Cover

Buch

Hannah hat ein ganz normales Leben – einen liebenden Ehemann, einen guten Job. Dann geschieht etwas Schreckliches, und Hannah verliert alles. Jetzt sitzt sie in einer psychiatrischen Klinik. An einem Ort, der sicher sein sollte. Doch Patienten sterben. Selbstmord, sagen die Ärzte. Hannah weiß, dass sie lügen. Aber niemand glaubt ihr. Kann sie irgendjemanden von der Wahrheit überzeugen, bevor der Mörder wieder zuschlägt? Oder wird sie sein nächstes Opfer sein?

Autorin

Tammy Cohen arbeitet als freie Journalistin für verschiedene Zeitschriften und Magazine, u. a. für Cosmopolitan und Woman and Home. Auch wenn sie das Schreiben fiktionaler Texte erst spät für sich entdeckte, hat sie bereits mehrere Romane veröffentlicht. Sie lebt mit ihrem Partner, ihren drei (fast) erwachsenen Kindern und einem sehr ungezogenen Hund im Norden Londons.

Von Tammy Cohen bereits erschienen

Während du stirbst · Du stirbst nicht allein

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TAMMY COHEN

HEUTE
WIRST DU
STERBEN

PSYCHOTHRILLER

Deutsch von Bernd Stratthaus

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel
»THEY ALL FALL DOWN« bei Black Swan,
an imprint of Transworld Publishers, London.

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Copyright der Originalausgabe © 2017 by Tammy Cohen

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2018 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Susann Rehlein

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (Shelli Jensen; Rocksweeper; Toluk) und ts-fotografik.de/photocase.de

JaB · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-22614-5
V002

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Für den Dienstag-Club – Ed, Steve und Jo. Weil jeder Tag ein Dienstag sein sollte.

1
HANNAH

Letzte Woche hat Charlie sich die Pulsadern aufgeschnitten. Mit einem Stück karamellisiertem Zucker.

Vorher hatten wir unter Jonis wachsamen Blicken gemeinsam in der Klinikküche Bonbons gemacht.

»Deins ist so hart, daran kannst du dich glatt verletzen«, habe ich zu Charlie gesagt. Es war als Witz gemeint.

»Ob sie das wohl auf die Idee gebracht hat?«, kommentierte Odelle später spitz.

Nach Charlies Tod wurde Backen jedenfalls auf die Liste der verbotenen Aktivitäten gesetzt. Allerdings fühle ich mich nicht schuldig. Ich glaube nämlich nicht, dass Charlie sich umgebracht hat. Genauso wenig wie ich glaube, dass die arme Sofia sich umgebracht hat. In einer psychiatrischen Klinik mit Hochrisikopatienten wie diesen sterben ständig Leute. Es ist eines der hervorstechenden Merkmale der Klinik. Und das macht es für einen Mörder so leicht, sich hier vor aller Augen zu verstecken. Das und die Tatsache, dass wir die einzigen Zeugen sind und niemand uns auch nur ein einziges Wort glaubt. Man muss nicht verrückt sein, um einen Platz hier zu bekommen, aber … Moment mal, doch, das muss man. Ich habe Angst. Ich habe Angst, richtig zu liegen und die Nächste zu sein. Und sogar noch mehr Angst habe ich davor, falschzuliegen, denn in diesem Fall wäre ich dann wohl so verrückt, wie alle denken. Hier drin eingesperrt, bleibt mir als einzige Zuflucht mein eigener Kopf. Und was, wenn mein Kopf der gefährlichste aller Plätze ist?

Stella kommt in mein Zimmer und legt sich wortlos quer über das Fußende meines Bettes. Ihre Haut spannt über den scharfen Wangenknochen, und ich kann gar nicht hinsehen aus Angst, sie könnte reißen.

»Das stimmt nicht«, sage ich zu ihr.

Mein Zimmer liegt zur Seite des Gebäudes hinaus. Ich sitze am Fenster in dem beigefarbenen Sessel und blicke auf den Rosengarten hinaus, auf den halbherzig der Regen vom Flachdach des Tanzstudios hinabtropft, auch an der Front mit den verglasten Schiebetüren rinnt Wasser hinab. Alle Möbel in meinem Raum sind irgendwie beige. Ecru. Sandfarben. Eierschale. Das ganze obere Stockwerk ist in der Farbe von Mullbinden gehalten. Wahrscheinlich, um uns nicht über die Maßen anzuregen. Stella dreht den Kopf, sodass ihre großen blauen Augen mich direkt anblicken. Die Kette, die sie immer trägt, ist seitlich hinabgerutscht, sodass die kleine silberne Katze aussieht, als würde sie sich ins Federbett kuscheln.

»Woher weißt du das?«, fragt sie schließlich mit ihrer leisen, rauchigen Stimme.

Ich runzle die Stirn. »Mal ehrlich«, antworte ich dann. »Es geht um Charlie.«

»Ging«, korrigiert sie mich. Und bricht in Tränen aus.

The Meadows ist ein altes Landhaus im georgianischen Stil, inklusive efeuüberwucherter Fassade und Fenstern, die vom Boden bis zur Decke reichen. Wegen der halbkreisförmigen, gekiesten Auffahrt wähnt man sich am Set eines Jane-Austen-Films, erwartet jeden Moment, dass die große Eingangstür auffliegt und eine Horde kichernder junger Mädchen mit Hauben ins Freie strömt. Doch wenn man um das Haus herum zum Parkplatz fährt, wird dieser Eindruck von einem großen modernen Anbau an der Rückseite zerstört. Alles zusammen erzeugt denselben Effekt wie ein gut gekleideter Mann mit schlecht sitzendem Toupet.

Sämtliche Sprechzimmer und der Aufenthaltsraum sowie die Verwaltungs- und Behandlungszimmer befinden sich im alten Gebäude, während Cafeteria und Patientenzimmer im Anbau untergebracht sind. Sofia hat behauptet, im alten Teil spukt es, aber ich habe noch nie irgendwas Seltsames bemerkt. Allerdings muss ich zugeben, dass ich wie betäubt war, als ich hier ankam, sodass ein Geist sich direkt neben mich ins Bett hätte legen können, ohne dass ich davon etwas mitbekommen hätte. Wenn man an einem Ort wie diesem ist, an dem man zweimal täglich Gruppentherapie hat und ein Tagebuch über jeden einzelnen seiner Gedanken führen muss, ist man so sehr mit Innenschau beschäftigt, dass man blind für alles wird, was um einen herum vor sich geht.

Das erklärt vielleicht, wie zwei Frauen getötet werden konnten und niemand außer mir davon Notiz zu nehmen scheint.

