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Buch

Als Sabina und ihr Mann Ted erfahren, dass sie ein Kind erwarten, empfinden sie nichts als Glück. Doch als Sabina ihren Eltern freudestrahlend davon erzählt, reagiert ihre Mutter sehr seltsam und zurückhaltend. Sabina ist wie vor den Kopf gestoßen, doch bald wird ihr klar, dass es eine Sache gibt, die ihre Eltern bisher verschwiegen haben: Sie ist adoptiert. Sabinas heile Welt bricht von einem Moment auf den anderen über ihr zusammen. Wie kann eine Mutter ihre eigene Tochter weggeben? Sie macht sich auf, ihre leibliche Mutter zu suchen, doch was sie entdeckt, erschüttert nicht nur ihr eigenes Leben …

Autorin

Kelly Rimmer fand Fiktion schon immer besser als die Realität – und wurde deshalb Romanautorin. Sie lebt mit ihrem Mann Daniel und zwei kleinen Kindern im ländlichen Australien, und wenn sie nicht gerade liest, schreibt oder vom Lesen und Schreiben träumt, arbeitet sie in der IT-Branche. Nach So blau wie das funkelnde Meer ist Was das Herz nie vergisst ihr zweiter Roman im Blanvalet Verlag.

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Kelly Rimmer

Roman

Deutsch von Astrid Finke

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »The Secret Daughter« bei Bookouture, an imprint of StoryFire Ltd, Ickenham.



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1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © 2015 by Kelly Rimmer

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2018 by Blanvalet Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Friedel Wahren

Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de

LH ∙ Herstellung: sam

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-17673-0
V001

www.blanvalet.de

Für Maxwell und Violette

Kapitel eins

Sabina

März 2012

In meiner Familie wissen alle, dass ich Geheimnisse nicht sonderlich gut bewahren kann. Nur zweimal in meinem ganzen Leben ist es mir gelungen, etwas Interessantes für mich zu behalten.

Als ich feststellte, dass ich mich in meinen besten Freund verliebt hatte, geschah es zum ersten Mal. Wir waren mit Bekannten zum Essen gegangen, und bei der Vorspeise ertappte ich ihn dabei, dass er mich mit unendlich viel Stolz und Liebe ansah. Unter seinem Blick schmolz ich förmlich dahin. Diese beunruhigende Erkenntnis verheimlichte ich immerhin mehrere Stunden lang. Sobald die anderen gegangen waren, platzte ich allerdings bei einem völlig anderen Gesprächsthema damit heraus. Ted sagte später, ich hätte während des ganzen Abends jeglichen Blickkontakt mit ihm vermieden, worüber er sich gewundert habe. Er meint im Übrigen, dass meine Augen alles sofort verraten, selbst wenn ich nichts sage. An jenem Abend hätte ich ihn nur ansehen müssen, dann wäre alles klar gewesen.

Angesichts meiner spektakulären Unfähigkeit im Umgang mit Geheimnissen ist es wohl umso beeindruckender, dass ich meine neu entdeckte Schwangerschaft ganze zwei Tage für mich behielt, bevor ich meiner Mutter davon erzählte. Da Ted und ich beide wissen, dass ich mich jedes Mal verplappere, trafen wir zahlreiche Vorsichtsmaßnahmen. Ich rief meine Eltern an und lud sie zum Abendessen ein. Sobald wir uns auf Tag und Stunde geeinigt hatten, nahm Ted mir das Handy weg und versteckte es.

Wobei ich sicher bin, dass dieses Mal das mit dem Geheimnis auch ohne extreme Maßnahmen geklappt hätte. Unsere Ankündigung sollte ein ganz besonderer Moment werden, denn als Einzelkind hatte ich immer den unerklärlichen Drang verspürt, Mum und Dad zu Großeltern zu machen. Meine Eltern hatten eine Familiengründung zwar bisher mit keinem einzigen Wort erwähnt, aber seit ich auf die vierzig zuging, hatten sich alle ihre Freunde mittlerweile ganze Scharen lärmender Enkel zugelegt. Im Bekanntenkreis wurden Großelterngeschichten ausgetauscht, wie Kinder Fußballbilder tauschen. Meine Eltern hingegen hatten außer über meine nicht sonderlich beeindruckende Lehrerinnenlaufbahn und die gemeinsamen Reisen mit Ted nichts zu berichten gehabt.

