Miroslav Nemec führt ein glückliches Leben, bis ein vermeintliches Zimmermädchen ihn in eine unangenehme Situation bringt. Geraten jetzt kompromittierende Fotos an die Öffentlichkeit? Ein dummer Scherz? Eine Verwechslung? Erpressung? Nemec muss es ganz allein herausfinden. Die Spur führt in seine alte Heimat. In Rijeka findet er das Zimmermädchen, das in Wahrheit eine Stuntfrau ist, ermordet vor. Leider sprechen alle Indizien dafür, dass ausgerechnet er der Mörder sein muss. Doch das ist erst der Anfang einer Abwärtsspirale, die droht, Nemec ins Verderben zu stürzen. In seinem »zweiten Fall«, der größtenteils in Kroatien spielt, gelingt Miroslav Nemec ein raffinierter Psychothriller in eigener Sache.
Miroslav Nemec, geboren 1954 in Zagreb, aufgewachsen in Freilassing, spielt seit 1991 im »Tatort« den aus Kroatien stammenden Münchner Kommissar Ivo Batic. Der Schauspieler begann seine Laufbahn am Theater (u. a. Münchner Residenztheater) und steht seit Ende der 1980er-Jahre in verschiedenen Rollen vor der Kamera. Als Musiker ist er u.a. mit der Miro Nemec Band aktiv. 2016 erschien sein erster Roman »Die Toten von der Falkneralm«. Miroslav Nemec wohnt mit seiner Familie in München.
»Nemec ist entwaffnend in seiner Offenheit. Er konterkariert jede Machoallüre mit Selbstironie.« SÜDDEUTSCHE ZEITUNG über »Die Toten von der Falkneralm«
»Ironisch, witzig, spannend. Nicht nur für ›Tatort‹-Liebhaber ein Muss.« MYWAY über »Die Toten von der Falkneralm«
»Witzig, die Idee: TV-Kommissar Miroslav Nemec schildert in »Die Toten von der Falkneralm« eine Mord-Story aus seiner persönlichen Perspektive.«
GALA über »Die Toten von der Falkneralm«
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Miroslav Nemec
Kroatisches Roulette
Mein zweiter Fall
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1. Auflage
Copyright © 2018 Penguin Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung und -illustration: Sabine Kwauka
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-21747-1
V002
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Für Katrin und Mila
1
Sonntag, 8. Oktober
Manche Leute wirken im richtigen Leben wie Schauspieler, die ihr Handwerk nicht beherrschen. Franjo Bilic, der Produzent von Sava Media, war so einer. Er übertrieb fast jede seiner Gesten. Begrüßt hatte er mich mit einem festen Blick in meine Augen, während sich gleichzeitig ein langsames Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete, als würde er in diesem Augenblick erst erkennen, dass ich dieser Miroslav Nemec bin, mit dem er sich verabredet hatte. Meine zur Begrüßung ausgestreckte Hand nahm er mit beiden Händen und hielt sie viel zu lange fest. Er versuchte dabei, seinen Gesichtsausdruck vom strahlenden Lächeln weg in Richtung Bewunderung zu verändern. Das gelang ihm nicht, er bekam nur eine Grimasse hin, die einen Arzt vielleicht zur Diagnose von Magenschmerzen verleiten würde. In diesem Moment hätte ich mich gerne schon wieder verabschiedet und mir eine Imbissbude gesucht, in der sich wirkliche Menschen etwas Wirkliches zwischen die Zähne schieben. Aber ich war nicht nur zum Wohlfühlen hier.
Mit übertriebener Geste wies Franjo Bilic auf einen mit weißem Stoff bespannten Stuhl, ich setzte mich und sah mich um. Das Restaurant war edel, fast pompös, aber irgendwie doch geschmackvoll. Und es war hier auch allemal wärmer als an einer Imbissbude. Mein Gastgeber winkte den Kellner heran, während ich die riesigen Art-déco-Lüster an der Decke bewunderte und meinen Blick über das Publikum schweifen ließ. Hauptsächlich Geschäftsleute, schien mir, Spesenritter und ambitionierte Jungunternehmer, die ihre etwas zu stark geschminkten Modelbegleiterinnen beeindrucken und vorzeigen wollten.
Bevor der Produzent irgendeinen glamourösen Aperitif vorschlagen konnte, bestellte ich, als der Kellner an unseren Tisch kam, ein Bier und legte die überdimensionierte, dreisprachige Speisekarte erst mal wieder beiseite. Die Preise erschienen mir im Vergleich zu München, gemessen am Ambiente, durchaus moderat. Nachdem er selbst ebenfalls ein Bier bestellt hatte, begann Herr Bilic, von dem Projekt zu schwärmen, für das er mich gewinnen wollte. Eine Serie mit neunzigminütigem Pilotfilm und weiteren sechs, vielleicht sogar zwölf Folgen à fünfundvierzig Minuten. Die Finanzierung sei zu neunzig Prozent in trockenen Tüchern, Croatia TV sei »totally committed«, an den Drehbüchern werde mit Hochdruck gearbeitet. Man habe darüber hinaus auch schon von zwei in Kroatien sehr beliebten Hauptdarstellern die neunzigprozentige Zusage.
Das Ding ist noch nicht mal spruchreif, dachte ich, als der Kellner unsere Getränke brachte. »Neunzig Prozent«, das bedeutet in unserer Branche etwas zwischen »nein« und »vielleicht«. Genau genommen war das nichts anderes als das euphorische Begackern ungelegter Eier, also das Selbstverständlichste in meiner Welt, in der die Hoffnung manchmal kränkelt, aber nie stirbt. Wahrscheinlich würde er nach unserem Treffen behaupten, ich hätte zu neunzig Prozent zugesagt, um mit dieser behaupteten Zusage weiteres unverbindliches Interesse zu akquirieren.
Franjo, wie ich ihn bereits nannte, in Kroatien und in unserer Branche duzt man sich schnell, schien mich tatsächlich gut einschätzen zu können. Er fing an, mir von einer alten Serie vorzuschwärmen. Sie spiele in einem Fischerdorf am Meer, auf der Insel Cres, handle von deutschen und österreichischen Aussteigern. Es sei eine Komödie mit Spannungselementen.
