auch unsere Nachbarn auf der anderen Seite. Es gibt atomare Waffen in Kaliningrad, aber was können wir machen, wenn die jemand benutzt? Nichts! Ich denke andererseits auch nicht, dass die NATO Kaliningrad angreifen will, aber ich kann da auch nicht sicher sein. In den Medien erfahren wir vielleicht nicht die ganze Wahrheit. Das habe ich auch gemerkt, als ich bei einem Studententreffen in Deutschland war, da waren auch Russen, Ukrainer und viele andere Ausländer, auch aus China. Alle schauen ihre eigenen TV-Sender, aber alle bekommen andere Informationen. Alle wussten, dass da russische Soldaten auf der Krim waren, nur die Russin hatte in den russischen Nachrichten nichts davon gehört.“
Auf meine Frage, ob er nicht auch mal nach Kaliningrad reisen und Russen treffen möchte, antwortet Krzysiek eher ausweichend: „Ja, ich habe immer Lust, irgendwo hin zu fahren, aber das Problem ist immer Geld und Zeit. Aber ich bin offen für Kaliningrad. Ich habe auch Familie in Augustow, das ist ganz in der Nähe von der Grenze, und ich war auch in einem kleinen Städtchen direkt an der Grenze, dort kannst du rüber laufen und merkst nicht, dass Du im Kaliningrader Gebiet bist.“ Ach ja, wenn es so einfach wäre. Einfach so über die Grenze. Zeit also, sich der Grenze zu nähern.
Am nächsten Tag bringt mich der Zug nach Olsztyn, dem alten Allenstein. Ich bin somit im ehemaligen Ostpreußen angekommen. Bei Tannenberg, nicht weit von Allenstein, hat der Deutsche Ritterorden 1410 eine heftige Niederlage erlitten. Als im ersten Weltkrieg dann die Deutschen unter Hindenburgs Kommando die Russen im August 1914 bei Allenstein besiegten, war diese Schmach endlich getilgt, und 1927 konnte der fast 80-jährige Hindenburg das Tannenberg-Nationaldenkmal feierlich einweihen.
Lange konnte sich die Bevölkerung allerdings nicht an dem monströsen Denkmal erfreuen, denn deutsche Pioniere leisteten vor der Eroberung Ostpreußens durch die Sowjetarmee ganze Arbeit und sprengten das Denkmal. Immerhin konnten einige der Steine später beim Wiederaufbau von Warschau genutzt werden.
Olsztyn ist heute die schmucke Hauptstadt der polnischen Wojwodschaft Warminsko-Mazurskie (Ermland-Masuren). Die historische Altstadt ist in wenigen Minuten durchschritten, das Cafe si si ist mein Ziel, hier kann man bei Kaffee und Kuchen nach vorne hin den Marktplatz, oder – noch mehr zu empfehlen – nach hinten raus die Burg betrachten.
Auf dem Weg zur Burg trifft man auf das unvermeidliche Nikolaus Kopernikus-Denkmal. Auf den kleinlichen Streit darüber, ob der weltberühmte Astronom Kopernikus denn nun Deutscher oder Pole gewesen sei, soll hier nicht weiter eingegangen werden. Hier in Allenstein wirkte der spätere Frauenburger Domherr Kopernikus als Administrator und wohnte in der Burg, worauf man heute im polnischen Olsztyn genauso stolz ist wie man es früher im preußischen Allenstein war.
Kopernikus lebte übrigens auch im weiter nördlich gelegenen Heilsberger Schloss, wo er offiziell als Arzt seines Onkels, des ermländischen Bischofs Lucas Watzenrode, tätig war. Inoffiziell allerdings arbeitete er hier an den ersten wesentlichen Schriften seines wahrlich astronomischen Werkes. Und warum lasse ich nun den Leser an diesem historischen Wissen teilhaben?
Nun, am nächsten Tag fahre ich nach Lidzbark-Warminski, wie Heilsberg heute heißt. Dort treffe ich mich im Schloss, dem früheren Bischofssitz und heutigen Museum, mit Beata.