Es wäre nett gewesen, gemeinsam zu essen und ihnen die Neuigkeit dann ganz kultiviert beim Kaffee zu erzählen, aber das kam natürlich nicht infrage. Stattdessen begrüßte ich sie schon an der Tür mit zwei makellos verpackten Geschenken und einem vermutlich verwirrend tränenfeuchten Lächeln im Gesicht.

»Sabina, alles in Ordnung? Wofür ist das denn?« Vorsichtig nahm meine Mutter die Schachtel entgegen. Mit der freien Hand hängte sie ihre Handtasche an den Garderobenhaken neben der Tür, wickelte sich sorgsam aus dem Schal und legte ihn darüber. Dad kam hinter ihr herein, küsste mich wie immer flüchtig auf die Wange, nahm sein Geschenk und schüttelte es neugierig.

»Vorsicht, das ist zerbrechlich!« Ich lachte, dann scheuchte ich sie ungeduldig in die Wohnung und schloss die Tür. Ich merkte, dass sie sich verwundert ansahen, und lächelte von Ohr zu Ohr. »Setzt euch und macht die Geschenke auf! Jetzt kommt schon, los!«

Ted beobachtete uns von der kleinen Küchennische aus. Er kümmerte sich um das aufwändige Essen, seit ich mich beim Kochen allzu sehr abgelenkt hatte, indem ich die Schleifen an den Geschenkschachteln genau richtig binden wollte. Seit jenem Augenblick vor zwei Tagen, als wir morgens nebeneinander im Badezimmer standen und den zweiten Balken auf dem Schwangerschaftstest entdeckten, zeigte mein Mann einen merkwürdigen Gesichtsausdruck. Ich hatte zwar erwartet, ihn nervös und euphorisch zu erleben, aber mit dieser plötzlichen Zufriedenheit hatte ich nicht gerechnet. Wir waren wirklich bereit, in jeder Hinsicht.

Als meine Eltern sich setzten und die Geschenke auspackten, lehnte Ted sich mit verschränkten Armen an die Wand neben dem Herd. Er sah mir in die Augen, und ich spürte eine überwältigende Freude zwischen uns. Einen allerletzten Augenblick lang hatten wir ein Geheimnis, von dem niemand auf der Welt außer uns wusste.

Dad holte sein Geschenk zuerst aus der Schachtel.

»Ein Kaffeebecher?«, fragte er. Ratlos drehte er ihn um und entdeckte die Schrift auf der anderen Seite. Bester Opa der Welt. Er sah mich mit großen Augen an, dann ließ er den Becher fast fallen, sprang auf und schloss mich in die Arme. »Sabina! Ach, mein Schatz!«

Alles war so, wie ich es mir ausgemalt hatte. Ich lachte und vergoss gleichzeitig ein Tränchen an seiner Schulter, während er planlos drauflosfragte.

»Seit wann weißt du es?«

»Seit ein paar Tagen.«

»Und wann ist es so weit, wann kommt sie?«

»Sie?«, lachte ich. »Es kommt im November.«

»Habt ihr beiden schon über eine Ausbildungsversicherung nachgedacht? Dazu ist es nie zu früh, die Steuervorteile sind immens. Ich maile euch nächste Woche die Informationen. Sabina, setz dich! Du musst dich schonen. Wir brauchen Champagner, ein solcher Anlass schreit nach einem Moët. Ich fahre schnell los und kauf eine Flasche.«

Er hatte mich sanft zum Sofa geschoben, und als ich mich nun setzte, sah ich zum ersten Mal zu Mum hinüber. Sie saß stocksteif auf dem Sofa. Den Becher hielt sie zwischen beiden Händen, die Ellbogen hatte sie auf die Oberschenkel gestützt. Ihre Wangen waren gerötet, ihr Blick wirkte eigenartig starr.

