Cover

Todd Calgi Gallicano

Der Fluch des Greifen

Aus den Akten des

Instituts für Magische Wesen

Aus dem Englischen

von Ulla Höfker

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© 2017 by Todd Calgi Gallicano

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel

»Guardians of the Gryphon’s Claw – A Sam London Adventure«

bei Delacorte Press, einem Imprint von Random House Children’s Books,

Teil von Penguin Random House LLC, New York

This translation published by arrangement with

Random House Children’s Books,

a division of Penguin Random House LLC

© 2018 für die deutschsprachige Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Ulla Höfker

© Innenillustrationen 2017 by Kevin Keele

Umschlaggestaltung: sempersmile, München

Umschlagmotiv: © Don Lumsden/Arcangel Images

ml • Herstellung: uk

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-22550-6
V002

www.cbj-verlag.de

Für Squishy und die Anhänger

ANMERKUNG DES AUTORS

Der nachfolgende Bericht basiert auf einer Fallakte aus dem Institut für Magische Wesen (IMW). Im Bestreben, die Öffentlichkeit über diese bislang unbekannte Behörde zu informieren, ließen meine Quellen mir Kopien aus den IMW-Archiven zukommen. Soweit ich es beurteilen kann, ist »Der Fluch des Greifen« der erste Fall des Instituts, an dem Sam London beteiligt war.

Die IMW-Fallakten beinhalten Zeugenbefragungen, Ermittlungsvermerke, Recherchematerial sowie Berichte, die fallübergreifende Erklärungen zu den Ereignissen bieten. Da dieses Informationsmaterial zumeist trocken und faktenüberladen war, habe ich mir eine spannendere Interpretation der Akteninhalte erlaubt. Sämtliche Details wurden in meine Schilderung übernommen, doch habe ich sie so ausgeschmückt, dass der Leser Spaß daran hat. Ich habe im Text außerdem mehrfach auf das Quellenmaterial hingewiesen und eine Liste von Abkürzungen, Codes und Ausdrücken angefügt, um die Entschlüsselung des vom IMW angewandten Codierungssystems zu erleichtern.

Da diese Akten als geheim eingestuft wurden, habe ich Datumsangaben geschwärzt und einige Namen verändert, um die Identität von Zeugen und Personen, die noch immer im Institut beschäftigt sind, zu schützen.

T.C.G.

PROLOG

Der Augenblick, in dem Penelope Naughton den Troll im IHOP, dem International House of Pancakes, sah, veränderte alles. Sie hatte noch nie einen Troll zu Gesicht bekommen – zumindest nicht im wirklichen Leben. Außer in Hollywoodfilmen war sie noch nie mit Fabelwesen in Berührung gekommen. Aber das hier war weder Tolkiens Mordor noch Rowlings Hogwarts, sondern Eureka in Kalifornien, eine Stadt, bekannt für ihre viktorianischen Herrenhäuser, für Kunstfestivals und den ältesten kalifornischen Zoo.

Nichtsdestotrotz musste Penelope jetzt feststellen, wie sehr dieser Troll denen ähnelte, die sie auf der Leinwand gesehen hatte. Das Wesen war groß und hatte gebräunte, ledrige Haut. Seine Ohren waren enorme Auswüchse runzligen Fleischs, oben spitz und unten so lang, dass sie bis über sein Kinn herunterhingen. Die gewaltige Hakennase des Trolls war etwas nach oben gebogen, sodass die Nasenlöcher mit reichlich dunklem, lockigem Haar zu sehen waren. Seine weit auseinanderstehenden Augen wiesen zwei pechschwarze Pupillen auf, die in gelben Seen schwammen. Seine langen, behaarten Arme reichten bis zu den Knien und endeten in rauen Händen mit spitzen Fingernägeln. Das Kleinste am Troll war sein Kopf; auf seinem massigen Körper wirkte er besonders winzig. Im Vergleich zu einem Menschen war dieses Wesen einfach vollkommen unproportioniert.

Beim Anblick des Trolls merkte Penelope, wie ihr Verstand auscheckte und der Instinkt übernahm. Sie sprang auf, zeigte mit dem Finger und schrie so laut, dass der erschrockene Koch einen Pfannkuchen beim Wenden mit so viel Schwung in die Luft schickte, dass er an der Decke kleben blieb. Während Penelopes Geschrei die Gäste und das Personal verständlicherweise irritierte, schien der Troll weniger überrascht als vielmehr panisch. Sein Gesichtsausdruck war der eines Kindes, das mit der Hand in der Keksdose erwischt wird; wobei die Hand des Trolls selbst die Größe einer Keksdose hatte. Er schien ganz bewusst jeden Augenkontakt mit Penelope zu vermeiden, als er aus seiner Nische wuselte und durch die Ausgangstür verschwand.

Als ob diese Erfahrung nicht seltsam genug gewesen wäre, wurde Penelope das Gefühl nicht los, dass dieses Wesen etwas Vertrautes an sich hatte. Es war, als würde sie es kennen. Aber wie war das möglich? Das kurzzeitige Aussetzen ihres Verstandes war sicherlich der Tatsache geschuldet, dass sie erst vor Kurzem Herr der Ringe gesehen hatte. Ja, das musste der Grund sein. Schließlich schien seine Anwesenheit sonst niemanden gestört zu haben. Es hatte sich lediglich um einen großen, kräftigen Kerl gehandelt, der sein Frühstück genoss. Trolle gab es nicht.

