
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
© 2018 by Cake Literary LLC
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel
»Love Sugar Magic – A Dash of Trouble«
bei Walden Pond Press, an imprint of HarperCollins Publishers
© 2018 für die deutschsprachige Ausgabe
cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typografie
Umschlag- und Vorsatzillustration & Kapitelvignetten: Laura Rosendorfer
ml • Herstellung: UK
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-20063-3
V002
www.cbj-verlag.de

KAPITEL 1
Leo kommt alles ziemlich spanisch vor
Leo hetzte ins Badezimmer, schlug die Tür hinter sich zu und schloss ab. Keine Sekunde zu früh – schon klopfte es wütend an der Tür. »Hey, mach mal schneller da drin!«
Leo kicherte hämisch vor sich hin. Was perfekt zum heutigen Tag – Halloween! – und ihrem Hexenkostüm passte.
Marisol, Leos sechzehnjährige Schwester, hämmerte von außen gegen die Tür. Aber die konnte ihr den Buckel runterrutschen! Leo hatte nicht vor, sie reinzulassen. Mit vier älteren Schwestern im Haus waren solche morgendlichen Kämpfe für Leo nichts Neues, aber es tat gut, ausnahmsweise mal auf der richtigen Seite der Tür zu sein.
Wie Mamá immer zu Daddy sagte: Ein einziges Badezimmer für fünf Mädchen grenzte an Folter. Überhaupt war das einstöckige Haus zu klein für so viele Kinder – selbst der Handtuchgarten war größer als die gesamte Wohnfläche. Aber wenn Mamá das sagte, schlang Daddy nur seine Arme um sie und erwiderte: »Du bist doch auch klein, Elena, und trotzdem bist du perfekt für diese Familie.«
»Bist du da drin, Leo?« Marisol rüttelte am Türknauf. »Was machst du bloß so lange?«
Leo beugte sich über das mit Rissen durchzogene Waschbecken, dessen Abfluss immer von langen schwarzen Haarbüscheln verstopft war. Sie stippte einen Finger in die Dose mit der apfelgrünen Schminke und schmierte sich die Farbe auf Stirn und Wangen.
»Komm schon, Cucaracha!«, schrie Marisol, die ihre Schwester immer auf Spanisch »Kakerlake« nannte, wenn sie sie ärgern wollte, ohne selber Ärger zu kriegen, weil sie schlimmere Schimpfwörter benutzt hatte.
»Ich muss mich doch für Halloween fertig machen«, rief Leo zurück.
»Bist du dafür nicht langsam ein bisschen zu alt?«
»Mit elf ist man noch nicht zu alt dafür.« Außerdem, mit ihrer schwarzen Lederjacke und den zerrissenen Strumpfhosen sah Marisol jeden Tag so aus, als hätte sie sich für Halloween verkleidet.
Leo wackelte mit den Fingern in Richtung Tür, wie Hexen in Filmen es immer machten, wenn sie jemanden verzaubern wollten. Du hast Schlangen in den Haaren!, dachte sie, so laut sie konnte, aber außer Marisols Seufzen drang leider nichts an ihre Ohren. Keine Schreie, was so viel hieß wie keine Schlangen, was so viel hieß wie keine Zauberkräfte. Schade eigentlich.
»Marisol, lass Leo in Ruhe«, war plötzlich Mamás Stimme zu hören. »Du kannst mein Badezimmer benutzen, wenn du willst.«
»Aber mein Eyeliner ist da drin«, wandte Marisol ein. Dann hörte Leo sie allerdings doch in Richtung des Elternbadezimmers davonstapfen, das am anderen Ende des Flurs lag.
Ein paar Sekunden später klopfte es wieder an der Tür, diesmal wesentlich leiser. »Leo, bitte beeil dich ein bisschen«, sagte Isabel, Leos älteste Schwester. »Ich kann dir auch mit deinen Haaren helfen, wenn du magst.«
Isabel war die Einzige in der Familie, die genug Geduld aufbrachte, um Leos schwarze Lockenmähne zu bändigen. Leos Schwestern hatten allesamt das glatte, glänzende Haar ihres Vaters geerbt, während Leo mit einer wüsten Lockenmähne geschlagen war, gegen die sie jeden Tag aufs Neue ankämpfen musste.
Sie warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel und lächelte zufrieden. Die perfekte Hexenverkleidung gehörte zu ihrem »Der perfekte Halloween«-Plan. Jetzt musste sie nur noch zu Mamá gehen und sie von ihrem Plan überzeugen. Leo zog heftig am Knauf, um die immer klemmende Tür ächzend aufschwingen zu lassen.
»Buh!«, stieß sie hervor, als sie Isabel erblickte.
»Danke, meine kleine Leo«, sagte Isabel, ohne mit der Wimper zu zucken. »Dir auch ein fröhliches Halloween.« Sie trug einen Rock und eine Bluse mit breitem Kragen, und ihre Ohrringe in Form winziger Kürbisse waren der einzige Tribut an den gruseligen Feiertag. Als sie ins Badezimmer schlüpfte, klackerten ihre Schuhe mit den erwachsen hohen Hacken über den gefliesten Boden.
Leo konnte beim besten Willen nicht verstehen, wie man an Halloween keine Lust haben konnte, sich zu verkleiden. Halloween war einer ihrer liebsten Feiertage. Nicht unbedingt wegen der Süßigkeiten oder der Kostüme, obwohl Leo beides durchaus sehr mochte. Der Tag war vor allem deswegen etwas ganz Besonderes, weil direkt danach Leos absoluter Lieblingsfeiertag folgte, nämlich der Día de los Muertos. Der 31. Oktober war für sie also so etwas wie der Tag vor Weihnachten.
Einen Moment lang überlegte sie, ob sie sich vielleicht lieber so wie Isabel hätte anziehen sollen. Würde sie ohne Kostüm erwachsener wirken? Aber dann schüttelte sie den Kopf, rieb die grünen Hände aneinander und machte sich auf die Suche nach ihrer Mutter.