Der Kunstraum liegt an der Rückseite des alten Gebäudes. Durch zwei riesige Fenster blickt man auf den Parkplatz, dahinter Blumengarten und Gemüsebeete. Der ganze Stolz von The Meadows – der wie mit der Nagelschere geschnittene Rasen, der zu einem See hinunterführt, Überbleibsel einer vergangenen, großartigeren Epoche des Hauses – ist durch den hässlich hervorspringenden Anbau auf der linken Seite versperrt. Mittwochmorgen um zehn haben wir hier Kunsttherapie. Laura holt die Wasserfarben raus und bittet uns, ein Selbstporträt zu malen. Das letzte Mal hat sie uns Plastikspiegel gegeben statt welche aus Glas, sodass unsere Spiegelbilder verwaschen wirkten, als würden wir uns selbst durch einen Rauchschleier hindurch betrachten. »Sorry«, sagte sie nur, als wir uns beschwerten. »Vorschriften. Ihr wisst ja.« Doch heute ist es anders.

»Ich möchte, dass ihr euch so malt, wie ihr euch mit geschlossenen Augen seht«, sagt sie. »Wo seid ihr? Was tut ihr? Was tragt ihr für Kleidung? Denkt nicht zu viel darüber nach. Und kümmert euch gar nicht um die Kamera. Vergesst einfach, dass sie hier ist.«

Die Filmcrew – die die meiste Zeit über nur aus dem Regisseur/Sprecher Justin Carter und seinem Kameramann Drew Abbott besteht – ist seit sieben Wochen in der Klinik, nur eine Woche kürzer als ich selbst. Ich bin am dritten Januarmontag hier angekommen, berühmt-berüchtigt als Schwarzer Montag, also ganz offiziell der deprimierendste Tag des Jahres, obwohl, wie man sich vorstellen kann, dieser Titel hier drin heiß umkämpft ist. Justin und Drew tauchten in der darauffolgenden Woche hier auf. Sie rückten in einem SUV an, der mit Ausrüstung beladen war, die sie vom verregneten Parkplatz aus hier hereintrugen. Dafür ließen sie die ganze Zeit die Tür zum Empfang offen stehen, sodass ein eisiger Wind durch das Gebäude pfiff und Bridget Ashworth, die stets skeptisch dreinblickende Verwaltungschefin, geschäftig hin und her eilte, um Thermostate anders einzustellen und die Putzleute anzuweisen, die schlammigen Fußspuren aufzuwischen.

Sie nennen es eine »Fliege-an-der-Wand-Doku«. Doch Dr. Roberts fand eine andere Wendung: »Ein wichtiger Film, um die Tabus rund um psychische Erkrankungen zu durchbrechen«, erklärte er. »Natürlich haben Sie alle das Recht, sich gegen das Gefilmtwerden auszusprechen, Sie können auch nachträglich herausgeschnitten werden. Aber denken Sie nur daran, was Ihr Beispiel für eine junge Frau bedeuten könnte, die gerade das durchmacht, was Sie durchgemacht haben, und das Gefühl hat, dass da draußen niemand ist, der sie auch nur ansatzweise verstehen kann.«

Am ersten Tag sagte Justin: »Stellt euch einfach vor, wir wären gar nicht hier.«

»So sind die meisten von uns überhaupt erst hier gelandet«, erwiderte Charlie, »weil sie Dinge gesehen haben, die nicht da sind; oder weil sie tatsächlich vorhandene Dinge nicht gesehen haben. Das könnte uns in unserem Genesungsprozess ziemlich zurückwerfen.«

Justin hatte gelächelt, sich aber nicht zu einem richtigen Lachen durchgerungen, nur für den Fall, dass das nicht angemessen gewesen wäre. Er kapierte nicht, dass Angemessenheit etwas ist, das man hier drin am Empfang abgibt.

Auf meinem Bild heute sitze ich auf dem niedrigen Samtsessel in Emilys Zimmer. Durch das Schiebefenster hinter mir sieht man einen marineblauen Himmel, an den ich noch einen vollkommen runden gelblich weißen Mond male, damit klar wird, dass Nacht ist. Ich schaue auf etwas zu meiner Rechten, das aber nicht im Bild zu sehen ist. Ich habe meinen hellblauen Morgenmantel an. Mein Gesicht ist ein rosa Schemen mit schwarzen Streifen, weil ich nicht lange genug abgewartet habe, bevor ich mit den Augen angefangen habe, und die Farbe noch nicht trocken war.

»Hübsches Kleid«, sagt Laura, als sie zu mir kommt, um mein Werk zu betrachten. »Ist das bei dir zu Hause? In deinem Schlafzimmer?«

Ich nicke. Die Wahrheit will ich ihr nicht sagen, denn sobald ich über Emily spreche, wird das notiert, und anschließend muss ich in der Gruppentherapie darüber reden. Dann neigt Dr. Roberts den Kopf und schreibt etwas in sein Notizbuch, und vielleicht muss ich dann länger hierbleiben. Also verrate ich ihr nicht, dass ich auf dem Bild in die rechte Ecke des Zimmers schaue, weil Emilys Krippe dort stand.

Stellas Gemälde ist vollkommen schwarz, und am unteren Rand liegt eine kleine Gestalt, die vollkommen nackt ist, bis auf ihr langes gelbes Haar, das ihren Körper bedeckt. Laura betrachtet es lange, legt dann die Hand auf Stellas schmale Schulter und drückt sie kurz, bevor sie weitergeht.

Seit Charlie tot ist, sind sämtliche von Stellas Bildern schwarz.

Wie üblich hat Odelle sich selbst abstoßend fett dargestellt. Sie trägt das gleiche schwarze Oberteil und die Skinny Jeans, die die wirkliche Odelle heute anhat, und blickt in einen Spiegel, aus dem ihr eine schlanke Version ihrer selbst entgegenblickt. Vielleicht ist es auch andersrum, und die schlanke Odelle ist die echte und die fette das Spiegelbild. Wie dem auch sei, es ist einfach nur eine Variation von Odelles einzigem Dauerthema: sie und ihr Körper.

»Das ist sehr … aussagekräftig, Odelle«, sagt Laura. Odelle blickt kurz zur Kamera hinten im Raum, sie will sichergehen, dass sie das hier aufnehmen. »Aber ich würde mir einfach mal wünschen, dass du dich wirklich gehen lässt. Bei der Übung geht es hierum«, Laura tippt ihr leicht gegen die Brust, »nicht hierum«, dabei tippt sie ihr gegen den Kopf.