* * *

48 Stunden später war Penelope auf dem Weg zum Redwood Nationalpark und sie konnte gar nicht schnell genug dort ankommen. Ihr Arzt hatte ihr geraten, erst in frühestens sechs Monaten wieder an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren. Bei der 33-Jährigen war eine seltene Form plötzlich auftretender Amnesie diagnostiziert worden. Der Gedächtnisverlust schien nicht durch eine Verletzung hervorgerufen worden zu sein und betraf lediglich die letzten drei Jahre ihres Lebens. An ihre Kindheit – eine unbeschwerte Zeit am Stadtrand von Tallahassee in Florida – konnte Penelope sich problemlos erinnern. Sie erinnerte sich an ihre Schulzeit und die wütenden Blicke, die man ihr zuwarf, weil sie in Naturwissenschaften den Notenschnitt versaute. Auch an ihre Liebe zur Natur erinnerte sie sich und das war das Wichtigste.

Penelope hatte immer davon geträumt, im Freien arbeiten zu können, und im Alter von zwölf Jahren nahm dieser Wunsch während eines Besuchs im Everglades Nationalpark konkrete Formen an. Der Ranger Woodruff Sprite, ein exzentrischer Typ, bestärkte Penelope in ihrem Wunsch und unterstützte sie auf ihrem Weg, der sie schließlich an die staatliche Universität von Oregon führte. Dort machte sie ihren Bachelor in Zoologie und Tierbiologie und ihren Master in Forstwirtschaft. Die erste Zeit ihres Berufslebens verbrachte sie in einem Labor, wo sie für den U.S. Wildlife Service, den U.S. Forest Service und den National Park Service Strategien zum Schutz der Tiere und zum Erhalt ihrer natürlichen Lebensräume entwickelte. Sechs Jahre später führte diese Arbeit sie zu ihrem Traumjob: Ranger im Redwood Nationalpark. Und dort setzte ihr Gedächtnis unerklärlicherweise aus.

Penelope hatte sich bei einer Freundin von ihrer Amnesie erholt, doch ihr wahres Zuhause war im Park. Sie konnte sich nicht einmal mehr erinnern, eines der Holzhäuser im Park bezogen zu haben, die die Behörde allen ihren Rangern zur Verfügung stellte, hoffte jedoch, dass ihre Rückkehr ihrem durcheinandergeratenen Gedächtnis auf die Sprünge helfen würde. Als sie ihr zweistöckiges Häuschen im Herzen des Parks erreichte, kam es ihr leider so gar nicht vertraut vor. Es war klein, ein wenig heruntergekommen und auf allen vier Seiten umgeben von den herrlichen Redwood-Bäumen, die den Park berühmt machten. Sie ragten in Ehrfurcht gebietende Höhen auf, und ihre Stämme waren so dick, dass man einen Autotunnel hätte hindurchsägen können.

Penelope stieg die knarrenden Stufen zur Vordertür ihres Hauses hinauf. Während sie noch ihre Schlüssel sortierte, ließ ein Geräusch aus dem Wald sie zusammenzucken. Sie hielt den Atem an und lauschte, wartete darauf, dass es sich wiederholte. Und das tat es. Es war das Wiehern eines Pferdes. Das Geräusch erinnerte sie an etwas. Sie kannte dieses Wiehern …

»Gus?«, rief sie aus einem Impuls heraus.

Im nächsten Moment lief Penelope die Stufen wieder hinunter und in den Wald hinein. Die Erinnerung war nicht klar – es war mehr ein Gefühl oder eine Intuition. Aber sie kannte diesen Namen. Gus. Er war ein Freund. Und sie konnte es nicht erwarten, ihn wiederzusehen. Sie folgte dem Wiehern, das sie vom Weg ab und tiefer in den Wald hineinführte. Sie begann zu laufen und rannte, so schnell ihre Füße sie trugen, durchs Unterholz. Durch eine dicht stehende Baumgruppe kämpfte sie sich auf eine Lichtung und dort endlich entdeckte sie ihren Gus. Doch sie konnte kaum glauben, was sie da sah.

Gus war ein herrlicher Schimmel, dessen Fell in der Sonne glänzte. Fast hätte das Glitzern Penelope von etwas noch Außergewöhnlicherem abgelenkt: Gus besaß Flügel. Wunderschöne, gefiederte Schwingen mit einer Spannweite von über drei Metern, die sich im Wind sacht auf und ab bewegten. Während sie noch versuchte, diese Unmöglichkeit zu verarbeiten, sah sie einen Mann neben Gus stehen, der die Zügel des Schimmels hielt.

»Penelope?«, fragte der Mann in einem leichten Südstaatenakzent. »Du bist früher als erwartet zurück. Ich dachte, Doktor …«

»Wer bist du?«, unterbrach Penelope ihn.

»Ah, ein wenig zu früh, wie ich sehe«, antwortete der Mann mit einem Lächeln. »Ich bin Vance. Vance Vantana, und das ist …«

»Gus«, unterbrach Penelope ihn erneut.

