Buch
Berlin, 1935. Über dreißig Jahre ist Mathis Bohnsack als Röntgenpionier mit dem Jahrmarkt durch Europa gereist, daher weiß er, dass die Welt verrückt und unberechenbar ist. Doch jetzt jubeln die Massen plötzlich einem seltsamen Mann mit lächerlichem Schnauzer zu. Bühnen werden dichtgemacht. Und über Nacht verschwinden Künstler und Artisten aus der Wohnwagensiedlung, in der Mathis mit seiner Partnerin, der Kraftfrau Meta, lebt. Doch Mathis beschließt, Widerstand zu leisten und ein Buch gegen das Vergessen zu schreiben. Ein Buch, das vergangene Zeiten und Orte zum Leben erweckt, das Geheimnisse birgt und unter keinen Umständen in die falschen Hände geraten darf …
Autorin
Vera Buck, geboren 1986, studierte Journalistik in Hannover und Scriptwriting auf Hawaii. Während des Studiums schrieb sie Texte für Radio, Fernsehen und Zeitschriften, später Kurzgeschichten für Anthologien und Literaturzeitschriften. Nach Stationen an Universitäten in Frankreich, Spanien und Italien lebt und arbeitet Vera Buck heute in Zürich. Ihr Debütroman »Runa« wurde von der Presse hochgelobt und für den renommierten Glauser-Preis nominiert.
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Vera Buck
Das Buch der vergessenen Artisten
Roman
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vgl. Florian Weiland, »Die vergessene Generation« (Südkurier, 14.04.2016)
Messen-Jaschin/Dering/Cuneo/Sidler, Die Welt der Schausteller vom XVI. bis zum XX. Jahrhundert (Lausanne Editions des Trois Continents, 1986)
Vicki Baum, Es war alles ganz anders. Erinnerungen (Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG, Köln 1987)
1. Auflage
Copyright © 2018 by Limes in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Angela Kuepper
Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com
AF · Herstellung: sto
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-20165-4
V002
www.limes-verlag.de
Du hattest recht.
Sie könnten den Leuten einen Stock mit Perücke hinstellen.
Wird trotzdem gewählt.
Als hätten wir seit der letzten Vergangenheit rein gar nichts dazugelernt.
Für Opa. Gegen das Vergessen.
Verschollene Generation (auch: vergessene Generation) ist die Bezeichnung für eine Gruppe deutscher Künstler, Musiker und Literaten der Jahrgänge 1890 bis 1914, die im Nazideutschland verfolgt wurden, weil sie jüdischen Glaubens waren, ihre politischen Ansichten dem Regime nicht passten oder weil sie homosexuell waren. Viele suchten ihr Heil in der Flucht, der Großteil blieb entwurzelt und litt existenzielle Not. Nur wenigen gelang es, ihre Karriere fortzusetzen. Andere überlebten nicht. Sie wurden deportiert und fanden in den Konzentrationslagern den Tod.
Die Namen dieser Künstler sind heute weitgehend vergessen …
Florian Weiland, Die vergessene Generation
PROLOG
Berlin, 1935
Wie eine Herde großer dösender Tiere standen die Wohnwagen auf der Hügelkuppe. Einige grüppchenweise, andere auf der Wiese verstreut. Ein disziplinloses Herumlungern, ein Vorort ohne Ordnung. In einer Zeit wie dieser war das geradezu ein politisches Manifest.
Der Fremde stieg aus dem Automobil und blickte sich auf dem ungeteerten Hügel um. Ein Windstoß fuhr in seinen Mantel und blähte ihn wie ein Segel, als er auf die Herde zuging.
Von Weitem wirkten die Wagen schläfrig. Doch tatsächlich waren da viele Augen, die den Mann kommen sahen. Sie sahen auch das Gewitter, das er mitbrachte. Als zöge der Fremde die Regenwolken an einer Leine hinter sich her. Kinder wurden beiseitegenommen, Türen und Gardinen geschlossen. Der Kettensprenger spuckte auf den Boden. Begrüßen wollte den Eindringling niemand. Und was sollte man auch sagen?
Wer in die Gerüchte eingeweiht war, der wusste, dass die gemächlichen Schritte des Mannes eine Tarnung waren. Dass er nicht da war, um spazieren zu gehen oder sich die heruntergekommene Kolonie anzusehen. Und eingeweiht war hier jeder.
Als ein Fremder im Mantel erschienen war und den Menschen Fragen gestellt hatte, als ein weiterer gekommen war und ihnen Blut abgenommen hatte und dann eines Nachts der erste Schausteller verschwunden war, da hatten die Menschen hier auf dem Hügel zu reden begonnen. Ungewöhnlich leise zunächst, als könnten sie die Gerüchte noch zurücknehmen, wenn sie sie nur nicht zu laut hinausschrien. Aber die Worte waren trotzdem durch die Wohnwagenreihen gezogen, so unaufhaltsam wie die fremden Männer selbst. Da könne doch etwas nicht stimmen, hatten die zusammengewachsenen Schwestern der dicken bärtigen Zwergin zugeflüstert, und von ihnen waren die Worte weitergeweht, durch das Fenster des Ausbrecherkönigs und in dessen Ohr: Woher kamen die Männer mit ihren Mänteln? Was machten sie mit dem Blut, das sie den Menschen hier abzapften? Und wohin war der Flügelmensch Agosta so plötzlich verschwunden, und nach ihm die tätowierte Miss Ingeborg?
Beim letzten Wagen der kleinen Kolonie blieb der Fremde stehen. Die Karre war aus Holz gebaut und hatte verschieden große Fenster, die aussahen, als hätte ein verrückter Sammler sie aufgelesen und kreuz und quer in die Wände eingesetzt. Ein Schornstein thronte oben auf dem Blechdach wie eine stehen gelassene Konservenbüchse.
Unter der Büchse, auf der anderen Seite der Tür, stand der Wohnwagenbesitzer und hielt den Türknauf wie den Griff eines Degens. Seine rechte Hand hatte nur noch drei Finger, und die waren schweißnass.
Auch er hatte den Fremden kommen sehen. Nicht erst gerade, sondern schon vor Wochen, als der Albtraum begonnen hatte. Als der erste Fremde vor seinem Wohnwagen gestanden hatte, in den gleichen Mantel gehüllt wie dieser Mann hier, und es einen Streit gegeben hatte.