Die üblichen Morgengeräusche hallten durch das Haus, während die Familie Logrono sich für den Tag fertig machte. Leo schlurfte durch den Flur, und ihre schwarz-orange gestreiften Kniestrümpfe raschelten bei jedem Schritt über den Holzfußboden.
Dann platzte Leo abrupt in die Küche. Sonnenstrahlen sickerten durch die Fensterläden auf Mamás Kräuterbeet auf dem Fenstersims, in dem Basilikum, Oregano und Koriander im Licht schimmerten. Leo mochte zwar gerade ein grünes Gesicht haben – aber ihre Mutter hatte eindeutig einen grünen Daumen.
»Muhahahaaa!«, kreischte Leo ihrem Vater ins Ohr, der mit dem Rücken zu ihr am Herd stand und kleine Tortillastücke in das Rührei bröselte, das in der Pfanne brutzelte.
»Buenos días, Leonora«, erwiderte er und lächelte. »Du hast hoffentlich großen Hunger.« Leos Vater konnte unheimlich viele Sachen, Gutenachtgeschichten vorlesen, zum Beispiel, und Gittare spielen, aber beim Kochen beherrschte er nur zwei Gerichte: Migas (Rührei mit Tortillastückchen und drübergestreutem Käse) und Quesadillas (gebratene Tortillas, die nur so vor Käse troffen). Leo schnupperte lächelnd. Köstlicher Käse gehörte zu jedem Logrono-Frühstück unweigerlich dazu.
Alma und Belén, Leos vierzehnjährige Zwillingsschwestern, rauschten in die Küche, Mamá auf den Fersen. Dass die beiden schon wach waren und noch vor halb acht Uhr am Frühstückstisch saßen, kam einem Halloween-Wunder gleich. Zumal sie am Abend zuvor lange aufgeblieben waren und das Badezimmer blockiert hatten, um sich die Stirnfransen türkisblau zu färben, damit sie sich als irgendwelche Anime-Figuren verkleiden konnten, die Leo nicht mal kannte.
»Hat jemand zufällig meine Liste gesehen?«, fragte Mamá und scheuchte die blauhaarigen Zwillinge aus dem Weg.
»Welche Liste?« Leo warf einen Blick auf die mit allem möglichen Zeug vollgestellten Regale und den Küchentisch. Wenn sie die Liste fand, würde Mamá ihre Hilfsbereitschaft bestimmt anerkennen und dafür Leos Plan zustimmen.
»Meinst du die Liste mit den besonderen …?« Belén brach mitten im Satz ab, als Alma ihr den Ellbogen in die Seite rammte.
Leo blinzelte ihre Schwestern argwöhnisch an. »Mit den besonderen was?«
»Ach, nichts.« Mamá durchwühlte einen Papierstapel, der auf dem Tresen lag. Leo reckte den Kopf, um ihr über die Schulter zu gucken.
»Ich hab sie jedenfalls nicht gesehen«, sagte Daddy, den Kopf tief über die Pfanne gesenkt. »Leo, du musst gleich los. Also iss jetzt bitte.« Er verteilte die Migas auf rot-blaue Teller mit dem weißen Texas-Stern in der Mitte.
Leo machte den Mund auf, um Mamá von ihrer Idee zu erzählen.
Da klingelte das Telefon.
»Amor y Azúcar Panadería, guten Tag.« Mamá meldete sich am Telefon immer mit dem spanischen Namen der Bäckerei – Liebe und Zucker. Ihr Mann hatte schon oft versucht ihr beizubringen, dass sie das auf dem privaten Anschluss nicht tun musste, aber vergeblich. So ziemlich jeder im texanischen Rose Hill wusste, wen man anrufen musste, wenn man zur Bäckerei wollte, und jeder Zweite hatte garantiert nur die private Festnetznummer im Kopf.
»Hier!« Isabel kam herein und wedelte dabei mit einem Blatt Papier durch die Luft.
»Ah, danke, mija«, flüsterte Mamá und hielt dabei die Sprechmuschel zu. Sie schaute auf die Liste, zog einen Kugelschreiber aus dem festen Dutt am Hinterkopf und kritzelte stirnrunzelnd unten etwas aufs Papier.
»Sí, ya voy«, sagte sie – was so viel heißt wie »Ja, ja, ich komme gleich« – und plapperte dann so schnell auf Spanisch weiter, dass Leo nicht einmal einen Bruchteil davon verstand.
Isabel stellte sich neben ihre Mutter, schaute ihr über die Schulter und nickte. Isabel konnte Spanisch. Marisol auch. Beide waren noch mit Abuela – ihrer Oma – aufgewachsen, die ihnen Lieder vorgesungen, Geschichten erzählt und auf sie aufgepasst hatte, während Mamá arbeiten war. Bei Almas und Beléns Geburt war Abuela hingegen schon zu alt zum Babysitten gewesen, aber nach einem Jahr Spanisch an der Schule verstanden selbst die beiden schon einiges von dem, was zu Hause gesprochen wurde.
Nur Leo, die sowohl für Abuela als auch für den Spanischkurs zu jung war, konnte kaum mehr als zwei, drei Wörter Spanisch.
Mamá legte auf. »Otro hechizo«, sagte sie leise. Isabel nickte.
Leo legte stirnrunzelnd den Kopf schief. Eigentlich sprach ihre Mutter nur mit den Kunden Spanisch – oder wenn sie nicht wollte, dass Leo sie verstand … Aber das war jetzt auch egal. Sie hatte doch einen Plan!
Das Día de los Muertos Fest war nicht nur der schönste Feiertag des Jahres und eine der beliebtesten Traditionen in Rose Hill, sondern zudem das größte Ereignis für die Familienbäckerei – die beste Gelegenheit, haufenweise Kuchen, Kekse und Hefezopf an alle zu verkaufen, die an diesem Tag ihrer Verstorbenen gedachten. Mamás Familie veranstaltete das Fest schon genauso lange, wie es Rose Hill gab, oder zumindest behauptete Abuela das immer. Und die Vorbereitungen für das Fest dauerten mindestens einen ganzen Tag.