Wegen dieses sanften Tadels beginnt Odelles Unterlippe zu zittern. Odelle hat die Tendenz, sich auf Leute zu fixieren. Das ist einer der Gründe, warum sie hier ist. Das und die Tatsache, dass sie nur knapp dreißig Kilo wiegt. Als Charlie hier angekommen ist, hat sich Odelle anscheinend kurz an sie geklettet, ist ihr überallhin gefolgt und hat sich ihr beim Abendessen und auf dem Sofa im Aufenthaltsraum fast auf den Schoß gesetzt. Doch meistens konzentriert sie sich auf Autoritätspersonen. Wenn es nach Odelle geht, ist Roberts so was wie Gott, und Laura kommt nur knapp dahinter. Nach den Stunden drückt sie sich immer noch im Kunstraum herum, bietet ihre Hilfe beim Aufräumen an oder bittet um zusätzlichen Einzelunterricht. In The Meadows glaubt man an Nischentherapie. Es gibt hier Leute, die uns mit Gartenarbeit, Musik, Backen oder Bewegung heilen wollen. Letzte Woche hat unsere Bewegungstherapeutin mit dem treffenden Namen Grace uns gebeten, so zu tun, als wären wir Blätter, die vom Wind umhergeblasen würden. Odelle hat doch tatsächlich angefangen zu flennen. »Ich fühle mich so bedeutungslos«, jammerte sie. Judith meinte, dass Odelle sich deshalb so aufgeregt hat, weil sie wegen ihres fehlenden Gewichts wirklich vom Wind rumgeblasen wird.

Im Grunde passiert hier drin nichts, was nicht in irgendeine Form von Therapie verwandelt werden kann. Es gibt sogar Freizeittherapie, die letzten Endes nur aus Fernsehen besteht. Zwischen Charlie und mir war das ein Running Gag. Statt mich zu fragen, ob ich zum Abendessen gehe, hat sie gefragt: »Kommst du zur Essenstherapie?« Als ich mal zu spät zum Frühstück kam, hab ich ihr erklärt, dass ich noch Kacktherapie hatte, und wir haben uns zehn Minuten lang schlappgelacht, bis Odelle uns anraunzte, wir wären kindisch und außerdem unsensibel gegenüber denjenigen, die »nicht so viel zu lachen haben«.

Laura ist die Therapeutin, die alle am meisten mögen. Früher hat sie als Krankenschwester gearbeitet, und sie strahlt noch immer etwas aus, das auszudrücken scheint: Ich kann dir helfen, dich besser zu fühlen. Sie hat ihr eigenes kleines Büro hinter dem Kunstraum. Darin gibt es einen Heizlüfter, einen Wasserkocher und verschiedene Sorten Tee. Man kann dort einfach reinplatzen, sich im Sessel unter der weichen Wolldecke zusammenrollen und ein bisschen plaudern, ohne gleich das Gefühl zu haben, dass alles, was man sagt, in einer Akte landet. Laura kann ein bisschen eso sein. Für diejenigen, denen so was zusagt, bietet sie außer der Reihe noch Meditation oder Entspannungstherapie an, was eigentlich nichts anderes ist als Hypnose. Charlie hat es in Lauras Raum geliebt. »Das hier ist der einzige Ort in der Klinik, an dem ich ich selbst sein kann«, hat sie mir mal gestanden. Odelle ist bei jeder Gelegenheit dort. Sie setzt sich in den Sessel, die karierte Wolldecke zusätzlich zu all den anderen Stoffschichten, in die sie sich normalerweise schon einhüllt, um sich gewickelt, und redet über ihr Lieblingsthema, sich selbst.

Laura bleibt kurz bei Nina stehen und flüstert ihr etwas zu. Nina sitzt zusammengesunken vor ihrem Blatt Papier, auf dem nichts weiter zu sehen ist als eine schwach gezeichnete ovale Form. Letzte Woche hat sie in Kunst sieben Bilder in einer Sitzung gemalt. Ihr Pinsel flog geradezu über das Papier, und die Farben flossen ineinander, aber heute kann sie kaum die Energie aufbringen, um ihren Kohlestift hochzuheben.

Frannie weint schon wieder, Tränen laufen ihr über die Wangen. Sie wischt sie gedankenlos weg. Auf ihrem Bild sind zwei Gestalten zu sehen, was nicht die Aufgabe war, aber niemand verurteilt sie dafür. Sie hat ein riesiges Gesicht mit langer, schmaler Nase, einem kleinen, vollen Mund und übergroßen grünen Augen gemalt, ihr eigenes Gesicht, doch in einem der Augen spiegelt sich ein zweites Gesicht. Es ist zu klein, um seine Züge zu erkennen, aber die schwarzen Locken zeigen an, dass es sich wohl um Charlie handeln muss.

»Weil du an sie denkst?«, fragt Laura.

Mein Brustkorb schnürt sich zusammen, wenn ich den akkuraten braunen Bob betrachte, den sie sich selbst auf dem Bild gegeben hat und der ihr bis knapp unters Kinn reicht. Die echte Frannie trägt eine blau-weiß gestreifte Mütze, aber darunter ist das Haar so spärlich und dünn und mit kahlen Stellen durchsetzt, dass es einem das Herz bricht, so verletzlich wie der weiche Teil am Kopf eines Neugeborenen.

Mein Baby hieß Emily.

Und jetzt will ich nicht mehr malen.

Später, in der abendlichen Gruppentherapie, fangen wir wie immer damit an, reihum zu berichten, ob wir die beiden an diesem Morgen selbst gesteckten Ziele erreicht haben. Meine waren, ein richtiges Buch anzufangen, statt ausschließlich Klatschmagazine zu lesen, wie ich es die letzten zwei Monate über getan habe, und mir die Haare zu waschen. Mit dem ersten bin ich gescheitert, die Buchstaben sind über die Seite gewimmelt wie Ameisenkolonnen. Doch immerhin beim zweiten Ziel kann ich einen kleinen Erfolg vermelden, da ich mich endlich unter die Dusche geschleppt habe, sodass mein Haar – obwohl immer noch verstrubbelt und zerzaust – nun wenigstens zum ersten Mal seit Wochen sauber ist. Ich verachte mich selbst für mein stolzes Strahlen, als Dr. Roberts mich lobt: »Gut gemacht, Hannah«, und alle in der Runde klatschen, als hätte ich gerade den Kilimandscharo bezwungen oder so was.