So ein Streit ließ sich kaum vermeiden, wenn derart verschiedene Interessen aufeinandertrafen. Wenn der eine Blut für seine »Untersuchungen zu Züchtungskreisen von Zigeunermischlingen und anderen asozialen Psychopathen« zapfen wollte. Und der andere der war, dem dieses Blut gehörte. Doch unüberlegt war es trotzdem gewesen. Es war gefährlich, sich in Zeiten wie diesen gegen die Bemäntelten zu stellen.
Zweimal klopfte der Fremde, bevor die Tür sich einen unwilligen Spaltbreit öffnete.
»Sind Sie Herr Mathis Bohnsack?« Der Fremde blinzelte durch den Spalt, einen Zettel in der Hand. Bis vor wenigen Monaten noch hätte auf dem noch gar nichts gestanden. Es hätte keinen Namen und keine Adresse gegeben, auf diesem weißen Stück Papier. Wenn der Fremde zu Mathis gewollt hätte, hätte er sich in der Kolonie durchfragen müssen. Und die Schausteller konnten verschwiegen sein.
»Sie wohnen hier mit Fräulein Meta Kirschbacher, ist das richtig?« Sein Blick glitt über den Wohnwagen. Er zog die Augenbrauen hoch. Mathis nickte, den Türknauf noch immer gegen den Besucher gerichtet.
»Mein Name ist Professor Thorak«, sagte der Fremde, als ihm auffiel, dass sein Gegenüber keinen Zettel hatte, der ihm das verraten konnte. »Ich würde gern mit Fräulein Kirschbacher sprechen.«
»Sie ist nicht hier.«
Thorak sah durch den Türspalt an Mathis vorbei. Zwischen seinen Brauen bildete sich eine misstrauische Falte. Ein berechtigter Riss in der Stirn, denn jene, die er suchte, war nur wenige Augenblicke zuvor durch das einzige Fenster gestiegen, dessen Größe ausreichte, um einer Frau wie ihr die Flucht zu erlauben.
»Wann kommt sie zurück?«
»Ich weiß nicht, das kann dauern.«
»Ich habe Zeit«, sagte Thorak, »ich werde warten.« Und damit meinte er nicht draußen auf der Wiese, über der es gerade zu regnen begann.
Thorak setzte einen Fuß auf die Stufe des Trittbretts und wippte ein paarmal, als müsste er erst überprüfen, ob diese windschiefe Karre seinem Besuch überhaupt standhalten konnte. Dann war er auch schon mit halbem Körper an Mathis vorbei und sah sich im Wagen um. Rechts unter dem Fenster stand ein kleiner Holztisch mit zwei Stühlen. Links davon befanden sich ein Ofen, ein Küchenregal und der Vorhang, der die Bettnische abtrennte. An der linken Wand stand ein Kleiderschrank. Wer ganz genau hinsah, dem konnte auffallen, wie ungewöhnlich wuchtig der in dem kleinen Wagen wirkte. Und dass die hinteren Bretter neuer waren als der Rest.
»Möchten Sie sich nicht setzen?« Aus seiner Kehle schabte Mathis Worte hervor und streckte sie Thorak entgegen wie eine widerwillig gereichte Hand. Er zog einen Stuhl zurück, sodass dieser mit dem Rücken zum Schrank stand, und Thorak raffte die Hosenbeine, um Platz zu nehmen.
»Möchten Sie vielleicht etwas trinken? Wasser?«
»Bitte.«
Mathis holte zwei Gläser aus dem Küchenschrank.
»Berufsunfall?«, fragte Thorak und deutete auf Mathis’ Hand, als dieser die Wasserkanne hob. Verkrüppelungen lösten nach wie vor eine Faszination in Menschen aus. Davon war auch der Professor nicht ausgenommen.
»So was in der Art, ja.« Mathis stellte die Karaffe ab und steckte die Finger in die Tasche. Er setzte sich Thorak gegenüber, der eine Zigarette aus dem Mantel kramte und sie anzündete.
Sie hatten sich wenig zu sagen, und so war es gut, dass das Prasseln des Regens auf dem Wellblechdach die Stille zwischen ihnen füllte. Während der Professor rauchte und schwieg, stellte Mathis sich vor, wie der Qualm sich in dessen Körper verteilte. Wie der Brustkorb und die Lungenflügel sich ausdehnten. Wie der Rauch von oben hereinströmte und eine kleine Schneelawine in die Lunge rutschte, bevor der Qualm sich ausbreitete und langsam über die Seiten zurück zur Luftröhre schlich. Die Luftröhre war der Schornstein des Körpers.
Berufsbedingt malte Mathis sich gern aus, was sich hinter den Dingen verbarg, und seinem Gast ging es wohl ganz ähnlich, denn der hatte den Blick in den Bettvorhang der Bettnische gekrallt.
Draußen zuckte ein Blitz. Ein paar Sekunden später donnerte es. Doch es war ein Krachen innerhalb des Wohnwagens, das sie aus dem gemeinsamen Schweigen riss. Thorak wandte sich zum Schrank um, und Mathis sprang alarmiert von seinem Stuhl auf. Aber was im nächsten Moment aufflog, war nicht die Schranktür, sondern die Tür des Wohnwagens selbst. Eine völlig durchnässte Meta stolperte herein.
»Musste dieses Arschloch ausgerechnet bei dem Sauwetter …!«
»Meta! Wir haben Besuch!«, rief Mathis. Sie blieb abrupt stehen und schluckte den Rest des Satzes herunter.
Thorak erhob sich und drückte den Scheitel über der Stelle zurecht, an der das Haar licht wurde. Auch den Sitz seiner Krawatte kontrollierte er. Als könnte seine tadellose Erscheinung den Umstand ausgleichen, dass da ein Mensch vor ihm stand, der aussah wie nach einem unfreiwilligen Bad in der Spree. Metas Hosensaum war voller Matsch, die sonst blonden Haare klebten ihr dunkel am Gesicht, und Rinnsale tropften in den Kragen ihrer Bluse. Thorak streckte die Hand aus, als bemerkte er es nicht, und Meta legte ihre nassen Finger hinein. Sie warf Mathis einen entgeisterten Blick zu.
»Meta, das ist Professor Thorak«, sagt Mathis so förmlich, als wären sie auf einer Abendveranstaltung. »Und das ist Meta Kirschbacher, meine … Partnerin.«
Mathis hätte lieber »meine Frau« gesagt, vor allem gegenüber einem wie Thorak, der Meta mit seinen Blicken geradezu verschlang.
Meta war einen guten Kopf größer als er, hatte kräftige Arme und ein breites Kreuz, aber nicht auf eine plumpe bäuerliche Art. Es war eine gewollte Breite. Meta hatte hart dafür gearbeitet, nahezu alles heben, stemmen und zu Boden ringen zu können, das sich ihr entgegenstellte. Einen Schmächtling wie diesen Thorak konnte sie am ausgestreckten Arm über Kopf halten.