Die ganze Woche über schon hatte Leo ihre Mutter gebeten, sie mit in die Bäckerei zu nehmen, damit sie mithelfen (und die Schule schwänzen) konnte – vergeblich. Aber genau das würde sich jetzt ändern!
»Mamá, ich weiß jetzt den perfekten Grund, warum ich heute auch in der Bäckerei mithelfen sollte.«
»Süße, das haben wir doch schon hundertmal durchgekaut«, sagte Mamá und kritzelte etwas auf ihre Liste, ohne aufzusehen. »Ich möchte bitte nichts mehr davon hören.« Leo klappte den Mund auf, um zu widersprechen, aber Mamá hielt warnend einen Finger hoch. »Das reicht.«
»Das ist ungerecht!« Wütend schleuderte Leo ihre Gabel auf den Teller. Ihre Mundwinkel hingen herunter, und sie spürte erste Tränen, die in ihren Augen brannten.
»Leo, du weißt doch, dass das auch für uns kein freier Tag ist«, sagte Isabel. »Mamá braucht einfach Hilfe. Wir werden den ganzen Tag so viel arbeiten, dass wir kaum zum Durchschnaufen kommen.« Sie lächelte ihre kleine Schwester an.
»Ich finde trotzdem, dass auch Leo helfen könnte«, mischte Belén sich ein. Die Zwillingsmädchen waren schon immer Leos beste Mitstreiterinnen gewesen. »Ich meine, zumindest bei den normalen Sachen …« Wieder stieß Alma ihr den Ellbogen in die Seite. »Hör auf damit!«, keifte Belén.
Marisol stellte sich hinter Leo und zerzauste ihr die Haare. »Das Backen übernehmen sowieso wieder nur Mamá und Tía Paloma, Cucaracha. Wir dürfen wie immer nur die langweiligen Sachen machen, Kundenbestellungen annehmen und so was. Glaub mir, in der Schule wirst du mehr Spaß haben.«
»Mamá«, versuchte es Leo ein letztes Mal. »Ich finde es supertoll, Kundenbestellungen anzunehmen! Ich weiß, ich kann …«
Wieder klingelte das Telefon.
»Leo, du wirst mir morgen auf dem Fest noch genug helfen. Und jetzt ab mit dir zum Bus!«, sagte Mamá, während sie zum Hörer griff. »Deine Schwestern und ich müssen gleich in die Bäckerei.«
Daddy beugte sich vor, um Leo einen Abschiedskuss zu geben, aber sie wich ihm aus. Sie hüpfte von ihrem Barhocker herunter und kippte ihre Essensreste in den Müll. Statt vor Hunger grummelte ihr Magen jetzt vor Wut. Dann stapfte sie in den Flur hinaus, wo Señor Gato, der Kater der Familie, gerade an der Haustür kratzte.
»Darfst du etwa auch mit in die Bäckerei?«, fragte Leo ihn.
Señor Gato blinzelte sie mit seinen runden gelben Augen an.
»Chhhh!« Leo fauchte ihm ins Gesicht.
Der Kater streckte gähnend den Rücken durch und trottete dann zu den anderen in die Küche. Ganz allein stürmte Leo aus dem Haus.

KAPITEL 2
Caroline, mi amiga
Wie immer war der kleine Schulbus noch komplett leer. Leo und ihre Schwestern wohnten an der allerersten Haltestelle auf der Route und konnten sich daher die Plätze nach Belieben aussuchen. Letztes Jahr hatten sich Leo, Alma und Belén einen Monat lang jeden Tag in eine andere Reihe gesetzt, und deswegen wusste Leo mit absoluter Sicherheit, dass der mit grauem Vinyl bezogene Sitz in der drittletzten Reihe rechts über das dickste Schaumstoffpolster und die wenigsten Spinnwebensprünge in der Fensterscheibe verfügte.
Sie zog die Füße an die Brust und ermahnte sich, nicht die Stirn ans Fenster zu legen, um ihre Schminke nicht zu verschmieren. Hier im hinteren Teil des Busses war sie außerhalb des Sichtbereichs von Mrs Lillis, der Busfahrerin. Ganz allein. Die wenigen Bisse, die sie beim Frühstück gegessen hatte, lagen ihr als bleischwerer Klumpen im Magen.
Der Himmel färbte sich strahlend blau, während der Bus sich langsam durch Rose Hill schlängelte. Selbst mit geschlossenen Augen hätte Leo noch jedes bunt angestrichene Haus auf der Route beschreiben können, jeden heiß geliebten Pick-up-Truck und jeden rostigen Kleinwagen entlang der Straße, jedes verwilderte Rasenstück, jedes liebevoll gepflegte Blumenbeet.
Aber heute wirbelten in ihrem Kopf zornige Gedanken durcheinander. Mamá hätte doch froh sein sollen, möglichst viele helfende Hände in der Bäckerei zu haben! Am Tag der Toten war die ganze Stadt auf den Beinen – und kam in den Laden, um Zuckertotenköpfe oder Pan de muerto zu kaufen, das Brot der Toten oder »Totbrot«, wie Daddy es scherzhaft nannte. Viele kamen auch Wochen nach dem Fest noch vorbei, um tütenweise Bolillo-Brötchen oder süße, muschelförmige Conchas zu holen, weil sie sich daran erinnerten, wie gut die Leckereien im Amor y Azúcar schmeckten.