Nach ungefähr einer halben Stunde sind wir wieder bei Charlie gelandet. Odelle erzählt uns eine Geschichte über die Zeit, als sie hier ankam, ihre Familie vermisste und gerade ihre erste Mahlzeit hinter sich gebracht hatte, bei der jemand neben ihr saß und mit Argusaugen alles beobachtete, was sie sich in den Mund steckte. Später lag sie auf ihrem Bett und weinte ins Kissen – Odelle presst eine Hand gegen ihr Gesicht, um das zu veranschaulichen, sie ist von ihrer Geschichte sichtlich gerührt –, als Charlie bei ihr anklopfte, sich ans Fußende ihres Betts setzte, mit ihr plauderte und sie sogar zum Lachen brachte. So war das mit Charlie. Sie konnte einem Sachen erzählen, die einen so heftig zum Lachen brachten, dass man den Tee durch die Nase ausschnaubte. Dann ging sie in ihr eigenes Zimmer und biss sich in den Arm. Von all den Menschen, die ich jemals kennengelernt habe, war sie diejenige, die anderen gegenüber am nachsichtigsten, sich selbst gegenüber aber am unerbittlichsten gewesen ist.

»Aber umgebracht hat sie sich deshalb trotzdem nicht«, sage ich, als ich an der Reihe bin.

Dr. Roberts lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, schlägt ein Bein über das andere und schlingt einen Arm über die Lehne.

Er hält einen Kuli in der Hand und klickt die Mine immer wieder raus und rein, während er mir nickend lauscht. Die Augen kneift er zusammen, sodass ich ihre Farbe nicht erkennen kann, aber ich weiß, dass sie je nach Licht blau oder grün sind. Sein braunes, aber großzügig mit Silbergrau durchsetztes Haar hat er sich aus dem Gesicht gekämmt, doch wenn er leidenschaftlicher spricht, fällt ihm oft eine Strähne über das linke Auge. Sein kurz gestutzter Bart ist zu gleichen Teilen grau und braun, und wenn er lächelt, erscheinen zwei Grübchen auf den Wangen, und die Lachfältchen neben seinen Augen falten sich auf wie kleine Ziehharmonikas. Die Übertragungsrate – also dass Patienten sich in ihre Therapeuten verlieben – ist in unserer Klinik ziemlich hoch.

»Das ist eine sehr interessante Theorie, Hannah.« Seine Stimme klingt warm und sanft wie Honig. »Aber Sie wissen – wir alle wissen –, dass Charlie an ausgeprägten chronischen Depressionen litt. Nur weil wir sie geliebt haben, heißt das nicht, dass wir ihr auch hätten helfen können. Es ist unausweichlich für uns alle, eine gewisse Hilflosigkeit zu spüren, das Gefühl, versagt zu haben. Es ist viel angenehmer sich vorzustellen, dass sie gegen ihren Willen beseitigt worden ist, weil das nichts ist, was wir hätten verhindern oder voraussehen können. Tatsache ist allerdings, dass wir keine Verantwortung tragen. Es gibt nichts, was irgendwer hätte tun können.«

»Ja, wir müssen uns selbst vergeben«, fügt Odelle hinzu.

Ich sehe mich im Stuhlkreis um, in dem zwölf Frauen sitzen, die Beine verkrampft übereinandergeschlagen, die Köpfe gesenkt, die Hände nervös zappelnd. Frannie rupft sich ihre wenigen verbliebenen Wimpern aus. Sie betrachtet eine davon und steckt sie sich dann in den Mund. Stella starrt durch weit aufgerissene Augen vor sich hin. Heute trägt sie ein hellblaues Kleid, das oben eng geschnitten und am Rock ausgestellt ist. Ich versuche, nicht auf ihre Taille zu achten, die durch die Entfernung einer Rippe künstlich verschmälert worden ist, auch nicht auf ihre schmerzhaft aufgepumpten Brüste. Odelle, die ihren Körper mit Lagen von Kleidern verdeckt, lehnt sich mit ernstem Ausdruck, und nach Zustimmung heischend, vor. Ich mustere Judith und Nina und die sieben weiteren Insassen – Bewohner der Einrichtung werden wir offiziell genannt –, sowie Justin und Drew, die jede unserer Bewegungen mit der Kamera verfolgen. Und obwohl ich mit dem Rücken zur Tür sitze, kann ich vor meinem inneren Auge durch die Scheibe aus Sicherheitsglas hindurch, den Gang entlang und die großzügige Holztreppe hinauf sehen, in den Gang, wo Dr. Chakraborty, der stellvertretende Klinikdirektor, in seinem Büro sitzt und mit traurigen braunen Augen Berichte durchliest. Zugleich sehe ich in den Behandlungszimmern im Erdgeschoss Laura und Grace und die anderen Teilzeittherapeutinnen. Hinter der Treppe, durch die Tür hindurch, die in das neue Gebäude, in die Cafeteria, die Küche, den Achtsamkeitsbereich und zu einem kleinen Zimmer für die Angestellten führt, in dem die Medikamente aufbewahrt werden, entdecke ich Joni und Darren, die psychiatrischen Pflegekräfte mit ihren Notizbüchern, Bridget Ashworth, die spröde Verwaltungschefin, sowie die wohlmeinenden freiwilligen Helfer, das Küchenpersonal und die übrigen Pflegerinnen und Pfleger. All die Menschen, die den Auftrag haben, auf uns aufzupassen. Und dann wird mein Blick wieder hierher gezogen, und ich sehe auf Dr. Roberts, Guru, Svengali, Heiliger, Weiser, Retter.

Mörder?

Er könnte es gewesen sein. Jeder von ihnen könnte es gewesen sein.

Passiert ist es jedenfalls.

Ich müsste doch verrückt sein, mir so was auszudenken.

Ich schleiche mich hinaus, während die anderen noch die Stühle aufeinanderstapeln. Nach acht Wochen hier macht mich die Opulenz der Eingangshalle mit dem Kristalllüster und dem großen Ölgemälde des Earl, dem das alles hier einmal gehört hat, nicht mehr fertig. Es benutzt sowieso niemand den Vordereingang, außer es handelt sich um irgendwen Wichtigen, oder es findet eine Fundraising-Veranstaltung statt. Der andere Eingang befindet sich an der Rückseite im neuen Trakt. Dort gibt eine Rezeptionistin Besucherausweise aus und durchsucht unter den Blicken eines lächelnden Oliver Roberts höflich die Taschen der Angekommenen.