»Genau. Gus«, erwiderte Vance. »Du erinnerst dich also. Sehr gut.«

Es entstand eine kurze Pause, während der Penelope eine Bestandsaufnahme ihrer Situation machte. Der Fremde sah gut aus. Er war groß, ungefähr fünfunddreißig Jahre alt, hatte eine athletische Figur und einen wilden Blick, der eher zu einem verbrecherjagenden Texas-Ranger passte als zu einem Park-Ranger. Doch er trug die übliche Ranger-Uniform – tiefgrüne Jacke und Hose und den typischen beigen Hut mit breiter Krempe.

Mit ausgestreckter Hand kam er nun auf sie zu. »Schön, dich wiederzusehen.«

»Wieder?«, fragte sie verwundert. War sie diesem Mann schon einmal begegnet? Jetzt, da sie darüber nachdachte, kam ihr sein Gesicht vertraut vor, doch sie wusste nicht, woher. Dann wurde Penelopes Blick auf sein Abzeichen gelenkt, das die Sonne reflektierte, und ihr fiel auf, dass etwas daran nicht stimmte. Statt dem Bild eines Büffels und den Worten »Innenministerium der Vereinigten Staaten« war auf diesem ein Tier zu sehen, das den Körper eines Löwen und den Kopf und die Flügel eines Adlers hatte. Sie erkannte darin sofort das als Greif bekannte Fabelwesen. Die Worte um das Tier herum machten sie ebenfalls stutzig – »Institut für Magische Wesen«.

Penelope war gedanklich so mit dem Abzeichen beschäftigt, dass sie Vance nicht die Hand schüttelte. Verlegen zog er sie zurück.

»Trevor, Gus und ich haben uns Sorgen um dich gemacht«, sagte er.

»Trevor?«

Vance wies auf den Rand der Lichtung, wo eine schwerfällige Gestalt auftauchte. Penelopes Augen weiteten sich überrascht, als sie niemand anderen als den Troll aus dem IHOP vor sich sah. Plötzlich wurde es dunkel um sie. Vance sprang an ihre Seite und fing sie auf, als sie ohnmächtig wurde.

»Na, super. Du hast sie schon wieder erschreckt«, schimpfte Vance.

Der Troll zuckte unschuldig mit den Schultern. »Nicht mit Absicht«, verteidigte er sich. Er hatte eine ungewöhnlich hohe Stimme. »Außerdem hat sie mich zuerst zu Tode erschreckt. Schon vergessen? Ich konnte nicht mal meine Pfannkuchen aufessen.«

»Was für eine Tragödie«, schalt Vance. »Jetzt bring sie nach Hause. Und sobald sie zu sich kommt, erklärst du ihr alles. Und nimm Carl mit – er konnte sie immer beruhigen.«

Als Trevor sich umdrehte und mit der bewusstlosen Penelope auf den Armen in Richtung Holzhaus marschieren wollte, legte Vance ihm die Hand auf die Schulter, damit er stehen blieb.

»Versuche, möglichst viel darüber herauszufinden, was passiert ist, Trev«, flüsterte er ahnungsvoll. »Ihr Gedächtnisverlust hatte keine natürliche Ursache.«

Kapitel 1

DER TRAUM

Wieder einmal wanderte Sam London durch die Wüste. Nachdem er nun 14 Nächte hintereinander denselben Traum gehabt hatte, war der zwölfjährige Junge mit dem braunen Haar und den blauen Augen an seinem Limit angelangt. Als er über die inzwischen nur allzu vertraute Landschaft blickte, kochte der Frust unaufhaltsam in ihm hoch. Würde die heutige Nacht sich als genauso sinnlos erweisen wie all die anderen, die er an diesem Ort verbracht hatte? Oder hatte dieser Traum vielleicht doch einen Sinn, den Sam aus dem einfachen Grund nicht erkannte, weil er immer zu früh aufwachte? Ob es der Wecker war, der ihn für die Schule aus dem Bett klingelte, oder seine Mutter mit ihrem Operngesang unter der Dusche – der einzige Ort mit einer der Carnegie Hall ähnlichen Akustik, wie sie behauptete –, Sam wurde jeden Morgen in die Wirklichkeit zurückgeholt, bevor irgendetwas von Bedeutung passierte.

Die Tatsache, dass es ein Klartraum war, er sich also vollkommen bewusst war, dass er träumte, steigerte Sams Frust noch. Aus irgendeinem Grund war es ihm nicht erlaubt, diesen glücklichen Umstand auszunutzen. Davor hatte Sam nur ein Mal einen Klartraum gehabt. Darin hatte er sich übermenschliche Kräfte verliehen und die Welt vor einer Armee blutrünstiger Werwölfe gerettet. Dagegen musste er in der dritten Nacht seiner Wüstenodyssee, als er versucht hatte, die Schwerkraft aufzuheben, lediglich feststellen, dass ein Sturz im Traum genauso wehtut wie in der Wirklichkeit, zumindest bis man die Augen öffnet. Was er auch versuchte, der Sam in seiner Traumwelt war so »unbesonders« wie der Sam in der realen Welt.