Mamá dachte sich immer wieder neue Sachen aus, um das Angebot der Bäckerei zu erweitern und mehr Geld einzunehmen, damit sie eines Tages das große zweigeschossige Haus kaufen konnten, das direkt im Stadtzentrum stand und das sie sich schon so lange wünschte. Am Tag der Toten gute Geschäfte zu machen, konnte durchaus helfen, diesen Traum zu verwirklichen. Also war es völlig logisch, dass die großen Töchter für einen Tag aus der Schule genommen wurden, um bei den Vorbereitungen zu helfen. Aber Leo hatte doch auch zwei Hände, mit denen sie kräftig zupacken konnte!
Der Bus füllte sich langsam. An jeder Haltestelle stiegen ein paar Grundschulkinder oder größere Gruppen älterer Schüler zu. Aber niemand setzte sich neben Leo. Jetzt, wo Alma und Belén in die neunte Klasse gingen, hatte sie nicht mehr automatisch Sitznachbarn, und sie wusste auch nicht, wie sie neue finden sollte. Dafür waren Schwestern echt praktisch – immer war jemand da, der sich im Bus neben einen setzen konnte oder mit dem man zwischen den Unterrichtsstunden auf dem Schulhof reden konnte. Schwestern waren immer um einen herum – bis sie einen dann ganz plötzlich allein ließen.
Der Bus bog in die letzte Haltebucht ein. Maskierte, bunt kostümierte Kinder strömten herein, wild plappernd, schreiend, einander neckend oder lachend. Zwei Fünftklässlerinnen, die sich als Löwe und Ballerina verkleidet hatten, stiegen die Stufen hoch und setzten sich in die leere Reihe direkt hinter Mrs Lillis’ Fahrersitz. Nach ihnen schlurfte ein großes blondes Mädchen herein, das in einen dunkellila Umhang gehüllt war und einen glitzernden Zauberstab in der einen sowie eine braune Pausenbrottüte in der anderen Hand hielt.
Caroline!
Leo winkte ihr zu. »Du bist wieder da!«
Caroline Campbell schlüpfte auf den Sitz neben ihr. Trotz der rosig geschminkten Wangen und des Glitzerpuders sah sie so blass aus, als wäre sie ein verwaschener Geist, der sich nur als Caroline verkleidet hatte. »Ja, ich hätte dich anrufen sollen.«
Caroline und Leo waren während der dritten und vierten Klasse beste Freundinnen gewesen, doch dann war Caroline nach Houston gezogen, um näher bei den Ärzten ihrer Mutter zu wohnen. Nach dem Tod von Mrs Campbell war die Familie im Frühsommer wieder nach Rose Hill gezogen, doch Caroline hatte sich in diesem Schuljahr noch keinen Tag in der Schule blicken lassen. Was Leo ihr nicht verübeln konnte. Sie wollte sich nicht einmal vorstellen, was sie ohne ihre Mamá tun würde.
»Macht nichts, schon okay.« Leo kratzte sich am Oberschenkel. Nach der Rückkehr der Campbells hatte Mamá ihnen so viele Leckereien geschickt, dass davon mindestens zwei Familien von der Größe der Logronos hätten satt werden können, und dazu hatte Leo selbst gebastelte Karten gemacht. Aber ansonsten hatte sie sich Isabels Rat zu Herzen genommen, Caroline etwas Zeit zu lassen.
»Du hast dir echt den besten Tag ausgesucht, um zurückzukommen.«
»Brent hat gemeint, so könnte ich einen zauberhaften Auftritt hinlegen.« Caroline wedelte mit dem glitzernden Zauberstab durch die Luft.
Leo reckte den Kopf über den Sitz. »Wo ist Brent denn?« Carolines Nachbarsjunge stieg normalerweise als letzter Sechstklässler ein. Sein Schulranzen war immer besonders schwer, weil er auch Carolines Hausaufgaben schleppte. Leo hätte nicht neben ihm im Bus sitzen wollen, aber für einen Jungen war er schon ganz in Ordnung.
»Er ist krank. Na ja, das denkt zumindest seine Mutter. Ich bin da eher skeptisch.« Caroline rang sich ein schwaches Lächeln ab, als sie eins von Ms Woods Vokabeln für diese Woche zitierte. Sie war so – sie verwendete die Vokabeln tatsächlich auch im echten Leben! »Wir haben zusammen auf den Bus gewartet, aber dann hat er sich auf einmal von oben bis unten das Kostüm vollgekotzt. Jetzt glaubt seine Mutter, er hätte einen Magen-Darm-Virus. Aber ich hab ihn gestern gewarnt, dass er nicht den ganzen Kissenbezug voller Süßigkeiten aufessen soll.«
Leo lachte. »Er hat nicht wirklich die ganze Ladung aufgegessen, oder?«
Caroline grinste, und endlich erkannte Leo ihre alte Freundin wieder. »Doch. Das war ein Experiment, um die Höchstmenge rauszufinden, die er essen kann, ohne zu kotzen. Jetzt weiß er für heute Abend ganz genau, wie viel er verträgt, und kann damit das beste Halloween aller Zeiten genießen.«
Brent Bayman war so – er verwendete die Ergebnisse solcher Experimente im echten Leben!
Leo griff sich an den Bauch und verzog lachend das Gesicht. »Ganz schlechte Idee.«
»Ich glaube, er wollte mich nur zum Lachen bringen, weißt du? Ich hatte mir Sorgen gemacht, wie das an meinem ersten Schultag werden würde …«
»Ja …« Leo wusste nicht, was sie dazu sagen sollte, und so dehnte sich das Schweigen zwischen ihnen wie Kaugummi.
»Er hat mich jeden Tag besucht, nachdem …«, sagte Caroline dann.
Leo lief sofort rot an. Vielleicht hätte sie Caroline doch öfter besuchen sollen? Aber Isabel hatte ihr davon abgeraten. Und normalerweise hatte Isabel in solchen Sachen immer recht. »Tut mir leid, dass ich nicht öfter vorbeigekommen bin …«
»Nein, ich wollte lieber allein sein. Bei Brent war das nur … Er wohnt halt nebenan. Ich hätte ihm nicht aus dem Weg gehen können, selbst wenn ich gewollt hätte.« Caroline lachte, und Leo sah sie lächelnd an.
