Bernhard Hagemann
Mit Vignetten von
Isabel Metzen
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Für Sonja und August
1. Auflage 2018
© 2018 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung, -illustration,
Vignetten und Vorsatz: Isabel Metzen
TP · Herstellung: UK
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-20690-1
V001
www.cbj-verlag.de
1
Vor den hohen Bergen, die mit ihren Gipfeln nach dem Himmel greifen, in einem Tal mit grünen Hügeln, wo die Kühe saftiges Gras finden, da liegt Oberalpendorf. Wie eine Postkarte sieht der Ort jeden Morgen aus, wenn die Sonne hinter den Bergen hervorkommt und die ersten Strahlen auf die Kirchturmspitze schickt. Je höher die Sonne steigt, umso mehr Dächer werden von ihr beschienen. Nach der Kirchturmspitze wird die Schule in morgendlich gelbes Licht getaucht, dann das Rathaus, dann die Bäckerei und dann alle anderen Häuser.
In einem der anderen Häuser, oben im zweiten Stock unter dem Dach, schläft Emma noch. Es ist Samstag, sie muss nicht zur Schule, aber lange schlafen würde sie jetzt nicht mehr. In ein paar Minuten würde die Sonne durchs Dachfenster scheinen und Emmas Nasenspitze kitzeln. Davon würde Emma aufwachen und mit guter Laune aus dem Bett und in den Tag springen.
»Buenas días!«, würde sie rufen. Emma wächst sozusagen fünfsprachig auf. Ihre Mutter führt das Gästehaus Wallner in Oberalpendorf. Franzosen, Spanier, Engländer, Italiener, Österreicher, Amerikaner, alle kommen zu Besuch.
Freilich spricht Emma nicht alle Sprachen gleich gut. Auf Französisch kann sie vier Wörter, Spanisch fünf, Englisch ziemlich viel, viel mehr als vierzig, Italienisch drei. Gleich würde es so weit sein …
… aber halt! Es ist Dezember, und wenn Oberalpendorf im Dezember wie eine Postkarte aussehen soll, dann müsste Schnee liegen. Viel Schnee, unter dem alles verschwindet, was herumsteht. Büsche, Fahrräder, Autos, Mülltonnen. Aber richtig viel Schnee gibt es schon lange nicht mehr. Mindestens drei Jahre lang. Richtig viel Schnee gibt es im Augenblick nur in Emmas Traum. Deswegen hat sie auch so ein Lächeln um den Mund, als sie sich die Bettdecke noch einmal bis unter die Nasenspitze zieht. Emma träumt nämlich von Schnee, der für sie zu Weihnachten gehört wie die Sahne auf einen Eisbecher. In ihrem Traum sitzt sie auf einem Schlitten, den ihr Vater durch den tief verschneiten Wald zieht.
Neben Emmas Bett hängen selbst gemalte Bilder. Bis auf die Farbe Weiß sind alle Farben in ihrem Malkasten noch voll, denn Emma hat auf den Bildern Schnee gemalt. Schnee, der als Flocken vom Himmel fällt, Schnee, der auf Hügeln liegt, Schnee auf der Schneeschaufel, Schnee auf Bäumen. Emma will den Schnee herbeimalen. Sie hat Angst, dass er wieder ausbleibt. Letztes Jahr kam er nur für eine Woche als dünne Zuckerschicht zu Besuch. Oberalpendorf ohne Schnee, das geht gar nicht. Und Weihnachten in Oberalpendorf ohne Schnee noch viel weniger. Aber es ist schon Dezember. Und der Schnee lässt auf sich warten.
Emma wünscht sich den Schnee so sehr, dass sie manchmal glaubt, aus einem anderen Land zu kommen, Grönland, Island oder Sibirien. Aber das stimmt nicht. Keiner ihrer Vorfahren kommt aus einem der kalten Schneegebiete.
»Buenas días«, sagt Emma wenig später trotzdem gut gelaunt, als sie barfuß in die Küche tapst, obwohl es Regen ist, der an die Fensterscheiben trommelt. Emma lässt den Kopf nicht hängen. Es muss einfach weiße Weihnachten geben. Außerdem ist Emma ein fröhlicher Mensch.
»Guten Morgen, mein Schatz!«, antwortet ihre Mutter. In der Küche läuft das Radio mit dem Wetterbericht.
»Heute tagsüber Regen«, hört Emma da. »Und über tausendzweihundert Meter Schnee.«
Tausendzweihundert Meter, denkt Emma, bis dahin ist es noch weit. Aber bis Weihnachten ist es nicht mehr weit. Eine Woche nur noch.