Das Wort »unbesonders« war ganz allein auf Sams Mist gewachsen. Er beschrieb damit Leute, die keine erkennbare Begabung oder Bestimmung vorweisen konnten. In Sams Augen gab es Kinder, die dazu geboren waren, Sport zu treiben, andere hatten eine genetische Veranlagung zum Genie und wieder andere waren geborene Künstler mit einer grenzenlosen Kreativität. Sam London konnte sich keiner dieser Eigenschaften rühmen. Er war lediglich ein Durchschnittskind von durchschnittlicher Größe, mit durchschnittlichem Aussehen und durchschnittlichen Noten. Und bis auf die Tatsache, dass sein Traum sich ständig wiederholte und noch einige andere Besonderheiten aufwies, war er wie Sam – ziemlich durchschnittlich.

Während der letzten beiden Wochen fand sich Sam jede Nacht an einer menschenleeren zweispurigen Straße wieder, zu deren Seiten sich rechts und links eine scheinbar endlose Wüste erstreckte. Der einzige Hinweis auf Zivilisation war eine Tankstelle ungefähr eine halbe Meile die Straße hinauf. In der vorletzten Nacht hatte Sam die Tankstelle erreicht und konnte sich umschauen. Zu seiner großen Enttäuschung entpuppte sich das Gebäude als so verlassen wie die Landschaft. Die Regale in dem kleinen Supermarkt waren leer und zu allem Unglück funktionierte auch der Getränkeautomat nicht. Doch Sam war nicht der Typ, der so schnell aufgab. Er klammerte sich an die Hoffnung, dass dieser Traum doch noch die ein oder andere Überraschung bereithielt. Obwohl ihm auch der Gedanke kam – wenn auch nur für einen Moment –, dass diese Umgebung auf einer gewissen Ebene eine Metapher für sein Leben sein könnte.

Sam hatte nicht nur die Tankstelle inspiziert, sondern seine Zeit auch genutzt, um etliche Felsengebilde zu erkunden, die über das Gelände verteilt waren. Er hatte zwar noch nichts wirklich Interessantes gefunden, doch eine Möglichkeit stand noch offen. Das größte Steingebilde ragte etwa 300 Meter von der Tankstelle entfernt aus dem Boden. Sam hatte diese Formation bisher gemieden, da sie die höchste und folglich die bedrohlichste von allen war. Doch heute war die Nacht, in der er sämtliche Steine umdrehen würde, egal wie hoch sie aufgetürmt waren.

Die Zeit war nicht auf Sams Seite. Sein Wecker tickte in Richtung sieben Uhr. Jeden Moment konnte er Sams Dämmerschlaf – und seiner Suche – ein jähes Ende setzen. Mit diesem Wissen im Hinterkopf, rannte Sam auf sein Ziel zu – ein hoch aufgetürmter Berg aus Granitblöcken auf ebenfalls granitartigem Untergrund. Die Formation war mindestens neun Meter hoch und gipfelte in einem Plateau, das möglicherweise die Antworten bereithielt, hinter denen Sam so verzweifelt her war. Er suchte sich seine erste »Stufe«, einen großen, unförmigen Felsbrocken, der leicht zu erklimmen war. Seine Turnschuhe fanden auf dem sandigen Felsen keinen besonders guten Halt, und er hätte ein wenig von dieser Kreide für seine Hände gebrauchen können, auf die sich richtige Kletterer verlassen. Doch es dauerte nicht lang, und er war nur noch einen guten Meter von seinem Ziel entfernt. Dieser Teil des Aufstiegs war besonders schwierig, da der Fels lockerem Gestein Platz gemacht hatte und fester Halt ein kostbares Gut war.

Sam streckte sich nach einer Vertiefung im Fels, hakte die Finger hinein und versuchte, sich zum Sieg hinaufzuziehen. Doch das Gestein zerbröselte unter seiner Hand, und er merkte, wie er plötzlich wieder zurück in Richtung Boden rutschte. Verzweifelt ruderte er mit den Armen wie ein panischer Tintenfisch, um irgendwo Halt zu finden und seinen raschen Abstieg aufzuhalten. Endlich erwischte er ein Stück Fels, das ein paar Zentimeter weit vorstand. Er packte es und begann sich wieder hinaufzuhangeln.

Als Sam sich über den Rand der Plattform hievte, war er fix und fertig und voller Dreck. Er richtete sich auf und blickte sich um. Bis auf den grandiosen Blick war dieses Plateau so aufregend wie die Erde unten. Er seufzte. Der Frust war ganz offiziell in Resignation übergegangen.

»Warum?«, fragte er das Universum laut. Das Universum machte sich nicht die Mühe zu antworten. Also beschloss er, nicht länger zu warten, bis sein Wecker oder seine Mom ihn weckten. Er würde dem Traum zeigen, dass er nicht alles mit ihm machen konnte, und sich selbst aufwecken. Allerdings musste er rasch feststellen, dass dies leichter gesagt als getan war. Sam versuchte es mit auf und ab Hüpfen, doch es half nichts, er blieb in der Wüste. Er schüttelte heftig den Kopf, was lediglich zur Folge hatte, dass ihm schwindelig wurde. Er schloss die Augen, kniff sie fest zu, öffnete sie wieder und sah … dass er immer noch da war. Also unternahm Sam alle drei Versuche gleichzeitig: er schüttelte den Kopf, kniff die Augen zu und stampfte mit aller Kraft mit dem Fuß auf.

»Aufwachen! Aufwachen! Aufwachen!«, rief er.