»Du meinst Der Sonne entgegen mit Josef Meinrad und Erwin Steinhauer?«
»Ja, genau«, er wirkte keine Spur überrascht. »Die Idee ist: Wir machen ein Remake, in dem die Hauptfigur, also du, ein Kroate ist, der in Deutschland gutes Geld verdient hat. Er realisiert seinen alten Traum, auf einer der Inseln in einem malerischen Küstenort ein Hotel samt Restaurant zu eröffnen. Dahin kommen dann pro Folge die unterschiedlichsten Gäste, um die herum wir die Spannungsplots entwickeln.«
Ich ließ meinen Blick wieder durch das elegante Ambiente schweifen, nur um nicht Franjo Bilics Gestikulieren und Grimassieren ansehen zu müssen. Offensichtlich hatte ihm noch nie jemand gesagt, wie diese Marotten auf einen Gesprächspartner wirken. Vielleicht war sein Vorbild ja Louis de Funès, von dem ich in meiner Jugend viele Filme im Kino Partizan, nur einen Katzensprung von hier entfernt, mit meinem Schulfreund Drago gesehen hatte. Dragos Mutter war Kartenabreißerin im Kino gewesen, und so konnten wir jeden Film so oft sehen, wie wir wollten.
Wie auch immer, irgendwann bestellten Franjo und ich das Essen. Ich entschied mich für ein Filet vom Boškarin-Rind, von dem Franjo mir vorschwärmte, und zur Vorspeise ein halbes Dutzend Austern aus dem Limski-Kanal.
Franjo schloss sich mir an, »gute Wahl, Miroslave«, und bestellte zwei Gläser Schampus zu den Austern und mit Kennermiene einen Rotwein für danach, natürlich irgendeinen Château »jetzt lass mer’s krachen«, den ich später auch gern würdigte, denn er schmeckte tatsächlich ausgezeichnet. Ich ließ ihn reden, und er schwärmte über unsere zukünftige Zusammenarbeit. Er sparte auch nicht mit Lob für mich als Schauspieler, und als er dann auch noch über meine Witze lachte, fand ich ihn eigentlich fast schon sympathisch. Und ich amüsierte mich wieder einmal darüber, wie leicht es doch war, eine Schauspielerseele zu streicheln. Oder lag es am Wein, von dem er noch eine zweite Flasche bestellt hatte.
Da ich die ganze Zeit über, so gut es eben ging, sein Gefuchtel ausgeblendet hatte und wir nach dem Dessert auf meine Kindheit hier in Zagreb zu sprechen gekommen waren, verspürte ich irgendwann eine wohlige Nostalgie. Ich beglückwünschte mich selbst zu meiner spontanen Zusage, hierher zu fliegen. Ich würde in Zagreb ein wenig Heimatluft schnuppern können, denn Franjo hatte mir gleich angeboten, mein Zimmer auch für eine zusätzliche Nacht zu buchen. Da ich mir die drei Tage weg von zu Hause arbeitsmäßig gerade gut einrichten konnte, hatte ich zugesagt.
Schon lange wollte ich mal wieder meinen Cousin Branko besuchen, dessen Wohnung aber für Gäste zu beengt ist. Eigentlich widerstrebte es mir, in meiner Geburtsstadt in ein Hotel zu gehen. Aber ich wollte die Orte meiner Kindheit einmal wiedersehen. Das hatte ich schon seit Jahren vorgehabt, war aber nie dazugekommen. Vielleicht, um nicht feststellen zu müssen, dass alles doch viel kleiner ist als in meiner Erinnerung oder dass es die Orte gar nicht mehr gab.
Als ich mir dann zum Digestif einen Williams bestellen wollte, überzeugte mich Franjo davon, es mit einem Mistelschnaps zu versuchen. »Dieser Selbstgebrannte ist unsere Medizin.« Ich nahm das Angebot an und sagte, ich fühlte mich im Moment nicht gerade krank. Franjo lachte überschwänglich.
Ich prostete ihm zu und fragte ihn, wie er denn an meine Handynummer gekommen sei, ohne meine Agentur zu kontaktieren?
»Miroslave, du weißt doch, die offiziellen Wege sind nicht immer die kürzesten.«
»Und wer hatte den kürzesten?«
Er lachte. »Ein Kollege. Er kennt dich von der Produktion, bei der du den kroatischen Fußballfunktionär in Split gespielt hast.«
Als wir schließlich auseinandergingen, Franjo Bilic und ich, waren wir uns einig, dass er sich bei meiner Agentin melden würde, sobald die Finanzierung stehe, dass wir etwas ganz Großartiges auf die Beine stellen würden und dass es ein sehr angenehmer Abend gewesen sei. Es war mittlerweile kurz vor zwölf, und ich wollte noch ein wenig mit mir allein sein.
*
Als ich mit dem Aufzug nach oben fuhr, fiel mein Blick auf das Schild Stigler Lift. Der Name der Aufzugsfirma hatte sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt. Immer wenn ich als Zehnjähriger zu meiner geliebten Tante Mila mit dem Aufzug in den fünften Stock fuhr, war dieses Schild über mir: Stigler. Tante Mila, eigentlich Ljudmila, nach der wir unsere Tochter benannt haben, hatte immer Geschichten für mich. Sie handelten von den Partisanen, denen sie als Krankenschwester Medikamente in den Wald hatte zukommen lassen, von Stalins Säuberungen und dass sie deshalb aus der KP ausgetreten war und von ihrem unverbrüchlichen Glauben als Katholikin. Meine Lieblingsgeschichte war die über den einarmigen Gärtner in Punat, der sie als Kind oft auf seinen Arm genommen hatte und den sie, da er sich nicht hatte wehren können, gern in die Backe gezwickt hatte. Dafür hatte sie sich später immer geschämt. Ich ging aber nicht nur wegen der Geschichten zu Tante Mila, sondern auch, weil ich dort am Monatsende oft einen blauen Umschlag abholte, mit dem sie uns etwas Geld zusteckte, da es immer knapp zuging im Hause Strkanec, wie ich vor meiner Adoption hieß. Und ich sah mich auf einmal im Treppenhaus sitzen, auf der obersten Stufe vor Tante Milas Tür. Im Wohnblock roch es nach angebratenen Zwiebeln und Paprika und manchmal auch nach Sauerkraut. Türen gingen auf und zu, Gesprächsfetzen drangen nach draußen, und manchmal wurde laut gestritten. Ich lauschte auf die Schritte im Treppenhaus und versuchte zu erraten, ob es Männer- oder Frauenschritte waren. Und irgendwann öffnete sich ruckelnd die Aufzugstür, und Tante Mila stand im Mantel und mit einer großen Handtasche vor mir und küsste mich auf den Kopf …
Mit einem warmen, wohligen Gefühl ging ich über einen weichen, dicken, dunkelroten Teppich durch den Hotelflur. Weiter hinten beluden gerade zwei Etagenkellner einen Servierwagen mit Geschirr und schoben ihn davon. Ich schloss mein Zimmer auf. Es war riesengroß. Mein kleiner Rollkoffer stand immer noch ungeöffnet vor dem Schrank. Der Blick von oben über den Park und die Stadt war ungewohnt. Wieder dachte ich, Franjo meint es wirklich ernst. Er tat alles, um mich zu beeindrucken und von der finanziellen Potenz seiner Firma zu überzeugen. Die Tür fiel ins Schloss. Ich warf mein Jackett und den Schlüssel Richtung Sitzgarnitur und streifte mir die Schuhe von den Füßen. Dann zog ich mein Hemd aus, hängte es in den Schrank, holte mein Necessaire aus dem Koffer und wollte gerade ins Bad gehen und mir die Zähne putzen, als es an der Tür klopfte.