Beata ist eine Frau in den besten Jahren, seit 23 Jahren mit einem Deutschen, Jens, verheiratet und hat ihren Arbeitsplatz im Nordflügel des Museums, in dem bis 1936 auch das hiesige Waisenhaus untergebracht war.
Über die deutsche Vergangenheit Heilsbergs hatten wir bei früheren Besuchen schon viel diskutiert, auch über die Sehnsuchtstouristen, die inzwischen fast ausgestorben sind. Jetzt kommt die nächste Generation, so wie ich, auf den Spuren ihrer Eltern: mein Vater ist hier im Schloss aufgewachsen, allerdings nicht als künftiger Schlossherr, sondern als Waisenkind. Im Nordflügel, dritter Stock, unter dem Dach, waren die Schlafsäle.
Und wie ist es so mit den Russen? „Na klar“, erläutert Beata lachend, „es kommen viele russische Touristen (aus dem Oblast Kaliningrad, nur ganz wenige aus dem russischen Kernland) nach Heilsberg, aber die gehen vor allem in das Thermalbad. Und die, die in die Burg kommen, haben kein Interesse an der Geschichte, sie wollen nur das touristische Highlight Heilsbergs nicht verpassen.“ Und Beata selbst, war sie denn schon mal in Kaliningrad? „Nur einmal, vor fast 25 Jahren. Im Bus nach Kaliningrad waren außer mir nur Schwarzhändler, die öffneten schon gleich nach der Grenze die Wodka-Flaschen und schmuggelten auf der Rückfahrt Unmengen an Zigaretten nach Polen. Kein sehr schöner Ausflug, wirklich nicht.“
Der Schmuggel blüht auch heute noch, auch wenn seit der Einführung der Visumpflicht der kleine Grenzverkehr deutlich zurückgegangen ist, wie mir ein paar Monate vorher der vorsitzende Richter des hier zuständigen Gerichtes in Bartozsyce (früher Bartenstein) berichtet hatte. In den ersten 9 Monaten des Jahres 2016 gab es dort 6000 Verfahren gegen Schmuggler! Wenn man einmal davon ausgeht, dass nur ein kleiner Teil der Schmuggler erwischt wird…
Genug über die Russen geredet, noch ein Gang durch die inzwischen fertig renovierten Räume des Schlosses, die ich noch nicht kenne, und dann lasse ich Beata erst einmal weiter arbeiten und ziehe mich in meine Heilsberger Stammkneipe, dem in der Nähe des Marktes gelegene Starowka, zurück, um am Buch zu schreiben und die Zeit bis zum Abendessen im Haus von Beata und Jens zu überbrücken. Natürlich, man ahnt es schon, ist Beatas Menü dann für meinen Magen völlig überdimensioniert, aber das sollte auch bei vielen noch folgenden Essenseinladungen die Regel bleiben. Von wegen Diät und abnehmen, unmöglich auf so einer Reise. Denn nach einer zweiten Nacht in Olsztyn geht es weiter, per Bus nach Kaliningrad, tschüss und do widzenia, Polska.
Es gibt viele gute Gründe dafür, nach Kaliningrad zu reisen. Ein besonders empfehlenswerter Anlass wäre es, in der dortigen Sprachschule einen Russisch-Kursus zu belegen. In Kleinstgruppen wird man hier von exzellenten Lehrerinnen je nach Sprachniveau unterrichtet und hat viel Spaß dabei, das kann ich nach drei mehrwöchigen Kursen in den letzten beiden Jahren garantieren. Und auch wenn danach, mit einigem Training daheim, die Russischkenntnisse eines Spätlerners (der vorher nicht viel mehr als „spassiwo“, also „danke“, sagen konnte) noch nicht von null auf hundert reichen: mit null auf fünfzig verursacht man zwar mitunter einen Stau auf der Gesprächsautobahn, kommt aber im täglichen Stadtgespräch schon ganz gut zurecht.