Die Erde unter ihm bebte, eine kurze, heftige Erschütterung, die ihn auf die Knie zwang. Eine Staubwolke bauschte sich um ihn herum auf und er musste husten. Ein Schmutzschleier in der Luft nahm ihm die Sicht, doch als er sich verzog, stellte Sam fest, dass er nicht mehr allein in der Wüste war. Er runzelte die Stirn und sein Unterkiefer klappte herunter. Er war fassungslos. Das Wesen, das da vor ihm stand, war über vier Meter groß. Es hatte den Kopf eines Adlers mit einer majestätischen weißen Federkrause. Sein Schnabel war nach unten gebogen und endete in einer gefährlichen Spitze. Smaragdgrüne Augen leuchteten in der Sonne. Die Flügel mit reinweißen und hellbraunen Federn hatten eine Spannweite von mehreren Metern. Obwohl es sich auf den ersten Blick um einen Vogel zu handeln schien, wurde Sams Blick auf die Brust des Tieres gelenkt. Sie war nicht mit Federn, sondern mit Haaren bedeckt. Ein kastanienbraunes Fell überzog seinen Rumpf, die vier kräftigen Beine und die mächtigen Pfoten bis hin zum langen Schwanz mit der Quaste am Ende. Dieser Adler war gleichzeitig ein Löwe.

Sam rührte sich nicht. Die Antworten waren da, doch er hatte die Fragen vergessen. Er versuchte, Worte zu bilden. Das Wesen schaute auf ihn herab und er spürte seinen warmen Atem auf seinem Gesicht.

Und dann hörte er die leise Stimme eines mit Koffein vollgepumpten Radiomoderators.

»Guten Morgen, Benicia! Aufwachen, aufwachen! Hier ist euer schrill-schrulliger Weckzirkus mit Bob und Bob!«

»Oh nein. Nicht jetzt …«, stöhnte Sam, als er merkte, dass sich sein Radiowecker eingeschaltet hatte. Einen schlechteren Zeitpunkt hätte er gar nicht wählen können. Mit aller Kraft versuchte er, in seiner Traumwelt zu bleiben und die Fragen zu stellen, die sich in den vergangenen zwei Wochen angesammelt hatten. Sogar das Wesen schien enttäuscht, als Sam in die Realität zurückdriftete.

Hellwach lag er in seinem Bett. Seine Nerven vibrierten praktisch. Er schlug mit der Hand auf den Radiowecker, damit dieser verstummte, glitt unter der Decke hervor und ging geradewegs zu seinem Bücherregal.

Sams Zimmer spiegelte all die Bemühungen wider, die er unternommen hatte, um seine spezielle Begabung zu entdecken – das Besondere, das ihn aus der Masse herausheben würde. In einer Ecke standen eine Gitarre und ein Schlagzeug, die ausgemusterten Reste des Versuchs, seine musikalische Muse zu finden. Gleich neben den Instrumenten lag eine Sammlung von Sportutensilien: ein Hockeyschläger, ein Fußball, sogar ein Kricketschläger. Der Beweis seiner jüngsten Anstrengungen war vor den Sportartikeln aufgebaut – eine Staffelei mit einer Leinwand. Wie es aussah, hatte Sam versucht, seinen Werwolf-Klartraum in Acryl festzuhalten. Selbst nach subjektiven Standards war das Ergebnis ein absolutes Desaster.

Der Rest des Zimmers war Tieren gewidmet, sowohl real existierenden als auch solchen, die der Fantasie entsprangen. Drachen und Pandas, Panther und Yetis tummelten sich in einem tierischen Sammelsurium, dargestellt auf Postern, als Porzellanfigürchen oder Plüschexemplare. Sam hatte sich schon, solang er denken konnte, zu Tieren hingezogen gefühlt, besonders zu der mythischen Variante. Er fand sie cool, und das Beste an ihnen war, dass alle in ihrer Art einmalig waren, etwas, um das er sie zweifellos beneidete. Später würde man oft sagen, dass Sams Besonderheit ihn von allen Seiten umgab, er sich ihrer nur nicht bewusst war.

Sams Bücherregal war vollgestopft mit Geschichten über Fabelwesen. Bildbände, Lexika und Comics befeuerten seine Obsession. Er strich mit dem Finger über die Rücken seiner eindrucksvollen Sammlung, bis er fand, wonach er suchte. Er zog das Buch heraus und schlug es auf. Es trug den Titel Illustrierter Atlas außergewöhnlicher Tiere und enthielt einen anschaulichen Katalog von Wesen, die nach Meinung der meisten Leute nichts als Fantasiegebilde waren. Sam fand die gesuchte Stelle, legte das Buch flach vor sich hin und betrachtete das Wesen aus seinem Traum. Die Zeichnung wirkte so lebendig, dass es eine Fotografie hätte sein können.

»Der Greif.« Sam las die Überschrift laut. Dann ging sein Blick zu der Beschreibung im Text:

Eines der ältesten und mächtigsten unter allen außergewöhnlichen Tieren. Hochintelligent und unermesslich stark, ist der Greif der Wächter und Beschützer der magischen Wesen dieser Welt. Nur wenige Menschen haben einen Greif gesehen und die Begegnung überlebt, sodass sie davon berichten konnten. Die Überlebenden erzählten von einer ungewöhnlichen Glückssträhne in den Tagen danach. Selbst diejenigen, die den Greif nicht wirklich gesehen haben, sondern ihm nur nahe waren, erlebten eine Welle des Glücks, oftmals im Zusammenhang mit Geld.