»Ich freu mich echt, dass du wieder da bist.«
»Danke. Ich glaube, ich auch.«
Als der Bus auf die Hauptstraße einbog, waren sie nur noch wenige Blocks von der Schule entfernt. »Und ich freu mich, dass ich rechtzeitig zum Fest wieder da bin«, sagte Caroline und zeigte auf die orangefarbenen Ringelblumengirlanden, die um die Straßenlaternen gewunden waren. »In Houston hab ich oft von den leckeren Sachen in eurer Bäckerei geträumt. Ist alles schon fertig vorbereitet?«
Als Leo lachte, schmeckte das Lachen irgendwie bitter. »Nein, noch nicht. Meine Schwestern dürfen heute die Schule schwänzen, um Mamá zu helfen. Jeder darf heute mithelfen – nur ich nicht.«
»Echt?«, fragte Caroline. »Das ist ja merkwürdig.«
»Ja, ich weiß!«, rief Leo erleichtert aus. Endlich verstand sie jemand! »Und sie haben sich heute Morgen total seltsam aufgeführt – haben Spanisch gesprochen und so getan, als würde der Tag tootaaaal langweilig werden …«
»Doppelt merkwürdig.« Caroline nickte mit ernster Miene. »Hm, bist du sicher, dass bei euch alles okay ist?« Sie ließ ihr Armband um ihr Handgelenk kreisen.
Leos Magen machte einen unangenehmen Hüpfer, und nicht nur, weil Mrs Lillis den Bus etwas zu schnell in das größte Schlagloch der Hauptstraße rumpeln ließ. Carolines Eltern hatten die Krebserkrankung ihrer Mutter lange vor ihr geheim gehalten – erst kurz vor dem Umzug nach Houston hatte sie davon erfahren. Aber um so ein Geheimnis würde es bei Leos Familie doch hoffentlich nicht gehen, oder?
Sie waren jetzt beinahe an der Bäckerei. Leo beugte sich weit vor, um einen guten Blick auf die blau-gelbe Fassade der Amor y Azúcar Panadería zu haben. Die grüne Schminke ignorierend, presste sie das Gesicht gegen die Scheibe. Die Tür der Bäckerei war fest geschlossen, die Fenster dunkel.
»Da stimmt was nicht.«
»Was meinst du?«, fragte Caroline.
»Meine Schwestern, meine Mutter, meine Tante … Eigentlich wollten sie heute alle in der Bäckerei arbeiten. Mamá hat viel vorzubereiten, und sie braucht Hilfe beim Backen und beim Aufnehmen der Kundenbestellungen.« Leo zitierte alles, womit ihre Mutter sie die ganze Woche abgewimmelt hatte. »Aber jetzt ist die Bäckerei nicht mal offen!«
Caroline beugte sich zu Leo ans Fenster. »Geheimnisse …«, sagte sie leise.
Einen Augenblick später war die Bäckerei außer Sicht verschwunden.
Leos Herz klopfte so heftig, dass sie das Gefühl hatte, es könnte ihr gleich aus der Brust hüpfen. In ihrem Kopf wirbelten tausend Gedanken durcheinander. Caroline saß schweigend neben ihr und knabberte an einem Fingernagel.
Schließlich hielt der Bus vor der Schule und alle Kinder sprangen auf. Die Rose Hill Grundschule und die Rose Hill Middle School teilten sich ein Gebäude, und Leo war normalerweise immer ein bisschen stolz, wenn sie aus dem Bus stieg und die Grundschulkinder hinter sich ließ. Aber heute fühlte sie sich einfach nur ganz klein und frustriert.
Die Glocke läutete. Leo führte Caroline zum Klassenraum der Sechsten, wo Ms Wood, die groß gewachsene, dunkelhäutige Klassenlehrerin, Caroline mit einem warmen Lächeln und einer Liste von Klassenregeln empfing. Leo half Caroline, sich an dem Tisch neben ihrem einzurichten – an dem Platz, der das ganze Schuljahr leer geblieben und auf Caroline gewartet hatte.
Dann setzte sich Leo auf ihren Platz und kritzelte in einem Heft herum, während der Rest der Klasse hereinschlurfte – Goblins und Zauberer und Katzen und ein paar weitere Hexen (wobei Leo überzeugt war, dass ihr Kostüm das allertollste war). Später würden sie alle zusammen zur Turnhalle gehen, wo einige Lehrer einen Parcours mit Halloween-»Aufgaben« vorbereitet hatten – Kreuzworträtsel, Mathe-Arbeitsblätter mit Geister-Textaufgaben und so was. Normalerweise verbrachte Leo diesen Tag damit, die Bonbons von den Tischen mit den einfachsten Aufgaben einzusammeln und sich dann mit Alma und Belén auf die rostigen Metallbänke zurückzuziehen, wo sie gemeinsam darauf warteten, dass der Kostümwettbewerb begann. Aber heute waren die Zwillinge nicht da, und Leo hatte keine Lust auf Kreuzworträtsel.
Und auf einmal begann ein Plan in ihrem Kopf Gestalt anzunehmen.
»Caroline«, raunte sie ihrer Freundin hastig zu, während Ms Wood sich ihre Brille mit angeklebter Nase und Schnurrbart in die Stirn schob, um die Anwesenheitsliste durchzugehen. »Kannst du mir einen Gefallen tun?«
»Was denn?«
Ms Wood las den letzten Namen vor und legte ihr Klemmbrett aufs Lehrerpult. Leo kribbelte es schon in den Fingern.
