Das Buch
Ein halbes Jahrhundert nach der Entscheidungsschlacht hält der Waffenstillstand mit den Trisolariern immer noch stand. Die Hochtechnologie der Außerirdischen hat der Erde zu neuem Wohlstand verholfen, auch die Trisolarier haben dazugelernt, und eine friedliche Koexistenz scheint möglich. Der Frieden hat die Menschheit allerdings unvorsichtig werden lassen. Als mit Cheng Xin eine Raumfahrtingenieurin des 21. Jahrhunderts aus dem Kälteschlaf erwacht, bringt sie das Wissen um ein längst vergangenes Geheimprogramm in die neue Zeit. Wird die junge Frau den Frieden mit Trisolaris ins Wanken bringen – oder wird die Menschheit die letzte Chance ergreifen, sich weiterzuentwickeln?
»Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich tue, und lesen Sie Cixin Liu!« Denis Scheck, Druckfrisch
»Cixin Liu ist der chinesische Arthur C. Clarke.« The New Yorker
Der Autor
Cixin Liu ist einer der erfolgreichsten chinesischen Science-Fiction-Autoren. Er hat lange Zeit als Ingenieur in einem Kraftwerk gearbeitet, bevor er sich ganz seiner Schriftstellerkarriere widmen konnte. Seine Romane und Erzählungen wurden bereits viele Male mit dem Galaxy Award prämiert. Cixin Lius Roman Die drei Sonnen wurde 2015 als erster chinesischer Roman überhaupt mit dem Hugo Award ausgezeichnet und wird international als ein Meilenstein der Science-Fiction gefeiert.
Mehr über Cixin Liu und sein Werk auf:
Cixin Liu
JENSEITS DER ZEIT
Roman
Aus dem Chinesischen von
Karin Betz
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Die Originalausgabe ist unter dem Titel SISHEN YONGSHENG ( ) bei Chongqing Publishing Group in Chongqing, China, erschienen.
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Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Übersetzerfonds e.V.
für die Förderung durch ein Arbeitsstipendium und dem TOLEDO e.V. für ein Aufenthaltsstipendium im Übersetzerhaus Looren.
Redaktion: Catherine Beck
Copyright © 2010 by Cixin Liu ( )
German rights authorized by China Education Publications
Import & Export Corp., Ltd.
Co-published by Hunan Science & Technology Press
Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlagillustration: Stephan Martinière
Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-17459-0
V005
diezukunft.de
Inhalt
Personenverzeichnis
Übersicht der Zeitalter
Prolog
ERSTER TEIL
ZWEITER TEIL
DRITTER TEIL
VIERTER TEIL
FÜNFTER TEIL
SECHSTER TEIL
Erläuterungen zu Schreibweise und Aussprache
Anmerkungen
Personenverzeichnis
Chinesische Namen bestehen aus einem meist einsilbigen Familiennamen und einem Vornamen. Der Familienname wird immer zuerst genannt, dann der Vorname.
Organisationen
ETO |
Erde-Trisolaris-Organisation |
ESF |
Erdsicherheitskräfte (Earth Security Force) |
PDC |
Planetenverteidigungsrat (Planetary Defence Council) |
PIA |
Planetarer Geheimdienst (Planetary Intelligence Agency) |
Personen
Yang Dong |
Astrophysikerin und Tochter von Ye Wenjie, der Entdeckerin der Trisolarier |
Cheng Xin |
Raumfahrtingenieurin und Schwerthalterkandidatin |
Yun Tianming |
Ehemaliger Studienkollege von Cheng Xin, todkrank |
Thomas Wade |
Direktor der PIA |
Tomoko |
Android, diplomatische Vertretung der Trisolarier auf der Erde |
AiAA |
Astrophysikerin und Gefährtin von Cheng Xin |
Luo Ji |
Ehemaliger Wandschauer, jetzt Schwerthalter |
Guan Yifan |
Astrophysiker auf der Gravitation |
Übersicht der Zeitalter
Zeitalter der Krise |
201X – 2208 |
Zeitalter der Abschreckung |
2208 – 2270 |
Post-Abschreckungszeitalter |
2270 – 2272 |
Zeitalter der Übertragung |
2272 – 2332 |
Zeitalter der Bunker |
2333 – 2400 |
Zeitalter der Milchstraße |
2273 – unbekannt |
Schwarze Domäne der Galaxie DX3906 |
2687 – 18.906.416 |
Zeitachse des Universums 647 |
Beginnt 18.906.416 |
Prolog
Auszug aus dem Vorwort zu Eine Vergangenheit außerhalb der Zeit
Eigentlich sollte es Geschichte heißen, doch da die Verfasserin sich ausschließlich auf ihr Gedächtnis verlassen muss, mangelt es diesen Aufzeichnungen an historischer Genauigkeit.
Selbst von Vergangenheit zu sprechen trifft es nicht ganz, denn das alles ist nicht in der Vergangenheit passiert, es passiert auch nicht jetzt oder in der Zukunft.
Ich möchte keine Details auflisten, nur den Rahmen für etwas Geschichtliches oder etwas Vergangenes abstecken. Überlieferte Details gibt es bestimmt schon in Hülle und Fülle. Hoffentlich werden sie als Flaschenpost das neue Universum erreichen und dort fortbestehen.
Ich schaffe also nur einen Rahmen, in den eines Tages sämtliche Details hineingepackt werden können. Nicht von uns natürlich. Doch hoffentlich von irgendwem, irgendwann.
Schade nur, dass dieses Irgendwann weder in der Vergangenheit, noch in der Gegenwart oder der Zukunft liegt.