Immerhin gelingt es mir schon, mit Hilfe des an der Bushaltestelle sitzenden freundlichen Michael, seines Zeichens schwerer Alkoholiker, wie er sogleich offen erklärt, das etwas versteckt liegende Haus meiner Lehrerin Marina zu finden, die mich, natürlich, zum Abendessen eingeladen hat. Michael hat die nicht ganz leicht auszusprechende Adresse auf Anhieb verstanden und bringt mich die etwa 500 Meter bis an den Gartenzaun, wo mich Marina schon erwartet.
Bisher hielten sich meine Erlebnisse mit russischen Alkoholikern ja sehr in Grenzen, Michael jedenfalls ist ein sehr angenehmer, höflicher Mensch, der mich mit einem einladenden „Bittä schöön!“ auffordert, doch vor ihm die Pfütze zu umgehen, die fast die ganze Breite der unbefestigten Straße einnimmt. Bis wir bei Marina ankommen, erfahre ich, dass Michael sein Haus (wie fast alle Häuser dieser Straße ein altes deutsches Haus mit Giebeldach) an dem wir gerade vorbeikommen, leider verkaufen musste, seine Frau ist auch schon lange weg, mit den Kindern hat er nur noch selten Kontakt. „Na ja, der Alkohol... wie?... Du bist Arzt?, kann ich nicht was machen gegen Alkoholismus? Mein Arzt sagt immer nur, dass ich nicht so viel saufen soll. Da gehe ich jetzt nicht mehr hin. So, da sind wir schon, war mir ein Vergnügen, mit einem so gut Russisch sprechenden Deutschen spazieren zu gehen.“
So ein Schmeichler, dieser alte Trunkenbold! Der nette Kerl reicht mir die nicht ganz hygienisch reine Hand und will die meine (die ich dann doch gleich mal waschen werde) gar nicht mehr loslassen, bis Marina mich umarmt und ins Haus bittet. Michael muss aber draußen bleiben.
Es ist ein herrlicher Abend. Wer Marina schon einmal erlebt hat, kann erahnen, dass sie nicht nur eine ehemalige Universitätsdozentin für russische Sprache und Literatur ist, sondern auch eine hervorragende Köchin. Und so kommt, was kommen muss: der Tisch scheint sich unter den vielen Tellern und Schüsseln mit Spezialitäten aus Kirgistan (da stammen Marina und ihr Mann Anatoli her) und nach eigenen Marina-Rezepten bereiteten Speisen bedrohlich zu biegen. Müßig zu erwähnen, dass es natürlich ganz ausgezeichnet schmeckt, besonders die kirgisischen Teigtaschen (die mit Kürbiscreme gefüllten vegetarischen genauso wie die mit Schweinefleisch gefüllten), aber auch die Sommer-Borschtsch-Suppe, die – anders als das winterliche Pendant, nicht mit roten Beeten sondern Weißkohl bereitet wird und somit auch nicht rot, sondern eher grün-gelb ist.
Zur Gesellschaft haben Marina, Anatoli und Sohn Alex sowie die derzeit bei ihnen als Gast wohnende Amerikanerin Lisa noch die Italo-Schweizerin Fabienne geladen. Lingua franca ist Russisch, eine echte Herausforderung, zumal Lisa und Fabienne schon deutlich länger und besser Russisch sprechen als ich. Na, hin und wieder muss ich dann doch auf Englisch ausweichen, als ich mein Projekt in und um Russland herum erläutere.
„Und wer soll das Buch dann lesen?“ Alex glaubt nicht recht, dass solch ein Buch in Deutschland viele Leser finden wird, angesichts der politischen Lage. An der angespannten politischen Lage sind natürlich die Amerikaner Schuld, das höre ich jetzt nicht zum ersten Mal in Kaliningrad. Immer wieder wurde mir hier während meiner bisherigen Aufenthalte von vielen Kaliningradern erklärt, dass die Amerikaner bestimmen, was Europa, also Merkel, zu machen hat.