Als ich aber durch die Tür gehe, die das alte Gebäude vom neuen trennt, gehe ich nicht geradeaus am Achtsamkeitsbereich und dem hellen Holz der Cafeteria vorbei dorthin, wo ein grell orangefarbenes Sofa die Besucher fröhlich begrüßt, als wollte es ihnen versichern, dass es sich hier nicht um einen Platz handelt, der düstere Gedanken befördert. Stattdessen öffne ich die erste Tür auf der linken Seite, durch die ich ins Treppenhaus mit den haferschleimfarbenen Wänden komme, und gehe dann schnell weiter zu den Zimmern. Meins ist das erste auf der linken Seite, aber ich gehe geradewegs daran vorbei und weiter den Korridor hinunter, vorbei an den gerahmten Naturfotos – die Großaufnahme eines Tautropfens auf einem Grashalm, eine Feder, die in einer schlammigen Pfütze treibt, Sonnenlicht, das durch ein grünes Blätterdach fällt. Die Bilder sind an die Wand geklebt, sodass wir sie nicht abhängen und dazu benutzen können, uns selbst oder einander zu verletzen. Das letzte Zimmer gehört Charlie. Wie oft habe ich in den letzten acht Wochen den Weg zwischen meinem und ihrem Zimmer zurückgelegt? Es überrascht mich fast, dass meine Füße keine Abdrücke auf dem Parkett hinterlassen haben. Doch jetzt habe ich ein komisches Gefühl, und ein Unwohlsein prickelt in meinem Nacken. Ich schiele hoch zur Linse einer Überwachungskamera. Die Kamera hat schon immer da gehangen, aber ich nehme gerade zum ersten Mal wirklich Notiz von ihr. Ihr lidloses Starren macht mich nervös.

An unseren Türen gibt es keine Schlösser. Aus offensichtlichen Gründen. Und dennoch bin ich überrascht, als sich Charlies Türknauf einfach so drehen lässt. Ich zögere kurz, bevor ich eintrete.

Ich habe mich dagegen gewappnet, dass aus ihrem Zimmer alles ausgeräumt sein würde, was es zu Charlies Zimmer gemacht hat. Aber ihre Sachen sind noch hier – das vergrößerte Foto von ihr und ihren kleinen Nichten im Garten ihres Elternhauses, die Köpfe dunkel vor einer gelben Hibiskusexplosion; der lebensgroße Aufsteller von Ryan Gosling, den ihr eine Exkollegin geschenkt hat; die altmodische Patchworkdecke auf dem Bett, ein Farbensturm inmitten der bedrückenden Beigeheit.

Doch während Charlie notorisch unordentlich war – Allerlei Taschenbücher waren immer zu wackligen Türmen neben ihrem Bett aufgestapelt, Jeans und Pullover einfach auf den Stuhl oder auf einen Haufen auf dem Boden geworfen – war das Zimmer inzwischen sorgfältig aufgeräumt worden. Alte Zeitungen und Zeitschriften und leere Chipstüten waren vom Schreibtisch entfernt worden, seine weiße Oberfläche wirkte nun fad und sauber. Das Bett war sonst immer zerwühlt gewesen, als wäre jemand gerade erst daraus aufgestanden, nun ist es ordentlich gemacht, die Patchworkdecke straff darübergezogen.

Ich lege eine Hand aufs Kissen, es fühlt sich weich und unnatürlich kalt an, abrupt reiße ich die Hand weg. Dann ziehe ich eine der Schreibtischschubladen auf. Leer. Der Kleiderschrank hat keine Tür, seine Kanten sind abgerundet, falls irgendwer auf die Idee kommen sollte, sich an einer hervorspringenden Ecke aufzuhängen. Beinahe muss ich schreien, als ich ihre fuchsiafarbene Kaschmirjacke auf einem der seltsam geformten Pappkleiderbügel hängen sehe, an einer Kleiderstange, die so entworfen ist, dass sie unter »übermäßigem Gewicht« durchbricht. Wie sehr sie diese Jacke geliebt hat! Sie hat mir mal von einem Entrümpelungsratgeber erzählt, den ihr ihre Mutter als wenig subtilen Hinweis geschenkt hat. Schon aus Prinzip hatte Charlie sich geweigert, ihn wirklich zu lesen, doch immerhin hatte sie ihn grummelnd durchgeblättert und daraus tatsächlich eine Sache mitgenommen: dass man nur solche Dinge behalten sollte, die einen froh machen. »Das hier ist meine froh machende Jacke«, hatte sie mir erklärt.

Nun hängt sie mit leeren, schlaffen Ärmeln auf dem Bügel.

Die Abwesenheit jeglicher Freude ist spürbar.

Charlie hat ein Eckzimmer, und ich durchquere den Raum hin zu dem Fenster an der hinteren Wand, von dem aus man den abschüssigen Rasen und ganz unten dann den dunklen Fleck des Sees ausmachen kann. Es gibt Tage, an denen sich das Sonnenlicht auf der Wasseroberfläche spiegelt, sodass es so aussieht, als würde der See von innen leuchten. Heute allerdings nicht.

Die Heizung unter dem Fenster ist aufgedreht. An besonders kalten Tagen hat Charlie einfach ein Kissen auf den Boden geworfen und sich im Schneidersitz auf den Teppich gesetzt, den Rücken gegen die Heizung gelehnt. »Mir kann es gar nicht warm genug sein«, hat sie mir mal gestanden. »Ich bin wie eine halb aufgetaute Hühnerbrust mit einem noch harten gefrorenen Kern, der einfach nicht auftauen will.«

Ich hocke mich in ihrer üblichen Pose auf den Boden, versuche, mich in sie hineinzuversetzen, zu fühlen, was sie gefühlt haben muss. Hat sie an ihrem letzten Tag wirklich, die Heizung im Rücken, hier gesessen und darüber nachgedacht, wie sie sich am besten die Pulsadern aufschlitzen kann? Den geeigneten Winkel, die richtige Stelle? Ist es denn möglich, dass ich sie so falsch eingeschätzt habe?

Früher hatte ich mal ein sicheres Urteil, konnte mich auf mich selbst verlassen. Aber das ist lange her.

Ich ziehe die Knie zur Brust und schaukle eine Zeitlang vor und zurück. Manchmal beruhigt mich das, aber irgendetwas in diesem Raum macht mir ohne Charlies Anwesenheit Angst.

Draußen höre ich leise Schritte und Stimmen näher kommen.

»Wir haben so viel wie möglich weggeräumt, und ich kann Ihnen sagen, das Zimmer war ein Schweinestall. Aber bevor die Angehörigen da waren, können wir nicht mehr tun.«

Die Frau sagt »Angehörige«, als handelte es sich dabei um etwas eher Unangenehmes. Abrupt halte ich mit dem Schaukeln inne, lege meine Hand auf den Boden, um die Bewegung zu stoppen. Dabei streifen meine Finger einen Zettel, der hinter dem Heizungsrohr klemmt. Die Putzleute müssen ihn übersehen haben. Vor der Tür halten die Schritte inne, und ich bekomme einen trockenen Mund, als ich Dr. Roberts’ vertrauten Bariton höre, der aber ungewöhnlich kurz angebunden und ungeduldig klingt.