Ich verrücke die Sonne etwas nach Westen, und durch den veränderten Einfallswinkel der Sonnenstrahlen funkeln die Tautropfen auf den Sprösslingen, als öffneten sich mit einem Mal unzählige Augen. Ich dimme das Sonnenlicht ein wenig, lasse die Dämmerung früher einsetzen und betrachte meine Silhouette am fernen Horizont. Ich hebe die Hand und winke. Und die Silhouette vor der Sonne winkt zurück. Beim Anblick dieser Silhouette fühle ich mich ziemlich jung.
Das ist eine gute Zeit. Der perfekte Moment, um sich zu erinnern.
ERSTER TEIL
Mai 1453
Der Tod der Hexe
Konstantin XI. hielt kurz inne, dann schob er den Haufen mit den Plänen zur Verteidigung der Stadt von sich weg und verharrte still an seinem Schreibtisch.
Sein Zeitgefühl war ausgezeichnet: Die Erschütterung trat ein wie erwartet, so heftig und mächtig, als dränge sie aus den Tiefen der Erde herauf. Sie ließ den silbernen Lüster erzittern, und eine Staubschicht wehte von ihm herab, die sich wohl schon seit tausend Jahren über den Palast von Konstantinopel gelegt hatte. Der Staub fiel in die Flamme der Kerze und erzeugte dort sprühende Funken. Alle drei Stunden – so lange dauerte es, um die von einem Ingenieur namens Urban entwickelten Kanonen nachzuladen – schlugen die sechshundert Kilogramm schweren Geschosse gegen die Mauern Konstantinopels. Das waren die solidesten Befestigungsanlagen der Welt. Im fünften Jahrhundert von Theodosius II. errichtet, waren sie immer weiter verstärkt und vergrößert worden. Vor allem ihnen war es zu verdanken, dass das Byzantinische Reich so vielen mächtigen Feinden standgehalten hatte.
Doch mit jedem Treffer meißelten die gigantischen Steinkugeln klaffende Scharten in diese Mauern, die wie die Bisse eines Riesen aussahen. Dem Kaiser stand die Szene lebhaft vor Augen: Noch während die Trümmer der Explosion durch die Luft flogen, rannten Soldaten und Stadtvolk zu den Rissen und bemühten sich wie ein Haufen heroischer Ameisen, sie irgendwie zu stopfen, mit Mauerwerk und Holzpfeilern von den Häusern der Stadt, mit Leinensäcken voll Erde und wertvollen arabischen Wandteppichen … Selbst die enorme Staubwolke konnte er sich vorstellen, die vor dem Licht der untergehenden Sonne Richtung Stadt waberte und Konstantinopel in ein goldenes Leichentuch hüllte.
Seit Beginn der Belagerung vor fünf Wochen erfolgten die Erschütterungen sieben Mal am Tag, so regelmäßig wie der Glockenschlag einer gewaltigen Uhr. Sie läuteten ein neues Zeitalter ein, das Zeitalter der Heiden. Im Vergleich zu diesem Getöse wirkte das Läuten der Kupferuhr mit dem Doppeladler, die am Eckturm der Mauer die Zeit der Christenheit anzeigte, geradezu kraftlos.
Die Vibrationen versiegten, und Kaiser Konstantin zwang seine Gedanken wieder in die unmittelbare Realität zurück. Er signalisierte der Wache, dass er nun bereit war, den vor der Tür wartenden Besucher zu empfangen. Sein Vertrauter Sphrantzes betrat den Raum, in Begleitung einer schlanken, zerbrechlich wirkenden Gestalt.
»Euer Majestät, hier bringe ich Ihnen Theodora.« Sphrantzes trat zur Seite, um den Blick auf die Frau freizugeben.
Der Kaiser betrachtete sie. Die adligen Damen Konstantinopels bevorzugten Kleider, die mit schwerer Stickerei bedeckt waren, im Gegensatz zur schlichten, knöchellangen weißen Kleidung der einfachen Leute. Doch diese Frau trug beides. Statt der üblichen bestickten Tunika hatte sie ein langes, weißes Gewand an und darüber einen eleganten, kostbaren Umhang, der jedoch nicht die dem Adel vorbehaltenen Lila- und Rottöne aufwies, sondern von gelber Farbe war. Sie hatte ein entzückendes, sinnliches Gesicht, das an eine Blume erinnerte, die lieber bei der Zurschaustellung ihrer Pracht verrottete, als einsam vor sich hin zu welken. Eine Prostituierte der besseren Sorte. Sie hielt den Blick gesenkt und zitterte am ganzen Körper, doch Konstantin bemerkte den fiebrigen Glanz ihrer Augen, der von einem in ihren Kreisen seltenen, leidenschaftlichen Eifer kündete.
»Du behauptest also, über magische Kräfte zu verfügen?«, sprach der Kaiser sie an, bestrebt, diese Angelegenheit möglichst schnell hinter sich zu bringen.
Sphrantzes war für gewöhnlich ein untadeliger Mann. Unter den achttausend Soldaten, die gegenwärtig zur Verteidigung Konstantinopels im Einsatz waren, stammte ein kleiner Teil von der Armee, und zweitausend waren genuesische Söldner. Die Übrigen waren von Sphrantzes nach und nach aus den Reihen der Stadtbewohner rekrutiert worden. Sein aktuelles Anliegen interessierte den Kaiser zwar nur mäßig, doch aufgrund seiner Stellung hatte Sphrantzes es verdient, wenigstens angehört zu werden.
»Ja, ich kann den Sultan töten«, antwortete Theodora und kniete sich vor ihn hin. Ihre Stimme zitterte wie Spinnfäden im Wind.