»Zimmerservice«, sagte eine weibliche Stimme, und ich ging zur Tür. Ich hatte zwar nichts bestellt, aber vielleicht hatte sich Sava Media noch irgendeine Aufmerksamkeit für mich einfallen lassen.
Ein junges, hübsches Serviermädchen in dunkelblauem, vorne geknöpftem Kleid mit weißer Schürze stand vor der Tür, in der Hand balancierte sie ein Tablett mit einem Weinkühler darauf, aus dem eine Flasche hervorschaute. Sie grüßte fast schüchtern, ich entschuldigte mich dafür, dass ich im Unterhemd geöffnet hatte und suchte mein Jackett, weil ich ihr ein Trinkgeld geben wollte. Als ich mich ihr wieder zuwandte, hatte sie das Tablett abgestellt, stand lächelnd da, sah mir, jetzt irgendwie seltsam, in die Augen, band sich die Schürze los. Sie fiel zu Boden. Dann riss sie sich mit einem Ruck das dunkelblaue Zimmermädchenkleid auf. Die Knöpfe spritzten durch den Raum. Ich sah ihre hellen, blanken Brüste, weiß leuchtete ihr knappes Höschen.
Mir blieb die Spucke weg. Ich hatte keine Ahnung, was das sollte. Meinte Franjo wirklich, dass er mich mit so einer Nummer würde gewinnen können? War das der Balkan, mit dem mich meine Münchner Freunde immer mal aufzogen?
»Hier, das ist für Sie, bedienen Sie sich«, sagte sie mit einem zarten, fast madonnenhaften Lächeln. Sie öffnete erneut das Kleid, das sich wieder fast geschlossen hatte, und bot ihre Brüste dar. »Gefällt Ihnen nicht, was Sie sehen?«
Sollte ich vorhin von Wein und Mistelschnaps etwas angetrunken gewesen sein, jetzt war ich auf einen Schlag stocknüchtern. »Doch. Ich gratuliere. Aber was soll das?«
»Ich hab doch gesagt, ich hab was für Sie.« Noch immer hatte sie dieses seltsame Lächeln im Gesicht. »Ein solches Geschenk nimmt man an. Das lässt man sich nicht entgehen«, sagte sie kokett.
»Ja, mag sein. Aber ich fürchte, unser Freund Franjo hat ein falsches Bild von mir. Und jetzt ziehen Sie sich bitte wieder an, sonst holen Sie sich noch den Tod.«
Doch sie blieb einfach so stehen, hielt das Kleid weiter auf, ihre Brüste reckten sich mir provozierend entgegen. Sie lächelte nachsichtig, fast geduldig, als wartete sie darauf, dass ich endlich begreifen würde, was gut für mich war.
»Sie sollten jetzt gehen«, sagte ich und machte, einem Impuls folgend, zwei Schritte auf sie zu, dachte noch, das kannst du niemandem erzählen, weil dir das keiner glauben wird. Ich nahm ihre Hände, die das Kleid hielten, und versuchte, sie zusammenzuziehen, um ihre Blöße zu bedecken. Sie sträubte sich, ich lachte hilflos, weil mir das Ganze so absurd vorkam, wie wir da miteinander rangen.
Da brach ein kurzes, kaltes Blitzlichtgewitter los. Einen Moment lang kämpfte ich noch mit ihr – ich zog ihre Hände nach innen, sie drückte sie nach außen –, bis ich registrierte, dass sich zwei Etagenkellner hinter mir ins Zimmer geschlichen hatten. Sie tanzten, einer mit einer großen Kamera, einer mit einem Smartphone, jetzt um uns herum, um einen Schuss nach dem anderen einzufangen. Es war ein blitzendes und klickendes Miniaturinferno. Ich ließ die Frau los, bemerkte noch, dass sich ihr Lächeln in einen Ausdruck des Schreckens und der Abwehr verwandelt hatte, erwischte einen der Kellner, einen wieseligen Matschblonden, schlug auf seine Kamera, aber er verlor sie nicht, sondern knipste mir noch einmal ins bestimmt wütende Gesicht. Ich sah, wie die Frau aus der Tür huschte; der Typ mit dem Handy, ein Stämmiger mit Boxernase, schubste mich, ich fiel auf den Boden und landete vor der Sitzgruppe. Verdattert hörte ich, wie von draußen die Tür abgeschlossen wurde. Zwei Mal.
Einen Moment lag ich wie benommen da, dann stürzte ich zur Tür und versuchte, sie aufzureißen. Aber sie war ja verschlossen. Wie wild begann ich, meinen Schlüssel zu suchen. Ich hatte ihn irgendwohin geworfen, nur wo? Auf dem Bett lag er nicht, auf dem Sideboard nicht, auf dem Sofa nicht. Ich trat auf einen der Knöpfe. Im Jackett war der Schlüssel auch nicht. Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, entdeckte ich ihn. Er steckte in der Ritze eines der großen Polstersessel.
Endlich war die Tür wieder offen, ich stürzte auf den Flur, lauschte, ob ich Schritte hörte, doch der Teppich war viel zu dick. Er schluckte jeden Schall. Ich rannte zum Lift, drückte wie verrückt auf die Köpfe und sah, dass beide Liftkabinen im Erdgeschoß standen. Die rechte machte sich auf den Weg nach oben.
Ich sah mich um, suchte das Treppenhaus, fand es schließlich und stürzte die mit einem roten Läufer belegten Treppen nach unten. Ich rannte an der Rezeption vorbei zum Ausgang, die Drehtür hielt mich unbotmäßig auf, dann stand ich vor dem Hotel und bemerkte, dass zwei Taxifahrer, die rauchend an einem der Wagen lehnten, mich amüsiert musterten.