»Meine Familie führt irgendwas im Schilde, und ich muss rausfinden, was es ist. Ich will zur Bäckerei und nachschauen, was da passiert. Und ich dachte, wenn wir gleich in die Turnhalle rüberlaufen, geht es doch immer so chaotisch zu, und Ms Wood zählt ja nicht noch mal durch, wenn wir drüben sind …«
Caroline riss die Augen auf. »Willst du etwa die Schule schwänzen?«
»Nicht die Schule«, flüsterte Leo. »Nur die Party in der Turnhalle. Aber ich komme nur damit durch, wenn jemand mich deckt und Ms Wood sagt, dass ich gerade noch da war oder dass ich nur kurz zur Toilette bin oder so.«
Caroline runzelte die Stirn. Leo wusste, dass es viel verlangt war – schließlich war es Carolines erster Tag zurück in der Schule, und als gute Freundin hätte sie wohl eher dableiben und Caroline den ganzen Tag beistehen sollen. Ms Wood klatschte in die Hände, und alle Sechstklässler begannen, sich in Zweierreihen aufzustellen. Leo schüttelte den Kopf und versuchte ihre Enttäuschung runterzuschlucken. »Schon okay, du musst das nicht machen«, sagte sie. »War sowieso eine blöde Idee.«
Aber Caroline hob ihren Zauberstab und tippte damit auf Leos schwarzen Hut. »Nein, ich mach das. Du musst nur schauen, dass du nahe bei Victoria bleibst.«
»Hä?« Leo sah sich um – ach ja, da war Victoria Goldman, und sie war ebenfalls als böse Hexe verkleidet, mit einem spitzen schwarzen Hut und dunklen Krauslocken, die ihr ins grün geschminkte Gesicht hingen. »Ah, schlau!« Sofort schlüpfte Leo hinter Victoria in die Schlange. Jetzt freute sie sich gleich doppelt, dass Caroline wieder zurück war.
Nachdem Ms Wood ihre Klasse auf den Flur hinausgeführt hatte, duckte sich Leo hinter den Trinkbrunnen und schlich dann unbemerkt in die Mädchentoilette. Dort versteckte sie sich hinter der Tür der ersten Kabine, lauschte ihrem pochenden Herzen und dem lautstarken Fußgetrappel, als immer mehr Klassen in die Turnhalle strömten.
Etwa zehn Minuten später wurde es wieder still auf dem Flur. Leo rannte aus der Toilette, den Flur hinunter und auf die Straße hinaus, tief geduckt und den Hexenhut an die Brust gepresst, um ja von niemandem entdeckt zu werden.
Erst als sie unbemerkt auf die Hauptstraße gelangt war, wagte sie sich wieder aufzurichten und sich umzusehen. Entlang der Hauptstraße standen die Gebäude dicht an dicht und bildeten eine farbenfrohe geschlossene Fassade, die nur von einem Parkplatz und einer Tankstelle am anderen Ende unterbrochen wurde, dort, wo es schon Richtung Schnellstraße ging.
Leo pflanzte sich den Hexenhut wieder auf den Kopf und raste den Gehsteig hinunter, vorbei an Schaufenstern voller Halloween-Kürbisse und Skelette. Hoffentlich würde niemandem eine kleine Hexe mit grün verschmiertem Gesicht auffallen, die schnurstracks zur Amor y Azúcar Panadería lief.

KAPITEL 3
Brot und Bänder
An normalen Tagen schloss Tía Paloma die Bäckerei um Punkt sieben Uhr auf, nachdem sie schon zwei Stunden lang die Küche vorbereitet und die ersten Ladungen Pan dulce – süße Brötchen – gebacken hatte. Aber heute konnte Leo schon zwei Straßen vor der Bäckerei riechen, dass alles anders war als sonst. Die Luft war kühl und frisch, kein warmer, süßer Hefeduft legte sich über den Asphalt-und-Abgas-Geruch der Straße.
An der Bäckerei angekommen, sah sie die große Kreidetafel an der hellen Holztür: Liebe Kunden, wir bitten um Geduld! Die Bäckerei bleibt heute wegen Vorbereitungen zum Día de los Muertos geschlossen. Kommen Sie morgen ab 9 Uhr vorbei, für Spiele, Traditionen und natürlich jede Menge Köstlichkeiten! Wir freuen uns auf Sie! Und in kleineren Buchstaben stand darunter: In Notfällen oder wenn Sie etwas Besonderes bestellen wollen, rufen Sie uns gerne an!
Leo hatte sich so vor die Tür gestellt, dass sie für den Fall, dass doch jemand drin sein sollte, durch das hohe Schaufensterregal voller bunter Totenköpfe und Kuchen nicht zu sehen war. Sie hörte ein Auto, das die Schnellstraße hinunterbrauste, sie hörte gurrende Turteltauben, aber die Stimmen ihrer Familie hörte sie nicht. Also schlich sie auf Zehenspitzen um das Haus herum und spähte durch die Hintertür, um sicherzugehen, dass sie weder ihrer Tante noch Mamá in die Arme laufen würde. Aber in der Bäckerei war niemand.
Leo machte die Tür auf. Mamá rief mindestens einmal die Woche bei Tía Paloma an, um zu schimpfen, dass die Hintertür mal wieder nicht abgeschlossen gewesen war, aber geholfen hatte das bisher noch nicht.
»Hallo?«, rief Leo in die Stille der Bäckerei hinein. Keine Antwort.
All das Gerede von der vielen Arbeit, die heute erledigt werden musste – eine einzige Lüge.
Leo knallte die Tür hinter sich zu und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Dann rutschte sie nach unten und vergrub das grün geschminkte Gesicht zwischen den Knien. Sie war so wütend, dass ihre Schminke zerfloss; Tränen schnitten grüne Schneisen über ihre Wangen. Einerseits hatte sie immer noch Sorgen wegen dem, was Caroline über Geheimnisse gesagt hatte, andererseits war sie furchtbar sauer, dass sie wieder mal ausgeschlossen wurde. Und die Mischung all dieser schlechten Gefühle brodelte in ihr wie in einem Dampfkochtopf. Sie stieß einen lauten Schrei aus, der so ohrenbetäubend war, dass er selbst Señor Gato in die Flucht geschlagen hätte.