Der Professor deutete seine Verbeugung nur an, um sich nicht noch kleiner zu machen, als er neben ihr ohnehin schon war.
»Fräulein Kirschbacher. Ich freue mich!«
Eine Lüge wäre angebracht gewesen, aber Meta sagte nichts.
»Mein Name ist Josef Thorak. Sie erinnern sich vielleicht, dass vor einigen Wochen eine … freiwillige Blutspende in Ihrer Siedlung durchgeführt wurde.«
Meta und Mathis tauschten einen Blick.
»Ja, das ist mir in Erinnerung geblieben.«
»Ich hoffe, die Aktion hat Ihnen nicht allzu großes Unbehagen bereitet.«
»Die Schmerzen waren auszuhalten, wenn Sie das meinen.«
»Natürlich, da werden Sie ja ganz anderes gewöhnt sein, nicht wahr?« Thorak lächelte unbeholfen und tätschelte sich erneut den tadellosen Scheitel. »Nun, wie Sie sich vielleicht vorstellen können, muss das gespendete Blut natürlich überprüft werden, auf Krankheiten und so weiter. Und bei der Menge an Blutspenden, die da täglich so eingehen, sammeln die Experten aus dem Labor natürlich ganz zwangsläufig auch recht viele Informationen über die verschiedenen Bluttypen bei Zigeunern oder auch, ähm, Juden.«
Meta stand, tropfte und schwieg. Sie hatten damit gerechnet, dass irgendwann einer kommen würde.
Es war noch nicht lange her, seit das Arbeitsverbot für jüdische Artisten an die Laternenpfähle der Stadt und an die Wände des Zirkus Krone geschlagen worden war. Nur ein kleiner Punkt in einer langen Liste lächerlicher Beschränkungen, die niemand im Schaustellergewerbe befolgen konnte. Verbot artfremder Kostüme. Verbot des Auftritts von Negermischlingen und Negern. Verbot der Teilnahme von Juden an Darbietungen der deutschen Kultur. Endgültiges Verbot von »Swing-Tanz« und »Niggerjazz«.
»Nun, was ich sagen will«, fuhr Thorak fort, und jetzt, da er das schlimmste Wort hervorgewürgt hatte, ging ihm sein Anliegen leichter über die Lippen, »der Leiter des Labors ist ein guter Freund von mir. Und er weiß, dass ich auf der Suche nach einem bestimmten Typus Frau bin. Er hat mir Ihre Blutergebnisse und Dokumente gegeben, Fräulein Kirschbacher, und ich muss schon sagen: Ihre arische Blutslinie! Auf dem Amt haben Sie angegeben, dass die werten Vorfahren seit Generationen aus Norddeutschland stammen, bis auf den«, er zog den inzwischen zerdrückten Zettel aus der Tasche, »Ururgroßvater, der aus Skandinavien eingewandert ist?«
Meta starrte Thorak an, bis ihr auffiel, dass sie nicken sollte. Was er in den Händen hielt, waren nichts als Lügen. Als Kleinkinder waren sie und ihr Bruder vor dem Kinderheim in Köln abgestellt worden. Der Bruder hatte in einer Art Hahnenkorb gesteckt, aus dem nur sein Kopf herausschaute, und Meta, damals vier, hatte danebengestanden, die Hand um den geflochtenen Korbhenkel gewunden, als hätte sie den Bruder ganz allein hergeschleppt. Die Eltern hatten keine Papiere dagelassen, nicht einmal einen Brief, der etwas über die Kinder verraten hätte. Der beschnittene Penis ihres Bruders war der einzige Hinweis auf Metas familiäre Herkunft gewesen. Ein Penis als Familiengeschichte. Doch den hatte Meta ganz sicher nicht erwähnt, als sie auf dem Amt gewesen war und die Angaben für ihren Pass erfunden hatte.
»Sehr schön!« Thorak machte ein Gesicht, als verkündete er die Geburt eines putzmunteren Kindes. »Ich habe Sie auf Anraten besagten Laborleiters letzten Freitag im Theater am Weinbergsweg gesehen und muss Ihnen auch dahingehend mein Kompliment aussprechen, Fräulein Kirschbacher. Ihre sportlichen Leistungen und die Beschaffenheit Ihrer Muskeln! Verzeihen Sie, dass ich da ein bisschen näher hinsehen musste. Das ist berufsbedingt, müssen Sie verstehen, ich … Hat es gerade geklopft?«
Meta und Mathis sahen sich an. Sie hatten es beide ebenfalls gehört. Ein deutliches Pochen, das nicht zu dem Geräusch des Regens gepasst hatte. Metas Augen flackerten für einen verräterischen Moment zum Schrank, doch Mathis drehte sich geistesgegenwärtig um und öffnete die Wohnwagentür.
»Nein, hier ist niemand.«
»Ich bin mir sicher, da hat jemand geklopft«, beharrte Thorak.
»Ich habe nichts gehört. Was wollten Sie gerade sagen?«
Thoraks Blick glitt zum Fenster, bevor er noch einmal skeptisch die Inneneinrichtung des Wagens musterte.
»Sie waren gerade bei meinen Muskeln«, erinnerte Meta ihn.
Thorak räusperte sich und nahm den Faden wieder auf, den Meta ihm entgegenhielt. »Fräulein Kirschbacher, verstehen Sie mich nicht falsch, das war als aufrichtiges Kompliment gemeint. Sie sind geradezu der Inbegriff des hellenischen Typus! Berufsbedingt habe ich schon viele muskulöse Herren gesehen, aber Sie als Frau …«
Meta hörte dem immer gleichen Gerede um Männer- und Frauenklischees nur mit halbem Ohr zu. Ihre eigentliche Aufmerksamkeit gehörte dem Schrank. Sie konnte die Unruhe darin geradezu spüren. Eine überschäumende Nervosität, die auch sie und Mathis bespritzte.
»Nun, bevor ich mich hier noch weiter verzettele, möchte ich ganz unumwunden sprechen«, sagte Thorak, als er Metas angespannte Miene bemerkte. »Fräulein Kirschbacher, ich würde Sie gerne skulpturieren.«
Das drang nun doch zu Meta durch. Fassungslos ließ sie die verschränkten Arme sinken.