Als mir einer hämisch zurief, ob es mir im Zimmer vielleicht zu heiß geworden sei, registrierte ich, dass ich in Unterhemd und Socken dastand. Die Kälte spürte ich nicht.
Ich fragte die beiden: »Habt ihr gerade zwei Kellner mit einem blonden Serviermädchen rauskommen sehen?
»War der Zimmerservice nicht okay?«, fragte der eine.
Und der andere frotzelte: »Hinter wem bist du denn her? Hinter den beiden Jungs oder hinter dem Mädel?«
»Habt ihr sie jetzt gesehen oder nicht?« Ich war wütend.
»Falls die Typen dein Mädel entführt haben, hier sind sie nicht vorbeigekommen. Vielleicht sind sie zum Lieferanteneingang raus.«
Darauf hätte ich auch selbst kommen können, dass mein rätselhafter Besuch nicht gerade durch die Lobby spaziert. Mir wurde bewusst, dass ich die drei nicht mehr einholen würde und trollte mich auf mein Zimmer. Ich war nach Strich und Faden verarscht worden. Was sollte das Ganze?
*
Mein Herz raste. Klar denken war nicht möglich. Das Zimmer kurz und klein zu schlagen, wäre angemessen oder wenigstens erleichternd gewesen, denn irgendwo musste meine Wut hin, aber es wäre dämlich, sinnlos und teuer. Ich ging zur Minibar und nahm mit zittriger Hand, die mir vom Schlag gegen die Kamera immer noch wehtat, eines der kleinen Whiskyfläschchen. Ich kippte den Inhalt runter wie Medizin. Dann ging ich zum Fenster, öffnete es und dachte völlig sinnlos, wie mir erst später auffiel, ich könnte die drei vielleicht doch noch irgendwo ausmachen. Rechts sah ich den Bahnhof, für dessen hell erleuchtete Fassaden aus der K.-u.-k.-Zeit ich jetzt gar keinen Sinn hatte. Im Park erspähte ich ein Grüppchen junger Leute, die offensichtlich angetrunken und laut singend nach Hause zogen. Ich meinte zu hören, wie sie das Lied Vilo moja sangen – meine Fee.
Ich ließ das Fenster offen, gedämpfter Lärm der Stadt drang ins Zimmer, in meinem Kopf summte es weiter Vilo moja – du bist mein Traum: Ich nahm mein iPad und suchte mir den melancholischen Song auf YouTube, ließ ihn laufen und öffnete die Demi Bouteille. Es war Champagner. Ich dachte an zu Hause, rief meine Frau an, obwohl ich wusste, sie hatte ihr Handy ausgeschaltet. Ich sprach ihr eine Liebeserklärung auf die Mailbox. Sie würde morgen früh unser Lied im Hintergrund hören und denken, dass ich ein wenig zu tief ins Glas geschaut hatte.
Ich legte mich aufs Bett und begann zu grübeln. Von den fotografierenden Kellnern hatte keiner einen Ton von sich gegeben, außer dem Klicken der Kameras. Sie hatten eine gespenstische Pantomime aufgeführt, die Bilder – das wurde mir mit einem Schlag klar – würden nach einem sexuellen Übergriff aussehen.
»Aber wozu? Das alles ergab doch keinen Sinn, sagte ich immer wieder. Ich sagte es laut vor mich hin: zasto? Bez veze, totalno bez veze? Wieder und immer wieder. Als könnte mich die stumpfsinnige Wiederholung auf eine Idee bringen oder wenigstens beruhigen. Das war natürlich nicht der Fall. Ich brauchte lange, bis mein Atem wieder halbwegs normal und regelmäßig ging. Der frischen Oktoberluft von draußen gelang es nicht, meine heiß laufenden Gedanken zu kühlen.
Wer steckt dahinter? Wer weiß überhaupt, dass ich hier bin? Eigentlich nur Franjo und ein paar seiner Leute von Sava Media? Seine Geldgeber? Aber welchen Grund sollte jemand haben? Will jemand verhindern, dass ich die Rolle bekomme? Und warum? Eigentlich viel zu viel Aufwand, um mich aus dem Projekt zu schießen, für das ich ja noch nicht einmal zugesagt hatte. Unsinn! War das Ganze etwa ein Marketinggag? Auf meine Kosten? Sollte erst ein Skandal her, um auf das Projekt maximal aufmerksam zu machen? Um mich dann später glorreich zu rehabilitieren, um erneut die Schlagzeilen zu beherrschen? Das war immerhin eine Möglichkeit. Oder gab es vielleicht eine neue, brutale Form der »Versteckten Kamera«? Würde gleich jemand an die Tür klopfen, na Herr Nemec, haben wir Sie erschreckt? Oder war es wirklich ernst? Würde morgen in 24 sata, der kroatischen Bild-Zeitung, stehen: Schauspieler aus Deutschland versucht, Frau zu vergewaltigen? Und wieso? Wer konnte das wollen?
Mir wurde schlecht, als ich mir das Bild vorstellte: Ich, lachend, reiße einer hübschen blonden Zimmerkellnerin das Kleid auf und lege ihre Brüste frei, sie wehrt sich ganz offenbar dagegen, hat aber gegen mich keine Chance. Das wird sie unter Tränen im Interview schildern, und die Fotos wären der Beweis.
Und wenn man dann fragt, wo denn die Fotos herkommen, würde sie behaupten, die Zimmertür habe offen gestanden, die Kollegen wären ihr beigesprungen. Doch warum hatte einer eine Profikamera? Das passte nicht zu der Maskerade. Ich hielt für den Augenblick fest: Alle drei waren verkleidet, spielten eine Rolle. Es ging offensichtlich darum, mich zu kompromittieren. Und davon Fotos zu machen. Mir fiel ein, dass ich gehört hatte, wie schnell die Kamera ihre Bildserien geschossen hatte. Und sollten die Fotos zu professionell aussehen, so würde eine Mischung mit den typischen Handyfotos Authentizität vortäuschen.
Was würde mit den Fotos geschehen? Würden die drei oder ihre Hintermänner sie den Medien zuspielen? Würde die Blonde mich anzeigen? Oder würde man mir mit einer Anzeige nur drohen, respektive damit, die Bilder einer Zeitung zuzuspielen? Um was zu erreichen? Und wenn ein Bild in den hiesigen Zeitungen auftauchte, dann wäre es wenige Stunden später im Netz und morgen in der deutschen Presse. Dann wäre mein Leben vorbei. Kein Tatort mehr, keine Rollen mehr, nicht im Fernsehen, nicht auf der Bühne. Und wer mich auf der Straße erkennt, wird mit Fingern auf mich deuten. Ich musste unwillkürlich an Kachelmann, den Wetterfrosch, denken. Dem hatte seine Unschuld auch wenig genutzt. Der ist stigmatisiert für den Rest seines Lebens – trotz Freispruchs.
