Buch
Unsere Biographie schlägt sich in unserer Gesundheit nieder: Wer als Kind vernachlässigt oder missbraucht wurde, leidet im Erwachsenenalter häufiger unter Erkrankungen. Das verdeutlicht die größte und wichtigste Studie zu diesem Thema: die ACE-Studie. Sie zeigt einen klaren wissenschaftlichen Zusammenhang zwischen Belastungsfaktoren in der Kindheit und dem Ausbruch körperlicher Erkrankungen und seelischer Störungen bei Erwachsenen. Doch mit Donna Jackson Nakazawas Resilienz-Programm lassen sich die biologischen Folgen von frühem toxischem Stress beseitigen und Traumata heilen.
Autorin
Donna Jackson Nakazawa ist eine renommierte Gesundheitsjournalistin und schreibt über Themen aus den Bereichen Medizin, Integrative Gastroenterologie und Autoimmunerkrankungen. Neben Büchern verfasst sie regelmäßig Beiträge für Psychology Today oder die Washington Post. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Maryland, USA.
Donna Jackson Nakazawa
Wenn die Kindheit
krank macht
Frühe seelische Verletzungen –
die wahre Ursache für Übergewicht,
Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Co.
Aus dem amerikanischen Englisch
von Andrea Panster

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2016
unter dem Titel »Childhood Disrupted. How Your Biography Becomes Your Biology, and How You Can Heal« bei Atria, einem Imprint
von Simon & Schuster, Inc., in New York, USA.
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1. Auflage
Deutsche Erstausgabe April 2019
© 2019 Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Originalausgabe: © Atria Paperback, 2016
© 2015 by Donna Jackson Nakazawa
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur GmbH, München
Umschlagmotiv: © Getty Images/Martin Barraud
Lektorat: Judith Mark, Freiburg
JG ∙ Herstellung: cb
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-22552-0
V001
www.goldmann-verlag.de



Für Christian und Claire
Einführung
Füllen Sie den ACE-Fragebogen aus
TEIL I
WARUM WIR WERDEN, WIE WIR SIND
Kapitel 1 – Jeder Erwachsene war einmal ein Kind
Ärzte erweitern ihren Blickwinkel
Die Zeit heilt nicht alle Wunden
Der Körper vergisst nicht – und erzählt seine Geschichte
Die neue »Weltformel«
Auch »geringfügige« Kindheitsbelastungen zählen
Kapitel 2 – Unterschiedliche Belastungen, ähnliche Gesundheitsprobleme
Wie die Biographie zur Biologie wird
Warum Stress für Kinder besonders schädlich ist
Belastende medizinische Maßnahmen
Wenn wichtige genetische Schalter umgelegt werden
Immer in Alarmbereitschaft
Das Gefühl ständiger Bedrohung
Das Problem der Ungewissheit
Der Keim der Traurigkeit
Wie Kindheitsbelastungen Form und Größe des Gehirns verändern
Das entzündete Gehirn
Eine Verkettung unglücklicher Umstände: Stress, »Pruning« und Pubertät
Angeschlagen, aber noch auf den Beinen
Die wirklich gute Nachricht
Kapitel 3 – Warum leiden manche Menschen mehr als andere?