»Bitte was?«
»Mit Ihrer Erlaubnis.«
Meta blickte Mathis an. Sie hatte keine Ahnung, wovon Thorak sprach. Sie war nicht dumm, aber zur Schule gegangen war sie auch nicht, und mit Fremdwörtern kannte sie sich gar nicht aus. Als sie den Mund öffnete, hatte Mathis Angst, dass sie »skulpturieren« mit »skalpieren« verwechselt haben könnte. Das nämlich war ein Wort, das man in ihrer Branche kannte.
»Er meint, eine Skulptur machen«, sagte er schnell. Meta klappte den Mund wieder zu.
»Das sagte ich doch«, meinte Thorak.
»Eine Statue«, sagte Mathis.
Thorak warf ihm einen irritierten Blick zu. Doch jetzt verstand auch Meta.
»Von mir?«
»Von Ihnen und keiner anderen!« Stolz erklärte Thorak, dass es um einen Wettbewerb gehe, den er gewinnen wolle. Vom Führer persönlich ausgeschrieben. Wenn alles gut laufe, würde Meta pünktlich zu den Olympischen Spielen das neue Stadion schmücken.
»Vom Führer?«, echote Meta mit etwas zu viel Entsetzen in der Stimme. Das war für sie nun wirklich kein Grund für einen Freudenausbruch. »Und wenn ich nicht will?«
Thoraks Lächeln verschwand schlagartig. Verblüfft tätschelte er seinen Scheitel, und die misstrauische Falte zwischen seinen Brauen kehrte zurück.
»Warum sollten Sie nicht wollen?«
»Ja, warum solltest du nicht wollen?«, echote Mathis. Meta sah ihn an, als hätte er völlig den Verstand verloren. Als könnte er vergessen haben, dass es sich beim »Führer« noch immer um den gleichen Idioten Adolf Hitler handelte, mit dem sie und er sich damals in Wien ein Klo geteilt hatten. Sie öffnete den Mund, doch da polterte es erneut im Schrank. Ein nicht zu überhörendes Donnern schwerer Fäuste gegen Holz. Mathis und Meta schraken zusammen. Und dann fegte Meta plötzlich schreiend die Wasserkaraffe vom Tisch. Sie krachte zu Boden und ergoss ihren Inhalt über den Teppich und Thoraks glänzende Schuhe. Der Professor sprang entsetzt zur Seite, während Meta sich gegen den Schrank warf und schluchzend das Gesicht in der Armbeuge begrub. Sie schlug mit der Faust gegen das Holz. Thorak blickte Mathis bestürzt an.
»Das … passiert schon mal«, sagte Mathis zögerlich. »Das ist das Temperament der Kraftfrau. Sie neigt dazu, ein wenig … aufbrausend zu sein.«
Meta begann zu kreischen.
»Hysterisch«, korrigierte Mathis sich, »wenn Sie so wollen.«
»Aber was habe ich denn gesagt, dass …«
»Nichts, gar nichts!« Mathis nahm den kreidebleichen Thorak am Arm, damit er sich endlich vom Schrank abwandte. »Wie gesagt, das ist das Temperament, Herr Professor. Neulich erst hat es sie einfach so beim Wäscheaufhängen überkommen.«
»Aber will sie denn nicht …?«
»Doch, doch. Sie will ja, sie will!«, versicherte Mathis schwitzend, während Meta mit ihrem Schreianfall fortfuhr und auf den Schrank eintrommelte wie eine Geistesgestörte. Sie konnten das Schauspiel nicht ewig durchhalten. Mathis musste sich irgendetwas einfallen lassen.
»Wie wäre es, wenn Sie uns Ihre Anschrift dalassen. Und wir melden uns bei Ihnen, sobald meine Partnerin sich ein bisschen beruhigt hat?«
Thorak war noch immer weiß im Gesicht, als er nervös eine Visitenkarte und einen Stift aus der Tasche fingerte.
»Donnerstag um vier Uhr in meinem Atelier. Ich schreibe Ihnen die Uhrzeit und meine private Telefonnummer auf. Viel länger kann ich leider nicht warten, wir müssen bald mit der Arbeit beginnen, damit ich den ersten Entwurf für den Wettbewerb …«
»Aaaaaarrrrggh«, brüllte Meta.
Thorak blickte entsetzt von ihr zu Mathis, der die Visitenkarte entgegennahm und den Professor am Arm zur Tür führte. Mittlerweile war dieser genauso froh über seinen Abgang wie seine Gastgeber.
»Donnerstag um vier in meinem Atelier«, wiederholte Thorak, als Mathis die Tür öffnete. Er warf noch einen letzten bestürzten Blick auf Meta und verabschiedete sich mit einem Nicken.
Draußen regnete es noch immer. Mathis sah zu, wie Thorak den tadellosen Scheitel mit der Hand bedeckte, als er über die triefend nasse Wiese zurücklief. Dann schloss er die Tür. Zur Sicherheit warteten sie noch eine Weile, Meta schreiend und Mathis mit dem Türknauf in der zergliederten Hand. Sie wussten beide, wie dünn die Wohnwagenwände waren. Schließlich drehte Mathis sich um und nahm Meta in die Arme. Ihre Haare waren nass und rochen nach Regen. Sie ließen sich gegeneinandersinken, und Mathis hätte Meta gern länger so festgehalten. Vielleicht hätten sie in ein paar Minuten sogar über das Schauspiel lachen können und darüber, wie Thorak darauf hereingefallen war. Aber der Schrank erzitterte schon unter dem nächsten wütenden Schlag, und Meta schob Mathis fort. Sie öffnete die Tür, noch bevor Mathis sie bitten konnte, ihnen einen Augenblick länger Zeit zu geben.
Ernsti sprang aus dem Versteck. Er hatte ein vor Wut rot und blau verfärbtes Gesicht. Der Mund war ein schmaler Strich, das Kinn zitterte. Mathis trat einen Schritt zurück, als er die geballten Fäuste sah. Ernsti entwickelte ungeheure Kräfte, wenn es darum ging, anderen wehzutun. Vor allem, wenn es sich bei diesen anderen um Mathis handelte. Meta aber riss ihren Bruder an sich und drückte seinen Kopf beschwichtigend in ihre Halsbeuge.
»Schschschschhhh«, machte sie, doch jede Beruhigung kam zu spät. Das Gesicht an ihrem Hals vergraben, heulte Ernsti auf und schlug wild um sich. Mathis versuchte, alles, was er eben erreichen konnte, aus dem Weg zu räumen, die Gläser weg, Messer und spitze Gegenstände. Meta hielt Ernstis Kopf umklammert, sodass er sich nicht von ihr lösen konnte, als er die Fäuste schwang und schrie. Meta war stark, aber Ernsti war massig. Als er sich gegen ihren Griff stemmte, stolperte sie gegen den Tisch, der sich laut krachend verschob. Wer die Geschwister nicht kannte, der hätte meinen können, sie fochten einen Kampf auf Leben und Tod aus. Doch tatsächlich war Metas Schwitzkasten ein liebevoller.