Niemand außer meiner Familie und meinen Freunden wird mir glauben. Aber stimmte das überhaupt? Das Bild wird stärker sein. Bilder sind immer stärker als Worte. Ich werde keine Chance dagegen haben. Diese Gedanken rasten in meinem Kopf durcheinander, ich hätte sie gern gestoppt, wusste aber nicht, wie. Ich spürte, wie ausgetrocknet Mund und Kehle waren, ging ins Bad, schüttete mir mehrere Hände voll kaltem Wasser ins Gesicht und trank gierig aus dem Wasserhahn. Nichts half. Nicht gegen das Entsetzen, nicht gegen die Angst, nicht gegen die immer schneller rasenden Gedanken.
*
Ich weiß nicht, wie lange ich brauchte, bis ich endlich eingeschlafen war, und ob der Schlaf dann nur Minuten oder auch mal eine halbe Stunde dauerte. Plötzlich schreckte ich wieder hoch. Jemand machte sich am Türschloss zu schaffen. Ich hielt den Atem an und starrte in die Dunkelheit. Dann sprang ich entschlossen auf, raste zur Tür und wollte sie öffnen. Sie war verschlossen. Ich schloss sie auf und schaute in einen gähnend leeren Flur, in dem die Lichter angingen, die ich über den Bewegungsmelder ausgelöst hatte. Es konnte also niemand vor meiner Tür gewesen sein.
Ich ging ins Bad, wo ich meine Uhr abgelegt hatte, damit ich nicht alle paar Minuten darauf schauen würde, um zu sehen, wie lange die letzte Nacht meines bisherigen Lebens noch dauern würde. Mir wurde erst jetzt so richtig bewusst, was ich bis zu diesem Abend für ein glücklicher Mensch gewesen war. Ein Mensch, der seine Frau, seine Töchter und seinen Beruf liebt, in diesem Beruf Erfolg hat, dazulernt, immer neue Ziele anstreben darf und jede Stunde seines Lebens – sei sie auch noch so anstrengend oder nervig – als Gewinn betrachten kann. Damit war es jetzt vorbei.
Ich würde mich irgendwo verstecken müssen und wie ein Aussätziger weiterleben. Mit meiner Frau und meiner Tochter umsiedeln müssen. Oder gar auswandern? Wohin? Und wovon leben? Taxifahrer werden? Kneipenwirt? Olivenbauer? Vom Ersparten leben? Wie lange? Das würde nicht weit reichen.
Irgendwann belebte sich der Verkehr unten auf der Straße, und daran merkte ich, dass der Morgen nicht mehr weit war. Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt und machte das Abrollen der Reifen zu einem Zischen. Ich hatte das Fenster ganz gegen meine Gewohnheit offen gelassen. Draußen war es noch dunkel.
Ich überlegte, ob ich Franjo anrufen sollte, um herauszufinden, ob er etwas mit der Sache zu tun hatte. Direkt könnte ich das nicht ansprechen, aber ich könnte mich für die Demi Bouteille bedanken und sehen, wie er reagiert. Vorher würde ich aber noch an der Rezeption fragen, ob das Hotel einen Auftrag gehabt hatte, mir etwas zukommen zu lassen, und wenn ja, von wem.
Unter der Dusche fühlte ich mich, als wäre ich verprügelt worden oder eine Treppe hinuntergefallen. Alles tat mir weh, nicht nur die Handkante, auch der Kopf, mein ganzer Körper. Ich blieb lange unter dem heißen Strahl stehen und drehte das heiße Wasser immer noch ein bisschen weiter auf.
*
Der Rezeptionist blätterte in einem dicken Buch, suchte unter meinem Namen und unter der Zimmernummer. »Bedaure, Herr Nemec«, sagte er, »wir hatten keinen Auftrag, Ihnen Champagner aufs Zimmer bringen zu lassen.«
Beim Frühstück durchsuchte ich mit dem iPad das Internet, aber ich fand nichts. Ich gab die Worte »Schauspieler«, »Vergewaltigung«, »Belästigung«, »sexueller Übergriff« auf Kroatisch ein und ging dann auf »Bilder«, aber ich scrollte ewig durch alles Mögliche, ohne mein eigenes Gesicht zu finden. Erleichtert war ich nicht. Auch auf Bild.de, Focus.de, Spiegel.de fand ich nichts. Ich gab »Nemec« ein, fand den obligatorischen Wikipedia-Eintrag und an dritter Stelle einen Artikel »Tatort«-Star Miroslav Nemec: »Sex im Alter ist noch ein Tabu«. Herrgott noch mal, warum ließ ich mich immer wieder mal dazu hinreißen, die Vorlage für eine solche Überschrift zu liefern.
Dann war es endlich kurz nach neun Uhr, und ich rief meinen neuen Freund Franjo an. »Mein Lieber, ich wollte mich nochmals für den schönen Abend gestern bedanken.«
»Miroslave, wie schön, so früh schon deine Stimme zu hören. Nur der frühe Vogel fängt den Wurm, was?«
»Das kenn ich aus meiner Kindheit anders, Franjo: Ein Vogel, der früh singt, scheißt abends ins Nest.«
Franjo lachte dröhnend. »Wer ist jetzt hier der Deutsche und wer der Kroate? Aber sag, was verschafft mir die Ehre. Geht’s dir etwa schon um die Gage, mein Freund? Ich sag’s dir, du wirst vollauf zufrieden sein.«
»Nein, ich wollte mich einfach nur bei dir bedanken für den Abend und vor allem für das hübsche Präsent aufs Zimmer.«
»Was für ein Präsent denn?« Er klang ehrlich überrascht.
»Na ja, die Demi Bouteille. Was sonst?«
»Du beschämst mich. Ich hätte das vielleicht machen sollen. Beim nächsten Mal denke ich daran. Aber dieses Mal musst du dich bei jemandem anderen bedanken. Vielleicht beim Hotel. Ich habe denen schon geflüstert, wer du bist.«
Wir wechselten noch ein paar höfliche Floskeln, und ich war so schlau wie zuvor.