»Wenn wir Glück haben, bleiben sie nicht so lange. Schnell rein und wieder raus, dann können wir all ihre Habseligkeiten verpacken. Montag in einer Woche kommt schon die nächste Patientin.«

Der Türknauf dreht sich, und ich habe gerade noch Zeit genug, um mir den Zettel zu schnappen und ihn im Ärmel meines Sweatshirts verschwinden zu lassen, bevor die Tür auffliegt.

Hastig rapple ich mich hoch, mit hämmerndem Herzen.

»In Ordnung, lassen sie uns kurz prüfen, ob … Hannah. Was machen Sie denn hier?« Sofort verfällt Dr. Roberts wieder in seine übliche langsame Sprechweise, und ich frage mich, ob die Frau neben ihm, die ich inzwischen als Bridget Ashworth, die Verwaltungschefin, identifiziert habe, den Wechsel in seinem Tonfall ebenfalls bemerkt hat.

Bridget Ashworth trägt einen strengen braunen Bob mit grauem Scheitelansatz, eine Brille mit violettem Gestell und eine dunkle Strickjacke. Sie umklammert ihren Schlüsselbund und blinzelt hinter ihren Brillengläsern hervor, als ob sie gerade einen Fuchs beim Durchwühlen ihres Küchenmülleimers erwischt hätte. Ich trete von einem Fuß auf den anderen.

Kaum vorstellbar, dass ich früher einmal Vorträge vor prall gefüllten Konferenzsälen gehalten, mich dabei im Raum umgesehen und freiwillig Blickkontakt mit irgendwelchen Fremden aufgenommen habe. Jetzt starre ich einfach nur zu Boden und stottere irgendeine Geschichte zusammen, dass ich das Bedürfnis hatte, Charlie noch einmal nah zu sein, und fühle, wie Bridget Ashworth ihren missbilligenden Blick über mich gleiten lässt.

Selbst als ich schließlich wieder in meinem eigenen Zimmer und in Sicherheit bin, kratze ich mich noch überall, um ihn loszuwerden.

2
CORINNE

»Sie hat doch sehr gut ausgesehen. Hattest du nicht auch den Eindruck, dass sie gut ausgesehen hat?«

»Na ja, schon.«

Corinne beschloss, das als Ja zu werten.

»Jedenfalls besser. Oder?«

»Hm.«

Corinne wusste, dass sie besser hätte still sein sollen. Direkt nach einem Besuch war Danny nie zum Plaudern aufgelegt. Aber die Wörter purzelten einfach so aus ihr heraus.

Als sie am Kreisverkehr zum Stehen kamen, zog er die Handbremse an. Im Schutz der Dunkelheit betrachtete Corinne sein Profil. Er hatte abgenommen. Er war schon immer ein schöner Mann gewesen. Als Hannah ihn zum ersten Mal nach Hause mitgebracht hatte, hatte sich Corinne heimlich Sorgen gemacht, ob er nicht vielleicht zu gut aussah. Sie selbst hätte sich schwergetan neben einem Mann, der so viel Aufmerksamkeit auf sich zog. Aber Hannah war immer selbstsicher gewesen. Eine ganz eigene Persönlichkeit. Das machte alles, was später passiert war, umso schockierender.

»Was ist mit ihr?«

Dannys Frage kam aus dem Nichts und bewirkte Corinne ein Gefühl, als hätte sie einen Eiswürfel verschluckt.

»Sie ist einfach nur müde. Emotional ausgelaugt. Das Baby …«

»Das hat nichts mit dem Baby zu tun. Dass sie sich so auf Mord versteift.«

»Naja, natürlich nimmt sie sich das zu Herzen. Es waren doch immerhin ihre Freundinnen.«

»Es waren Frauen mit Suizidneigung, die vorher schon Selbstmordversuche unternommen hatten und sich nun traurigerweise tatsächlich das Leben genommen haben. Natürlich geht ihr das nah, aber diese sture Weigerung, auf die Stimme der Vernunft zu hören, ist doch was anderes.«

Corinne wollte gar nicht wissen, was dieses andere sein konnte.

»Das ist normal, Danny. Mit den Frauen hatte sie täglich Umgang. Sie möchte nicht glauben, dass sie sich etwas angetan haben. Ich wäre genauso.«

»Wärst du nicht. Du würdest es nicht so pauschal abstreiten. Nicht, wenn die Tatsachen dir so klar vor Augen stünden. Wir müssen auf Anzeichen für eine Paranoia achten. Hat uns Dr. Roberts das nicht gesagt?«

»Schon, aber das ist keine Paranoia.«

»Wirklich nicht?«

Sie fuhren gerade am Alexandra Palace vorbei, der großen viktorianischen Sehenswürdigkeit, die sich auf einer der höchsten Erhebungen des Londoner Nordens ausbreitete. Zu ihrer Linken zeichnete sich das Gebäude vor dem trüben Himmel ab, während der Park des Palastes zu ihrer Rechten in die Dunkelheit hinein abfiel und die fernen Lichter der Stadt am Fuß des Hügels leuchteten.

Als Danny sie vor ihrem Haus absetzte, drückte Corinne ihm einen Kuss auf die Wange.

»Ich kann es kaum erwarten, bis sie da wieder rauskommt«, sagte sie zu ihm. »Dann wird alles wieder normal.«

Danny erwiderte nichts. Corinne hätte gern etwas Aufmunterndes gesagt, was ihn aus seiner steifen Distanziertheit gerissen hätte. Er hatte Schwierigkeiten, Hannah zu verzeihen. Das konnte sie verstehen. Er hatte sich selbst schon als Vater gefühlt, und jetzt war er kein Vater mehr. Wie konnte sich das nicht wie ein Verlust anfühlen, als wäre ihm etwas weggenommen worden? Hatte sie selbst nicht auch genug Probleme damit, keine Großmutter zu sein? Aber Hannah war nicht Herrin ihrer Sinne gewesen. Die Ärzte hatten das alles erklärt. Dissoziativ, hatten sie es genannt. Das Notizbuch, in das sie dieses Wort gekritzelt, es unterstrichen und ein Ausrufezeichen dahinter gesetzt hatte, lag auf der Kommode im Flur.