Auch wenn Greife von Natur aus nicht aggressiv sind, greifen sie an, wenn sie provoziert werden. Zu solchen Provokationen zählen u. a. die Bedrohung der Wesen, zu deren Schutz sie sich verpflichtet haben, sowie der Versuch, das Gold eines Greifen zu stehlen. Gold zählt zu den Schwächen dieses außergewöhnlichen Tieres. Es fühlt sich unwiderstehlich angezogen von dem Edelmetall und hortet es bekanntlich in großen Mengen. Somit sind die meisten durch Greife verursachten Todesfälle darauf zurückzuführen, dass das Opfer so dumm war, das Gold eines Greifen stehlen zu wollen.

Beim Frühstück war im Haus der Londons jeder sich selbst der Nächste. Sam war gewöhnlich als Erster unten in der Küche, schnappte sich eine Schüssel Frühstücksflocken oder gelegentlich auch einen Doughnut – falls es diese in der Woche wundersamerweise in den Einkaufswagen geschafft hatten. An diesem Morgen saß er an dem winzigen Küchentisch, nippte an einem Glas Orangensaft und dachte an sein nächtliches Abenteuer zurück. Ob es wohl auch Glück brachte, wenn man von einem Greif nur träumte? Der Himmel wusste, dass er und seine Mom es gut gebrauchen konnten. Solange er denken konnte, hatte sie immer zwei Jobs gehabt. Tagsüber arbeitete sie als Kunstlehrerin an der örtlichen Highschool und abends unterrichtete sie Kunstgeschichte an einer Volkshochschule in der Nähe. Sie war eine überdurchschnittlich begabte Künstlerin, und Sam hatte immer gehofft, sie hätte ihm ihr Talent vererbt. Das Werwolf-Bild hatte diese Hoffnung ein für alle Mal zerschlagen. Sams Mom behauptete, sie bräuchte zwei Jobs, um Geld für Sams Zukunft sparen zu können. Sie ermunterte ihren Sohn ständig, große Träume zu haben, und wollte sicherstellen, dass er nie das Gefühl hatte, in irgendeiner Art und Weise in der Falle zu sitzen.

»Oh, gut, du bist schon auf«, stellte Sams Mom fest, als sie in die Küche kam.

Sie hieß mit vollem Namen Odette Alexandra London, doch alle nannten sie nur Ettie. Sie war fünfunddreißig, schlank, fast schon schlaksig, und hatte langes rötlich braunes Haar und strahlend blaue Augen. Ettie war hübsch und noch hübscher, wenn sie lächelte, was sie oft tat. Und sie war ausgesprochen optimistisch, obwohl Sams Gefühl ihm sagte, dass in ihrem Leben etwas fehlte. Genau wie er hatte auch Ettie kaum Freunde. Sie traf sich auch nie mit Männern, obwohl sie Single war, seit Sam denken konnte. Sie redete nicht viel über Sams Vater, Marshall London, und Sam konnte sich nicht an ihn erinnern. Das einzige Foto, das er von seinem Vater besaß, stammte aus der Zeit, als Sam noch nicht geboren war. Es zeigte Ettie und Marshall am Fontana-See in North Carolina. Die beiden standen nebeneinander am Ufer und lächelten glücklich. Im Hintergrund schwammen Enten, Gänse und Schwäne.

Sam fragte sich oft, was mit diesem anscheinend so glücklichen Paar geschehen war. Obwohl er gern gewusst hätte, was seinen Vater dazu gebracht hatte, sie zu verlassen, sprach er nur selten mit seiner Mutter über dieses Thema. Er ging davon aus, dass sie noch nicht völlig darüber hinweg war – wofür die Tatsache sprach, dass sie jedes Mal, wenn er nach seinem Vater fragte, mit »Lass die Vergangenheit ruhen, Sam« antwortete und rasch das Thema wechselte.

»Ich hatte Angst, du hättest noch nicht geduscht«, bekannte Ettie und fügte mit einem Anflug von schlechtem Gewissen hinzu: »Ich bin ziemlich sicher, dass ich das ganze heiße Wasser verbraucht habe.«

Das überraschte Sam nicht. Sie verbrauchte immer das ganze heiße Wasser. Ihre Konzerte dauerten oft lang, und offenbar war eine Menge Wasserdampf dazu nötig. Ettie holte den O-Saft aus dem Kühlschrank und goss sich ein Glas ein. Dann setzte sie sich Sam gegenüber und atmete hörbar aus. Sam sagte nichts. Sein Gehirn arbeitete im Schnellgang.

»Ich habe gestern Kekse mitgebracht«, fuhr sie schließlich fort. »Die Sorte, die du magst. Sie sind im Schrank. Möchtest du für die Mittagspause ein Päckchen mitnehmen?«

Sam nickte, immer noch nicht ganz bei der Sache.