Wir brauchen ein gesundes Maß an Erschütterungen
Geheimnisse haben einen hohen Preis
Was schon ein einziger verlässlicher Erwachsener bewirken kann
Das Sensibilitätsgen
Das Rätsel der Wahrnehmung
Wiedersehen mit Rashomon – oder wie das Gedächtnis funktioniert
Kapitel 4 – Belastungen und das weibliche Gehirn: die Verbindung zu Autoimmunerkrankungen, Angst und Depressionen
Mädchen, Kindheitsbelastungen und Autoimmunerkrankungen
Das junge weibliche Gehirn ist auf einzigartige Weise verwundbar
Mädchen und der genetische Zusammenhang zwischen frühen Belastungen und späteren Depressionen
Kapitel 5 – Wann Eltern »gut genug« sind
Wenn Sie es besser machen möchten als Ihre Eltern
Wenn Eltern bei Belastungen überreagieren
Man kann schlecht geben, was das eigene Gehirn nicht kennt
Wie Kinder den Stress ihrer Eltern übernehmen
Gestresste Eltern – leidende Kinder
Wenn der Stress nicht von den Eltern kommt: Schule und Freunde
Wie die frühkindliche Biologie spätere Beziehungen beeinflusst
Die Neurobiologie der Liebe
Bindung ist ein biologischer Vorgang
TEIL II
DAS »POST CHILDHOOD ADVERSITY SYNDROME« ÜBERWINDEN: WIE WIR WERDEN KÖNNEN, WER WIR EIGENTLICH SIND
Kapitel 6 – Der Beginn Ihres Genesungswegs
Der Weg zur Heilung: Zwölf Schritte, die Ihnen helfen, der Mensch zu werden, der Sie eigentlich sind
1. Füllen Sie den ACE-Fragebogen aus
2. Ermitteln Sie Ihren Resilienzwert
3. Heilen Sie sich durch Schreiben
4. Malen Sie es auf
5. Achtsamkeitsmeditation – die beste Möglichkeit, das Gehirn zu reparieren
6. Tai-Chi und Qigong
7. Mindsight
8. Liebende Güte
9. Vergebung
10. Den Körper bewegen, den Körper heilen
11. Steuern Sie den Geist über den Darm
12. Verbundenheit schaffen
Kapitel 7 – Professionelle Hilfe bei der Überwindung des »Post Childhood Adversity Syndrome«
1. Die wichtige Rolle der Therapie
2. Somatic Experiencing (SE)
3. Geführte und kreative Visualisierung und Hypnose
4. Neurofeedback
5. EMDR und die Desensibilisierung gegenüber Erinnerungen
Kapitel 8 – Wie man gut mit Kindern umgeht, wenn man selbst keine guten Eltern hatte: 14 Strategien, die Kindern helfen
1. Kümmern Sie sich um Ihr »Päckchen«
2. Verwechseln Sie chronischen unvorhersehbaren toxischen Stress in der Kindheit nicht mit Herausforderungen, die Resilienz fördern
3. Sorgen Sie dafür, dass Ihre Kinder sich wahrgenommen, geborgen, getröstet und sicher fühlen
4. Sehen Sie Ihrem Kind tief in die Augen
5. Entschuldigen Sie sich nach einem Ausraster sofort
6. Bestätigen Sie alle Emotionen Ihres Kindes und zeigen Sie ihm, dass sie normal sind
7. Verstärken Sie gute Gefühle
8. Stehen, sehen, gehen
9. Benennen Sie schwierige Emotionen
10. Die unglaubliche Kraft der 20-Sekunden-Umarmung
11. Schaffen Sie ein Klima der Offenheit
12. Geben Sie Geschichten von generationsübergreifender Traumatisierung einen neuen Rahmen
13. Ein Kind braucht einen verlässlichen Erwachsenen oder Mentor
14. Achtsamkeit an Schulen
Fazit
Neue medizinische Horizonte
Vielversprechende Entwicklungen in der Kinderheilkunde
Sprechen wir über belastende Kindheitserfahrungen
Dank
Anmerkungen
Verwendete und weiterführende Literatur
Register
Einführung
Dieses Buch untersucht, wie wir von den Erfahrungen in unserer Kindheit geprägt und zu den Erwachsenen gemacht werden, die wir dann später einmal sind. Neueste Forschungen zeigen: Was uns nicht umbringt, macht uns nicht zwangsläufig stärker. Viel häufiger ist das Gegenteil der Fall: Die frühen chronischen Stressoren, Verluste und Belastungen, mit denen wir als Kinder konfrontiert werden, beeinflussen unsere Biologie auf eine Weise, die später über unsere Gesundheit bestimmt. Diese frühe biologische Entwicklung bestimmt unsere Tendenz zu so schwerwiegenden Krankheiten wie Herzerkrankungen, Krebs, Autoimmunerkrankungen, Fibromyalgie und Depressionen, wenn wir erwachsen sind. Sie bildet auch die Grundlage dafür, wie wir mit anderen in Beziehung treten, wie erfolgreich wir in Liebesangelegenheiten sind und wie gut es uns gelingt, für unsere eigenen Kinder zu sorgen und sie zu erziehen.