»Ob bis Weihnachten der Schnee kommt?«, fragt Emma.
»Tja«, meint ihre Mutter. »Der Wetterbericht sagt mal so, mal so. Dabei sollte der es genauer wissen.« Sie lacht Emma an und streicht ihr liebevoll durchs Haar. »Emma, setz dich mal«, sagt sie dann und ihr Ton schlägt um. Plötzlich schwingt der Ernst des Lebens mit. Die Sorgenfalten auf der Stirn sind sein Muster.
Emma denkt, was kommt denn jetzt?
»Papa«, fängt ihre Mutter an und lächelt dabei.
»Papa! Wann kommt er?«, fragt Emma gleich. Die Freude auf ihren Vater ist genauso groß wie die Vorfreude auf Weihnachten. Emma hat ihren Vater jetzt schon drei Monate nicht gesehen, eine Ewigkeit. Ihr Vater ist Arzt und arbeitet für ein Jahr in Amerika in einem Krankenhaus. Jetzt, kurz vor Weihnachten, endet dort seine Zeit. Heute oder morgen will er kommen, und dann wird für Emma die Weihnachtszeit richtig beginnen. Ihr Vater spielt abends auf der Mundharmonika Weihnachtslieder und dann holt Emma mit ihm immer den Weihnachtsbaum. Im Wald vom Bauern Kreuzlechner machen sie das. Sie gehen mit einer Säge in den Wald und sägen sich den Baum selber ab. Einen, der sowieso gefällt werden muss, weil er zu nah an einem anderen steht. Das ist dann der schönste Weihnachtsbaum der Welt, weil er nicht so perfekt aussieht, als würde er aus einem Weihnachtsbaumlabor kommen.
Emma kann es kaum erwarten, dass ihr Vater kommt. Aber was soll die Sorge in der Stimme ihrer Mutter?
»Das ist es ja«, sagt jetzt ihre Mutter und legt den Arm um Emmas Schultern. »Wie es aussieht, wird Papa erst an Heiligabend kommen können. Mehrere Kollegen sind krank geworden. Er muss für sie einspringen.«
Aus einem Reflex heraus wirft Emma jetzt den Arm ihrer Mutter von der Schulter und macht einen Schritt zur Seite. Zorn steigt in ihr auf wie in einem Vulkan die Lava. Ihre Augen verfinstern sich.
»Aber Mama!«, schimpft sie. »Papa hat versprochen, dass er kommt. Und wer holt den Weihnachtsbaum? An Heiligabend ist das viel zu spät. Und Weihnachtslieder singen und spielen wir doch auch immer.«
Wie ein Krakenarm kommt da wieder die Hand von Emmas Mutter und zieht sie zu sich heran. Ein Seufzer schlüpft aus ihrem Mund.
»Emma, schau mal …«, beginnt ihre Mutter und erklärt, dass es zum Beruf eines Arztes gehört, dass er manchmal nicht zu Hause sein kann, obwohl es sich alle wünschen.
Aber die Worte haben jetzt nichts Tröstendes für Emma. Sie hat sich so auf ihren Vater gefreut. Und jetzt kommt er erst Heiligabend.
»Wir werden mit Papa telefonieren«, verspricht ihre Mutter jetzt. »Und am Heiligabend ist er da. Einen Weihnachtsbaum kaufen wir diesmal beim Händler.«
Trost ist das nicht gerade für Emma. Ohne ein Wort geht sie zur Schwingtür, die die Küche vom Frühstückraum trennt, und späht durch den Schlitz. Sie will sich ablenken. Sie denkt wieder an den Schnee, der genauso fehlt wie ihr Vater, und sieht im Frühstücksraum die Gäste sitzen.
Ob von denen jemand weiß, wie das Wetter wird? Die Gäste haben keine Ahnung, dass sie von Emma beobachtet werden.
Gästefütterung.
2
Viele Gäste sind es zurzeit nicht. Marlene Meier, die Esotante, wie ihre Mutter sie nennt, eine allein reisende Frau. »Esotante« sagt ihre Mutter, weil Marlene Meier immer einen etwas abwesenden Eindruck macht, als würde sie in anderen Sphären schweben. Ihre Mutter hat gesagt, Marlene Meier sei Esoterikerin. Sie spricht oft vom Kosmos und den unerforschten Energien, die da oben herumschwirren. Marlene Meier Esotante sitzt ganz aufrecht am Tisch, damit ihr Heiligenschein nicht vom Kopf fällt. Genauso aufrecht hat Emma sie einmal auf dem Boden ihres Zimmers auf einem Kissen sitzen sehen. Das hat ausgesehen, als würde sie im Schneidersitz schlafen.