Halb saß sie noch im Auto, halb war sie schon ausgestiegen. Dabei suchte sie zögernd nach den richtigen Worten, um die Stimmung zu heben, doch ihr fiel nichts ein. Danny konnte einschüchternd wirken, wie besonders schöne Männer das manchmal an sich haben.

Wie immer, bevor sie ihr kleines Haus am unteren Rand des Palastgrundstücks betrat, lauschte Corinne angestrengt nach Madges aufgeregtem Jaulen, bevor sie sich siedend heiß daran erinnerte, dass der kleine Jack Russell, den sie als Welpen aus dem Tierheim geholt hatten und der sie über beinahe siebzehn Jahre begleitet hatte, nicht mehr da war. Es war inzwischen fast drei Monate her, seit Madges Herz endgültig versagt hatte, aber immer noch erwartete Corinne, an der Tür von einem Wirbelwind aus schwarz-weißem Fell begrüßt zu werden, der üblicherweise als Geschenk einen Schuh im Maul trug, als wäre sie wochenlang weg gewesen und nicht nur ein paar Stunden.

An diesem Abend fand Corinne keine Ruhe. Sie ging durch die paar kleinen Zimmer des Hauses, nahm irgendwelche Gegenstände in die Hand – hier ein Buch, dort ein Foto – und stellte sie dann wieder ab. Sie nahm den Telefonhörer von der Gabel und starrte ihn lange an. Wen sollte sie anrufen? Was sollte sie sagen?

Ich mache mir Sorgen, dass meine Tochter verrückt wird.

Ich mache mir Sorgen, dass meine Tochter schon verrückt ist.

Das waren die Worte, die sie nicht laut aussprechen konnte. Während sie sich auf ihr altes, durchgesessenes Samtsofa sinken ließ, an dem hier und da noch ein weißes Hundehaar hing, zog sie ihren Laptop hervor und überlegte, ob sie vielleicht mit Megs skypen könnte. Doch gerade als sie auf das grüne Telefonsymbol klicken wollte, fiel ihr die Zeitverschiebung ein. Wenn es jetzt 21.15 Uhr in London war, war es 17.15 Uhr in New York. Megs wäre noch in der Arbeit, vergraben in diesem komischen kleinen Büro, umgeben nur von Männern. Ihre jüngere Tochter war schon immer so sonderbar gewesen, dass Corinne sich schwergetan hatte, sich vorzustellen, welchen Karrierepfad sie einschlagen würde. Doch bei allem, was ihr über die Jahre hinweg in den Sinn gekommen war – das Schreiben von Scripts für Smartphone Games war nicht darunter gewesen.

Sie wusste, dass Megs alles stehen- und liegenlassen würde, um mit ihr zu sprechen, doch sie zwang sich, ihre Anrufe im Rahmen zu halten. Als die ganze schreckliche Geschichte mit dem Baby passiert war, hatte Megs gleich in das erste Flugzeug heimwärts springen wollen. Corinne war sich sicher gewesen, dass angesichts der Situation das Zerwürfnis zwischen ihren Töchtern vergessen wäre, doch Hannah war nicht in der Lage gewesen, Besuch zu empfangen. Und als sie schließlich wieder einigermaßen sie selbst war, war sie zu dem Schluss gekommen, dass sie immer noch nicht bereit war, ihre jüngere Schwester zu treffen. Stattdessen tat Megan ihr Bestes, um Corinne von den Staaten aus zu unterstützen, aber sie war dort extrem eingespannt, hatte einen Job, den Corinne nicht richtig verstand, und einen Freund, den sie immer noch nicht kennengelernt hatte.

Ihr Handy klingelte und ließ sie aus der Stille hochschrecken. Corinne nahm es vom Couchtisch und hoffte, gleich Megans Stimme zu hören. Stattdessen leuchtete Duncans Name auf dem Display auf. Es hatte eine Zeit gegeben, in dem er in ihrer Kontaktliste unter »Idiot« aufgeführt war, doch das war Jahre her, als der Betrug noch ganz frisch gewesen war. Dieser Tage beschäftigten andere Dinge sie.

»Wie geht es ihr?«

Kein Vorspiel, keine Höflichkeiten. Aber wozu auch?

»Ihr geht’s gut. Sehr gut sogar.«

Corinne wusste, dass sie Hannah vor ihrem eigenen Vater nicht in ein besseres Licht rücken musste, aber sie konnte sich trotzdem nicht dazu durchringen, ihm von dieser neuerlichen Sache mit den Selbstmorden zu erzählen. Da Duncan schon weit über fünfzig war, als er seine zweite Familie gegründet hatte – seine zweite Frau Gigi hatte unanständig schnell hintereinander zwei Babys bekommen –, hatte sie einen noch größeren Beschützerinstinkt in Bezug auf ihre eigenen beiden Töchter entwickelt, als stünden sie in irgendeinem unausgesprochenen Wettbewerb mit ihren kleinen Halbgeschwistern.

Corinne hatte sich damit abgefunden, dass ihr Mann sie nach dreißig Jahren für eine Frau verlassen hatte, die er bei einem Spiel von Arsenal London kennengelernt hatte. Welche Wahl hätte sie auch gehabt, nachdem Gigi schwanger und sie damit vor vollendete Tatsachen gestellt worden war? Sehr viel schwerer war es für sie zu akzeptieren, dass sie nun die Einzige war, für die Hannah und Megs das Zentrum des Universums bildeten. Duncans bis dahin ebenfalls uneingeschränkte Liebe zu seinen Töchtern war inzwischen an Bedingungen geknüpft, weil es diese anderen, bedürftigeren Wesen gab, die seine emotionalen Ressourcen anzapften.

Corinne hatte sich immer gefragt, ob unterschwellige Schuldgefühle ihn dazu veranlasst hatten, seinem Schwiegersohn einen Job zu verschaffen, der nun dabei half, den Sitz von Duncans Firma in Edinburgh aufzubauen. Hannah war nicht erfreut darüber gewesen, dass ihr Mann drei Tage pro Woche weg sein würde, aber anständige Jobs für Architekten waren dünn gesät.

»Hast du sie gefragt?«, wollte Duncan nun wissen. »Wegen dem Baby. Hast du mit ihr gesprochen? Hast du versucht, der Sache auf den Grund zu gehen?«

Das war typisch Duncan. Er war so sicher, dass am Ende ein Grund existierte, eine Logik hinter allem.

»Es ist noch zu früh, wir dürfen sie nicht drängen.«

»Zu früh? Sie ist jetzt seit acht Wochen da drin, Corinne. Es geht mir nicht ums Geld …«

»Das hab ich auch nicht angenommen, die Versicherung übernimmt ja den Großteil der Rechnung!«

Corinne war froh, ein Ventil für ihren Ärger gefunden zu haben.