*
Der Regen hatte sich gelegt, als ich vor die Tür ging, um einen Zeitungskiosk zu finden und alle Blätter zu kaufen. Das hatte man früher nach einer Theaterpremiere gemacht, in der Hoffnung, nicht nur auf Verrisse zu stoßen. Diesmal war klar, dass das, was ich finden würde, niederschmetternd wäre.
Endlich fand ich einen Laden mit Tabak, Zeitungen und Getränken und kaufte jedes Blatt, das da war. Vom grellen Boulevardfetzen bis zur seriösen Tageszeitung, es waren fünf insgesamt. Als ich mit dem Stapel unterm Arm nach draußen ging, traf es mich wie ein Blitzschlag: Du wirst nie wieder die Zeitungen nach etwas Positivem über dich durchsuchen, nie wieder!
Ein paar Häuser weiter fand ich eine dieser kleinen schmuddeligen Bars, die nach Rauch stinken und in der nur Männer saßen. Ich setzte mich, bestellte einen türkischen Kaffee und nahm mir die Zeitungen vor. Nichts. Ich blätterte sie zweimal durch, alle fünf, und eine ungeheure Erleichterung durchströmte mich. Aufschub. Ich hatte einen Tag geschenkt bekommen.
Vielleicht auch nur einen halben Tag, denn die Fotos konnten jederzeit im Internet auftauchen, und vielleicht gab es auch Zeitungen, die abends erschienen, aber jetzt, in diesem Moment, hatte ich noch Schonzeit. Die Jagd war noch nicht eröffnet.
Ich ließ die Zeitungen liegen und bezahlte, ging nach draußen und empfand ein wackliges, ängstliches Glücksgefühl, wie es vielleicht ein ausgebrochener Sträfling hat, an dem die Polizei gerade mit Blaulicht und Sirene vorbeirast.
Klar denken konnte ich noch immer nicht, aber die Panik der Nacht hatte sich gelegt. Jetzt ging ich fatalistisch und müde durch die Straßen und versuchte, meine vielleicht letzten Stunden als normaler Mensch zu genießen. Oder wenigstens mir dessen bewusst zu sein, dass die Katastrophe noch nicht eingetreten war.
Ich landete in der Altstadt, wo ich einfach kreuz und quer durch das Leben der anderen lief, die ich auf einmal beneidete, darum, dass ihr Tag heute Abend vermutlich so ablaufen würde, wie sie sich das heute Morgen vorgenommen hatten. Und morgen und übermorgen und nächste Woche. Das war Unsinn. Jeden von ihnen konnte eine ebensolche Katastrophe treffen wie mich. Jeden kann das Glück verlassen. Kein Neid also.
In der Markthalle auf dem Dolac suchte ich nach Süßigkeiten, Gewürzen, Seife oder sonst etwas Hübschem, das ich meiner Frau und meiner Tochter mitbringen konnte, aber nach wenigen Minuten war es mir zu eng und zu voll, und als ich zweimal unsanft angerempelt wurde, gab ich auf und suchte das Weite.
Ein Mädchen, vielleicht zwölf oder dreizehn, stellte sich mir in den Weg und wollte mir einen Trockenblumenstrauß andrehen. Die Sträuße, die sie im Arm hatte und mir ein bisschen zu penetrant vor die Nase hielt, jeden einzeln, als wäre einer schöner als der andere, gefielen mir nicht, und außerdem wusste ich nicht, wie ich so was im Flugzeug transportieren sollte, ohne es ständig in der Hand zu halten. Ich lehnte also ab, schüttelte den Kopf, wedelte mit den Händen und spürte plötzlich, dass sich jemand an meinem Geldbeutel in der Gesäßtasche zu schaffen machte.
Ich schlug mit der Hand auf meinen Hintern – die Börse war noch da, aber ich erwischte eine Hand, hielt sie fest und drehte mich um. Es war ein Junge, etwa im selben Alter wie das Mädchen, und er verzog das Gesicht zu einem Greinen. Dann begann er zu schreien und zu weinen, um den Eindruck zu erwecken, ich belästigte ihn, um davon abzulenken, dass er versucht hatte, mich zu beklauen. Als immer mehr Leute zu uns hersahen, ließ ich ihn los, und er rannte wie der Blitz davon und verschwand im Gedränge. Das Mädchen war ebenfalls verschwunden.
Ich erklärte den Umstehenden, was vorgefallen war, und stieß auf Verständnis. Diese Sorte Trickdieberei kannte man hier. Ich steckte den Geldbeutel in die vordere Hosentasche und ließ meine Hand darauf.
Dann rief ich Branko an. Das hatte ich vor ein paar Tagen mit ihm ausgemacht, weil er noch nicht wusste, ob er im Krankenhaus für einen Kollegen würde einspringen müssen. Deshalb hatte er sich noch nicht auf einen Termin und einen Ort festlegen wollen. Seine Frau Marija war am anderen Ende der Leitung.
Es war so, wie er befürchtet hatte, er musste den ganzen Tag im Krankenhaus Dienst schieben. Aber ich könne ihn gegen zwölf Uhr anrufen und mit ihm in der Kantine essen. Am Abend gehe es leider nicht, weil er einen Vortrag halten müsse, und morgen würden sie aufs Land zu den Schwiegereltern eines der beiden Söhne fahren. »Schade«, sagte seine Frau, »ich hätte dich auch gern gesehen. Aber du kannst gerne mitkommen, sowohl heute Abend als auch morgen.« Ich lehnte ab, redete mich auf weitere berufliche Verpflichtungen heraus.
»Vielleicht hättet ihr dieses Jahr doch wieder einmal zum Oktoberfest kommen sollen«, antwortete ich, und wir verabschiedeten uns.
Dieser kleine Wortwechsel hatte etwas Tröstliches für mich, das normale Leben war noch nicht vorbei. Ich rief Branko im Krankenhaus an und verabredete mich mit ihm um kurz nach zwölf am Haupteingang. Er wollte mir gerade den Weg erklären, da sah ich einen der Typen von gestern Nacht auf der anderen Straßenseite eilig irgendeinem Ziel zustreben. Es war der Matschblonde. Er trug heute eine schwarze Lederjacke und ausgebleichte Jeans, in der Hand hatte er eine hellgraue Sporttasche. Vielleicht waren darin die Kellnerklamotten, die Fotos und die Kamera. Auf die Idee, dass so etwas heutzutage alles digital läuft, kam ich nicht sofort. Ich hatte einfach in meinem vordigitalen Leben zu viele Krimis gesehen und Drehbücher gelesen, als dass ich mich von den alten Mustern lösen konnte.