Vor fünf Tagen war Theodora vor den Toren des Palasts aufgetaucht und hatte verlangt, den Kaiser zu sprechen. Als die Wachen sie fortjagen wollten, hielt sie ihnen rasch einen kleinen Gegenstand hin. Zwar konnten die Männer nicht genau erkennen, was es war, aber sie wussten, dass es nicht in ihre Hände gehörte. Statt zum Kaiser brachten sie die Frau ins Gefängnis, wo sie so lange verhört wurde, bis sie verriet, wie sie an den Gegenstand gelangt war. Nachdem ihr Geständnis überprüft worden war, hatte man sie Sphrantzes vorgeführt.
Sphrantzes wickelte nun den Gegenstand aus dem Leinentuch und legte ihn vorsichtig vor seinem Herrscher auf den Tisch.
Der Kaiser war ähnlich verblüfft wie die Wachen einige Tage zuvor. Im Gegensatz zu diesen wusste er jedoch sofort, worum es sich handelte. Es war ein Kelch aus purem Gold, an der Außenseite mit Edelsteinen verziert und von atemberaubender Schönheit. Der Kelch stammte aus der Zeit Kaiser Justinians. Neunhundertsechzehn Jahre zuvor war er als einer von zwei Kelchen angefertigt worden, die sich nur durch die Anordnung und den Schliff ihrer Edelsteine voneinander unterschieden. Einer davon war im Besitz der byzantinischen Kaiser verblieben, während der zweite im Jahr 537 nach Christus zusammen mit anderen Schätzen beim Wiederaufbau der Hagia Sophia in einer verborgenen Kammer im Fundament der Kirche eingemauert worden war.
Der Kelch im Palast, mit dem der Kaiser wohlvertraut war, hatte im Lauf der Jahrhunderte etwas von seinem blendenden Glanz eingebüßt, doch dieser hier strahlte so herrlich, als sei er erst gestern gefertigt worden.
Zunächst hatte niemand Theodoras Geschichte Glauben geschenkt, und man war sicher, dass sie den Kelch einem ihrer reichen Gönner gestohlen haben musste. Viele wussten von der verborgenen Kammer unter der Kirche, doch kaum einer vermochte zu sagen, wo genau sie zu finden war. Zudem lag sie unzugänglich unter Grundsteinen, die so groß und schwer waren wie die der Cheopspyramide. Es galt gemeinhin als unmöglich, ohne großen bautechnischen Aufwand in sie hineinzugelangen.
Vor vier Tagen hatte der Kaiser jedoch befohlen, die kostbaren Schätze der Stadt zu bergen, damit sie im Fall der Eroberung Konstantinopels nicht dem Feind in die Hände fielen. Was natürlich eine reine Verzweiflungstat war, denn der Kaiser wusste nur zu gut, dass die Türken alle Wege hinaus aus der Stadt abgeschnitten hatten und er unmöglich mit den Schätzen würde fliehen können.
Erst nach drei Tagen ununterbrochener Plackerei war es dreißig Mann gelungen, sich in die verborgene Kammer vorzuarbeiten. In der Mitte des Raums hatte ein schwerer, steinerner Sarkophag gestanden, verschlossen mit zwölf dicken Bandeisen. Sie durchzusägen hatte fast einen weiteren Tag gedauert. Schließlich konnten fünf Männer unter strenger Aufsicht zahlreicher Wachen den Deckel abheben.
Was die Anwesenden jedoch mehr erstaunte als der Anblick der seit tausend Jahren verschlossenen Reliquien und Schätze, war das halbe Bündel Trauben, das obenauf thronte.
Theodora hatte zu Protokoll gegeben, fünf Tage zuvor Trauben im Sarkophag hinterlassen zu haben, von denen alle bis auf sieben gegessen waren.
Die Arbeiter verglichen den Inhalt des Sarkophags mit der Liste der Gegenstände, die auf einer Kupferplatte im Inneren des Sargdeckels eingeprägt war. Einzig der Kelch fehlte. Hätte Theodora den Kelch nicht bereits präsentiert und seine Herkunft bezeugt, hätten alle Anwesenden mit ihrem Leben für den Verlust bezahlt, und wenn sie noch so sehr beschworen hätten, dass Kammer und Sarkophag bei ihrer Ankunft intakt gewesen seien.
»Wie bist du an diesen Kelch gekommen?«, fragte der Kaiser sie.
Theodora zitterte noch stärker als zuvor. Offenbar erfüllten sie ihre Zauberkräfte nicht mit Selbstvertrauen. Mit angstgeweiteten Augen starrte sie den Kaiser an. »Diese Orte … sind für mich …« Sie stammelte und schien um das passende Wort zu ringen. »… offen.«
»Beweise es mir. Hole etwas aus einem verschlossenen Behälter.«
Entsetzt schüttelte sie den Kopf und sah Sphrantzes Hilfe suchend an.
»Sie behauptet, dass sie ihre magischen Kräfte nur an einem bestimmten Ort entfalten kann, den sie jedoch nicht verraten darf. Und falls ihr jemand dorthin folgen sollte, wäre der Zauber für immer gebrochen.«
Theodora nickte bekräftigend.
Der Kaiser schnaubte verächtlich. »Eine wie die hätte man in Spanien längst auf dem Scheiterhaufen verbrannt.«
Theodora sank zu Boden und kauerte sich zusammen wie ein Kind.
»Weißt du, wie man jemand tötet?«, hakte der Kaiser nach.
Unfähig zu sprechen, hockte sie bloß zitternd da, und Sphrantzes musste ihr gut zureden, bis sie schließlich bejahte.