»Das ist doch nicht der Punkt. Mein Gott, Corinne, ich würde alles zahlen, was notwendig ist, um Hannah da durchzuhelfen, aber sie sollte inzwischen irgendwelche Fortschritte machen.«

»Sie macht Fortschritte. Kleine Schritte, sagt Dr. Roberts.«

Duncan schnaubte. »Vielleicht würde ihr es schon viel besser gehen, wenn Dr. Roberts mehr Zeit in seiner Klinik und weniger Zeit damit verbringen würde, aufwendige Fundraisings zu organisieren.«

»Er muss öffentlich sichtbar bleiben, sodass ihre Klinik weiterhin finanziert wird. Ansonsten müsste die Versicherung sogar noch mehr bezahlen.« Sie hatte es zugespitzt, damit die Botschaft bei ihm ankam. »Sie können von Glück sagen, dass sie ihn haben. Dr. Chakraborty sagt, er ist der Grund dafür, dass sie so hochqualifiziertes Personal bekommen.«

»Ich fang schon mal ohne dich an«, hörte sie eine Frauenstimme im Hintergrund sagen.

Er seufzte. »Ich muss Schluss machen. Wir gucken eine Serie.«

Eine Serie? Corinne spürte, wie sich jeder ihrer Muskeln anspannte. Sie schloss die Augen und atmete tief ein, bis der Moment vorüber war.

»Okay«, sagte sie und wollte schon auflegen.

»Corinne?«

»Ja.«

»Du musst das nicht allein durchstehen. Ich will, dass du das weißt. Mir liegt Hannah genauso sehr am Herzen wie dir. Ich bin an deiner Seite.«

Corinne war es peinlich, dass dieser unbeholfene Versuch, sie zu trösten, ihr Tränen in die Augen trieb.

»Okay.« Sie beendete das Gespräch, bevor ihre zitternde Stimme sie noch verriet. Wütend richtete sie die Fernbedienung auf den Fernseher, der dröhnend mitten in einer Kochsendung ansprang, in der völlig fertige Kandidaten versuchten, mit dem Stress in einer professionellen Restaurantküche klarzukommen. Ja, Chef! Nein, Chef! Sie schaltete wieder aus. Es gab so viel zu tun. Sechsunddreißig Hausarbeiten mussten benotet werden. Noch vor fünf oder sechs Jahren waren die Studenten in Corinnes Sozialanthropologiekurs alle gebürtige Briten, hatten viele der kulturellen Bezugspunkte geteilt und alle einen ähnlichen Hintergrund. Doch inzwischen stammten neunundachtzig Prozent von ihnen aus dem Ausland. Zum Großteil aus China. Sie musste sich eine ganz neue Art der Vermittlung ausdenken, einen ganz neuen Blick auf den Lehrplan entwickeln und gleichzeitig noch die Forschungs- und Publikationsanforderungen erfüllen, die die Universitätsbürokraten ihnen allen auferlegten, um die Studiengebühren zu rechtfertigen. Corinne seufzte und schnappte sich den Laptop.

Als Hintergrund hatte sie ein Bild von sich und Hannah und Megan aus einem Kreta-Urlaub vor zehn Monaten. Sie waren in der Nebensaison gefahren, Mitte Mai. Es war ein Frauenurlaub gewesen, eine letzte gemeinsame Reise, nur sie drei, bevor Megs im darauffolgenden September ihren Job in New York angetreten hatte.

In diesem Urlaub waren sie glücklich gewesen, da war sie sich sicher. Nicht glücklich auf die Art, auf die man in der Rückschau im Urlaub immer glücklich ist, sondern wirklich glücklich. Es war vor Hannahs und Megs’ Zerwürfnis gewesen, und dieses eine Mal war es den beiden gelungen, seit ihrer Kindheit eingeübte Kabbeleien und Verhaltensmuster beiseitezulassen. Normalerweise reagierte Megs schnell beleidigt und verfiel in eine Verteidigungshaltung, und Hannah übertrieb es mit der Neckerei manchmal. Corinne hatte sich zum ersten Mal wieder wie sie selbst gefühlt, seit sie auf Duncans Telefon diese seltsame Nachricht gefunden hatte und er zugeben musste, nicht nur eine Affäre, sondern diese auch geschwängert zu haben.

In diesem Urlaub hatte Hannah zufrieden gewirkt, in Einklang mit der Welt. Sie hatte nicht mehr unvermittelt wegen der Fehlgeburt zu weinen begonnen, die sie vor drei Jahren erlitten hatte, und wegen der erfolglosen künstlichen Befruchtung, die sich angeschlossen hatte. Sie hatte entspannt gewirkt und behauptet, dass Danny und sie so viel besser klarkämen, seit sie verabredet hatten, nicht mehr über Kinder zu sprechen.

Männer hatten sie umschwirrt. Hannah hatte schon immer Aufmerksamkeit auf sich gezogen, nicht etwa, weil sie schön war, obwohl sie das war, sondern weil sie sich so wohl in ihrer Haut fühlte. Megans Schönheit war weniger offensichtlich. Corinne hatte gesehen, wie die Menschen ihre jüngere Tochter wegen ihrer ernsten braunen Augen und ihres kantigen Gesichts nur flüchtig eines Blickes würdigten. Doch meistens hatten sie dann noch einmal genauer hingesehen. Ihre messerscharfe Intelligenz war unwiderstehlich.

Corinne war aus diesem Urlaub mit frischem Optimismus heimgekehrt. Zum ersten Mal seit Jahren hatte sie sich auf die Zukunft gefreut, statt den Eindruck zu haben, ihre besten Jahre lägen hinter ihr. Sie hatte schon Pläne geschmiedet, Megan im Frühjahr in New York zu besuchen, hatte sich sogar bereiterklärt, Internetdating auszuprobieren, und sei es nur, um auf diese Weise einen reichhaltigen Schatz neuer Anekdoten zu bekommen, die sie dann bei geselligen Abendessen zum Besten geben konnte. Am ersten Abend nach ihrer Rückkehr hatte sie im Spiegel ihres winzigen Badezimmers ihr leicht gebräuntes Gesicht betrachtet. Es war mit Sommersprossen übersät gewesen und hatte blasse weiße Fältchen an den Augenwinkeln gehabt. Offenbar hatte sie zu sehr und zu oft gelacht, als dass die Sonnenstrahlen dort hätten hingelangen können. Endlich hatte sie ihr Spiegelbild einmal gemocht. Das Leben war ihr voller Möglichkeiten erschienen.

Doch dann war Hannah schwanger geworden.