Ich unterbrach meinen Cousin mitten im Satz, sagte, den Weg fände ich schon, ich müsse Schluss machen und rannte über die Straße, dem matschblonden Mistkerl hinterher.
Dabei hatte ich nicht auf den Verkehr geachtet, sondern war einfach losgesprintet. Ein Auto bremste quietschend, um mich nicht über den Haufen zu fahren. Der Matschblonde sah sich nach dem Lärm um, erkannte mich und rannte los. Er bog in eine Seitenstraße ein.
»Stoj pizdu ti materinu«, rief ich, »bleib stehen«, aber das spornte ihn nur dazu an, einen Zahn zuzulegen. Die Seitenstraße war ziemlich leer, ein paar Läden zogen den einen oder anderen Kunden an oder spuckten ihn aus. Ich war schnell, weil ich wütend war, aber er war schneller – weil er jünger war und Angst hatte. Doch ich kannte mich in der Gegend sehr gut aus. Ich stoppte ab und nahm eine Seitengasse, um ihm den Weg abzuschneiden. Der Plan gelang. Er rannte mir direkt in die Arme, und ich drückte ihn an eine Hauswand.
»Was war das gestern Nacht«, fragte ich atemlos, aber hoffentlich dennoch bedrohlich genug. »Wer ist euer Auftraggeber?«
Er sah mich an, als verstünde er kein Kroatisch, blickte sich nach Hilfe um, aber jetzt war niemand in unserem Stück Straße, also schüttelte er nur den Kopf und tat weiterhin so, als kapierte er kein Wort von dem, was ich sagte.
»Hast du die Fotos dabei?«, fragte ich und unterstützte den Nachdruck dieser Frage, indem ich ihn fester gegen die Wand drückte. Er sah mich weiterhin blöde und begriffsstutzig an, ich griff nach der Tasche, zog sie ein Stückchen zu mir her, obwohl er die Griffe nicht losließ, und forderte: »Mach sie auf. Zeig mir, was drin ist.«
Er schaute sich wieder um und schrie »Hilfe! Überfall!«, weil er gesehen hatte, dass zwei Männer aus einem Laden etwa dreißig Meter entfernt von uns getreten waren. Jetzt auf einmal sprach er doch Kroatisch.
»Gib her«, zischte ich und riss an der Tasche. Er zog sie näher zu sich heran. Ich versuchte, die Tasche zu öffnen, den Reißverschluss zur Seite zu ziehen, aber jetzt hatte er aufgehört, sich zu fürchten, und leistete heftigen Widerstand. Die beiden Männer standen noch an derselben Stelle, sahen zu uns her und überlegten wohl, ob sie sich die Hände schmutzig machen sollten in einem Streit zwischen zwei Männern, von dem sie nicht wussten, wer ihn angefangen hatte, wer sich nur wehrte, worum es überhaupt ging und wen man unterstützen musste.
Ich war einen Moment abgelenkt, weil ich zu den beiden Männern hinschaute und mich fragte, ob sie nun herankommen würden oder nicht. Diesen Augenblick nutzte der Matschblonde, um sich loszureißen und davonzurennen. Ich rannte hinterher.
Er war so schlau, in Richtung der beiden Männer zu laufen, und als er an ihnen vorbeikam, rief er ihnen zu, sie sollten mich aufhalten, ich wolle ihn berauben. Der Mistkerl verschwand um eine Ecke, und ich blieb stehen. »Jebo te pas« schrie ich dem Matschblonden hinterher. Die beiden Männer sahen mich nur misstrauisch an, taten nichts, sagten nichts, drehten sich schließlich um und gingen ihrerseits weiter. Es konnte ja immer noch sein, dass er der Taschenräuber war und ich der Beraubte. Da musste man sich nicht zwingend einmischen.
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Eine wenig zivilisierte Wut war in mir hochgekocht. Ich hätte dem Mann alles Mögliche antun können, das erschreckte mich. Das kannte ich nicht von mir. Nicht mehr.
Als Jugendlicher war ich in Zagreb keiner Klopperei ausgewichen. Ich war ein Hitzkopf gewesen. Jede Straße hatte eine Gang, bewaffnet waren wir mit selbst gemachten Schleudern aus Astgabeln, das Holz härteten wir über dem Feuer. Wir schossen mit Einweckgummis, Eicheln waren unsere Projektile. Von Drago, dem Nachbarsjungen, aber auch von den anderen, von Grazin, den wir »Grinzajg« nannten, oder von Emil musste ich immer wieder mal zurückgehalten werden, wenn mein Temperament mit mir durchzugehen drohte. Nur Milivoj, der Arztsohn, war noch wilder als ich. Er hat sich mit fünfzehn aus Liebeskummer umgebracht, ist vom Balkon des Krankenhauses, in dem sein Vater gearbeitet hat, gesprungen. Das war jetzt fast fünfzig Jahre her. Seither war es in meinem Leben nicht mehr darum gegangen, mir diese Art von Respekt zu verschaffen. Ich hatte deshalb schlicht vergessen, dass sich noch eine solch atavistische Kraft in mir verbarg.
Irgendwas war auch gut daran, zumindest fühlte es sich gut an. Das konnte an dem Adrenalin liegen, das mein Körper ausgeschüttet haben musste. Eine seltsame Art von Selbstvertrauen war mir zugewachsen. Der Wutausbruch hatte mir gezeigt, dass ich nicht zwingend das Opfer sein musste.
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Ich tigerte ziellos durch die Stadt, ausschließlich damit beschäftigt, dass irgendwer mein Leben zerstören wollte. Ich schaute in Cafés und Restaurants, scannte die Gruppen und Grüppchen, die vor Bus- und Straßenbahnhaltestellen warteten. War da eines der Gesichter von heute Nacht? Manchmal durchzuckte mich ein Erkennen. Aber jedes Mal stellte sich schnell heraus, dass ich mich getäuscht hatte. Bekäme ich einen der drei zu fassen, dann würde er das bereuen. Wenn ich nicht die Frau oder einen der Fotografen in die Finger bekäme, hätte ich keine Chance, ungeschoren aus dieser Sache herauszukommen. Aber war das nicht aussichtslos? Würde ich ein zweites Mal das Glück haben, einen der Provokateure zu erwischen wie vorhin den Matschblonden? Statistisch gesehen war das unmöglich. Warum hatte ich den bloß laufen lassen, verdammt noch mal. Oder, schoss es mir durch den Kopf, war die Begegnung mit dem Matschblonden gar kein Zufall gewesen? Wurde ich von denen observiert? Wollten sie herausfinden, wie ich reagiere, ob ich zur Polizei gehe? Wen ich treffe? Ich nahm mir vor, weiter mein Umfeld zu scannen, so unauffällig wie möglich.