Ich begann, den Zusammenhang zwischen belastenden Erfahrungen in der Kindheit und dem Gesundheitszustand des Erwachsenen zu erforschen, nachdem ich mich ein gutes Dutzend Jahre lang mit mehreren Autoimmunerkrankungen herumgeschlagen hatte. Sie schränkten mein Leben ein, während meine Kinder klein waren und ich als Journalistin arbeitete. Als ich zwischen 40 und 50 war, wurde ich zweimal von einer Autoimmunerkrankung namens Guillain-Barré-Syndrom außer Gefecht gesetzt. Die Krankheit ähnelt der Multiplen Sklerose, setzt aber unvermittelter ein. Ich litt unter Muskelschwäche und allgemeinen Taubheitsgefühlen. Ich hatte einen Herzschrittmacher wegen vasovagaler Synkopen, bei denen es zu Bewusstlosigkeit und Krämpfen kommt. Die Anzahl meiner weißen und roten Blutkörperchen war so gering, dass meine Ärztin vermutete, in meinem Knochenmark würde sich etwas zusammenbrauen. Hinzu kam eine Schilddrüsenerkrankung.
Trotz alledem wusste ich, dass ich Glück hatte, am Leben zu sein, und war fest entschlossen, mein Leben voll auszukosten. Wenn die Muskeln in meinen Händen nicht mitspielten, umklammerte ich mit der Faust einen überdimensionalen Bleistift, um zu schreiben. Wenn ich die Treppe nicht hinaufkam, weil sich meine Beine sträubten, setzte ich mich auf halbem Wege hin und ruhte mich aus. Ich quälte mich durch Tage, an denen ich mit einer grippeartigen Erschöpfung kämpfte – und die Ängste verdrängte, was meinem Körper wohl als Nächstes zustoßen würde. Ich mogelte mich durch berufliche Telefonate, bei denen ich rücklings auf dem Boden lag. Ich sparte meine Energie für die Zeit mit meinen Kindern, meinem Mann und unser Familienleben auf. Ich tat, als könnte ich mit dieser Art von »Normalität« leben. Das musste ich, denn eine Alternative war nicht in Sicht.
Meine Fähigkeiten als Wissenschaftsjournalistin setzte ich immer mehr dafür ein, Frauen mit chronischen Erkrankungen zu helfen und über die Schnittstelle zwischen Neurowissenschaft, Immunsystem und den innersten Regungen des menschlichen Herzens zu berichten. Ich untersuchte die vielen verschiedenen Krankheitsauslöser, berichtete über Chemikalien in unserer Umwelt und unserer Nahrung, über die Gene und darüber, wie entzündungsfördernder Stress die Gesundheit schwächt. Ich informierte darüber, wie uns ein umweltbewusstes Leben, eine gesunde Ernährung mit naturbelassenen Lebensmitteln sowie Techniken wie die Geist-Körper-Meditation helfen können, wieder zu Kräften zu kommen und gesund zu werden. Auf Konferenzen hielt ich Vorträge für Patienten, Ärzte und Wissenschaftler. Es wurde meine Mission, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um den Leserinnen und Lesern, die in einem chronischen Kreislauf aus Leiden, Entzündungen oder Schmerzen gefangen waren, zu einem gesünderen und besseren Leben zu verhelfen.