»Ich habe gerade das Wort ›Kekse‹ ausgesprochen und du hast nicht einmal geblinzelt. Was ist los? Du bist doch nicht krank, oder?«

»Nein, alles in Ordnung, Mom. Ich denke nur nach.«

»Du denkst nach? So früh am Morgen?« Sie sah ihn prüfend an. »Du hattest wieder diesen Traum, stimmt’s?«

Sam nickte. »Und dieses Mal war er anders.«

»Ach ja?«, fragte Ettie interessiert. »Erzähl.«

»Du willst es wirklich wissen?«

»Machst du Witze? Natürlich will ich es wissen. Ich musste mir diesen Traum jetzt einen Monat lang jeden Tag anhören …«

»Zwei Wochen.«

»Okay, aber gefühlt waren es zwei Monate. Was war so anders?«

»Ich habe etwas gesehen«, erwiderte Sam geheimnisvoll.

»Ja, gut. Und was?«

»Einen … Greif«, antwortete Sam zögernd.

Ettie lächelte und nickte, als hätte sie so etwas erwartet. »Oh. Einen Greif. So eine Mischung aus Löwe und Vogel, richtig? Cool.«

Sam spürte die dahinter liegende Skepsis und widersprach rasch. »Es ist nicht, was du denkst, Mom. Ich glaube, es hat etwas zu bedeuten.«

»Ich glaube ja auch, dass es etwas zu bedeuten hat, Liebes. Ich glaube, es bedeutet, dass du eine Menge von diesen Büchern gelesen hast und deine Wände vollgepflastert sind mit diesen Postern.«

Sam hatte gewusst, dass sie etwas in dieser Richtung sagen würde. Und vielleicht hatte sie ja recht. Aber etwas in ihm glaubte etwas anderes. Er glaubte, es bedeutete, dass hinter diesem Traum etwas Besonderes steckte und es an ihm lag herauszufinden, was es war.

SL001-180-20

Formular FD-11

Datum:

Ettie ließ Sam an der Middle School von Benicia aussteigen und fuhr die wenigen Blocks weiter zur Highschool. Sams Heimatstadt, Benicia in Kalifornien, war idyllisch und alt. 1853 und 1854 war sie eine der ersten Hauptstädte Kaliforniens. Sie lag an der Nordseite der Carquinez-Straße, einer Meerenge, die in die Suisun Bay überging. Das reichte gerade so, um der Stadt ein Gefühl von Meernähe zu verleihen.

Sam hatte noch nicht lang geschlafen, als Miss Capiz, seine Lehrerin, ihn anstupste und aufweckte. Als sei das noch nicht schlimm genug, sahen jetzt fast alle in der Klasse auch noch den hässlichen Speichelsee, der sich auf seinem Tisch gebildet hatte. Er entlockte seinen Klassenkameraden jede Menge Gelächter sowie ein paar »Igitt!«-Rufe von Mitschülerinnen. Die ganze Geschichte war entsetzlich peinlich und mehr als ein guter Grund, ihn nachsitzen zu lassen. Miss Capiz fragte Sam nach seinen Schlafgewohnheiten zu Hause und er erzählte ihr von der Wüste und dem Greif. Normalerweise gab Sam diese Art von Information nicht an relativ Fremde weiter, doch die von den Philippinen stammende Lehrerin unterstützte seine Obsession. Einmal durfte er sogar ein Referat über das Buch Die Geheimnisse des Ungeheuers von Loch Ness halten.

Als Sam den Greif erwähnte, weiteten sich Miss Capiz’ dunkle, mandelförmige Augen, die noch dunkler erschienen, wenn sie von ihrem glatten schwarzen Haar eingerahmt wurden. Sie erzählte vom Sarimanok, einem mythischen Vogelwesen aus ihrer Heimat, das wie der Greif Glück brachte. Das war wenigstens eine schöne Geschichte, nicht wie die von den Aswang, die Miss Capiz einmal erzählt hatte. Aswang waren Vampir-Werwölfe, die am liebsten Menschenfleisch fraßen und am allerliebsten das von Kindern. Danach hatte er eine Woche lang Albträume gehabt. Miss Capiz erzählte solche Geschichten anscheinend gern, weshalb Sam sich bemühte, zuzuhören und zustimmend zu nicken. Er wollte sich möglichst gut mit ihr stellen. Sam kannte ein paar Schüler, die es sich gleich zu Anfang des Schuljahrs mit ihr verdorben hatten. Seither informierte sie ihre Eltern in allen Einzelheiten über ihr Verhalten im Klassenzimmer und ihre Leistungen. Miss Capiz bat Sam, sie über seine Nachforschungen auf dem Laufenden zu halten, und entließ ihn mit einer Warnung – noch ein Nickerchen während des Unterrichts und sie würde seine Mutter anrufen. Er freute sich, ihren Zorn nicht zu spüren bekommen zu haben.

Als die Mittagspause kam, beschloss Sam, das Essen zugunsten eines greifzentrierten Informationsaufenthalts in der Schulbibliothek ausfallen zu lassen. Er grenzte seine Suche auf einige wenige Bücher ein, die er über das Katalogsystem fand, und machte sich auf den Weg durch das Regallabyrinth. Sein Magen knurrte ärgerlich, als er Der großmächtige Greif von Dr. Henry Knox aus dem Regal zog. Der Autor war Sam bekannt – wie jedem, der etwas für fantastische Kreaturen übrig hatte. Knox war ein renommierter Kryptozoologe und Wildbiologe, der Dutzende von Büchern zu den Themen magische Wesen und Kryptide geschrieben hatte. Kryptide sind Tiere oder Pflanzen, deren Existenz die Wissenschaft nicht anerkennt.