Erst vormittags sagte noch Ruslan, mit dem ich mir das noch im Bau befindliche neue Fußballstadion und später im alten Stadion die Zweitligapartie Baltika Kaliningrad gegen Kuban Krasnodar anschaute, dass es doch ein Unding sei, dass die NSA das Telefon von Merkel abgehört hat. Aber Merkel könne sich nicht dagegen wehren. „Umso wichtiger, dass wir einfache Menschen uns gut verstehen“, so Ruslan, „von den Politikern ist nicht viel zu erwarten, da geht es vor allem um Macht und Geld.“
Er als Geschäftsmann ist wirklich schlecht auf die Politik zu sprechen, hatte er in den späten 90er Jahren schon sein Büro in Berlin bezugsfertig (Holzhandel), als die russische Seite den Vertrag platzen ließ. Jetzt macht er in Immobilien, doch die Versuche, Deutschen einen Wohnungskauf in Kaliningrad schmackhaft zu machen, laufen eher schleppend: „Die politische Großwetterlage ist gerade nicht besonders günstig“, meint Ruslan.
Beim Abendessen bemüht sich Marina nach Kräften, dem Gespräch stets dann eine Wende zu geben, wenn es um Politik geht. Als Sprachwissenschaftlerin ist ihr nur allzu sehr bewusst, wie unzulänglich Sprache ist, besonders natürlich, wenn man händeringend nach den möglicherweise richtigen Vokabeln sucht. Dann könnte es ja schnell zu mehr oder weniger lustigen Missverständnissen kommen - dann doch lieber über Puschkin oder Tschechow reden. So sind wir uns schließlich einig, dass vor allem der kulturelle Austausch gepflegt werden muss, und es ist nicht zuletzt die Amerikanerin Lisa, die gerade die kulturellen Errungenschaften Europas sehr zu schätzen weiß.
Auch Eugen Zabel wird sicherlich von der kulturellen Kraft Europas überzeugt gewesen sein, als er sich auf der Pariser Weltausstellung im russischen Pavillon über die anstehende Fertigstellung der sibirischen Bahn informierte: „Die Besucher der letzten Pariser Weltausstellung, Sommer 1900, werden sich erinnern, in welcher geschickten und eindrucksvollen Weise die russische Regierung auf dem Völkermarkt, der sich damals an der Seine entwickelt hatte, ein Bild von der großen sibirischen Eisenbahn zu geben wusste. …
Dabei war ein Teil des Gebäudes in eine Eisenbahnhalle verwandelt, in der vier Waggons der Internationalen Schlafwagengesellschaft genau in derselben Einrichtung aufgestellt waren, wie sie schon damals zwischen Moskau und Irkutsk wöchentlich einmal verkehrten. Die Ausführung des Zuges, der vollständig gebrauchsfertig zusammengestellt war, sollte das Publikum an die Vorstellung gewöhnen, daß es keine unmögliche Zumutung bilde, achteinhalb Tage von „Mütterchen“ Moskau bis zur Hauptstadt von Mittelsibirien ohne Unterbrechung auf der Eisenbahn zuzubringen. Gegenwärtig genügen dazu sieben Tage und acht Nächte.“
Der Weg nach Russland führte Zabel im Sommer 1903 dann auch über Königsberg, dem heutigen Kaliningrad. „In meiner Vaterstadt Königsberg i. Pr. verlebte ich nach der Abfahrt von der Station Zoologischer Garten in Berlin zunächst einen Sonntag im Kreise meiner Geschwister und lieben Verwandten. Alles, was Russland und die Entwicklung des Zarenreichs betrifft, findet in der alten ostpreußischen Krönungsstadt naturgemäß ein lebhaftes Echo, denn dort ist ein starkes Bollwerk des Deutschtums gegen den Osten, eine feste Burg vaterländischer Gesinnung und Kultur geschaffen. Gerade die Nähe der russischen Grenze bewirkt es, daß im Schatten des ehrwürdigen Schlosses das Nationalitätsgefühl lebhaft pulsiert und eifrig bedacht ist, das von den Vätern Ererbte rein zu erhalten. Damit hängt es aber auch zusammen, daß man in Königsberg bemüht ist, das östliche Nachbarreich nicht, wie es wohl sonst geschieht, mit billigen Redensarten abzuurteilen, sondern es aus der Eigenart des Landes und seiner Bevölkerung, seiner Geschichte und Charakteranlage wirklich zu verstehen.“
Zabel, der wirklich ein Russland-Versteher war (heute würde man ihn mit dieser Bezeichnung in eine Schublade mit ehemaligen brandenburgischen Ministerpräsidenten oder Russland-Korrespondentinnen mit Kurzhaarfrisuren stecken, die mit bewundernswertem Einsatz in unzähligen Talkshows und Publikationen dafür werben, mit Russland, also Putin, im Gespräch zu bleiben), musste glücklicherweise nicht mehr miterleben, dass im Sommer 1944 seine Heimatstadt, dieses deutsche Bollwerk, von der Royal Airforce in Schutt und Asche gebombt wurde, auch das Schloss, an dessen Stelle in Kaliningrad jetzt ein neues architektonisches „Meisterwerk“ zu besichtigen ist: die Bauruine des monströsen Haus-der Räte, dessen Fertigstellung aufgrund statischer Fehlkalkulationen (vielleicht gab es ja sogar gar keine statischen Berechnungen, wer weiß das schon) schon in den 60er Jahren auf den St.-Nimmerleinstag verschoben wurde und dessen Abriss bisher an den zu hohen Kosten scheiterte.