Im Zuge dieser Bemühungen stieß ich im Jahr 2012 auf eine wachsende Zahl wissenschaftlicher Untersuchungen, die sich auf eine bahnbrechende Studie zur Bevölkerungsgesundheit stützten: die Adverse Childhood Experiences Study (dt. »Studie zu belastenden Kindheitserfahrungen«) oder ACE-Studie. Sie zeigt einen klaren wissenschaftlichen Zusammenhang zwischen verschiedenen Belastungsfaktoren in der Kindheit und dem Ausbruch körperlicher Erkrankungen und seelischer Störungen beim Erwachsenen. Zu diesen Traumata zählen verbale Demütigung und Herabsetzung; emotionale oder physische Vernachlässigung; körperliche oder sexuelle Misshandlung; wenn ein im Haushalt lebender Elternteil unter Depressionen oder psychischen Störungen leidet, alkoholabhängig ist oder unter einer anderen Suchterkrankung leidet; wenn das Kind die Misshandlung der Mutter mit ansehen muss; wenn es einen Elternteil aufgrund von Trennung oder Scheidung verliert. Die ACE-Studie untersuchte zehn Belastungsfaktoren,1 aber neuen Forschungen zufolge können sich auch andere Kindheitstraumata – wie der Tod eines Elternteils, Gewalt in der Nachbarschaft, Aufwachsen in Armut, wenn das Kind die Misshandlung von Geschwistern oder die Misshandlung des Vaters durch die Mutter mit ansehen muss sowie Schikanen durch einen Klassenkameraden oder Lehrer – langfristig auswirken.
Chronische Belastungen dieser Art verändern die Struktur des kindlichen Gehirns und die Expression von Genen, die den Ausstoß von Stresshormonen kontrollieren. Damit verursachen sie eine lebenslang überschießende entzündungsfördernde Stressreaktion und machen den späteren Erwachsenen anfällig für Erkrankungen. Die ACE-Forschung zeigt, dass 64 Prozent der Erwachsenen in ihrer Kindheit einem Belastungsfaktor, 40 Prozent zwei oder mehr Belastungsfaktoren ausgesetzt waren.
Meine Ärztin der Johns Hopkins University äußerte die Vermutung, dass mein Körper und mein Gehirn in Anbetracht der chronischen Belastungen meiner Kindheit wohl mein ganzes bisheriges Leben lang geradezu getränkt mit entzündungsfördernden toxischen Substanzen waren – was mich anfällig für die Erkrankungen machte, denen ich mich nun gegenübersah.
Meine Geschichte ist von Verlust geprägt. Ich war noch ein kleines Mädchen, als mein Vater plötzlich starb. Meine Familie musste kämpfen und entfremdete sich von der weitläufigen Verwandtschaft, mit der sie bis dahin eng verbunden gewesen war. Ich hatte meinem Vater außergewöhnlich nahegestanden. Er hatte mir das Gefühl gegeben, dass die Welt sicher und gut war und ich wertgeschätzt wurde. Er hat auf allen Familienfotos die Arme um mich gelegt, und ich lächle. Mit seinem Tod war meine Kindheit mit einem Schlag quasi über Nacht zu Ende. Wenn ich ehrlich bin, habe ich von jenem Tag an keine einzige »glückliche« Kindheitserinnerung mehr. Und niemand war schuld daran. Es war einfach so. Ich dachte auch nicht weiter darüber nach. In meinen Augen waren Menschen, die ständig in ihrer Vergangenheit und besonders in ihrer Kindheit wühlten, irgendwie suspekt.
Ich machte tapfer weiter. Die Zeit raste dahin. Ich baute mir ein gutes Leben auf, setzte mich in meiner Arbeit als Wissenschaftsjournalistin stark für wichtige Themen ein, heiratete einen wunderbaren Mann und zog Kinder groß, die ich über alles liebte – und für die ich alles tat, um am Leben zu bleiben. Aber wenn ich nicht gerade die Höhepunkte meines hart erkämpften Familienlebens genoss oder Zeit mit guten Freunden verbrachte, rang ich mit dem Schmerz. Ich fühlte mich wie eine Fremde auf dem Fest des Lebens. Mein Körper ließ mich niemals vergessen, dass ich im Inneren schon seit sehr langer Zeit einen großen Verlust kaschierte – da konnte ich mich noch so sehr bemühen. Ich hatte das Gefühl, »nicht so zu sein wie die anderen«.