»Megan, alles in Ordnung?« Mit wenigen Schritten hatte Ted den Raum durchquert und setzte sich neben meine Mutter auf das Sofa. Sie schüttelte sich kaum merklich und lächelte erst Ted, dann mich strahlend an.

»Das sind ja wunderbare Neuigkeiten. Ich freue mich so sehr für euch. Ich wusste nicht … Wir hatten keine Ahnung, dass ihr schon Kinder wollt.«

»Mum, ich bin achtunddreißig. Wir sind verheiratet, wir haben beide einen soliden Beruf, wir sind um die halbe Welt gereist und haben uns jetzt hier in Sydney schön eingerichtet. Worauf sollten wir noch warten?«

»Du hast recht. Natürlich hast du recht.« Ihr Blick wanderte zu dem Becher zurück. »Ob achtunddreißig oder achtundneunzig, du bleibst immer mein Baby«, sagte sie leise.

»Ach, nicht so trübselig, Meg!« Dad suchte in seiner Hosentasche nach dem Autoschlüssel. »Bald hast du ein richtiges Baby, mit dem du spielen kannst. Ich fahre jetzt los. Kommst du mit, Ted?«

»Kannst du bitte auf das Gemüse aufpassen, Bean?«

Ich musterte Mum, die nach wie vor auf den Becher starrte. Lächelnd nickte ich Ted zu, aber sobald Dad weg war, deutete ich mit der Schulter auf meine Mutter. Ted zuckte mit den Achseln, und ich erwiderte seinen fragenden Blick mit einer Grimasse.

Als meine Mutter und ich allein waren, sprach ich sie einfach an.

»Du wirkst nicht sehr fröhlich, Mum.«

»Aber selbstverständlich freue ich mich.« Sie packte den Becher wieder ein, stand auf und ging die wenigen Schritte zum Essbereich hinüber. Dann stellte sie die Schachtel auf den Tisch. »Wie weit bist du, hast du gesagt?«

»Achte Woche, glaube ich. Nächste Woche habe ich einen Ultraschall, um ganz sicher zu sein. Aber der Arzt meint, dass es im November so weit ist.«

»Schatz!« Entsetzt sah meine Mutter mich an. »Dann solltest du noch mit niemandem darüber reden. In der achten Woche ist es überhaupt nicht sicher, ob es auch klappt.«

Die Brutalität dieses Satzes fuhr mir durch alle Glieder. Eine Sekunde lang verschlug es mir die Sprache. Mums Worte waren grausam, der Ton klang sehr scharf – in meinen Ohren wie eine Alarmsirene. Ich war noch gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass mit meiner Schwangerschaft irgendetwas schiefgehen könnte, und warum auch? Ich war zum ersten Mal schwanger. Warum sollte ich mich auf das Schlimmste gefasst machen?

Ich weiß nicht, was sich in meinem Gesicht widerspiegelte, aber ich hatte sofort mit den Tränen zu kämpfen. Mum zuckte zusammen, ballte die Fäuste und atmete tief durch.

»Sabina, ich will sagen, dass eine Schwangerschaft … Es ist einfach so … Das klappt nicht immer …« Ihre braunen Augen waren voller Verzweiflung. »Ich will nur nicht, dass du enttäuscht bist. Mach dir bitte keine allzu großen Hoffnungen!«

»Aber ich mache mir große Hoffnungen.« Ich wollte mich beschäftigen, mich davon ablenken, wie sehr sie mich gekränkt hatte, wie enttäuschend sich der Abend entwickelte. Ich hatte mit Begeisterung gerechnet. Ich hatte erwartet, dass sie mir gleich Tipps für die Schwangerschaft geben und mit mir Pläne für die Zeit nach der Geburt schmieden würde. Also stand ich auf, um an ihr vorbei in die Küche zu gehen, aber sie hielt mich am Ellbogen fest und drehte mich langsam zu sich um. Eine einzelne Träne lief mir die Wange hinunter, und ich wischte sie ungeduldig ab.