Immerhin wurde der alte Dom auf der nahegelegenen Pregelinsel, dem ehemaligen Stadtteil Kneiphof, wieder aufgebaut, so dass auch das Kant-Mausoleum seinen würdigen Platz hat. Im Dom kann man täglich Orgelkonzerten lauschen, ein unumgänglicher Programmpunkt jeder Kaliningrad-Reise.
Wer einen besonders kundigen Reiseführer für das ganze Gebiet (Oblast) Kaliningrad sucht, der ist mit Sergej Belantschuk bestens bedient. Mit Sergej verbindet mich nicht nur unser fast gleiches Alter und die Nähe der Geburtsorte (Beelitz bei Potsdam bzw. Berlin-Steglitz), sondern auch die Tatsache, dass wir beide unseren Arztberuf irgendwann gegen eine neue Herausforderung eintauschten. Leider hat Sergej am einzigen für mich verbleibenden Abend nur wenig Zeit („Ich bin etwas müde, war gerade 10 Stunden lang mit einer Gruppe unterwegs auf Exkursion“), redet sich dann aber doch langsam warm und ist kaum zu stoppen.
„Diese Russophobie bei Euch ist doch lächerlich. Eure Medien machen Putin für alles verantwortlich, was in der Welt passiert. Wenn irgendwo ein Blitz einschlägt oder jemand stolpert und sich etwas bricht, ist immer Putin Schuld.“ Sergej ist natürlich nicht einseitig informiert, er schaut auch häufig deutsches oder polnisches Fernsehen. „Die Informationen schwingen wie ein Pendel hin und her, die Wahrheit liegt wohl irgendwo in der Mitte.“
Die politische Eiszeit berührt auch Sergejs Tätigkeit als Reiseführer. „In den 90er Jahren gab es noch ein Tragflächenboot von Elbing nach Kaliningrad, da kamen viele Polen. Jetzt sind es viel weniger“. Meine Frage, ob es denen vielleicht zu unsicher in Kaliningrad sei, lässt Sergej offensichtlich an meinem Verstand zweifeln. „Unsicher..., in Polen ist es doch viel unsicherer als bei uns. Lass dort mal so ein teures Auto wie das dort vorne einfach so auf der Straße stehen. Das steht da nicht lange. Hier bei uns gibt es so gut wie keine Diebstähle, auch keine Überfälle. Nein, Kaliningrad ist viel sicherer als Polen. Nur einmal, da hat sich ein Amerikaner eine blutige Nase geholt, der hatte mit Fremden viel Wodka getrunken. Nun, dann hat er Schläge bekommen von irgendwelchen Typen, vielleicht, weil er Amerikaner war.“
Mit Polen gibt es aber keine Probleme, mit Litauern sowieso nicht, die ja alle Russisch sprechen und mit dem Auto kommen und somit keine Kundschaft für Sergej sind. Sergej macht auch Touren nach Litauen und Polen. Dabei fällt auf, dass es in der letzten Zeit gerade an der Grenze zu Polen viele Schikanen gibt.