Angesichts des neuen Forschungszweigs, der sich mit belastenden Kindheitserfahrungen beschäftigte, schien es plötzlich beinahe absehbar, dass sich mit Anfang 40 mein Gesundheitszustand verschlechtern und mich in die Knie zwingen würde – was in meinem Fall durchaus wörtlich zu verstehen war.
Wie so viele Menschen war ich überrascht und hatte sogar meine Zweifel, als ich von den Belastungsfaktoren erfuhr und hörte, dass vieles von dem, was uns als Erwachsenen widerfährt, untrennbar mit unseren Kindheitserfahrungen verbunden ist. Ich zählte mich nicht zu den Menschen, die in ihrer Kindheit belastende Erfahrungen gemacht hatten. Aber als ich den ACE-Fragebogen ausfüllte und meinen ACE-Wert errechnete, ergab meine Geschichte allmählich viel mehr Sinn. Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse waren ganz neu. Sie stützten aber auch alte Vorstellungen, die wir schon lange für wahr halten: »Das Kind ist der Vater des Mannes«, besagt eine Redensart – unsere Kindheitserfahrungen bestimmen zu einem guten Teil, wie wir als Erwachsene sind. Die Forschungen zeigten mir darüber hinaus, dass wir mit unserem Leid nicht allein sind.
133 Millionen US-Amerikaner leiden an chronischen Erkrankungen, 116 Millionen haben chronische Schmerzen. Die Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen Belastungen in der Kindheit und Erkrankungen beim Erwachsenen können unsere gesamten Genesungsbemühungen beeinflussen. Mit diesem Wissen gerüstet können Ärzte und Therapeuten, Psychologen und Psychiater ihre Patienten besser verstehen und neue Erkenntnisse gewinnen, um ihnen zu helfen. Dieses neue Wissen wird uns auch helfen sicherzustellen, dass die Kinder in unserem Leben – deren Eltern, Mentoren, Lehrer oder Trainer wir sind – nicht unter den Langzeitfolgen derartiger Belastungen zu leiden haben.
Ich wollte so viel wie möglich über dieses Thema in Erfahrung bringen und interviewte zwei Jahre lang die führenden Wissenschaftler, die die Auswirkungen von belastenden Kindheitserfahrungen und toxischem Stress in der Kindheit erforschen und analysieren. Ich durchforstete die 70 Forschungsarbeiten der ACE-Studie und mehrere hundert weitere Studien der besten amerikanischen Forschungseinrichtungen, die diese Ergebnisse bestätigen und ergänzen. Darüber hinaus begleitete ich 13 Menschen, die frühen Belastungen ausgesetzt waren, als Erwachsene mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hatten, und denen es gelang, sich einen eigenen lebensverändernden Weg körperlicher und emotionaler Heilung zu bahnen.
In diesem Buch untersuche ich, wie belastende Kindheitserfahrungen Gehirn und Körper schädigen können; wie diese unsichtbaren Veränderungen zur Entstehung von Krankheiten – darunter auch Autoimmunerkrankungen – beitragen können, die erst in späteren Jahren auftreten; warum manche Menschen besonders anfällig für die Folgen früher Belastungen sind; warum Mädchen und Frauen stärker betroffen sind als Männer; und wie sich frühe Belastungen auf unsere Fähigkeit auswirken, zu lieben und selbst Kinder großzuziehen.
Ebenso wichtig ist mir die Frage, wie wir die biologischen Folgen von frühem toxischem Stress beseitigen und wieder zu den Menschen werden können, die wir eigentlich sind. Ich hoffe, ich kann den Leserinnen und Lesern helfen, die Zeit zu verkürzen, in der sie in ihren Schmerzen gefangen sind.