»Gut«, sagte der Kaiser. »Prüfe sie.«
Sphrantzes führte Theodora eine lange Treppe hinab. Auf jedem Absatz flackerten Fackeln, unter denen jeweils zwei Wachen postiert waren. Der schwache Lichtschein wurde von ihren Rüstungen reflektiert und tanzte in unruhigen Mustern über die Wände.
Schließlich erreichten sie ein dunkles Kellerverlies, in dem das Eis für die Kühlung des Palasts im Sommer aufbewahrt wurde. Theodora zog den Umhang fester um sich.
Doch im Moment lagerte hier kein Eis. Stattdessen hockte ein Gefangener unter einer Fackel in der Ecke, seiner Kleidung nach zu urteilen ein anatolischer Offizier. Wie ein zorniger Wolf starrte er Theodora und Sphrantzes durch die Gitterstäbe an.
»Siehst du diesen Mann?«, fragte Sphrantzes.
Sie nickte.
Er reichte ihr einen Sack aus Lammfell. »Du kannst jetzt gehen. Wir erwarten dich bis zum Morgengrauen mit seinem Kopf zurück.«
Theodora zog einen Krummsäbel heraus, der im Fackelschein wie eine silberne Mondsichel schimmerte, und gab ihn Sphrantzes zurück. »Den brauche ich nicht.«
Anschließend stieg sie lautlos die Treppe hinauf. Jedes Mal, wenn sie kurz im Licht der Fackeln auftauchte, schien sie eine neue Gestalt anzunehmen – die einer Frau oder die einer Katze –, bis sie schließlich außer Sicht war.
Sphrantzes wandte sich an eine der Wachen. »Holt Verstärkung«, sagte er und deutete auf den Gefangenen. »Lasst ihn keine Sekunde aus den Augen.«
Nachdem die Wache gegangen war, winkte er aus der Dunkelheit einen Mann zu sich heran, der in eine schwarze Mönchskutte gehüllt war. »Halte Abstand«, sagte Sphrantzes. »Besser, du verlierst sie aus den Augen, als dass sie dich bemerkt.«
Der Mönch nickte und ging genauso lautlos wie zuvor Theodora die Treppe hinauf.
Konstantin XI. schlief in dieser Nacht nicht besser als in all den anderen Nächten seit Beginn der Belagerung. Sobald er einschlief, schreckten ihn die Erschütterungen durch den Beschuss des Feinds wieder auf. Noch vor Sonnenaufgang ging er in seine Bibliothek, wo Sphrantzes ihn bereits erwartete. Die Hexe hatte er schon wieder vergessen. Im Unterschied zu seinem Vater Manuel II. und seinem älteren Bruder Johannes VIII. war er ein praktisch denkender Mensch und wusste, dass diejenigen, die ihr Heil in Wundern suchten, allzu oft nur ihr eigenes frühzeitiges Ende heraufbeschworen.
Sphrantzes winkte in Richtung Tür, und Theodora schlich herein. Die Hand, in der sie den Lammfellsack hielt, zitterte. Sofort erkannte der Kaiser, dass er seine Zeit verschwendet hatte. Der Sack war weder ausgebeult noch sickerte Blut aus ihm. Ein abgeschlagener Kopf befand sich sicher nicht darin. Doch Sphrantzes’ Gesicht verriet keinerlei Enttäuschung. Er wirkte eher verstört, wie ein Schlafwandler.
»Sie bringt nicht das, was wir von ihr wollten, oder?«, fragte Konstantin.
Wortlos nahm Sphrantzes Theodora den Sack aus der Hand, legte ihn vor dem Kaiser auf den Tisch und öffnete ihn. Er starrte seinen Herrscher an wie einen Geist. »Nein, Majestät, aber beinahe.«
Konstantin XI. warf einen Blick in den Sack, in dem etwas Gräuliches, Schwammiges lag, das wie alter Ziegentalg aussah. Sphrantzes reichte ihm den Kandelaber.
»Es ist das Gehirn des Anatoliers.«
»Sie hat ihm den Schädel gespalten?« Konstantin sah Theodora an, die sich wie ein ängstliches Mäuschen in ihrem Umhang verbarg.
»Nein, der Körper des Gefangenen war äußerlich unversehrt. Ich habe ihn von zwanzig Mann bewachen lassen, immer fünf gleichzeitig, und auch die Wachen an der Tür waren besonders aufmerksam, keine Mücke wäre da hineingekommen.« Sphrantzes zuckte zusammen, als fürchtete er sich vor seinen Erinnerungen.
Der Kaiser bedeutete ihm mit einem Nicken, er solle fortfahren.
»Zwei Stunden nachdem sie gegangen war, wand sich der Gefangene plötzlich und fiel tot um. Unter den Zeugen waren ein griechischer Arzt und Veteranen aus vielen Schlachten, doch nie hatten sie jemanden so sterben sehen. Eine Stunde später kam sie zurück und zeigte ihnen den Sack. Daraufhin öffnete der griechische Arzt den Schädel des Toten. Das Gehirn fehlte.«
Konstantin sah sich den Inhalt des Beutels genauer an. Ein Gehirn, zweifellos, vollständig und ohne erkennbare Schäden. Das empfindliche Organ schien mit großer Sorgfalt entfernt worden zu sein. Der Kaiser betrachtete Theodoras Hände und stellte sich vor, wie sie die schlanken Finger nach einem Pilz im Gras ausstreckte oder eine Blüte von einem Zweig pflückte …
Er hob den Blick von dem Beutel und starrte die Wand an, als sähe er dahinter etwas am Horizont aufsteigen. Schon wieder erbebte der Palast unter der Wucht eines Treffers, doch zum ersten Mal spürte der Kaiser nicht die Erschütterung.