»Bleib zurück«, rief sie, weil Mathis’ Eingreifen alles nur noch schlimmer gemacht hätte. Ernsti drehte völlig durch, wenn Mathis auch nur versuchte, ihn anzufassen. Mathis stand mit verkrampftem Herzen da, während Ernstis Fäuste wieder und wieder auf Meta trafen, auf ihren Rücken, ihre Beine, ihren Kopf. Meta hatte viele Jahre ihr Geld damit verdient, sich mit Männern zu schlagen, und Mathis hatte sich daran gewöhnen müssen, ihr dabei zuzusehen, ohne sie von der Bühne zu reißen. Aber das waren keine Kämpfe wie diese gewesen. Dort im Ring hatte sie sich gewehrt und ihre Gegner mit Schlägen traktiert. Sie hätte niemandem erlaubt, mit den Fäusten auf sie einzutrommeln. So etwas durfte nur Ernsti.
»Schschschhhh«, machte Meta noch immer. Der Kopf ihres Bruders klemmte fest unter ihrer Armbeuge, als sie sich zu Boden sinken ließ. Ernstis Wutgebrüll ging in ein leiseres Heulen über. Seine Fäuste zuckten noch ein paarmal unkontrolliert durch die Luft. Doch sie trafen Meta nicht mehr so hart. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen das Tischbein und schaukelte Ernsti sanft hin und her, während er schwer atmend zur Ruhe kam.
Leise stieg Mathis über die Beine der Geschwister und ging zum offenen Schrank. Ernsti hatte alle Kleider von den Bügeln gerissen. Sie türmten sich auf dem Schrankboden. Mathis schob den wilden Haufen zur Seite. Unter einem alten Amazonenkostüm von Meta fanden seine Finger die Kerbe im Boden. Er öffnete das Geheimfach und musste zweimal nachtasten, bis er begriff, dass es leer war.
»Wo ist mein Notizbuch?« Er richtete sich auf und sah Ernsti an, der den Kopf mittlerweile auf Metas Brust gelegt hatte und sich wiegen ließ wie ein Baby.
»Wo ist das Manuskript?«
»Schscht, Mathis, er ist gerade dabei, sich zu beruhigen!«
»Wenn er irgendwas mit meinem Manuskript …«
»Jetzt hör schon auf zu schreien«, sagte Meta, obwohl Mathis gar nicht schrie.
Mathis tauchte zurück in den Schrank, um in den Sachen zu wühlen, die Ernsti auf dem Boden verteilt hatte. Eine ausgerissene Seite fiel ihm ins Auge, und wenig später, unter einem glitzernden Büstenhalter, kam das Notizbuch zum Vorschein. Der lederne Umschlag war zerkratzt. Die Seiten darin zerfleddert. Als Mathis es aufhob, rieselte ihm das Papier in Fetzen entgegen.
»Er hat mein Manuskript zerrissen!«
Ernsti hob den Kopf. In seinem verheulten Gesicht flackerte ein Grinsen auf, eins, das nur für Mathis bestimmt war. Meta gegenüber spielte er weiter das Kleinkind und kuschelte sich wieder an ihre Brust.
»Er war wütend, weil wir ihn in den Schrank gesperrt haben.«
»Wir haben ihn in den Schrank gesperrt, weil wir ihm den Kopf retten wollten!«
»Das hat er vergessen.«
»Vergessen!« In einer Geste der Hilflosigkeit warf Mathis die Hände in die Luft und versuchte seinerseits zu vergessen, dass er sie am liebsten um Ernstis Kehle legen würde. Die Arme fielen herab wie gekappte Seile. Das zerrissene Notizbuch klatschte gegen seinen Oberschenkel.
»Ich habe so lange daran geschrieben, Meta!«
»Das weiß ich wohl«, sagte sie spitz.
Meta hatte nie ganz verstanden, warum Mathis überhaupt mit dieser Schreiberei angefangen hatte. Es gäbe so viele wichtigere Dinge zu tun – Dinge, die das direkte Überleben sicherten und nicht bloß alte Erinnerungen. Die Zeit, die Mathis an seinen Notizen gesessen hatte, hätte er, wäre es nach Meta gegangen, ebenso gut darauf verwenden können, nach neuen Engagements zu suchen. Er hätte ihr dabei helfen sollen, ihre neue Schau einzustudieren, oder sich anderweitig nützlich machen können. Zum Beispiel indem er sich bei diesem Filmregisseur aus der Schweiz meldete, der einen naturwissenschaftlichen Lehrfilm über das Röntgen drehen wollte. Oder er hätte einfach schlafen können. Selbst das war in Metas Augen nämlich noch hilfreicher, als an einem Tisch zu sitzen und zu lesen oder zu schreiben. Beim Schlafen erholte sich der Körper wenigstens. Mathis dagegen war nach ein paar Stunden Schreibarbeit völlig erschöpft.
Meta streichelte Ernstis Haar, das in den letzten Jahren licht geworden war, viel lichter als das von Mathis. Ernstis Körper war schneller gealtert, vielleicht zum Ausgleich dafür, dass er im Geist für immer ein Kind bleiben würde.
Mathis wandte sich ab und versuchte zu schweigen. Jedes Wort, das er jetzt sagen könnte, würde nur einen Streit heraufbeschwören. Und Ernsti war einer, der es liebte, wenn Meta und Mathis sich stritten. Er machte es sich in ihren Zankereien bequem, rutschte seinen Hintern darin zurecht wie in einem Nest und blickte selbstgefällig von einem Schreihals zum anderen. Mathis konnte seine Miene nicht ertragen, wenn er das tat.
»Er hat es bestimmt nicht extra gemacht«, sagte Meta. Von allen Dingen, die sie hätte sagen oder tun können – ausgerechnet das.