KinoPartizan
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Im Hotel angekommen, legte ich mich für eine Stunde hin, um die schreckliche Nacht wenigstens ein bisschen wettzumachen, es wurden fast drei Stunden. Drei Stunden, in denen ich nicht über den letzten Abend und dessen Auswirkungen fantasiert hatte. Ich fühlte mich nach dem Aufwachen zwar zerschlagen, aber auch erfrischt. Ich hatte meine Angst nicht vergessen, aber sie beherrschte jetzt nicht mehr jeden meiner Gedanken. Und als ich im Internet wieder nichts Neues über mich fand, rückte der Horror schon fast ein wenig in den Hintergrund.
Beim Skype-Telefonat mit meiner Frau und meiner Tochter gelang es mir, so unbeschwert und gut gelaunt zu wirken, wie ich für die beiden jetzt sein wollte. Aber gleich danach drückte mich das Wissen um die unweigerlich auf uns alle zukommende Katastrophe doch wieder so nieder, dass ich nichts weiter tat, als in den Fernseher zu glotzen und kroatisches Vorabendprogramm an mir vorbeiziehen zu lassen. Immer unterbrochen von der Suche nach einem Bild von mir als potenziellem Vergewaltiger. Ich ließ den Film von der Nacht zuvor wieder und immer wieder vor meinem inneren Auge ablaufen. Nein, eine Vergewaltigung konnten sie mir nicht anhängen, ganz unabhängig davon, was die Bilder auch Verfälschendes zeigen würden. In den Knast würden sie mich nicht bringen. Aber war das ein Trost? Allein der Vorwurf des »sexual harassment« würde ausreichen, mein Leben zu zerstören.
So verbrachte ich die Zeit: Eine Viertelstunde halbwegs entspannt, eine halbe Stunde in schwärzester Deprimiertheit, eine Stunde optimistisch, dass vielleicht jede Zeitung, der man diese Schweinerei anbot, sich weigern würde, sie abzudrucken. Essen, Fernsehen. Und dann schlafen. In vielen kleinen Etappen. Wilde Träume, die ich nicht greifen konnte.
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Vor dem Flughafen am nächsten Vormittag. Ich war gerade aus dem Taxi gestiegen, wollte die Abfertigungshalle betreten, als ich einen der Etagenkellner von vorgestern Abend hinten in einem der heranfahrenden Taxis sitzen sah. Der Wagen fuhr, weit entfernt von mir, gerade heran und wurde langsamer. Es war nicht der Matschblonde, sondern der dunkelhaarige Stämmige mit Boxernase, der bei der Attacke mit dem Handy fotografiert oder gar gefilmt hatte. Er verschwand in der Halle, ich versuchte, ihn nicht aus den Augen zu verlieren.
Meine iPad-Recherche am Morgen hatte wieder kein Ergebnis gezeitigt, und ich war halbwegs entschlossen gewesen, die ganze Geschichte als Verwechslung abzutun. Aber jetzt war, durch das Auftauchen der Boxernase, die Unruhe wieder da. Der Gedanke während des üppigen Frühstücks, dass die ganze Inszenierung nicht mir hatte gelten sollen, war mir auf einmal überzeugend erschienen. Nicht ich sollte kompromittiert werden, sondern irgendein kroatischer oder sonstiger Strauss-Kahn, ein Geschäftsmann, ein Politiker oder wer auch immer. Aber nicht ich. Man hatte dem Trio, das vielleicht gar nicht wusste, wie sein Opfer aussah, die falsche Zimmernummer gegeben. Mir war wieder eingefallen, dass die Rezeptionistin mir beim Einchecken vorgestern, als sie ihr Willkommenssprüchlein aufgesagt hatte, davon schwärmte, man habe mich »upgegraded« in eine Juniorsuite, was ich selbstironisch kommentierte. Vielleicht hatte der Gast, dem die Attacke hätte gelten sollen, abgesagt, und ich war statt seiner traktiert worden. Aber wenn die Boxernase jetzt am Flughafen auftauchte, sprach es doch dafür, dass die Attacke mir galt – und keinem anderen.
*
Ich sah mich in der für mich neuen, futuristischen Halle des Flughafens um und checkte die Schlange vor der Sicherheitsschleuse, schlenderte an den Wartebereichen der Gates vorbei. Nichts. Da, plötzlich sah ich ihn. Er stand im Duty-Free-Shop vor einem Weinregal und studierte die Preise. Ich schlich mich von hinten heran, hoffte inständig, dass er sich nicht vorzeitig umdrehte, dann stand ich hinter ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Hier würde er mir nicht entkommen.
»Wolltest du nicht schon immer mal ein Foto mit mir machen?«
Der Mann drehte sich um und sah mich überrascht an. Er hatte nur eine vage Ähnlichkeit mit der Boxernase. Ich stammelte eine Entschuldigung, murmelte etwas von Verwechslung, ich hätte gemeint, einen alten Freund, einen Fotografen, erkannt zu haben.
Der Stämmige, der nicht mein Stämmiger war, nahm es mit Humor. »Das Fotoangebot nehme ich gerne an, Herr Kommissar, da kann ich jemandem zu Hause eine Freude machen.«
»Ihrer Frau?«
Der Mann sah mich irritiert an. »Nein, meinem Mann.« Er zückte sein Smartphone, nahm mich beherzt in den Arm – und wir machten ein Selfie.
Dann wurde unser Flug aufgerufen, und da er auch nach München flog, stellten wir uns gemeinsam in die Schlange vor dem Gate. Er erklärte mir, es gebe – auch wenn er und sein Mann gerne den Tatort sähen – viel zu viele Krimis im Fernsehen. Und viel zu viel Fußball. Dass sie drei Mal in »Männer« gewesen seien, dem Liederabend in den Kammerspielen. Warum das denn nicht wieder aufgenommen würde. Ich gab mich leutselig, stimmte ihm zu, wo immer ich konnte. Er setzte sich in die zweite Reihe in der Businessclass, ich verabschiedete mich. Franjo hatte mir nur Economy spendiert.
Als die Maschine schließlich abhob, die Stadt unter mir immer übersichtlicher wurde und wir schließlich durch die dichte Wolkendecke stießen, fiel das Ganze wie ein Bleimantel von mir ab, und je näher ich München kam, desto mehr wurde es zu einer hässlichen Anekdote. Ich würde die ganze Geschichte auf jeden Fall für mich behalten.