»Entschuldige bitte, Sabina!«, murmelte meine Mutter. Sie legte mir die Hände um das Gesicht, strich mir mit dem Daumen über die Wange und betrachtete mich eindringlich. »Natürlich freust du dich, und das ist auch richtig so. Aber meine Schwangerschaften waren einfach furchtbar. Ich habe große Angst um dich.«

»Schwangerschaften?«, wiederholte ich. Bisher hatte ich noch nie von irgendwelchen möglichen Geschwistern auch nur gehört. »Aber du hast mir nie erzählt, dass du Probleme hattest …« Ich suchte nach einer möglichst feinfühligen Formulierung. » … ich meine, mich zu kriegen.«

Ich beobachtete sie einen Moment lang. Ihr Blick ging ins Leere, und ihre Lippen zitterten leicht, während sie nach einer Entgegnung suchte. Die tiefe Traurigkeit in ihren Augen war bestürzend, und ich begriff plötzlich, dass wir unabsichtlich eine alte Wunde bei meiner wundervollen Mutter aufgerissen hatten. Ich fiel ihr um den Hals und drückte sie an mich. Sie war nach außen hin nie ein besonders zärtlicher Mensch gewesen, aber in dieser Situation schien es einfach die richtige Reaktion zu sein. Mum erwiderte die Umarmung kurz und steif, dann löste sie sich und strich sich die Bluse glatt.

»Es war grauenvoll für uns. Für dich und Ted wird es sicher viel einfacher.«

Ich spürte ein dumpfes Pochen in den Ohren. Hektisch versuchte ich, die neuen Informationen zu verarbeiten. Die freudige Erwartung hatte sich in Luft aufgelöst. Stattdessen empfand ich nur Angst und eine erhöhte Anspannung. Meine Mutter hatte Probleme gehabt, ein Kind auszutragen? Adrenalin flutete mir durch die Adern, als befände ich mich in akuter körperlicher Gefahr.

»Aber … tut mir wirklich leid, dass ich dich das fragen muss. Ich will nur Bescheid wissen, damit ich mit meinem Arzt sprechen kann.« Es kostete mich enorme Anstrengung, ohne Zittern in der Stimme zu sprechen. »Weißt du, warum das damals so schwierig war?«

Seufzend schüttelte sie den Kopf.

»Es gab viele Vermutungen, aber nein, wir haben es nie so richtig erfahren. Schwanger geworden bin ich immer einigermaßen problemlos, zumindest in den ersten Jahren. Ich habe das Kind einfach immer wieder in den ersten drei Monaten verloren.«

Mit Ausnahme der üblichen knalligen Rougekreise auf den Wangen war Mum jetzt totenbleich im Gesicht.

»Wie oft?«, fragte ich zaghaft.

»Sehr oft«, erwiderte sie knapp. »Du musst dir aber wirklich keine Sorgen machen, mein Schatz. Es tut mir leid, dass ich so abweisend reagiert habe. Ihr habt mich überrumpelt. Mir war nicht klar, dass ihr eine Familie gründen wollt.«

»Aber natürlich mache ich mir Sorgen. Ich verstehe gut, dass du nur ungern darüber sprichst, aber ein bisschen mehr musst du mir schon erzählen.« Da die Starre nicht aus ihrem Gesicht wich, entschloss ich mich, das Offensichtliche auszusprechen. »Was, wenn es genetisch ist?«

Meine Begeisterung über die Schwangerschaft war wie weggeblasen, zumindest im Augenblick. Mir war gerade klargeworden, dass sowohl die Vorfreude als auch die Schwangerschaft etwas Zerbrechliches waren, dass bloße Worte sie gefährden konnten. Ich dachte an die winzigen Strampelanzüge, die ich gleich an dem Tag gekauft hatte, als ich den Test gemacht hatte. Sie lagen offen auf der Kommode in meinem Zimmer, und ich schämte mich plötzlich meiner Naivität. Am liebsten wäre ich ins Schlafzimmer gelaufen, um sie wieder einzupacken und ganz oben im Kleiderschrank zu verstecken.