»Stimmt, er ist bestimmt nur ganz zufällig mit dem großen Zeh am Geheimfach hängen geblieben.« Mathis warf die Reste des Manuskripts hin. Sie rutschten über den Boden und blieben neben Ernstis Knien liegen. »Und dann hat er versehentlich das Notizbuch herausgeholt. Vielleicht ist er ja mit seinem geöffneten Gebiss darauf gefallen, dass es jetzt so zerfleddert aussieht, was meinst du?«
»Ich meine, dass du ungerecht bist.«
»Ich bin ungerecht?« Jetzt wurde Mathis doch laut, dabei wollte er sich beherrschen. »Du sitzt da und streichelst deinen Bruder, obwohl der gerade meine Arbeit von mehreren Monaten kaputt gemacht hat!«
»Deine Arbeit?! Was ist das für eine Arbeit, Mathis Bohnsack? Bringt sie uns Geld? Essen? Sorgt sie dafür, dass wir den Winter überstehen?«
»Sie sorgt dafür, dass man Menschen wie Agosta oder auch wie deinen Ernsti hier – Menschen wie uns – nicht einfach so im Nichts verschwinden lassen kann! Das sind doch unsere Freunde, die da abgeholt und vergessen werden, Meta! Ich kann nicht einfach nur zusehen und so tun, als hätte es sie nie gegeben!«
»Ernsti ist hier bei uns.« Meta schob ihre Hand auf Ernstis Ohr, damit so ein Unfug gar nicht erst zu ihm durchdrang. »Er ist weder vergessen noch verschwunden!«
»Ja, und was meinst du, wie lange wird es noch dauern, bis einer kommt, der ein bisschen mehr Grips hat als dieser Thorak? Und ihn bei uns im Schrank entdeckt? Wenn er jedes Mal so einen Aufstand macht …«
»Das wird er nicht«, versicherte Meta, während sich Ernstis Gesicht zu genau dem Grinsen verzog, das Mathis befürchtet hatte. »Lass uns lieber froh sein, dass alles noch einmal gut ausgegangen ist. Es ist heute einfach einiges zusammengekommen. Die Enge da im Schrank, der Regen, das Gewitter … Warum hast du diesen Künstlerkerl auch hereingelassen? Dir musste doch klar sein, dass Ernsti es nicht so lange im Schrank aushalten kann.« Metas Hand lag noch immer auf Ernstis Ohr, auf seiner Wange. Mathis’ Notizbuch sah sie nicht an. Es lag neben der Pfütze wie ein gestrandetes Stück Holz. Dabei hätte es einmal ein Schiff werden sollen, das Menschen an einen Ort brachte, an dem sie sicher waren.
Mathis seufzte, trat einen Schritt vor und hob das Strandgut mit beiden Händen auf. Er legte es auf den Tisch, zusammen mit Thoraks Visitenkarte.
Prof. Josef Thorak. Bildhauer, stand in schwarzen Lettern darauf. Und darunter, sehr klein und in zittriger Schnörkelschrift, Thoraks Telefonnummer sowie die Uhrzeit, zu der Meta sich in seinem Atelier einfinden sollte. Mathis hatte ein flaues Gefühl im Magen, als er die Karte betrachtete. Er hatte so eine Ahnung, dass Meta sich irrte. Dass sie nicht davon sprechen konnten, irgendetwas sei gut ausgegangen, ganz im Gegenteil.
Das hier war überhaupt erst der Anfang.
DER ANFANG
Elektrische Wunder
»Die Biegung des Wegs aber liegt im Schatten, und Gott allein weiß, wo sie morgen sind, die Schausteller, die im Dunkel der Nacht verschwinden.«
Messen-Jaschin, Dering, Cuneo, Sidler,
Die Welt der Schausteller
ERSTES KAPITEL
Langweiler, 1902
Die Landschaft war gebrannter Zucker. Braun kandierte Felder, so weit das Auge reichte, ein gelbgoldener Wald und darüber die alles röstende Sonne. Die hatte sich ihre Strahlen für diesen Moment aufgespart. Den ganzen Sommer über hatte es geregnet, bis die Bohnen auf dem Feld ertranken. Heute aber schien sie, was das Zeug hielt.
Der fünfzehnjährige Mathis platschte durch das ausgeweidete Stoppelfeld. Seine Schuhe waren durchnässt. An seinem Hosensaum klebte Matsch, selbst oben am Knie, selbst am Hemd. Er war ein von Matsch besprenkelter Mensch, wie er da so über die Wiese lief und dem Geruch der gebrannten Mandeln folgte. Klebrig und warm und unglaublich süß hing der Duft in der Luft, so greifbar, als hätte der Wind die Kupferpfannen gleich mit den Hügel hinaufgetragen. Statt über den Zaun zu springen, hielt Mathis inne, verschnaufte und kletterte dann umständlich darüber. Ein Bein blieb fast hängen. Es war das rechte, natürlich.
Mathis wollte sich einreden, dass es nichts machte, wenn Lucas und Hans ihn zurückließen. Dass das an einem Tag wie diesem schon mal passieren konnte. Natürlich war der Jahrmarkt eine ganz spezielle Situation, und natürlich wollte niemand auch nur eine Minute verpassen, da konnten sie noch so gut befreundet sein. Alle wussten ja, dass die Gegend zurück in ihren öden Dornröschenschlaf fallen würde, wenn das Wochenende erst mal vorbei war, zurück in die Abwesenheit von jeder Landkarte.
Wie die Wagen überhaupt den Weg hierhergefunden hatten, war allen Bewohnern ein Rätsel. Ausgerechnet in dieses Dorf, in das doch sonst nichts gelangte: keine Neuerungen, keine Erfindungen, keine neuen Menschen, nichts. Alles, was die Bevölkerung produzierte und gebar, blieb, wo es hingehörte. Der Name des Dorfs war Langweiler, und man wusste schon, wieso. Aber jetzt waren da diese Wagen. Und sie hatten Dinge mitgebracht, von denen die meisten Dorfbewohner bislang nie etwas gehört hatten.
Mathis humpelte schneller, wütend über das Bein, das ihn mal wieder von allem abhalten sollte. Jeder Fünfjährige hätte ihn überholen können, doch für Mathis war dieses Tempo ein Sprint. Er bewegte sich sonst nur langsam oder gar nicht. So etwas tat er bloß für den Jahrmarkt. Auf den letzten Schritten den Hügel hinab ging ihm vollends die Puste aus. Er strauchelte und fiel und lag japsend auf dem Rücken, über ihm ein paar weiße Wattewolken und der Duft der gebrannten Mandeln. Mathis wartete darauf, dass Herz und Lunge wieder ihre normale Tätigkeit aufnehmen würden. Dann schob sich ein Kopf in sein Blickfeld.
»Alles klar bei dir, Junge?« Der Mann, der zu dem Kopf gehörte, hatte türkisfarbene Augen, war etwa zwanzig, unrasiert und trug lediglich ein Unterhemd. Die Bänder der Hose baumelten offen um seinen Schritt. Er hatte gerade gepinkelt, als er Mathis kippen sah.