„Neulich an der Grenze nach Goldap, als nur unser Auto dort war, hat es mehr als anderthalb Stunden gedauert. Früher konnte man Scherze machen, ich spreche ja akzentfrei polnisch. Auf die Frage, warum ich so gut Polnisch spräche, habe ich geantwortet, dass ich natürlich ein russischer Spion bin, und alle haben gelacht. Diese Zeiten sind vorbei. Na, statt der Polen kommen jetzt mehr Russen, viele von weit her, Magadan, Wladiwostok, und und und.“
Sergej glaubt nicht, dass sich die Lage zwischen Russland und dem Westen in der nächsten Zeit entspannen wird. Auch nicht angesichts der nahenden Fußball-Weltmeisterschaft. „Deswegen erst recht nicht, was war denn 1980? Da haben die Amerikaner – und mit ihnen fast der ganze Westen - die Olympiade in Moskau boykottiert. Das kann bei der WM auch so kommen.“ Da frage ich mich doch, ob die US-Amerikaner die WM etwa aus politischen Gründen boykottieren und dabei unter anderem von den Italienern und Holländern unterstützt werden?
Wenn es nach ihm ginge sollte Kaliningrad die WM allerdings sowieso lieber absagen. „Eine Schnapsidee, das neue Stadion mitten auf eine Insel im Pregel zu bauen. Das Ding wird absaufen und wir haben ein neues Haus der Räte, Nr. 2. Brauchen tut das Stadion auch keiner, es wird auch nach der WM noch sehr viel Geld kosten. Da werden Milliarden versenkt, während in Afrika Tausende von Kindern verhungern.“ Nein, auf den Stadionneubau ist Sergej wirklich nicht gut zu sprechen. „Wenigstens kommt jetzt der neue Flughafen, das wurde auch höchste Zeit.“
Wir verabreden uns schließlich zu einem guten Abendessen mit Wodka, wenn ich das nächste Mal nach Kaliningrad komme, und dann rauscht Sergej mit seinem Kleinbus davon (nicht, ohne mir vorher noch zu versprechen, dass er mir die Adresse seines Bruders in Wladiwostok mailen wird, „für alle Fälle, sicher ist sicher“).
Nach einer eher kurzen Nacht besteige ich am nächsten Morgen kurz vor 7.00 Uhr den Bus nach Klaipeda, Litauen. Eine wunderschöne Strecke, auch wenn auf dem Weg nach Selenogradsk, dem alten Ostseebad Cranz, noch nichts von den wilden Lupinen zu sehen ist, die wohl in wenigen Wochen wieder überall am Wegesrand blühen werden.
Am Ortsrand von Selenogradsk wird man von mehreren Blöcken moderner Neubauten empfangen, eine beliebte Wohngegend vieler Menschen, die täglich nach Kaliningrad zur Arbeit pendeln. Mal mehr, mal weniger Stau! Ansonsten ist Selenogradsk aber ein schönes kleines Städtchen, dessen Altstadt mit einigen guten Hotels und Ferienwohnungen sowie dem angrenzenden Stadtpark und dem ostwärts - also Richtung Kurischer Nehrung - liegenden schönen Sandstrand durchaus zu einem Kurzurlaub einlädt.
Mein Bus fährt aber nach kurzem Halt am Bahnhof weiter, jetzt rauf auf die Kurische Nehrung, den schmalen, knapp 100 Kilometer langen Streifen zwischen Ostsee und Haff, der früher ob seiner vielen Sanddünen auch als deutsche Sahara bezeichnet wurde. Wer noch nicht hier war, der sollte schleunigst seine Sachen packen und anreisen. Wer schon hier war, der kommt sowieso wieder.
Das Weltkulturerbe Kurische Nehrung wird ziemlich mittig geteilt, im Süden der russische Oblast Kaliningrad, im Norden Litauen. Die wandernden Sanddünen haben früher hier viele Dörfer begraben, deren Bewohner dann in der Nähe neue Dörfer erbauten, und das nicht nur einmal.