Meditieren sei das, hat Marlene Meier Esotante erklärt. Und das sei so etwas wie mit dem Kosmos zu sprechen. Ganz nach innen gehen und damit eins mit dem Kosmos sein. Wie das funktionieren soll, da hat Emma keine Ahnung. Marlene Meier Esotante isst und trinkt nur Gesundes, beinahe nur Körner und Milch. Aber nicht etwa normale Milch, mindestens laktosefrei muss sie sein oder Soja. Ein bisschen geht sie Emmas Mutter mit ihren Sonderwünschen auf die Nerven. Gesundheitsapostel nennt Emmas Mutter das.
Wer mit dem Kosmos spricht, der müsste doch eigentlich wissen, ob es Schnee gibt, denkt Emma.
Außer Marlene Meier sind noch die Kowalskys im Frühstücksraum, eine amerikanische Familie. Mit dabei Tochter Sandy, ungefähr so alt wie Emma. Sie spricht kein Deutsch, sagt dafür aber ziemlich oft: »Oh my god! Really?«
Sandy ist eigentlich nicht ohne ihr Smartphone oder das Tablet ihrer Eltern anzutreffen. Sie guckt darin ständig »Toons«, wie sie es nennt. Animationsfilme. Von Oberalpendorf bekommt sie nicht viel mit. Manchmal aber schicken ihre Eltern sie zu Emma, damit sie für eine Weile vom Smartphone wegkommt. Dann hängt sie an Emma wie eine Klette, was ein bisschen nervig ist.
Gregor ist auch im Frühstücksraum. Gregor ist …
… Gregor? Was macht denn der hier?!
Blitzschnell fährt Emmas Kopf zu ihrer Mutter herum.
»Da sitzt Gregor!«, flüstert sie. »Wieso ist der hier?«
»Ich vermute mal, zum Frühstücken«, antwortet ihre Mutter. »Das macht man normalerweise in einem Frühstücksraum.«
»Ja, aber, Gregor? Kann der das überhaupt?«
»Mit Zähnen und Mund und Händen geht das.«
»Ich meine: Wieso darf der das? Er ist doch nicht unser Gast.«
»Heute schon.«
»Hä?«
Emma und ihre Mutter sprechen sehr leise, damit man im Frühstücksraum nichts mitbekommt. Dort herrscht größtenteils Schweigen, nur hin und wieder flüstern die Kowalskys miteinander auf Amerikanisch. Besteckgeklapper hört man noch und leise das Radio.
»Seine Mutter arbeitet doch neuerdings im Sonnenhotel«, erklärt Emmas Mutter. »Heute hat sie Frühdienst. Und sie hat vergessen einzukaufen, der Kühlschrank ist leer. Da hat sie gefragt, ob Gregor zum Frühstücken zu uns kommen kann.«
Emma dreht sich wieder zum Türschlitz und beobachtet den Ort des Geschehens.
Gregor ist der Nachbarjunge. Eigentlich ist Emma mit ihm befreundet. Ihr bleibt ja auch nichts anderes übrig, weil er immer vor ihrer Tür steht, die rechte Hand wie zu einem Schwur erhoben, »Hallo« sagt, und »Was geht ab?«.
Blöder Jungengruß. Was soll schon abgehen? Ab geht nämlich so gut wie nie was in Oberalpendorf. Abgehen könnte höchstens mal eine Lawine, wenn Schnee da wäre.
Mit krummem Rücken, wie ein Fragezeichen, sitzt Gregor am kleinen Tisch hinten an der Wand. Der Fragezeichenrücken passt zu ihm, weil er oft sagt: »Keine Ahnung.«
Aber genauso oft wie er »Keine Ahnung« sagt, glaubt er dann wieder alles zu wissen. Wie ein Angeber. Gregor ist beides, Besserwisser und Nullchecker. Eine seltsame Mischung, wie Emma findet. Er und seine Mutter kommen seit drei Jahren an Weihnachten zu ihnen ins Gästehaus Wallner. Gemeinsam mit ihren Eltern und ein paar Gästen feiert Emma dann Heiligabend. Emma kennt es nicht anders und sie findet es schön.