»Ich bin Vincent. Komm, ich helf dir hoch.«
Mathis ergriff die feuchte Hand aus Mangel an Alternativen. Vincent riss ein wenig zu heftig an seinem Arm, als er ihm aufhalf. Mathis’ Größe nach zu urteilen, hätte er eigentlich viel schwerer sein müssen. Doch durch das abgetragene Hemd sah man nicht, dass es den Rippen an Fleisch fehlte. Mathis flog ein Stück durch die Luft und fast an Vincent vorbei, der ihn im letzten Moment an der Schulter festhielt.
»Hoppla«, sagte Vincent.
»Alles in Ordnung.« Mathis klopfte sich verlegen die Hosenbeine ab. Bunte Schaubuden, Zelte, Karren und Waggons drängten sich dort aneinander, wo sonst nur grüne Eintönigkeit herrschte. In der Mitte des Platzes standen ein hölzernes Karussell und dahinter ein Festzelt. Irgendwo schrie ein Tier, das wie ein verletzter Vogel klang. Dann klingelte hinter ihnen eine Glocke, und jemand brüllte etwas in einer fremden Sprache. Vincent zog Mathis zur Seite, damit sie einem krummen kleinen Mann und seinem Kamel Platz machten. Das Tier schaukelte so nah an Mathis vorbei, dass er nur die Hand hätte ausstrecken müssen, um das sandgelbe Fell zu berühren. Ein Kamel! Normalerweise bekam Mathis nichts als Hunde, Katzen, Ziegen und Kühe zu Gesicht. Ein Kamel kannte er nur aus dem Schulbuch. Es kam ihm vor, als wäre er in eine fremde Welt gestolpert. Als hätte ihn Vincent mit seiner feuchten Hand in eine andere Realität gezogen.
»Danke«, sagt er heiser, doch sein Retter war bereits verschwunden. Er hatte sich die Bänder der Hose zugebunden und war mit der Menschenmenge verschmolzen, die sich auf dem Platz gebildet hatte. Mathis blickte sich um.
Links hatte ein Hundedresseur eine Bühne aufgebaut. Es gab eine Bude mit der Aufschrift: »Illusionstheater. Nur hier zu sehen: die Frau ohne Unterleib!« Direkt daneben drehten Kinder an einem hölzernen Glücksrad. Und rechts kletterte ein Mann auf das Podest einer Schaubude und breitete die Arme aus, als wollte er die ganze Dorfwiese umarmen.
»Meine Damen, meine Herren! Betrachten Sie Marianna, das Gorillamädchen, und Rosa Violetta, die lebende Schaufensterbüste! Sie ist eine erwachsene Frau, aber nur fünfzig Zentimeter groß! Ohne Arme und ohne Beine schreibt, malt und näht sie mit dem Mund. Sie ist reizend! Entzückend! Sie und Ihre Kinder werden sie lieben! Wir haben das Kleinste vom Kleinsten und das Größte vom Größten! Die niedlichste Weltdame Prinzessin Fou Fou, genannt die lebende Teepuppe. Und Pièche, den größten Indianerriesen der heutigen Zeit. Komplett misst er zwei Meter fünfundfünfzig, meine Damen, stellen Sie sich das nur mal vor! Der Clou der Gegenwart!«
Die Menschen auf dem Platz traten neugierig näher, und Mathis ließ sich fasziniert mitschwemmen. Er tastete nach den Münzen in seiner Hosentasche. Den Indianerriesen wollte er gern sehen, und diese Rosa Violetta interessierte ihn auch. Er konnte sich nicht vorstellen, wie so jemand aussah, ohne Arme und Beine. Und er hatte gedacht, das Schicksal hätte ihn hart getroffen.
»Mathis!«
Mathis drehte sich um. Hans bahnte sich einen Weg zu ihm. Er hatte Lucas im Schlepptau und der eine Ziege, die erschrocken meckerte, als sie mitten durch das Chaos an Hosenbeinen und Damenröcken gezogen wurde. Das Tier war dürr und krumm. Dreckklumpen hingen in seinem Fell.
»Hat er eben gewonnen«, erklärte Hans, als er Mathis’ Blick sah. Lucas hielt das Ende des Stricks hoch. Er zog die störrische Ziege ein Stück weiter zu sich heran, als die ersten Jahrmarktsbesucher ins Stolpern gerieten. Die Schlinge um den Hals rutschte ihr fast über den Kopf, aber sie stemmte die astdünnen Beine in den Boden und leistete Gegenwehr.
»Glückwunsch.« Mathis schaffte es nicht, völlig überzeugend zu klingen.
»Danke«, sagte Lucas ebenso wenig enthusiastisch. »Der Hauptpreis war ein Pferd, aber das habe ich nicht bekommen.«
»Offensichtlich nicht.«
Zu dritt blickten sie auf das Tier hinunter. Die Ziege meckerte. Sie machte auch kein glücklicheres Gesicht als ihr neuer Besitzer.
»He! Ihr da!« Der Kassierer des Kuriositätenzelts wedelte verärgert mit der Hand. »Platz da, ihr steht im Weg!«
Offenbar hielt er die Jungen für herumlungernde Bauernbengel, die, statt zu zahlen, durch die Zeltnähte blinzeln wollten. Und fast hätte er damit auch recht gehabt. Aber Mathis, Lucas und Hans hatten in Vorbereitung auf den Jahrmarkt Maulwürfe im Garten des Bürgermeisters von Langweiler gejagt und für jedes tote Tier fünfzehn Pfennige erhalten. Das machte sie zu ehrbaren Kunden.
»Wir können zahlen«, rief Mathis dem Mann zu, der gleich ein wenig freundlicher blickte. Doch als Mathis eine Münze aus seiner Tasche zog und in die Höhe hielt, riss Hans seinen Arm herunter.
»Bist du närrisch? Willst du das hart verdiente Geld etwa hier ausgeben?«
»Sie haben einen Indianerriesen und eine …«, begann Mathis, doch Hans hatte ihn bereits am Handgelenk gepackt und zog ihn aus der Menge.
»Lass uns lieber was Spannendes machen, Mathis!«
»Was soll das heißen? Laufen bei euch die Indianerriesen auf dem Kartoffelacker rum, oder wie?«
»Wir haben was entdeckt, da werden dir die Augen ausfallen. Eine elektrische Berg-und-Tal-Bahn!« Hans leckte sich über die trockenen Lippen, an denen Mathis jetzt Spuren von etwas Rosafarbenem entdeckte. Auch oben an seinem Hemdkragen klebte ein Rest.