Wenn es tatsächlich Wunder gibt, dann ist ihre Zeit jetzt gekommen.
Konstantinopel befand sich in einer verzweifelten Lage, aber es bestand noch kein Grund, die Hoffnung aufzugeben. In den fünf Wochen voller blutiger Gefechte hatte auch der Feind große Verluste hinnehmen müssen. Mancherorts türmten sich die Leichen türkischer Soldaten haushoch, und die Angreifer waren ebenso erschöpft wie die Verteidiger. Vor wenigen Tagen hatte eine tapfere Flotte Genueser die Blockade am Bosporus durchbrochen, war ins Goldene Horn vorgedrungen und hatte die belagerte Stadt mit wertvollen Vorräten und Hilfsmitteln versorgt. Alle glaubten, dass sie nur die Vorhut einer größeren Armee waren, die das christliche Abendland zu ihrer Unterstützung schickte.
Im Heerlager der Osmanen herrschte Kriegsmüdigkeit, und von den Kommandeuren hätten viele gern das byzantinische Waffenstillstandsangebot angenommen und den Rückzug angetreten. Dass sie weiter ausharrten, lag nur an einer Person.
Jener Mann, der fließend Latein sprach, in den Künsten und der Wissenschaft bewandert und noch dazu ein versierter Krieger war, hatte ohne mit der Wimper zu zucken seinen eigenen Bruder in einer Badewanne ertränkt, um sich den Thron zu sichern. Und er hatte vor den Augen seiner Truppen ein schönes Sklavenmädchen enthaupten lassen, um zu demonstrieren, dass er sich nicht von Fleischeslust ablenken ließ. Dieser Mann war die Achse, um die sich die riesige, brutale osmanische Kriegsmaschinerie drehte. Wenn er nicht mehr war, würde ihre Einheit auseinanderbrechen.
Vielleicht ist ja wirklich ein Wunder möglich.
»Warum willst du das tun?«, fragte Konstantin XI., den Blick noch immer fest auf die Wand gerichtet.
»Ich möchte eine Heilige werden.« Theodora hatte offenbar nur auf diese Frage gewartet.
Konstantin nickte. Das schien ein glaubwürdiger Grund zu sein. Mit Geld oder Kostbarkeiten konnte man diese Frau nicht reizen. Da kein Schloss zu kompliziert und kein Gewölbe tief genug war, um sie aufzuhalten, konnte sie sich einfach nehmen, was sie wollte. Doch natürlich würde es einer Prostituierten gefallen, eine Heilige zu sein.
»Bist du eine Nachfahrin der Kreuzritter?«
»Ja, Euer Majestät«, erwiderte sie und fügte vorsorglich hinzu: »Aber keiner aus meiner Familie hat am Vierten Kreuzzug teilgenommen.«
Der Kaiser legte Theodora eine Hand auf den Kopf, und sie sank langsam auf die Knie.
»Geh, mein Kind. Wenn du Mehmed II. tötest, wirst du Konstantinopels Erlöserin sein und bis in alle Ewigkeit verehrt werden, als Heilige in einer Heiligen Stadt.«
Als der Abend dämmerte, ging Sphrantzes mit Theodora zur Stadtmauer und führte sie zum St.-Romanus-Tor hinaus. Der Sand unmittelbar vor der Befestigungsanlage war schwarz vom Blut der Gefallenen. Überall lagen Leichen verstreut, als wären sie vom Himmel herabgeregnet. In einiger Entfernung trieb der weiße Rauch aus den gerade abgefeuerten Riesenkanonen über das Schlachtfeld. Er war das Einzige, was dort lebendig wirkte. Dahinter erstreckte sich das Lager der Osmanen, so weit das Auge reichte, ein dichter Wald aus Flaggen, die unter dem bleifarbenen Himmel in der feuchten Meeresbrise flatterten.
In der anderen Richtung lagen die osmanischen Kriegsschiffe. Von Weitem sahen sie aus wie schwarze Eisennägel, die dicht an dicht ins blaue Meer genagelt den Seezugang bewachten.