Die Wahrscheinlichkeit, dass ich die Strampelanzüge je brauchen würde, war eventuell deutlich geringer, als man normalerweise erwarten konnte. Das kleine Wesen, das ich sicher und geborgen in meinem Bauch geglaubt hatte, war dort unter Umständen ganz und gar nicht sicher. Gab es in meinen Erbanlagen einen eingebauten Schalter, den ich von Mum geerbt hatte und der mich am Kinderkriegen hinderte?

Meine Mutter rang offenbar um Worte, um sich zu erklären, aber ich wurde sofort ungeduldig.

»Es tut mir wirklich leid, Mum, aber ich muss das wissen.«

»Es ist nichts Genetisches.«

»Du hast gesagt, dass es keine vernünftigen Erklärungen gab, nur Vermutungen. Wie kannst du da so sicher sein?«

»Ich weiß es eben.«

»Aber …«

»Sabina, lass es gut sein!«

Zum zweiten Mal an diesem Abend verschlug es mir die Sprache, während ich den Rücken meiner Mutter anstarrte, die zum Herd gegangen war und sich dort an den verschiedenen Töpfen und Pfannen zu schaffen machte. Es entging mir nicht, wie sehr ihre Hände zitterten, wenn sie einen Topfdeckel hob, wie heftig er klapperte, wenn sie ihn zurücklegte. Als ich wieder sprechen konnte, wäre es ein Leichtes gewesen, das Thema fallen zu lassen. Mum und ich hatten eine sehr enge Beziehung, enger, als ich das von anderen Müttern und Töchtern kannte. Die Vorstellung, ihr Kummer zu bereiten, war mehr als schmerzlich für mich.

Aber hier ging es um etwas anderes, um etwas Kostbares, das ich bereits liebte. Seit der Schwangerschaft meiner Mutter hatte sich medizinisch vieles verändert, und falls mein Kind und ich gefährdet waren, konnten die Ärzte sicher etwas unternehmen, wenn sie über die nötigen Informationen verfügten. Ich versuchte es etwas weniger direkt.

»Kannst du mir vielleicht ein bisschen erzählen, wie das war, als du mit mir schwanger warst?«, fragte ich vorsichtig. »War dir morgens oft schlecht? Bisher hatte ich richtig Glück. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich schwanger bin.«

Mum beschäftigte sich immer noch mit den Töpfen. Ich hatte den Eindruck, dass jedes meiner Worte sie verletzte, und fühlte mich hilflos. Gerade als ich die Hand nach ihr ausstrecken wollte, flog die Haustür auf, und Dad kam mit Ted zurück. Ihre Stimmen waren laut und munter, ein unangenehmer Kontrast zu der angespannten Stimmung zwischen mir und Mum. Sie blickte quer durch unser kleines Wohnzimmer zu meinem Vater an der Haustür hinüber, und aus seinem Gesicht wich alle Farbe.

»Megan?« Schlagartig wurden seine Schritte und Worte bedächtig.

»Wir müssen fahren«, sagte sie leise.

»He, nein!« Ted schwenkte die eisgekühlte Flasche. »Wir haben etwas zu feiern. Schon vergessen? Was ist eigentlich los?«

»Bitte nicht, Mum! Ich höre ja schon auf«, sagte ich, aber sie schüttelte nur den Kopf und marschierte an den beiden Männern vorbei. Als sie ihren Schal von der Garderobe nahm, ohne ihn wie sonst sorgsam um den Hals zu schlingen, wurde mir klar, dass sie in Panik war.

Dad sah mich an.