»Geh zu ihm! Sag ihm Guten Morgen«, meint ihre Mutter jetzt. »Dann kannst du auch gleich noch ein bisschen Obst auf dem Buffet auffüllen. Ich schneide das hier gerade.«
Wenig später drückt Emma die Schwingtür zur Seite und balanciert mit einer Schale voll geschnittenem Obst in den Frühstücksraum. Augenblicklich drehen sich alle Köpfe zu ihr. Emma wird freundlich begrüßt und sie grüßt zurück.
»Guten Morgen, Emma«, sagen die amerikanischen Kowalskys mit ihrem amerikanischen Akzent. »Guten Morgen«, sagt auch Marlene Meier Esotante.
»Good Morning!«, grüßt Emma zurück und stellt die Obstschale aufs Frühstücksbuffet.
Gregor zieht erst mal nur seine Augenbrauen nach oben. Schon legt er sein Buttermesser zur Seite, um seine Hand freizuhaben. Gleich wird es kommen, denkt Emma, und es kommt. Die Finger seiner rechten Hand formen sich zu einem Schwur oder einem Victoryzeichen oder einfach nur zu einem V. Und Gregor grinst und fragt: »Hi, was geht ab?«
»Buenas días«, sagt Emma nur und setzt sich zu ihm.
»Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«, fragt Gregor, dem nicht entgeht, dass Emma heute Morgen nicht die Fröhlichste ist.
»Mein Papa kommt erst an Heiligabend«, sagt Emma.
»Der Amerikaner?«, fragt Gregor nach.
»Er ist kein Amerikaner«, stellt Emma richtig.
»Aber er arbeitet in Amerika. Lassen die ihn nicht mehr raus?«
»Mann, Gregor!«, stöhnt Emma. »Klar lassen die ihn raus. Er ist Arzt und muss Leben retten. Da kann man nicht immer Weihnachten zu Hause sein.«
»Heiligabend ist Weihnachten.«
»Ja und?«
»Wenn er an Heiligabend kommt, ist er Weihnachten zu Hause. So viel ist sicher.« Dann sagt Gregor: »Ein bisschen doof ist es trotzdem. Da geht es dir beinahe wie mir. Nur, dass es bei mir noch doofer ist. Mein Vater kommt nämlich gar nicht zu Weihnachten.«
Stimmt, denkt Emma und merkt, dass Gregor ja viel schlechter dran ist. Sein Vater ist zu Weihnachten nicht da, weil er einfach nie da ist. Gregors Vater lebt woanders, von seiner Mutter getrennt. Gregor will schon lange, dass sein Vater mal wieder zu Weihnachten zu ihnen kommt. Aber seine Mutter ist dagegen.
Obwohl Gregor es schlechter hat als sie, überlegt Emma, wie es wäre, so lange schlechte Laune zu haben, bis ihr Vater kommt. Immer nur rummotzen. Die Stimmung dazu hätte sie jetzt. Schlechte Laune haben ist gar nicht so schwer. Aber so ist Emma nicht. Schlechte Laune hält bei ihr nie allzu lange.
»Selbstmord im Tierreich gibt es übrigens nicht«, sagt Gregor. »Das mit den Lemmingen ist reine Erfindung.«
»Wie interessant«, sagt Emma knapp. »Was sind denn Lemminge?«
»Kleine Nager, die sich angeblich von Klippen stürzen.«
»Wie lustig«, bemerkt Emma.
»Was ist denn daran lustig?«, empört sich Gregor.
Emma zuckt jetzt nur die Achseln. »Hast recht, ist nicht lustig.«
»Ist es okay, wenn ich mir noch ein Croissant hole?«, fragt Gregor mit kurzem Blick aufs Buffet. »Bei mir zu Hause gibt es das nicht.«
»Hol dir eines.«
Gregor ist groß für sein Alter und er ist dünn. Den Rücken hält er auch krumm, wenn er geht. Das sieht Emma jetzt mal wieder ganz deutlich, als er ans Buffet marschiert. Als ob da über seinem Kopf etwas schweben würde, wogegen er stoßen könnte. Oder etwas, das ihn zu Boden drückt.
Kein Wunder, dass sich Gregor vom Buffet ein Croissant holt, denkt Emma. Das ist genauso krumm wie er. Emma kommt sich vor wie bei einer Tierfütterung letzten Sommer, als sie mit ihrem Vater im Wald war und die Rehe bei der Futterkrippe beobachtet hat. Hat sie Gregor überhaupt schon mal frühstücken sehen?
Emma kann sich jedenfalls nicht daran erinnern. Er kaut komisch. Schiebt den Unterkiefer ein bisschen zur Seite wie eine Kuh.