Dem Dünenmeister Wilhelm Franz Epha gelang es schließlich im 19. Jahrhundert, dem Wandern der Dünen durch Bepflanzung Einhalt zu gebieten, was die Dörfer vor dem Untergang bewahrte und Epha ein Ehrengrab auf dem Friedhof Rossitten bescherte (was man auch heute noch besichtigen kann, wenn man es nach langer Suche im Wald endlich gefunden hat). So mancher Besucher der größten Düne im russischen Teil der Kurischen Nehrung mag allerdings darüber rätseln, warum diese Düne, die einen herrlichen Ausblick auf Meer und Haff gewährt, jetzt wohl Epha-Düne heißt.
Rossitten (das heutige Rybatschi) ist der einen oder anderen Leserin wohl als Standort der berühmten Vogelwarte bekannt, deren Besuch bei einer Tour auf die Kurische Nehrung nicht versäumt werden sollte.
Fährt man wie ich im Bus (und kann nicht mal so eben einfach aussteigen) Richtung Litauen, sieht man vor lauter Wald und Dünen die linker Hand gelegene Ostsee leider überhaupt nicht, und das Haff wird erst sichtbar, wenn man hinter Morskoje, dem alten Pillkoppen, die Grenze nach Litauen überschritten hat und in Nida angekommen ist.
Der nördliche und östliche Teil der russischen Exklave Kaliningrad grenzt an Litauen, wobei ein nicht geringer Teil der 227 km langen Landesgrenze inmitten der Memel liegt.
Nida
In Nida (Nidden) bin ich mit Kazimieras Mizgiris verabredet, dessen erste große Leidenschaft man mit einem kurzen Spaziergang von Nidas Bushaltestelle schnell erreichen kann: Sanddünen. Kazimieras ist Fotograf und liebt Sanddünen so sehr, dass er am liebsten alle Sanddünen dieser Welt fotografieren möchte. Seit Jahren schon verbringen er und seine Frau die Winter in Ägypten (wo es wohl auch ein bisschen Sand geben soll), jetzt träumt er von einer Reise nach Namibia, da gäbe es besonders schöne Dünen. Wo es allerdings die allerschönsten Dünen gibt, nun, da lässt Kazimieras keinen Zweifel aufkommen: natürlich hier, auf der Kurischen Nehrung.
Seit es ihn 1969 hierher verschlagen hat, zuerst nach Juodkrante, also Schwarzort, und dann 1973 nach Nida, bestimmen die Dünen einen Teil seines Lebens. „Ich bin ja nicht der berühmteste Dünenfotograf der Welt, aber ich habe schon viele Medaillen, wie bei der Olympiade, bei internationalen Ausstellungen gewonnen.“ Zu Sowjetzeiten, als Angestellter eines Fotokombinats („es gab ja nicht die Möglichkeit, selbstständig zu arbeiten“), lebte er davon, Touristen aus allen Teilen der Sowjetunion in den Dünen, vor einem Fischer- oder dem Thomas Mann Haus zu fotografieren. „Nachts habe ich dann mit meinem Kollegen im Labor die Fotos entwickelt, das war eine gute Arbeit, morgens bekamen dann die Touristen die Fotos. Es gab damals nur wenig Übernachtungsmöglichkeiten, keine großen Hotels.“
Viel wichtiger als die Fotos mit Touristen war es ihm aber, die Dünen künstlerisch darzustellen.
„Die größte Veränderung nach der Unabhängigkeit Litauens war die gewonnene Freiheit, jetzt konnte man eigene Initiative(n) zeigen, seine Ideen und Wünsche verwirklichen. Ich konnte ein Museum eröffnen und ein Künstlerhaus bauen, Künstler unterstützen, Bücher publizieren. Das fing damit schon in der Wendezeit an. Gerhard Rautenberg, ein Verleger aus Leer, machte damals in Schwarzort Urlaub, sah meine im Hotel Ąžuolynas ausgestellten Bilder und hat sofort angeboten, ein Buch damit herauszugeben. Litauen war noch nicht frei und er hat meine Negative hinaus geschmuggelt.