»Was war das?«, drang plötzlich eine Stimme an ihre Ohren.
Leo versuchte nicht in Panik zu geraten, als sie nun mehrere Stimmen und das unheilvolle Knirschen von Kies hörte. Sie spitzelte durch das dunkle Fenster nach draußen – Mamás schlammverschmiertes rotbraunes Auto fuhr gerade auf den Parkplatz hinterm Haus. Mamá und Leos Schwestern stiegen aus und schlugen die Autotüren hinter sich zu.
»Wieso darf ich nicht einfach in die Schule gehen?«, jammerte Marisol, während sie auf die Bäckerei zukam.
Panisch wich Leo von der Tür zurück und sah sich nach einem Versteck um. Mamá würde fuchsteufelswild sein, wenn sie herausfand, dass Leo die Schule geschwänzt hatte.
Sie rannte am begehbaren Kühlschrank vorbei, in dem haufenweise Teig, Milchkanister und Eierkartons darauf warteten, aus ihrer Folienverpackung befreit zu werden. Sie sprintete um den langen Holztisch, der in der Mitte der Küche stand und jetzt leer und blitzsauber funkelte, wo er doch normalerweise immer voller Mehlhaufen, Teigklumpen und Gläsern mit Marmelade, Zuckerguss und Karamell war. Sie rannte an Mamás und Daddys leerem Büro vorbei, wäre fast gegen die Schwingtür gekracht, die in den Vorderbereich der Bäckerei führte, und lehnte sich kurz dagegen, um einmal durchzuschnaufen, während sie Mamá rufen hörte, dass sie Hilfe beim Ausladen des Kofferraums brauche.
Leo ließ verzweifelt den Blick umherwandern – wo konnte sie sich bloß verstecken? Die Stimmen vom Parkplatz wurden lauter. Leo schielte zu den Vorratsschränken hinüber. Zu dritt standen sie da, hoch und massiv, und säumten die eine Küchenwand. Anders als die modernen Stahlbacköfen und die glatt polierte Küchentheke waren diese Schränke voller Risse und Kerben, abgewetzt und kaputtgeliebt wie sonst nichts in dieser Küche. Aber jetzt, wo ein Schlüssel im Schloss der hinteren, bereits offenen Tür zu hören war, waren diese Schränke vor allem eins: geräumig.
Leo zog die Türen des ersten Schranks auf, quetschte sich in das unterste Fach zwischen zwei riesige Mehlsäcke und zog die Tür hinter sich zu, sodass nur ein papierdünner Lichtstreif noch darauf hinwies, dass sie nicht komplett geschlossen war. Durch den Spalt konnte sie immer noch die halbe Küche einsehen.
Hohe Absätze klackerten über die orangebraunen Bodenfliesen. Leo beugte sich näher zum Türspalt, vorsichtig, um den altersschwachen Schrank nicht zum Ächzen zu bringen. Ja, da kam gerade etwas in ihr Blickfeld – eine Hand, ein dunkler Rock …
»Hallo? Ja, ich bin da. Wo bist du?« Das war nicht Mamás Kunden-Stimme, also hatte sie wahrscheinlich Tía Paloma am Telefon, oder Daddy vielleicht. Leo presste die Nase gegen einen Mehlsack und das Ohr gegen den Spalt, um besser hören zu können.
»Ja, ich habe die Bänder. Die Kerzen sind bei dir. Nein, die hast du letztes Mal mit nach Hause genommen, weil du meintest, du bräuchtest sie. Ich hab dir gleich gesagt, wir sollten lieber alles zusammen aufbewahren, aber du hast gesagt … Ja, ich bin ganz sicher, Palomita. Ja, ich … Okay, also gut. Marisol und ich können welche besorgen. Komm einfach her, wir warten auf dich. Und vergiss nicht, Mamá und Abuelita mitzubringen.«
Mamá und Abuelita mitbringen? Leo schüttelte den Kopf. Hatte sie etwa Mehl in die Ohren gekriegt? Abuela war gestorben, als Leo noch ein Krabbelkind gewesen war, und Abuelita, wie Mamá ihre Großmutter genannt hatte, war natürlich noch viel länger tot.
Mamá klappte ihr Handy zu und klackerte auf ihren hohen Absätzen nach vorne. Leo schnappte ein paar Satzfetzen auf – anscheinend stritten sich ihre Schwestern.
Nach ein paar spannungsgeladenen Minuten ließ Leo sich wieder gegen einen Mehlsack plumpsen. Ihr Kopf fühlte sich wie eine gefüllte Empanada an und Mamás Worte quollen ihr wie Guavengelee aus den Ohren. Kerzen? Bänder? Das waren doch keine normalen Backzutaten. Leo hatte zwar keine Ahnung, was ihre Mutter vorhatte, aber es musste eindeutig etwas Größeres sein als nur die üblichen Vorbereitungen für das morgige Fest.
Wieder drangen Geräusche aus dem hinteren Teil der Bäckerei an ihr Ohr. Die Tür ging auf und wieder zu. Leo beugte sich vor und lugte durch den Türspalt – Tía Paloma war da.
»Setz schon mal den Teig an, Isa«, sagte Mamá. »Wir müssen den Tisch vorbereiten.«
»Musik!«, schrillte Tía Palomas Stimme durch den Raum. »Du hast recht, Mami, wir brauchen Musik. Elena liebt Musik, und Abuelita auch, und ihre Abuela. Bisabuela nicht so, aber die ist sowieso nur ein alter verschrumpelter Apfel.«
Mit wem redete Tía Paloma denn da? Leo sah, wie Mamá eines ihrer Plastik-Einkaufsnetze auf den Backtresen stellte, Kerzen, Tücher und farbige Bänder herausholte und alles parallel zur Tischkante aufreihte.