Bitte behalten Sie bei der Lektüre dieses Buches Folgendes im Hinterkopf:
● Belastende Kindheitserfahrungen haben nichts mit den unvermeidlichen kleinen Herausforderungen zu tun, die Kindern Resilienz (psychische Widerstandsfähigkeit) verleihen. In einer glücklichen Kindheit gibt es viele ganz normale Momente, in denen es nicht so läuft, wie ein Kind sich das vorstellt; in denen Eltern ausrasten und sich dafür entschuldigen; in denen Kinder scheitern und lernen, es noch einmal zu versuchen. Belastende Kindheitserfahrungen sind etwas ganz anderes, nämlich beängstigende, wiederholt auftretende, unvorhersehbare Stressoren – und oft fehlt einem Kind die nötige Unterstützung durch Erwachsene, um sie unbeschadet zu überstehen.
● Es besteht ein Zusammenhang zwischen belastenden Kindheitserfahrungen und einem deutlich höheren Risiko, als Erwachsener krank zu werden. Aber sie sind nicht der einzige Faktor. Krankheiten sind immer multifaktoriell. Auch die Gene sowie die Gefährdung durch Giftstoffe und Krankheitserreger spielen eine Rolle. Allerdings wiegen weitere krankheitsfördernde Faktoren bei Personen, die belastende Kindheitserfahrungen gemacht und toxischen Stress erlebt haben, erheblich schwerer. Ich werde dies mit einem einfachen Bild verdeutlichen: Stellen Sie sich vor, Ihr Immunsystem wäre ein Fass. Wenn Sie aufgrund von Chemikalien, Viren, Infektionen, einer schlechten Ernährung mit industriell verarbeiteten Nahrungsmitteln sowie chronischen oder akuten Stressoren in Ihrem Leben mit zu vielen Umweltgiften in Berührung kommen, füllt sich das Fass allmählich. Und irgendwann geschieht etwas, das es wie der berühmte letzte Tropfen zum Überlaufen bringt und Sie krank macht. Wenn man dem chronischen unvorhersehbaren Stress belastender Kindheitserfahrungen ausgesetzt war, ist das in etwa so, als würde man schon mit einem halb vollen Fass ins Leben starten. Kindheitsbelastungen sind nicht der einzige Faktor, der darüber entscheidet, wer später einmal krank wird. Aber sie erhöhen die Wahrscheinlichkeit.
● Die ACE-Forschung überschneidet sich in einigen Bereichen mit den Forschungen zur posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Kindheitsbelastungen können eine erheblich größere Bandbreite an Folgen für die körperliche und emotionale Gesundheit haben als die offensichtlichen Symptome einer posttraumatischen Belastung. Sie sind nicht identisch.
● Auf Kindheitsbelastungen wie bittere Armut und Gewalt in der Nachbarschaft wird in den ursprünglichen Forschungen nicht gesondert eingegangen. Aber Kinder, die in einer gefährlichen Gegend mit Armut und Bandenkriminalität oder irgendwo auf der Welt in einem Kriegsgebiet aufwachsen, sind dadurch zweifellos toxischem Stress ausgesetzt. Inzwischen werden auch diese Zusammenhänge genauer untersucht. Es handelt sich um einen wichtigen Forschungsbereich. Ich werde an dieser Stelle allerdings nicht versuchen, darauf einzugehen; dazu bedarf es eines weiteren – aber gleichermaßen wichtigen – Buches.
● Belastende Kindheitserfahrungen sind keine Entschuldigung für haarsträubendes Benehmen. Sie sind kein Freibrief, um alles auf die Kindheit zu schieben. Die Forschung eröffnet uns die Möglichkeit, echte dauerhafte körperliche und emotionale Veränderungen auf eine völlig neue Weise anzugehen. Dabei geht es keineswegs darum, sich in Ausreden zu flüchten.
● Die Forschungen sind keine Aufforderung, den Eltern die Schuld zu geben. Kindheitsbelastungen werden oft über Generationen weitergegeben, und die Ursprünge der Muster von Vernachlässigung, Misshandlung und Not liegen fast immer viele Generationen zurück.