»Was hat sie denn gesagt?«

»Sie hat mir nur g… geraten, mich n… nicht zu sehr auf d… das Baby zu freuen«, flüsterte ich. Beim Klang meines eigenen Stotterns brach ich in Tränen aus. Ich hatte viele Jahre Logopädie hinter mir, um den Sprachfehler in den Griff zu bekommen, vor allem auf Drängen meiner Mutter mit ihrem eisernen Willen. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal über ein Wort gestolpert war. Aber ich konnte mich auch nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so verstört gewesen war.

»Sie hat mir erzählt, dass sie so viele Fehlgeburten hatte und wir noch mit niemandem über meine Schwangerschaft reden sollen. Über meine Frage, warum und ob es was Genetisches war, hat sie sich richtig aufgeregt. Es tut mir so leid.«

»Sonst hat sie nichts gesagt?«

»Was gibt es denn sonst noch?«

Dad stieß ein Geräusch zwischen Knurren und Seufzen aus.

»Ich bringe sie nach Hause. Entschuldige bitte, dass sie euch den Abend verdorben hat!« Er nahm seine Opatasse und ging zur Haustür. »Sie muss sich erst mal daran gewöhnen und ein bisschen beruhigen, dann machen wir es wieder gut. Versprochen.«

Die Tür fiel hinter meinem Vater ins Schloss, und das Schluchzen, das ich bisher mühsam zurückgehalten hatte, brach aus mir heraus. Ted ließ die Flasche aufs Sofa fallen und nahm mich in die Arme.

»Was zum Henker war hier gerade los?«

»K … Keine Ahnung«, stieß ich mühsam hervor. »Aber ich glaube, wir s… sollten morgen besser zum Arzt gehen.«

Als er mich sanft mit dem Rücken zur Couch drehte, sodass wir nebeneinander saßen, sah ich, dass Mums Becher immer noch auf den Esstisch stand.

Kapitel zwei

Lilly

Juni 1973

Lieber James,

ich stecke in großen Schwierigkeiten.

Ich habe Dir etwas verschwiegen. Eigentlich wollte ich es Dir erzählen, aber ich hatte zu große Angst. Wir können ja nur am Telefon miteinander sprechen, und dann ist immer jemand in der Nähe und hört zu. Ich wollte Dir einen Brief schreiben, aber Tata bringt meine Briefe zur Post. Und wenn er das gelesen hätte …

Tja, wenn er es gelesen hätte, wäre vermutlich genau das Gleiche passiert.

Ich bin schwanger, James. Das ist wahrscheinlich ein großer Schock für Dich, und es tut mir leid, dass Du es so erfahren musst. Aber ehrlich gesagt ist es schon schwierig genug, diesen Brief abzuschicken, damit Du es überhaupt erfährst.

Ich weiß nicht, wann es passiert ist, wahrscheinlich kurz bevor Du zum Studieren weggezogen bist. Ich komme mir so dumm vor. Wusstest Du, dass man so Babys macht? Du bestimmt, Du bist so klug. Also, ich nicht. Und obwohl das Anfang Januar war, habe ich erst im April gemerkt, dass ich schwanger bin. In der Schule haben die Nonnen ständig über Sex geredet, aber das klang immer so schmutzig und ekelhaft. Mir war nicht klar, dass sie das meinten, was wir getan haben. Bei uns war alles ganz natürlich. Wir haben nie beschlossen, jetzt sind wir ein Paar. Wir waren einfach Freunde, und dann waren wir mehr. Ich kann mich nicht einmal an unseren ersten Kuss erinnern. Du? Damals schien das alles gar nicht wichtig, es war einfach nur der nächste Schritt in unserer Liebe. Alles ist wie von selbst passiert. Ich bin überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen, es könnte das sein, wovor die Nonnen immer gewarnt haben.

Anfangs glaubte ich, ich sei nur müde, weil Du mir so sehr gefehlt hast. Ich wäre am liebsten den ganzen Tag im Bett geblieben und hatte kaum Appetit, was Mama fast wahnsinnig machte. Sie schimpfte immerzu, und Henri nannte mich nur noch die liebeskranke Lilly. Dann hatte ich wieder mehr Appetit, meine Kleider wurden enger und enger, aber ich habe immer noch nichts gemerkt. Ich dachte, dass ich nur zu viel esse, weil ich die Zeit vorher fast keinen Bissen hinunterbekommen hatte.