»Was hast du da?« Er deutete auf Hans’ Lippen, der sich erschrocken mit dem Ärmel darüberfuhr.
»Ach das«, sagte er.
»Habt ihr etwa ohne mich …?« Mathis entzog sich Hans’ Griff und blieb stehen. Der Freund war verlegen.
»Tut mir echt leid, Mathis, aber du warst auf einmal nicht mehr hinter uns.«
»Ich war die ganze Zeit hinter euch. Ihr habt nur nicht darauf geachtet, wie weit!«
»Ja, vielleicht auch das. Aber es war wirklich nur eine ganz kleine Zuckerwatte. Stimmt doch, Luk?«
Lucas hatte sie eingeholt. Die widerspenstige Ziege sah mittlerweile so aus, als wollte sie ihm die Hörner in die Kniekehle rammen.
»Was stimmt?«
»Ich habe Mathis gerade von der Zuckerwatte erzählt.«
»Oh ja, Mensch, die Zuckerwatte! Die war vielleicht lecker!« Lucas’ Augen begannen zu leuchten. Den wütenden Blick, den Hans ihm zuwarf, bemerkte er gar nicht.
»Ist schon in Ordnung«, sagte Mathis, und es stimmte. Wenn er gekonnt hätte, wäre er auch schneller gelaufen, um Glücksräder zu drehen, Lose zu kaufen und die erste Zuckerwatte seines Lebens zu verdrücken.
»Wusste, du würdest es verstehen.« Hans klopfte ein wenig zu fest auf Mathis’ Schulter, an der die Muskeln nicht wachsen wollten.
»Und jetzt?«, fragte Lucas, und die Freude darüber, dass die Antwort alles sein konnte, dass sie ausnahmsweise einmal nicht wussten, was der Tag bringen würde, stand den Freunden ins Gesicht geschrieben. Sie wollten sich nach elektrischen Wundern, nach Zwergen und kopflosen Frauen umschauen. Sie würden Zuckerwatte essen, bis ihnen die Bäuche wehtaten. Und vielleicht sogar ein Kamel reiten.
Lucas gab der Ziege einen Tritt in den Hintern, dass sie meckerte, und sie zogen los. Der Tag hatte noch Kapazitäten. An einem Tag wie diesem konnte ihnen alles begegnen.
Die Jungen wussten nicht, wo sie zuerst und zuletzt hinblicken sollten. Überall konnten sie etwas Neues sehen, schmecken oder riechen. All die spannenden Dinge, die das Leben ihnen in diesem Landstrich sonst vorenthielt, prasselten nun so dicht gedrängt auf sie ein, dass ihnen ganz schwindelig wurde. Sie hetzten von Bude zu Bude und wurden das Gefühl nicht los, trotzdem die Hälfte der Abenteuer zu verpassen.
»Ein Unfall!«, schrie plötzlich jemand, und die Jungen blieben atemlos stehen. Die Jahrmarktbesucher reckten die Hälse, und die drei Freunde drängten nach vorn, bis sie einen Jungen niedergestreckt auf der Wiese liegen sahen. Er war nicht viel älter als sie selbst. Vor ihm ragte eine seltsam aussehende Maschine auf einem Holzpodest auf, und daneben stand ein reichlich nervöser Mann. Der Junge sah aus, als wäre er tot, und tat entsprechend wenig. Und doch sahen ihm so viele Menschen dabei zu, dass jeder Schaubudenbesitzer vor Neid erblasste. Da hatten sie Haarmenschen, Zwerge und Riesen aus aller Herren Länder zusammengesammelt und mühsam in dieses Provinznest gekarrt, und dann stahl ausgerechnet ein regloser Normalmensch ihnen die Schau.
Die Menge begann zu tuscheln. Wer das Glück hatte, dabei gewesen zu sein, erklärte es allen anderen bis ins Detail: »Der Junge hat die Elektrisiermaschine angefasst«, sagten sie. »Ein Stromschlag, und: BUMM!« Vielleicht war er tot? Schade für jene, die es verpasst hatten.
»Platz da! Platz da!« Ein alter Mann bahnte sich einen Weg zu dem Jungen. Er trug einen Zylinder und einen überdimensionalen Schnurrbart. An seinem Frack glänzten mehrere Orden.
»Was ist das für einer?«, fragte Hans, der neben Mathis auf den Zehenspitzen stand. Mathis überragte ihn selbst jetzt noch um einen halben Kopf.
»Keine Ahnung, vielleicht ein Arzt?«
Doch als der Mann den Kreis betrat, warf er die Arme in die Höhe und brüllte: »Na großartig!«
Das schien Mathis für einen Arzt dann doch eher untypisch.
»Vielleicht der Vater«, schlug Lucas vor.
»Glaubst du, der Junge ist tot?« Hans richtete sich noch ein bisschen höher auf und hielt sich an Mathis’ Schulter fest.
»Das ist die Elektrisiermaschine. Die haben wir vorhin beim ersten Durchlaufen schon gesehen«, sagte Lucas. »Kannst du erkennen, auf welcher Zahl der Hebel steht, Mathis?«
»Der Hebel auf der Farbscheibe?«, fragte Mathis, der auf die Entfernung keine Zahlen ausmachen konnte. »Keine Ahnung, ich sehe nur einen roten Streifen.«
»Starkstrom!«, rief Hans und geriet nun völlig aus dem Häuschen. »Mannomann! Das ist ja was! Wir haben vorhin einen gesehen, dem hat es schon bei Gelb die Fußnägel umgebogen.«
»Und der war sicher doppelt so stark wie der da.« Lucas nickte beeindruckt. Er versuchte nun ebenfalls, auf die Zehenspitzen zu steigen, musste dafür aber mehr Gewicht hochstemmen und hielt sich nicht lange oben. »Dem Jungen muss wirklich mal einer auf die Schulter klopfen. Wenn er wieder zu sich kommt … Meint ihr, er kommt wieder zu sich?«
»Kann mich mal jemand aufklären?«, fragte Mathis.
Lucas deutete auf das Metallmonster. »Siehst du die beiden Griffe an der Seite? Da fasst man an, und dann verschiebt der Besitzer den großen goldenen Hebel, damit Strom durch einen fließt. Und zwar so lange, bis der Kunde ›Halt!‹ ruft oder sonst wie anfängt zu schreien. Man bemerkt es schon, wenn einer es nicht mehr aushält. Und dann stoppt der Besitzer den Hebel, und man kann ablesen, wie stark man ist.«