Die neuen Forschungen, die sich mit belastenden Kindheitserfahrungen und toxischem Stress beschäftigen, bieten uns eine neue Möglichkeit, die Geschichte des Menschen zu verstehen: warum wir leiden; wie wir unsere Kinder großziehen, erziehen und fördern; wie wir im Rahmen unseres Gesundheitssystems mehr für die Vorbeugung und Behandlung von Krankheiten tun können und wie wir eine sehr viel tiefere Heilung erzielen können, als wir bislang für möglich hielten.
Dieser letzte Punkt ist auch der beste. Das Gehirn, das in der Kindheit besonders veränderbar ist, bleibt ein Leben lang formbar. Inzwischen haben Forscher in aller Welt eine Reihe erfolgreicher Möglichkeiten entdeckt, um die Schäden zu beheben, die belastende Kindheitserfahrungen Gehirn und Körper zufügen. Unabhängig davon, wie alt Sie oder Ihre Kinder sein mögen, gibt es relativ einfache, wissenschaftlich untermauerte Schritte, um das Gehirn gewissermaßen neu zu starten, neue und heilende Nervenbahnen anzulegen und der Mensch zu werden, der Sie sein sollen.
Um festzustellen, welchen Belastungsfaktoren Sie möglicherweise in der Kindheit oder Jugend ausgesetzt waren und wie hoch Ihr ACE-Wert ist, füllen Sie bitte den ACE-Fragebogen auf der nächsten Seite aus.
Füllen Sie den ACE-Fragebogen aus
Vielleicht haben Sie zu diesem Buch gegriffen, weil Sie eine schmerzliche oder traumatische Kindheit hatten. Vielleicht haben Sie den Verdacht, dass Ihre Vergangenheit etwas mit Ihren aktuellen Gesundheitsproblemen, Ihren Depressionen oder Ängsten zu tun haben könnte. Oder Sie lesen dieses Buch, weil Sie sich um die Gesundheit eines Ehe- oder Lebenspartners, Freundes, Elternteils oder gar eines eigenen Kindes sorgen, das traumatisiert wurde oder belastende Erfahrungen gemacht hat. Um einschätzen zu können, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine belastende Kindheitserfahrung Ihre Gesundheit oder die Gesundheit eines geliebten Menschen beeinflusst, nehmen Sie sich vor der weiteren Lektüre bitte einen Augenblick Zeit, um den folgenden Fragebogen auszufüllen.
Fragebogen zu belastenden Kindheitserfahrungen
Vor Ihrem 18. Geburtstag:
1. Hat ein Elternteil oder ein anderer Erwachsener in Ihrem Haushalt Sie oft oder sehr oft … beschimpft, beleidigt, erniedrigt oder gedemütigt? Oder so gehandelt, dass Sie Angst hatten, Sie könnten körperlich verletzt werden?
Ja
Nein 
Falls Sie die Frage bejaht haben, tragen Sie hier bitte die Zahl 1 ein _____
2. Hat ein Elternteil oder ein anderer Erwachsener in Ihrem Haushalt Sie oft oder sehr oft … gestoßen, gepackt, geschlagen oder etwas nach Ihnen geworfen? Oder Sie jemals so stark geschlagen, dass Sie Spuren davon aufwiesen oder verletzt wurden?
Ja
Nein 
Falls Sie die Frage bejaht haben, tragen Sie hier bitte die Zahl 1 ein _____
3. Hat ein Erwachsener oder eine Person, die mindestens fünf Jahre älter war, Sie jemals … auf sexuelle Art und Weise angefasst oder gestreichelt oder Sie veranlasst, deren Körper in sexueller Art und Weise zu berühren? Oder oralen, analen oder vaginalen Geschlechtsverkehr versucht mit Ihnen zu haben oder tatsächlich gehabt?