Theodora schloss vor diesem Anblick die Augen. Das ist mein Schlachtfeld und mein Krieg. Erinnerungen an die Legenden ihrer Kindheit und die unzähligen Geschichten ihres Vaters über ihre Vorfahren tauchten vor ihr auf: In Europa, auf der anderen Seite des Meers, hatte sich auf ein Dorf in der Provence eines Tages eine Wolke herabgesenkt. Ein Heer von Kindern marschierte aus der Wolke heraus, mit roten Kreuzen auf der Rüstung und angeführt von einem Engel. Ihr Urahn, der aus diesem Dorf stammte, folgte ihrem Ruf und wurde ein Streiter für Gott im Heiligen Land. Schnell stieg er zu einem Tempelritter auf. Später kam er nach Konstantinopel, wo er sich in eine schöne Frau verliebte, die ebenfalls eine Heilige Kriegerin war. Aus ihrer beider Liebe, so Theodoras Vater, sei ihre glorreiche Familie hervorgegangen …
Erst als Erwachsene erfuhr sie die Wahrheit. Im Grunde stimmte die Geschichte. Ihr Urahn hatte tatsächlich am Kinderkreuzzug teilgenommen, jedoch vor allem, weil er hoffte, nach den Verheerungen der Pest seinen hungrigen Magen füllen zu können. Das Schiff, auf dem er gefahren war, hatte in Ägypten angelegt, wo er zusammen mit Zehntausenden von Kindern als Sklave verkauft wurde. Nach vielen Jahren der Knechtschaft gelang ihm die Flucht, die ihn bis nach Konstantinopel führte, wo er tatsächlich einen weiblichen Tempelritter traf. Sie war um einiges älter als er, doch ihr Schicksal war nicht besser als seines. Das Byzantinische Reich hatte im Kampf gegen die Ungläubigen auf die besten Krieger der Christenheit gehofft. Stattdessen war jedoch eine Armee halb verhungerter Frauen zu ihnen gekommen. Der Hof von Byzanz verweigerte diesen zweifelhaften Heiligen Kriegerinnen die Unterstützung, und die Frauen mussten sich in der Folge als Prostituierte durchschlagen. Darunter auch Theodoras Urgroßmutter …
Über hundert Jahre lang war ihre glorreiche Familie so arm gewesen, dass sie kaum überleben konnte. Die Generation ihres Vaters war noch schlechter dran als die ihres Urgroßvaters. Die hungrige Theodora musste sich mit dem gleichen Beruf über Wasser halten wie einst ihre selige Urahnin, doch als ihr Vater davon erfuhr, drohte er sie umzubringen, sollte er sie noch einmal dabei erwischen … es sei denn, sie bringe ihre Kunden mit nach Hause, wo dann er den Preis verhandeln und das Geld einstecken könne. Verbittert kehrte sie ihm danach den Rücken und ging auf eigene Faust ihrer Tätigkeit nach. Die Geschäfte liefen gut und führten sie bis nach Jerusalem und Trapezunt und einmal sogar mit dem Schiff bis nach Venedig. Sie hatte genug zu essen und kleidete sich gut, doch sie wusste, dass sie nur ein kleines Sumpfgewächs im Morast war, über das die Menschen hinwegtrampelten.
Bis eines Tages ein Wunder geschah.
Anders als die angebliche Jungfrau Johanna von Orléans, die zwanzig Jahre zuvor von Gott nur ein Schwert erhalten hatte, um für ihn zu kämpfen, hatte der Herr sie mit etwas ausgestattet, das sie zur heiligsten Frau nach der Jungfrau Maria machen würde.
»Sieh, dort liegt das Lager Mehmeds II.«
Theodora warf nur einen kurzen Blick in die Richtung und nickte.
Sphrantzes gab ihr einen Beutel aus Ziegenleder. »Hier sind drei Bilder, die ihn von verschiedenen Seiten und unterschiedlich gekleidet zeigen. Außerdem ein Messer. Diesmal wollen wir nicht nur sein Gehirn, sondern den ganzen Kopf. Am besten wartest du bis zum Einbruch der Dunkelheit. Vorher wird er nicht in seinem Lager sein.«
Theodora nahm den Beutel. »Ich hoffe, dass Ihr Euch an meine Warnung erinnert.«
»Keine Sorge.«
Folgt mir nicht. Betretet nicht den Ort, zu dem ich gehen muss. Sonst wird der Zauber auf immer unwirksam sein.
Der als Mönch verkleidete Spion, den Sphrantzes auf sie angesetzt hatte, war ihr vorsichtig und trotz ihrer absichtlich verschlungenen Wege bis in die Vorstadt Blachernae gefolgt, wo die Bombardierung durch die Osmanen am heftigsten war.
Er hatte beobachtet, wie sie die Ruinen eines Minaretts betrat, das einmal zu einer Moschee gehört hatte. Als Konstantin die Zerstörung der Moscheen angeordnet hatte, war dieser Turm verschont geblieben. Seitdem während der letzten Epidemie ein paar Pestkranke in dem Bauwerk untergeschlüpft und gestorben waren, wollte ihm niemand zu nahe kommen. Kurz nach Beginn der Belagerung hatte ein verirrter Kanonenschuss die obere Hälfte des Minaretts weggerissen.
Der Spion hatte sich an Sphrantzes’ Weisung gehalten und das Minarett nicht betreten. Doch er hatte mit zwei Soldaten gesprochen, die vor dem verheerenden Treffer in dem Gebäude gewesen waren. Die erklärten ihm, dass sie ursprünglich einen Wachposten auf dem Turm hätten einrichten wollen, doch er sei zu niedrig und damit als Ausguck ungeeignet. Das Innere sei abgesehen von den Skeletten der dort verendeten Pestkranken völlig leer gewesen.
Diesmal schickte Sphrantzes ihr niemand nach. Er sah Theodora hinterher, wie sie sich ihren Weg durch die Soldaten bahnte, die sich auf der Stadtmauer drängten. Mit ihrem hellen Umhang stach sie zwischen den schmutzigen, blutverkrusteten Rüstungen der Soldaten heraus. Doch keiner der erschöpften Männer beachtete sie, während sie in zunehmender Dunkelheit von der Mauer hinabstieg und offensichtlich direkt nach Blachernae ging.
Konstantin XI. starrte auf den trocknenden Wasserfleck auf dem Boden, der ihm wie ein Sinnbild für seine schwindende Hoffnung erschien.
Er stammte von einem Dutzend Spione, die in der vergangenen Woche in den roten Uniformen der Osmanischen Armee und mit Turbanen auf den Köpfen in einem winzigen Segelboot die Blockade durchbrochen hatten. Sie hatten den Auftrag gehabt, die angeblich herannahende europäische Flotte in Empfang zu nehmen und mit den nötigen Informationen über das feindliche Lager zu versorgen. Doch das Ägäische Meer war leer geblieben, und sie hatten nicht mal einen Schatten von den erwarteten Rettern zu Gesicht bekommen. Enttäuscht waren die Spione wieder umgekehrt und hatten sich erneut durch die Blockade gemogelt, um dem Kaiser die erschütternde Nachricht zu überbringen. Damit war Konstantins Hoffnung auf Unterstützung aus Europa endgültig zunichtegemacht worden. Nachdem die heilige Stadt dem Ansturm der Muslime viele Jahrhunderte lang getrotzt hatte, waren die Fürsten und Könige der Christenheit nun übereingekommen, Konstantinopel den Ungläubigen zu überlassen.