Was los ist, habe ich erst verstanden, als ein Mädchen in der Schule von seiner Periode sprach und mir auffiel, dass ich die letzte schon vor Weihnachten hatte. Sogar ich weiß, was das bedeutet.

Anfangs tat ich einfach so, als ob nichts wäre, und eine Zeit lang war das gar nicht schwierig. Die Jungs haben mich geärgert, weil ich dick bin, aber das bin ich gewöhnt. Die Schuluniform wurde immer enger, was niemandem auffiel. Ich dachte weder an das Kind noch an Dich, auch nicht daran, was das für uns alle bedeutet.

Dann begann das Baby in meinem Bauch zu strampeln. Mir war klar, dass früher oder später irgendjemand eins und eins zusammenzählt und mein Geheimnis ans Tageslicht kommt. Jede Nacht wälzte ich mich schlaflos im Bett und wartete auf das Donnerwetter. Wenn mein Geheimnis zu erdrückend wurde und meine Furcht zu groß, dass Tata davon erfuhr, schloss ich die Augen und malte mir die Folgen aus. Ich hatte die verrückte Vorstellung, dass sich die Angst verflüchtigte, wenn ich nur alles ganz genau plante.

Ich stellte mir Tatas Wut und Scham vor. Mamas Abscheu. Ich sah es vor mir wie einen Film, probierte unterschiedliche Versionen aus. Was passiert, wenn Tata es nachts herausfindet oder morgens oder während ich in der Schule bin. Bei gutem oder schlechtem Wetter, am Geburtstag eins der anderen Kinder oder wenn die Wehen einsetzen.

Was auch immer ich mir ausmalte, die Geschichte endete immer gleich: Ich stelle meinen Koffer vor Eurer Haustür ab, klopfe und rufe nach Deiner Mutter.

Mit fast allem lag ich richtig. Heute Morgen hat Tata mich geweckt, und ich musste einen Koffer packen. Die anderen Kinder, alle sieben, mussten sich in einer Reihe aufstellen und sich von mir verabschieden. Kasia und Henri weinten, ich sah das Mitleid in ihren Augen. Am schlimmsten war Mama. Sie konnte mich nicht einmal ansehen, sondern versteckte sich in der Küche und weinte. Als ich sie am Kleid zog und zu mir umdrehen wollte, schüttelte sie meine Hand ab und schluchzte noch lauter.

Dann stieß Tata mich in den Wagen und tobte, genauso wie ich es mir vorgestellt hatte. Den ganzen Weg vom Haus bis zur Straße brüllte er so wütend, dass ihm der Speichel aus dem Mund spritzte, während ich mir alle Mühe gab, nicht zu heulen.

Er hat mir schlimme Worte an den Kopf geworfen, was ich vermutlich verdient habe. Ich ziehe den Namen Wyzlecki in den Schmutz und habe ihn enttäuscht. Das Schlimmste war, dass er Schimpfwörter benutzte, die ich meinem Tata überhaupt nicht zugetraut hätte. Weil ihn Tränen ja immer noch wütender machen, starrte ich nur vor mich hin und riss mich zusammen. Du weißt, wie stark sein Akzent wird, wenn er zornig ist. Aber heute klang es so, als würde er auf Polnisch brüllen, einen endlosen Schwall an Beleidigungen.

Ich beherrschte mich und dachte, alles wird gut. Ich nahm an, er brächte mich zu Deinen Eltern. Obwohl sie sicher auch böse auf uns wären, könnte ich Dich wenigstens anrufen. Doch Tata fuhr nicht zu Euch. Mein Koffer lag hinten im Auto, aber die Erleichterung, ihn vor Eurer Haustür abzusetzen, war mir nicht vergönnt.