Ja
Nein 
Falls Sie die Frage bejaht haben, tragen Sie hier bitte die Zahl 1 ein _____
4. Haben Sie oft oder sehr oft empfunden, dass … niemand in Ihrer Familie Sie liebte oder dachte, Sie seien wichtig oder etwas Besonderes? Oder Ihre Familienangehörigen nicht aufeinander aufpassten, sich einander nicht nahe fühlten oder sich gegenseitig nicht unterstützten?
Ja
Nein 
Falls Sie die Frage bejaht haben, tragen Sie hier bitte die Zahl 1 ein _____
5. Haben Sie oft oder sehr oft empfunden, dass … Sie nicht genug zu essen hatten, Sie schmutzige Kleidung tragen mussten und niemanden hatten, der Sie beschützte? Oder Ihre Eltern zu betrunken oder »high« waren, um sich um Sie zu kümmern oder Sie zum Arzt zu bringen, wenn Sie es benötigten?
Ja
Nein 
Falls Sie die Frage bejaht haben, tragen Sie hier bitte die Zahl 1 ein _____
6. Verloren Sie jemals ein biologisches Elternteil durch Scheidung, dadurch, dass es Sie verlassen hat, oder aus anderen Gründen?
Ja
Nein 
Falls Sie die Frage bejaht haben, tragen Sie hier bitte die Zahl 1 ein _____
7. Wurde Ihre Mutter oder Stiefmutter oft oder sehr oft gestoßen, gepackt, geschlagen oder wurde etwas nach ihr geworfen? Oder manchmal, oft oder sehr oft getreten, gebissen, mit der Faust oder mit einem harten Gegenstand geschlagen? Oder jemals über mindestens einige Minuten wiederholt geschlagen oder mit einer Pistole oder einem Messer bedroht?
Ja
Nein 
Falls Sie die Frage bejaht haben, tragen Sie hier bitte die Zahl 1 ein _____
8. Haben Sie mit jemandem zusammengelebt, der Alkoholprobleme hatte, alkoholabhängig war oder Drogen konsumierte?
Ja
Nein 
Falls Sie die Frage bejaht haben, tragen Sie hier bitte die Zahl 1 ein _____
9. War ein Mitglied Ihres Haushalts depressiv oder psychisch krank oder hat ein Mitglied Ihres Haushalts einen Selbstmordversuch unternommen?
Ja
Nein 
Falls Sie die Frage bejaht haben, tragen Sie hier bitte die Zahl 1 ein _____
10. War ein Mitglied Ihres Haushalts im Gefängnis?
Ja
Nein 
Falls Sie die Frage bejaht haben, tragen Sie hier bitte die Zahl 1 ein _____
(nach: Ingo Schäfer, Katja Wingenfeld und Carsten Spitzer [2009] ACE-D; Deutsche Version des »Adverse Childhood Experiences Questionnaire [ACE]«, Universität Hamburg.)
Addieren Sie alle Punkte (also alle Antworten, die Sie mit »Ja« beantwortet haben): _____. Dies ist Ihr ACE-Wert.
Nehmen Sie sich kurz Zeit und überlegen Sie, wie sich Ihre Erfahrungen auf Ihr körperliches, emotionales und geistiges Wohlbefinden auswirken könnten. Wäre es möglich, dass belastende Kindheitserfahrungen einen Menschen beeinflussen, den Sie lieben? Befinden sich Ihnen anvertraute Kinder oder Jugendliche derzeit in einer belastenden Situation?
Behalten Sie, während Sie sich mit den folgenden Geschichten und wissenschaftlichen Informationen beschäftigen, Ihren ACE-Wert im Hinterkopf – genau wie Ihre eigenen Erfahrungen und die Erfahrungen der Menschen, die Sie lieben. Unter Umständen werden sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse als das fehlende Glied in der Kette erweisen und Ihnen verraten, weshalb Sie selbst oder ein geliebter Mensch gesundheitliche Probleme haben. Dieses fehlende Glied wird Ihnen auch den Weg zu den Informationen weisen, die Sie für Ihre Genesung benötigen.
WARUM WIR WERDEN,
WIE WIR SIND