Von außerhalb des Palasts drangen angsterfüllte Rufe an sein Ohr. Die Wachen berichteten von einer Mondfinsternis. Das war ein böses Omen, denn es hieß: Solange der Mond scheint, wird Konstantinopel nicht untergehen.
Durch eine schmale Fensterscharte beobachtete der Kaiser, wie der Mond im Schatten verschwand wie in einem himmlischen Grab. Eine innere Stimme sagte ihm, dass Theodora nicht zurückkehren würde und er den abgeschlagenen Kopf des Feinds niemals zu Gesicht bekommen sollte.
Ein Tag und eine Nacht verstrichen ohne ein Lebenszeichen von Theodora.
Sphrantzes und seine Leute zügelten vor dem Minarett in Blachernae die Pferde und stiegen ab. Sie trauten ihren Augen nicht: Im kalten weißen Schein des aufsteigenden Monds ragte die Spitze des Minaretts vollkommen unversehrt in den Nachthimmel. Der als Mönch verkleidete Spion schwor, dass dem Turm bei seinem letzten Besuch die Spitze noch gefehlt habe. Zahlreiche weitere Soldaten und Offiziere, die mit der Gegend vertraut waren, bestätigten dies.
Doch Sphrantzes war nicht zu überzeugen und starrte den Mann wütend an, sicher, dass er trotz all der Zeugen log. Schließlich ließ das intakte Minarett selbst keinen anderen Schluss zu. Er verzichtete jedoch darauf, den Späher zu bestrafen. Da die Stadt sicher bald fiel, würde ohnehin niemand dem Zorn des Eroberers entkommen.
Einer der Soldaten wusste genau, dass die Spitze des Minaretts nicht von einem Kanoneneinschlag zerstört worden war. Rund zwei Wochen zuvor hatte er mit eigenen Augen gesehen, dass die obere Hälfte des Turms fehlte, doch weder hatte es am Vorabend Angriffe gegeben, noch fanden sich in der Nähe des Bauwerks Trümmer. Zwei weitere Soldaten hätten das bezeugen können, wenn sie nicht mittlerweile in der Schlacht gefallen wären. Doch angesichts von Sphrantzes’ schlechter Laune behielt der Mann diese Information für sich.
Sphrantzes und sein Gefolge, darunter auch der vermeintlich verlogene Späher, betraten das Minarett. Als Erstes stießen sie auf die Überreste der Pesttoten, die streunende Hunde überall in der Ruine verteilt hatten. Doch nirgends fanden sie eine Spur von lebenden Menschen.
Sie stiegen die Treppe hinauf. Im flackernden Licht ihrer Fackeln entdeckten sie Theodora, die zusammengekauert unter einem Fenster hockte. Sie schien zu schlafen, doch ihre Augen waren nur halb geschlossen und spiegelten den Schein der Fackeln wider. Ihre Kleider waren zerrissen und schmutzig und ihr Haar wirr. Das Gesicht war von blutigen Kratzern verunziert, die sie sich offenbar selbst zugefügt hatte. Sphrantzes sah sich um. In diesem oberen, kegelförmigen Teil des Minaretts war alles von einer dicken, nur von wenigen Fußspuren durchbrochenen Staubschicht bedeckt, gerade so, als wäre auch Theodora eben erst angekommen.
Sie erwachte und zog sich mit tastenden Händen an der Wand hoch. Im Mondlicht, das durch das Fenster hereinfiel, schimmerte ihr wirres Haar wie ein silbriger Heiligenschein. Mit starrem Blick versuchte sie angestrengt, zu sich zu kommen, doch dann schloss sie die Augen wieder, als wollte sie weiter in einem Traum verweilen.
»Was wird das hier?«, herrschte Sphrantzes sie an.
»Herr, ich … ich kann dort nicht hingehen.«
»Wohin?«
Sie hielt die Augen geschlossen, als wollte sie ihre Erinnerungen nicht loslassen, wie ein Kind, das sein Spielzeug umklammert hält. »Groß ist es dort, gut und angenehm. Hier dagegen …« Sie riss die Augen auf und blickte sich erschrocken um. »Hier ist es wie in einem Sarg, auch draußen … ist es eng wie in einem Sarg. Ich möchte so gern dorthin!«
»Und was ist mit deinem Auftrag?«, fragte Sphrantzes.
»Wartet noch, Herr.« Theodora bekreuzigte sich. »Wartet!«
Sphrantzes deutete zum Fenster hinaus. »Worauf sollen wir denn noch warten?«
Von draußen wogte der Lärm zu ihnen herein. Wer genau hinhörte, konnte zwei Geräuschquellen unterscheiden.
Eine lag außerhalb der Stadtmauern. Mehmed II. hatte beschlossen, am kommenden Tag den finalen Angriff gegen die Stadt zu befehlen. In diesem Moment ritt der junge Sultan gerade durch das osmanische Heerlager und versprach seinen Soldaten, dass es ihm persönlich nur um Konstantinopel gehe – sämtliche Schätze und Frauen der Stadt sollten dagegen ihnen gehören. Nach dem Fall der Stadt würden sie drei Tage haben, um sie nach Belieben zu plündern. Die Soldaten johlten bei den Worten des Sultans, und ihre Freudenschreie wurden von Pauken und Trompeten untermalt. Dieser fröhliche Lärm legte sich zusammen mit den Funken und dem Rauch ihrer Lagerfeuer wie eine todbringende Wolke über Konstantinopel.