Statt links auf die Straße zu Eurem Haus abzubiegen, fuhr er nach rechts Richtung Orange.

Nach Orange braucht man nur vierzig Minuten. Da ich allerdings das Reiseziel nicht kannte, kam mir die Fahrt endlos vor. Ich flehte ihn an, mir zu sagen, wohin er mich brachte, aber er meinte nur, dass er den Müll unserer Familie nicht bei Euch ablädt. Ich fühlte mich wie im freien Fall. Ich wusste nur, dass der Wagen von allem Vertrauten wegfuhr. Mir ging alles Mögliche durch den Kopf. Schickt er mich nach Polen zu Onkel Adok, den ich gar nicht kenne? Fahren wir in eine Abtreibungsklinik? Gibt es die überhaupt?

Ganz kurz dachte ich, er bringt mich zum Bahnhof und schickt mich zu Dir. Wie schön das gewesen wäre.

Aber schließlich hielten wir vor dem großen Krankenhaus in Orange, was ich zuerst überhaupt nicht verstand. Eine Zeit lang saßen wir einfach im Auto. Tata starrte vor sich hin, die Hände auf dem Lenkrad. Jetzt war ich diejenige, die tobte. Erst schien er mich überhaupt nicht zu hören, aber dann muss ich doch zu ihm durchgedrungen sein. Zum ersten Mal in meinem Leben weinte ich, ohne dass er sich aufregte.

Nein, heute schimpfte er mich nicht wegen meiner Tränen und erzählte mir nicht, wie viel schwerer sein Leben als junger Mann im kriegsgebeutelten Polen gewesen war. Nachdem sein Zorn verraucht war, blieben nur noch Scham und Trauer übrig. Tata teilte mir mit, dass ich nicht ins Krankenhaus komme, sondern in das Entbindungsheim gegenüber. Bis zur Geburt muss ich hierbleiben.

Im Haus sprachen wir mit Schwestern und Sozialarbeiterinnen. Sie setzten uns in ein kleines kaltes Zimmer, und Tata unterschrieb viele Zettel. Es gab mehrere Aktenmappen, und als wir fertig waren, stand auf jeder Liliana Wyzlecki, BZA. BZA muss ein Kürzel sein, vielleicht die Bezeichnung für mich in diesem Haus. Früher oder später finde ich das bestimmt heraus.

Ich habe alle enttäuscht, James. Ich war so dumm, jetzt bin ich schwanger und habe alles kaputtgemacht.

Ich weiß nicht, ob es eine Möglichkeit gibt, Dir meinen Brief zu schicken. Ich habe keine Ahnung, was jetzt passiert und wie ich an diesem schrecklichen Ort überleben soll.

Ich weiß nur, dass unsere Liebe so ein Wunder war, dass wir ohne Absicht ein Kind gemacht haben. Und ich liebe es jetzt schon genauso wie Dich.

Du hast gerade erst mit dem Studium angefangen und träumst davon seit Jahren. Von Deinem Abschluss hängen alle unsere Zukunftspläne ab. Deshalb weiß ich genau, dass ich sehr, sehr viel von Dir verlange.

Aber wenn Du nicht zu mir – zu uns – zurückkommst und wenn wir nicht heiraten können, bevor das Baby zur Welt kommt, dann weiß ich nicht, was werden soll. Ich mag es mir überhaupt nicht vorstellen. Tata lässt mich mit einem Kind nicht nach Hause, und ohne Dich kann ich mich nicht ernähren.

Es hat keinen Sinn, mich hier anzurufen oder mir zu schreiben. Sie haben mir schon gesagt, dass ich nicht mit Dir sprechen darf. Also komm bitte einfach! Steig in den nächsten Bus und fahr hierher, damit wir sofort heiraten können! Ich bin sicher, dann lassen sie mich gehen.

Ich liebe Dich von ganzem Herzen, James. Bitte entschuldige, dass ich Dir das alles nicht früher erzählt habe, und bitte, bitte komm und hilf mir und unserem Kind!

In Liebe

Lilly