Tía Paloma schob sich durch die Schwingtür nach vorne in den Laden, und ein paar Augenblicke später begann eine Stimme etwas zu singen, was sich wie ein altes spanisches Liebeslied anhörte. Leo fand, auf Spanisch hörten sich eigentlich alle Lieder wie Liebeslieder an, weil so viele lange Klagelaute darin vorkamen. Irgendwie hatten diese Lieder immer die Wirkung, dass man sich sofort ans Herz fassen und so laut wie nur möglich mitsingen wollte.
Eine Weile versuchte Leo Wörter herauszufiltern, die sie kannte – »amor«, Liebe, war dabei noch das einfachste –, dann aber gab sie auf und suchte mit den Augen nach Isabel. Die wog gerade verschiedene Zutaten ab, die sie dann in einer kleinen Schüssel zusammenschüttete. Dann ließ sie den Mixer in trägen Kreisen alles durcheinanderwirbeln, wobei kleine Mehlwölkchen aufstiegen und auf die Arbeitsfläche herabrieselten. Vanille, erschnupperte Leo, und Zimt, und dazu etwas Würziges, das sie auf irgendwie tröstliche Art in der Nase kitzelte, obwohl sie nicht einmal hätte sagen können, ob es ein vertrauter oder ein ganz neuer, fremder Duft war.
Dann kam Tía Paloma durch die Schwingtür wieder rein und half Mamá, eine farbenfrohe, handgemachte Quiltdecke über dem Tisch auszubreiten. Leo erkannte den Quilt – es war einer von denen, die Bisabuela gemacht hatte, Mamás Großmutter. Auch Abuela hatte solche Decken genäht und bestickt, doch ihre bestanden manchmal aus alten T-Shirts oder anderen Klamotten, aus denen Leo und ihre Schwestern herausgewachsen waren. Vielleicht hatte Mamá das damit gemeint, als sie Tía Paloma angewiesen hatte, Abuelita mitzubringen?
Aber trotzdem … Auf dem Quilt meiner Urgroßmutter konnte man doch keinen Brotteig kneten!
Plötzlich knallte die hintere Tür zu, und jemand stieß einen lang gezogenen Seufzer aus.
»Hier, deine Kerzen.« Marisol warf eine Tüte auf den Tisch. Selbst aus ihrem Schrankversteck heraus konnte Leo erkennen, dass sie dabei die Augen verdrehte, und Leo folgte ihrem Beispiel. Marisol legte offenbar keinen Wert darauf, bei den Vorbereitungen zu helfen, während Leo so ziemlich alles dafür gegeben hätte, mitmachen zu dürfen.
»Da bist du ja«, sagte Mamá. »Ist alles glatt gelaufen? Bist du müde? Wieso hast du dein Telefon in der Hand? Hast du deswegen so lange gebraucht?«
Tía Paloma eilte, die Arme voller bauschigem weißem Stoff, in den hinteren Teil der Küche, dann rauschte sie wieder in Leos Sicht, als sie Alma und Belén durch die Schwingtür in Richtung des Badezimmers scheuchte, das sich vorne im Laden befand.
»Meine Freundinnen erzählen mir gerade alles, was ich in der Schule verpasse.« Marisol tippte auf dem Display ihres Handys herum.
»Wie schön, dass du so beliebt bist, nicht wahr?« Mamá streckte ihr eine Hand hin und Marisol legte ihr mit einem finsteren Blick das Telefon auf die Handfläche. »Jetzt hilf deiner Schwester bitte mit dem Teig. Es reicht, wenn deine Freundinnen dich morgen über alles informieren.«
Seufzend ging Marisol zu Isabel an den Tresen. Mamá machte sich wieder daran, Sachen aus dem Netz zu holen. Als das Telefon vorne im Laden klingelte, ging Isabel eilig dran.
»Hallo, Amor y Azúcar Panadería. Wir haben heute eigentlich geschlossen, aber wir würden uns freuen, wenn Sie morgen zum Fest vorbeischauen.« Sie legte eine Pause ein. »Oh! Ach so, ja, sicher geht das. Nur einen Augenblick, bitte.« Sie streckte den Kopf zur Kuchentür herein, eine Hand auf die Sprechmuschel gelegt. »Eine Bestellung, Mamá. Eine Spezialbestellung.«
Mamá nickte, griff in ihre Tasche und holte ein zusammengefaltetes, gelbes liniertes Blatt Papier sowie einen blauen Druckbleistift heraus.
»Zweimal Pan de la suerte«, sagte Isabel laut, und Mamá kritzelte aufs Papier. »Und zu welchem Anlass? Ah, ein Hochzeitsempfang! Ja, das machen wir sehr gern. Ich brauche nur Ihren Namen und die Uhrzeit, wann Sie die Bestellung abholen wollen …« Mamá reichte ihr den Zettel und Isabel schrieb alles dazu. »Dann bedanke ich mich. Einen schönen Tag noch! Und viel Glück für die Hochzeit!« Sie lachte.
Pan de la suerte? Leo kannte jede Sorte Brot und Kuchen, die in der Bäckerei hergestellt wurde, aber sie hatte keine Ahnung, was Pan de la suerte sein sollte. Bedeutete »suerte« nicht so was wie »Glück«? Ein Glücksbrot?
»Danke, mija.« Mamá nahm die Liste wieder an sich und steckte sie zusammen mit dem Bleistift in ihre Tasche. »Wir müssen mehr Schokotaler besorgen – ein Glück, dass es ab übermorgen alle Süßigkeiten im Sonderangebot gibt. Vollmond ist am Sonntag, oder? Dann müssen wir da loslegen. Hach, ich kann es kaum erwarten, euch alles beizubringen! Ich hab schon so lange kein Pan de la suerte mehr gemacht.«
Marisol schnaubte, aber falls Mamá sie gehört haben sollte, so ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Isabel lächelte nur. Und Leo war verwirrter denn je. Was für eine Art Gebäck sollte das werden – mit Schokotalern und Mondschein?