Die Töne, die aus der Stadt drangen, klangen dagegen traurig. Sämtliche Einwohner waren einer Prozession unter der Leitung des Erzbischofs gefolgt und versammelten sich nun in der Hagia Sophia zu einer letzten Messe. Das hatte es in der Geschichte der Christenheit noch nie gegeben, und es würde auch einmalig bleiben: Unter dem Klang feierlicher Hymnen versammelten sich im schummrigen Licht der Kerzen der Kaiser von Byzanz, der Patriarch von Konstantinopel, orthodoxe und römisch-katholische Christen, Soldaten in voller Rüstung, Händler und Seefahrer aus Genua und Venedig und sämtliche Bevölkerungsschichten Konstantinopels vor Gott, um sich auf die letzte Schlacht ihres Lebens vorzubereiten.
Sphrantzes wusste, dass sein Plan gescheitert war. Vielleicht war Theodora nichts weiter als eine geschickte Lügnerin, die über keinerlei magische Kräfte verfügte. Viel schlimmer wäre es jedoch, wenn sie tatsächlich über magische Kräfte verfügte und sie in den Dienst Mehmeds II. gestellt hatte.
Was hatte Byzanz, das am Rande des Ruins stand, ihr schon zu bieten? Dass der Kaiser sie tatsächlich zu einer Heiligen machen würde, war unwahrscheinlich, denn weder Rom noch Konstantinopel würden einer Hexe und Hure diese Ehre zuteilwerden lassen. Vermutlich hatte sie es mittlerweile auf zwei neue Opfer abgesehen: den Kaiser und ihn selbst.
Genau wie zuvor Urban. Der ungarische Ingenieur hatte zuerst den Kaiser aufgesucht und ihm seine Pläne für den Bau besonders schlagkräftiger Kanonen unterbreitet. Doch Konstantin XI. hatte nicht genug Geld für seine Dienste, und erst recht hatte er es sich nicht leisten können, die riesigen Kanonen zu gießen. Sofort war Urban mit seinem Vorschlag zu Mehmed II. gegangen. Die täglichen Bombardements der Stadt waren ein stetes Zeugnis dieses Verrats.
Sphrantzes gab dem Späher einen Wink, woraufhin dieser sein Schwert zog und Theodora in die Brust stieß. Die Klinge durchbohrte ihren Körper und blieb hinter ihr in einer Mauerspalte stecken. Vergeblich versuchte der Mann, die Waffe wieder herauszuziehen, doch sie bewegte sich keinen Millimeter. Da Theodoras Hände das Heft des Schwerts umklammert hielten und er sie nicht berühren wollte, gab er es schließlich auf, und Sphrantzes eilte mit seinen Männern davon.
Theodora hatte indes keinen Laut von sich gegeben. Während ihr Kopf auf die Brust sank, glitt ihr wirres Haar aus dem Mondlichtstrahl heraus, und der silberne Heiligenschein verschwand in der Dunkelheit. Stattdessen beleuchtete der Mond im finsteren Minarett nun ein kleines Stück Wand, über die ein feiner Blutstrom wie eine schwarze Schlange hinabmäanderte.
Kurz vor der großen Schlacht verstummte der Lärm innerhalb und außerhalb der Stadt. Das Byzantinische Reich an der Grenze zwischen Europa und Asien, wo Land und Meer aufeinandertrafen, erlebte seine letzte Morgendämmerung.
Im Obergeschoss des Minaretts starb die mit einem Schwert an die Wand gespießte Hexe. Gut möglich, dass sie die einzige echte Magierin in der Geschichte der Menschheit gewesen war, doch leider war zehn Stunden zuvor das ohnehin kurze Zeitalter der irdischen Magie zu Ende gegangen. Begonnen hatte es am 3. Mai 1453, um vier Uhr nachmittags, als das Fragment höherer Dimension zum ersten Mal mit der Erde in Berührung gekommen war, und geendet hatte es am Abend des 28. Mai 1453 um 21 Uhr, als es die Erde wieder verließ. Nach fünfundzwanzig Tagen und fünf Stunden war die Erde in ihren gewöhnlichen Orbit zurückgekehrt.
Am Abend des 29. Mai fiel Konstantinopel.
Als die blutige Schlacht sich ihrem unausweichlichen Ende näherte, schrie Konstantin XI. angesichts der osmanischen Truppen, die über die Stadt herfielen: »So wird sich denn kein Christ finden, der mir den Kopf abschlägt?« Dann riss er sich die purpurfarbene Robe vom Leib, zog sein Schwert und ritt gegen den Feind an. Seine silberne Rüstung leuchtete kurz auf wie ein Stück Aluminiumfolie im Schwefelsäurebad, bevor er im Nichts verschwand.
Die historische Bedeutung des Falls von Konstantinopel zeigte sich erst viele Jahre später. Zuallererst sah man darin das endgültige Ende des Römischen Reichs. Byzanz war ein Wagenanhänger, den das alte Rom noch tausend Jahre hinter sich hergezogen hatte und der trotz seiner vorübergehenden Glorie am Ende in der Sonne verdunstete wie ein Wassertropfen. Die alten Römer hatten einst zu ihrer Zeit pfeifend und trällernd in ihren luxuriösen Bädern gesessen und geglaubt, ihr Reich wäre so beständig wie der Marmor der großzügigen Becken, in denen sie sich treiben ließen.
Heute weiß man, dass kein Festmahl ewig währt. Alles ist endlich.