Das Studium der Kryptide läuft unter dem Begriff Kryptozoologie und gilt bei einigen als Pseudowissenschaft. Da Knox als angesehener Wissenschaftler galt, war seine Arbeit auf diesem Gebiet ungewöhnlich. Sam erinnerte sich, gelesen zu haben, dass er sein Interesse lediglich als Hobby bezeichnete. Knox zufolge spielte es keine Rolle, ob diese Wesen in unserer Welt existierten oder nicht. Sie lebten in unserer Fantasie, und das sei es wert, anerkannt und erforscht zu werden.

Die Illustration auf dem Umschlag des Buches weckte sofort Sams Interesse. Er sog scharf die Luft ein, als er auf die Zeichnung blickte, die unverkennbar den Greif aus seinem Traum zeigte. Es gab keinen Zweifel daran – das war derselbe Greif, den er letzte Nacht gesehen hatte. Die Bildunterschrift lautete: »Phylassos, der Vater aller Greife, Beschützer magischer Wesen und Hüter des Guten.« Sams leerer Magen zog sich zusammen.

Hatte er das Bild vielleicht in einem seiner vielen Bücher von Knox schon einmal gesehen? Hatte es sich in seinem Unterbewusstsein festgesetzt und dort nur auf den richtigen Moment gewartet, um aufzutauchen und in seinem Verstand den größtmöglichen Schaden anzurichten? Seine rationale Seite liebte diese Erklärung. Der Verstand spielt gern Streiche, dachte er. Das muss ein solcher Streich sein. Die andere Seite in ihm schrie natürlich das Gegenteil. Sie bestärkte ihn in seiner Vermutung, dass es sich um mehr als einen Streich handelte. Dieser innere Kampf tobte, bis die Glocke ihn in die Wirklichkeit zurückbimmelte. Die Mittagspause war vorbei und sein Lehrer würde ihn in sechs Minuten zur fünften Stunde erwarten. Er lieh das Buch aus, da er unbedingt alles über Greife erfahren wollte, was es zu erfahren gab. Seine Hausaufgaben würden warten müssen.

Wie an jedem anderen Schultag brachte Sams Mom ihren Sohn nach Hause, bevor sie zur Volkshochschule aufbrach, um dort ihren Kurs zu geben. Sam freute sich über die Zeit allein. Er griff sich einen Keks aus der Packung, schaltete den Fernseher ein und ließ sich auf die Couch in ihrem Wohn-Arbeits-Esszimmer fallen. Es ging eng zu in der Dreizimmerwohnung, die seine Mutter gemietet hatte, aber sie war gemütlich, sauber, und, was das Wichtigste war, billig. Er holte das Buch über Greife aus seinem Rucksack, um an der Stelle weiterzulesen, an der er aufgehört hatte.

Sam hatte sich gerade wieder in das Buch vertieft, als der Fernseher ihn ablenkte. Die Stimmen der Reporter störten ihn beim Lesen. Musik wäre sicher besser. Sam griff nach der Fernbedienung, um auf einen Musiksender umzuschalten, hielt jedoch inne, als er merkte, worum es in dem Bericht in den Regionalnachrichten ging. Ein Reporter stand vor einer Tankstelle, in der kürzlich ein Gewinnlos verkauft worden war. Was die Geschichte so berichtenswert machte, war die Tatsache, dass in dieser Tankstelle in den letzten beiden Wochen bereits mehrere Gewinnlose verkauft wurden. Die Folge davon war, dass jetzt jede Menge Leute davor Schlange standen. Manche waren Hunderte Meilen gefahren, um ein Los an der »Glückstanke« zu kaufen. Lotteriefunktionäre hatten ganz offiziell eine Untersuchung in die Wege geleitet, da die Chance, dass in ein und derselben Verkaufsstelle mehrere Gewinnlose verkauft wurden, gegen null ging. Ein Reporter interviewte gerade einige der passionierten Glücksspieler, die den langen Weg ins Death Valley, einer abgelegenen Gegend im Osten Kaliforniens, auf sich genommen hatten. Der Kameramann machte einen Schwenk, um zu zeigen, wie abgelegen die Tankstelle war. Und das war der Augenblick, in dem Sams Leben exponentiell an Aufregung zunahm. Die »Glückstanke« war die Tankstelle aus seinem Traum! Und nicht nur das: Der Kameraschwenk erfasste auch genau das Felsgebilde, auf dem der Greif aufgetaucht war.

Es gab sie tatsächlich. Die Wüste, in der sich Sam während der letzten beiden Wochen jede Nacht wiedergefunden hatte, war das Death Valley in Kalifornien und nichts anderes. Sam war noch nie dort gewesen. Nicht einmal Fotos hatte er davon gesehen. Sein Verstand schwenkte die weiße Flagge. Sein Traum war unleugbar wahr geworden. Doch die Frage blieb: In welchem Umfang?

Sicher, es gab die Tankstelle und auch das Felsengebilde, doch wie stand es mit dem Greif? Wartete der legendäre Phylassos auf diesem Felsen auf die Ankunft von Sam London? Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.